Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Francesco Testi blickte mißmutig durch die großen Scheiben des Cafés auf das Gewühl der Straße. Draußen auf dem breiten Boulevard, der »Cannebière«, tobte das bunte geräuschvolle Treiben des Karnevals. Marseille, diese seltsame, nervenpeitschende, farbenglühende Stadt, diese Stadt voller Schönheit, Elend und Romantik feierte Karneval. An den Straßenrändern hatten die Händler ihre Buden und Stände mit bunten Lampions geschmückt, die Austernverkäufer an den Ecken waren in eine närrische Vermummung gehüllt; überall wurden Papierschlangen, Papiermützen, bunte Pappflöten, Konfetti und Wurfbälle zum Kauf angeboten. Eine dichtgedrängte Menschenmenge quirlte durcheinander, kostümierte Musikbanden zogen umher und brachten Serenaden und Ständchen dar.
Testi wandte achselzuckend den Blick von dem farbenglühenden Treiben und warf mit einer schnellen Gebärde die halbaufgerauchte Zigarette in den Aschbecher. Seine feingliedrigen Diplomatenhände spielten in nervöser Unruhe mit der Decke des Tisches.
Joe Jenkins saß dem jungen Sekretär gegenüber und betrachtete ihn von der Seite. In dem abgezehrten Gesicht Testis lagen die dunkel umschatteten Augen tief in ihren Höhlen und gaben den Zügen ein fast asketisches Aussehen.
Jenkins nahm die Speisekarte und reichte sie dem anderen mit einem aufmunternden Lächeln hinüber. »Ich denke, wir werden zunächst einmal frühstücken. Sie werden Hunger haben nach der langen Fahrt.«
Testi schob die Karte zurück. »Ich danke. Ich habe keinen Appetit.«
»Was ist Ihnen, Signor Testi?« fragte Jenkins besorgt.
Der Sekretär stützte den Kopf in die Hand. »Diese Stadt, dieses Marseille, geht mir auf die Nerven. Der Lärm, das Hasten, ich glaube, ich ertrage das nicht lange.«
»Ja«, erwiderte Jenkins, ohne die Augen von der Speisekarte zu erheben, »es ist eben Karneval. Nehmen Sie auch eine ›Bouillabaisse‹?« fragte er und winkte den Kellner herbei.
Testi lehnte mit einer Gebärde des Ekels ab. »Ich danke. Bringen Sie mir einen ›Aperitif‹.«
Der Detektiv beugte sich zu seinem Begleiter hinüber. »Signor Testi«, sagte er eindringlich, »ich habe Sie unter dem Schutze der amerikanischen Botschaft hierherkommen lassen, weil wir bisher – seltsam genug – noch keine Gelegenheit fanden, uns ruhig zu unterhalten. Ich selbst mußte Genua sehr schnell verlassen, weil gewisse Anzeichen mich hier nach Marseille riefen. Haben Sie sich jetzt so weit in der Gewalt, daß Sie mir eine klare Schilderung der Umstände geben können, die zu Ihrer Verurteilung und zu der Deportation nach Alina führten?«
Francesco Testi schwieg, aber Jenkins erkannte die unausgesprochene Frage, die in seinen Augen lag.
»Mein lieber Freund«, sagte er im herzlichen Ton, »wenn wir – was ich hoffe – noch heute zur Klärung aller Dinge kommen werden, so steht auch Ihrem Wiedersehen mit Miß Dorothy nichts im Wege. Seien Sie ganz außer Sorge«, er legte seine Hand auf den Arm Testis, »Miß Dorothy ist gut aufgehoben. Sie hat mir Grüße an Sie aufgetragen.«
»Und darf ich nicht wissen, wo ...?«
»Später, Signor Testi, später.«
Der Kellner brachte das Bestellte; während er servierte sagte Jenkins: »Es stört Sie hoffentlich nicht, wenn ich esse, während Sie erzählen.« Er hob den Deckel von der Terrine. »Ist es Ihnen überdies bekannt, daß man in dieser farbenfrohen Stadt Fischsuppen in beinahe hundert Abarten kennt?«
Testi wandte den Kopf zum Fenster. »Nein; ich kann diesen Fischgerichten keinen Geschmack abgewinnen.«
Jenkins löffelte mit sichtlichem Behagen seine Suppe. »Beginnen Sie, Signor Testi; ich höre aufmerksam zu.«
»Sagen Sie mir, bitte, Mister Jenkins, halten Sie es nicht für richtiger, ich warte mit meinem Bericht bis wir ruhig und unbelauscht in Ihrem Hotelzimmer sitzen?«
»Ihre Frage ist durchaus berechtigt. Aber warten Sie, ich werde mein Frühstück schnell beenden – dann werden wir sehen. Die ›Bouillabaisse‹ ist überdies delikat. Ich begreife, daß manche Leute einen Abscheu vor diesem Gericht haben; denn die Beschreibung, die man davon in den Reiseführern liest, klingt etwas seltsam. Aber dieses Gemisch von verschiedenen in Öl gekochten Fischen und dem Zusatz von Knoblauch, Zwiebeln, Tomaten, Lorbeeren und Brotbrocken ist – so bizarr es auch erscheinen mag – von einem undefinierbaren Gaumenkitzel. Mit dieser ›Bouillabaisse‹ identifiziert man sich gewissermaßen mit der Psyche von Marseille. Wenn man diese Suppe im Magen hat, versteht man die Stadt besser. So – darf ich Sie jetzt einladen, einen Mokka mit mir zu trinken?«
Testi warf dem Detektiv einen verwunderten Blick zu. »Ich denke, wir wollