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Also ging Paul Bernheim an die Front.
An einem trüben und kühlen Novembertag – der Regen, der vom Himmel kam, vermischte sich mit dem Nebel, der von der Erde emporstieg – fuhr Bernheim als Einzelreisender ins Feld.
Er war nunmehr Leutnant im x-ten Infanterieregiment, das seit einigen Wochen seine Stellungen am südlichen Teil der Ostfront bezogen hatte. »Hast du Glück«, hatten ihm die Kameraden im Kader gesagt, »gerade jetzt gehen wir an die ruhigste aller Fronten. Vor einigen Tagen hättest du uns noch in den Alpen suchen müssen, in der Hölle!« Paul hätte es vorgezogen, sein Regiment in den Alpen aufzusuchen, wo der Tod heimischer war als im Osten. Es störte seine Entschiedenheit, mit der er sich zur Infanterie gemeldet hatte und mit der er sein bisheriges Leben endgültig von dem kommenden abzugrenzen entschlossen war, daß die Ostfront eine »idyllische« genannt wurde. In dem Stadium, in dem er sich jetzt befand, wünschte er sich die stärksten Erlebnisse, die größten Gefahren, die härteste Unbill. Es galt, wie er sich sagte, den glücklichen und seltenen Zustand seiner Entschlossenheit so gründlich auszunützen, daß er schließlich ein dauernder werde. Er fürchtete, dieser Zustand würde vorübergehen, ohne den erhofften Gewinn gebracht zu haben. Es war schließlich die alte Veranlagung Pauls, die ihn zur Kunstgeschichte, nach England, zur Kavallerie und zum Pazifismus gebracht hatte. So wie er einmal ein vollkommener Angelsachse hatte werden wollen, so versuchte er jetzt, ein vollkommener Infanterist zu werden.
Aber von diesen geheimen Trieben wußte er selbst wenig. Über ihnen lag, dicht und schwer wie dieser Novembertag, eine trübe, neblige Gleichgültigkeit. Er saß schon seit Stunden allein in dem kalten Abteil zweiter Klasse. Der andere Passagier, der es zwei Stunden lang mit ihm geteilt hatte, war längst ausgestiegen. Obwohl der Abend noch nicht gekommen war, blinzelte schon in das Halbgrau des Nachmittags die fettige Lampe, gelb und ölig erinnerte sie Paul an Lichter auf Gräbern zu Allerseelen. Manchmal wischte er mit dem Ärmel über das angelaufene Glas der Fensterscheibe, um sich zu überzeugen, daß sich der Zug wirklich bewegte. Dann sah er den grauen Vorhang des Novemberregens über diesem Hinterland, das schon in die Etappe überzugehen begann, und hinter dem Vorhang kleine Dörfer, verlassene und zerstreute Gehöfte, Frauen mit den Rockschößen über den Köpfen, schwarze Juden in langen Gewändern, gelbe Stoppelfelder und gelbe, gewundene Straßen, deren schwarzer Schlamm durch den Regen schimmerte, aufrechte und geknickte Telegraphenstangen, Feldküchen, verloren und halbversunken im Kot, marschierende Trainsoldaten, dunkelbraune Baracken, Schienen und kleine Stationen, an deren jeder der Zug halten mußte. Er hielt übrigens oft auch zwischen den Stationen. Es war, als hätte der Zug selbst Bedenken vor dem Feld, dem er sich näherte, und als benutzte er jede Gelegenheit, um stehenzubleiben und auf den Waffenstillstand zu warten.
So absurd dieser Gedanke war und so merkwürdig die Furcht Pauls, er könnte zu spät in den Krieg kommen, so huschte doch die Vorstellung hin und wieder durch sein Hirn, die Vorstellung, daß sie jetzt draußen dabei waren, Frieden zu schließen, und daß er sich in der fürchterlichen Lage befinden würde, so, wie er war, unverändert und mit der Erinnerung an sein letztes, beschämendes Erlebnis mit dem Kosaken behaftet, in das friedliche Leben zurückzukehren. Seinen momentanen Bedürfnissen entsprach ein Krieg, der noch mindestens fünf Jahre dauern sollte. So ratlos sah er sich dem Frieden entgegentreten, seinem Haus, seiner Mutter, der Bank, dem Dienstpersonal und den Beamten. Wenn er sich erinnerte, daß er noch vor gar nicht langer Zeit flammende Proteste gegen den Krieg geschrieben und geredet hatte, so verstand er die vergangenen Monate und Jahre nicht mehr. Sie lagen unbegreiflich hinter dem schrecklichen Erlebnis mit Nikita, hinter diesem rätselhaften Erlebnis. Ein Mann hatte ihn bedroht, verwundet, besiegt und war verschwunden. Nichts weiter. Ja, aber dieser Mann weiß vielleicht mehr von mir, alles von mir, mehr als ich selbst. Er hält mein Leben in der Hand, er kann mich vernichten – und ich sehe ihn nicht, er ist für immer verschwunden. Mein Leben aber – so tröstete er sich – halte ich jetzt selbst in der Hand, solange ich an der Front bin. Ich kann jeden Augenblick sterben. Übrigens, wenn der Ukrainer etwas weiß, ich leugne alles. Ich werde tapfer sein, man wird mir glauben. Vielleicht hat der und jener meiner früheren Freunde und Genossen mich verraten. Ich leugne. Man hat keine Beweise. Nicht einmal Artikel mit meiner Handschrift, denn ich habe sie auf der Maschine schreiben lassen, unter einem fremden Namen. Und schließlich ist es auch gleichgültig.
Es beruhigte ihn, sooft der Zug stehenblieb, die hartnäckige, eintönige Melodie des Regens zu hören, der mit der gleichen Ausdauer und der gleichen sanften Eindringlichkeit über Hunderte von Meilen ausgebreitet war und der die Entfernungen aufzuheben schien, die Verschiedenheit der Gebiete und der Landschaften. Die Welt bestand nicht mehr aus Bergen, Tälern und Städten, sondern nur noch aus November. Und in dieser bleiernen Gleichgültigkeit gingen Pauls Kümmernisse zeitweilig unter. Er fühlte sich eins mit irgendeinem der wehrlosen Gegenstände auf den Feldern, die dem Regen preisgegeben waren, den kleinsten, geringfügigsten, leblosen Wesen, einem Strohhalm zum Beispiel, der ohne Willen dalag und sein Ende erwartete, in voller Glückseligkeit eigentlich, insofern er Glück zu empfinden imstande gewesen wäre. Ein Bach konnte ihn mitnehmen und davontragen, ein Stiefel ihn zertreten.
Also empfand Paul zum erstenmal den Krieg, und wie die Millionen eingerückter Männer fühlte er den erhabenen Gleichmut derer, die sich blind einem blinden Schicksal unterwerfen. Ich werde wahrscheinlich untergehen, dachte er mit einem süßen Trost. Und als der Abend weiter vorrückte und hinter den Scheiben die schwarze Wand der Finsternis sich erhob, im Innern des Wagens das trübe Licht stärker wurde, kam er sich für lange Sekunden wie ein Toter vor, ein Toter in einer beleuchteten Gruft. Weit hinter ihm lagen die Sorgen und Freuden, die Ängste und die Hoffnungen des Lebens. Er war ihnen allen entflohen. Es gab für einen Flüchtling wie ihn kein ruhigeres Ziel, keinen sichereren Zufluchtsort als die Front und den Tod.
Er erinnerte sich an das Testament, das er kurz vor der Abreise verfaßt hatte. Für den Fall, daß er starb, verblieb alles seiner Mutter, nur ein ganz geringer Teil seinem Bruder, den auch der Vater in seinen Testamenten nicht erwähnt hatte. Den Gedanken an Theodor verscheuchte Paul schnell, er mochte nicht an den Bruder denken. Obwohl er freiwillig und sogar gerne in den Tod ging, überfiel ihn immer wieder ein kleiner, hurtiger Neid gegen den jüngeren Bruder, der sicher dahinwandelte im Schutz seiner Jugend, sicher vor dem Krieg und sicher, das Ende des Krieges zu erleben und bessere Zeiten. Er verdient es nicht! sagte sich Paul. Wieder ergab er sich der Seligkeit der Todesahnungen.
In dieser Stimmung übertrieb er den Reichtum, die Dauer und die Fülle seiner vergangenen Jahre. Auch diese Übertreibung noch diktierte ihm sein hochmütiges Selbstbewußtsein. Ich bin reich gewesen, sagte er sich, jung, schön, kräftig gewesen. Ich habe Frauen besessen, die Liebe gekannt, die Welt gesehn. Ich kann ruhig sterben. Plötzlich überfiel ihn die Erinnerung an Nikita. Ich hätte, dachte er, früher an die Front gehn sollen. Ich hätte kein Kriegsgegner werden sollen. Ich gehe jetzt nicht freiwillig in den Tod, sondern gejagt. Es geschieht mir recht.
Je weiter die Nacht fortschritt, desto mehr Kälte brachte sie. Paul versuchte, die Lampe auszulöschen. Er wollte still im Finstern liegen, die Vorstellungen von einem Grab sollten vollkommen sein. Er wollte in einem rollenden Grab liegen und ins Jenseits fahren. Die Lampe ließ sich nicht auslöschen, sie war das Ewige Licht, sie brannte schon für sein Seelenheil. Er konnte nicht einschlafen. Er versuchte, mit gefrorenen Fingern etwas in sein Notizbuch zu schreiben. Schreiben macht klar! dachte er. Er war unfähig, auch nur einen Satz aufzuzeichnen, und er begann, sinnlose Ornamente über die weißen Blätter zu ziehen, wie einst in der Religionsstunde. Seine Kollegen aus der Schulzeit fielen ihm ein. Es gelang ihm, das eine und das andere Gesicht aufzuzeichnen, er rekonstruierte die ganze Klasse, die Schulbänke, die Lehrer.
Darüber verging die Nacht.
Am nächsten Morgen war der Regen dünner Hagel und glasiger Schnee geworden, und seine Tropfen hämmerten mit einem zarten, metallenen Klang gegen die Fenster.
Der Zug näherte sich der letzten Bahnstation. Es war der Rand der Welt. Hier begann die schmalspurige, von Pferden gezogene Kleinbahn. Sie führte unmittelbar zum Regimentskommando.
Paul fuhr mit einigen Soldaten, die vom Urlaub zurückkehrten, in dem offenen, niederen Wagen. Wie durch eine dicke Mauer hörte er ihren Gesang, den das ferne Trommelfeuer begleitete. Er fühlte kaum den Wind und den stechenden Eisregen. Er sah die ersten Verwundeten, die mit weißen Verbänden am Arm der Sanitäter den langen Weg zurückhumpelten, die Blutspuren, die sie auf der schwarzen, feuchten Erde zurückließen und auf dem weichen, dichten, gelben Lehm. Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, den Blick reglos auf die Gruppen der Zurückgehenden gerichtet, auf das blendende Weiß, das lackrote Blut, das verkrustete Grau der Uniformen, den schwarzen Kot der Straße, stand Bernheim in der Ecke. Die Schüsse wurden deutlicher, die Soldaten hörten auf zu singen, ein zweiter Tag senkte sich der Dämmerung entgegen.
Er kam, als die Nacht anbrach, in die Stellung und hatte unerwartetes Glück; Glück, wie er es damals verstand, und noch in einem anderen Sinn. In dieser Nacht erwartete man einen Sturmangriff. Alle Kameraden schrieben Feldpostkarten nach Haus. Nicht aus einem Bedürfnis, aber nur, um nicht aufzufallen, schrieb auch Paul an seine Mutter. Sie wird vielleicht um mich weinen, sagte er sich, und er dachte an das Begräbnis seines Vaters und an die Tränen in den blanken Eisaugen seiner Mutter. Für seinen Bruder Theodor fügte er keinen Gruß hinzu. Aber er starb nicht, Paul Bernheim! Ein Bajonett durchbohrte seine rechte Wange. Er kam am nächsten Morgen ins Feldspital. Man nahm eine Kieferoperation vor. Während seine Wunde heilte, bekam er Typhus und wurde in ein Epidemiespital in die Etappe abgeschoben. Es war, als ob der alte Felix Bernheim über dem Sohn, auf den er wahrscheinlich auch im Himmel noch stolz war, väterlich wachte; als ob das Glück, das dem Alten gute Geschäfte und einen Haupttreffer beschert hatte, den Jungen vor dem Tod bewahrte. Denn jetzt erst, im Fieber, während er mit vier anderen in der Offiziersabteilung der Baracke lag, jetzt erst erwachten in Paul die Furcht vor dem Tode und der Drang nach dem Leben, das ihm für ein paar Tage so gleichgültig gewesen war. Er glaubte mit allen Kräften, daß er am Leben bleiben würde, er nahm die glückliche Wunde, die er im Handgemenge erhalten hatte, für ein Versprechen des Schicksals, ihn am Leben zu lassen. Und obwohl jeden zweiten Tag einer der Kameraden neben ihm blau wurde, reglos und schauderhaft, wußte Bernheim auch im höchsten und verwirrenden Fieber jeden Augenblick, daß er nicht sterben würde.
Es begann besser zu werden. Er verließ das Spital, erkältete sich, bekam eine Lungenentzündung und gelangte wieder in ein anderes.
Auch diese neue Krankheit schien eine unmittelbare Folge seines Wunsches zu sein, am Leben zu bleiben, nie mehr wieder ins Feld zu gehen. Längst hatte er jenes Ereignis mit Nikita in den Hintergrund seiner Erinnerung verdrängt. Er wurde wieder der alte Paul Bernheim. Er lag im Bett, das an der Wand in der Nähe des Fensters lehnte, mit dem Bewußtsein, siegreich gewesen zu sein und klüger als alle Welt. Sein alter Hochmut kam wie ein guter, treuer Freund ans Bett. Ein bläuliches Nachtlicht brannte über der Tür. Die unruhigen, hastigen und sägenden Atemzüge eines kranken Kameraden waren wie unmenschliche Laute, Stimmen fremder, unbekannter Tiere. In dem blauen Schimmer der Lampe, der an winterliches Mondlicht erinnerte, sah Paul Bernheim noch das letzte Hindernis, das er zu überwinden hatte. Er protestierte gegen die unschuldige Lampe. Diese Lampe verhinderte, daß ein Mann wie Paul Bernheim, der gewiß noch ganz andere Bedürfnisse haben durfte als die gewöhnlichen Kranken, eine Kerze anzünden konnte, um zu lesen oder zu schreiben oder zu zeichnen. Nicht genug daran, daß man den Geruch von Karbol und Jod Tag und Nacht einatmen mußte, durfte man auch nicht lesen, wann es einem gefiel. Die schönen, weiten Zimmer im Elternhaus! Paul Bernheim erinnerte sich genau an die Musterung der Tapeten, den warmen, goldenen Gongschlag, der zum Frühstück rief, die Melodien von Tschaikowsky, die er vierhändig mit seiner Schwester gespielt hatte! Zwischen der Stille, die in diesem Spital herrschte, dem scharfen und strengen Geruch seiner Räume, dem entsagungsvollen Weiß der ärztlichen Kittel, der Krankheit, den Seufzern und der Müdigkeit der Kameraden, dem ewigen Flügelrauschen des Todes – und Pauls wacher, warmer und hochmütiger Sehnsucht nach dem Leben war der Unterschied so groß wie zwischen krank und gesund. Paul Bernheim war stolz auf seine fortschreitende Genesung, als wäre sie sein Verdienst. Er verachtete die Kranken, als wären sie minderwertige Wesen. Er schätzte die Ärzte gering, weil das Karbol stank. Er hatte die Gewohnheit angenommen, in jedem Arzt, der an sein Bett trat, einen Zahntechniker zu erkennen, der nur im Krieg ärztliche Funktionen ausübte. Denn nach der Meinung Bernheims war ein Zahntechniker weniger als ein Internist, ebenso wie in der Rangliste seiner Mutter ein Staatsbeamter über einem Bankier stand. Er sah in jeder Krankenschwester ein Dienstmädchen, um sich im geheimen für die Verordnungen des Spitals zu rächen, das nicht genügend Rücksicht auf seine besonderen Wünsche nahm. Es war, als ob die paar Stunden, in denen er mit dem Leben abgeschlossen hatte und von seiner eigenen Persönlichkeit nicht so eingenommen gewesen war wie sonst in seinem ganzen Leben, es war, als ob diese wenigen Stunden jetzt einen doppelten Hochmut erzeugten. Es schien, daß die Natur Paul Bernheims auch eine vorübergehende Bescheidenheit nicht ertragen konnte und wettzumachen entschlossen war. Denn es ist nicht wahr, daß Leiden, Gefahren, Nähe des Todes einen Menschen ändern. Paul Bernheim konnten sie nichts anhaben.
Seine Rekonvaleszenz dauerte so lange, daß er in der Tat den Krieg nicht mehr zu fürchten brauchte. Als er das Spital verließ, bekam er einen Erholungsurlaub, und ehe dieser noch zu Ende war, brach die Revolution aus.
Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß sich Bernheim in jenen Tagen mit seinen Offiziersabzeichen auf die Straße wagte, ja daß er sich weigerte, Zivil anzulegen. Er schätzte seinen Rang nicht mehr, weil er zu einer besiegten Armee gehörte. Und nichts verachtete er, der vieles verachtete, so sehr wie das Besiegte. Er war im Gegenteil froh, weil nun seine kriegsfeindliche Episode auf keinen Fall mehr schaden konnte. Mit einem leisen, allerdings sehr verborgenen Stolz dachte er noch daran, daß England, sein England, gesiegt hatte. Es war, als hätte die Weltgeschichte der Anglomanie Bernheims recht gegeben, und er machte, wenn man vom Krieg sprach, das Gesicht jener Männer, die gern behaupten: »Ich hab's ja gesagt.« Und trotzdem konnte er sich nicht dazu bequemen, seine Distinktionen abzulegen, weil es irgendein Soldat so wollte. Er schätzte ein revolutionierendes Volk ebenso gering wie ein besiegtes Vaterland.
So kam es, daß er eines Tages von einigen Soldaten blutig geschlagen wurde und als Muster heroischer, patriotischer Treue in einigen Zeitungen der Rechten figurierte. Es war das erstemal, daß er seinen Namen gedruckt lesen konnte. Und als wäre er nie ein Kriegsgegner gewesen und als hätte er niemals das Leben dem Tod im Felde vorgezogen und England seinem Vaterland, begann er, konservativ und patriotisch zu denken, und schon sah er sich Abgeordneter und Minister werden.
Selbstverständlich Minister.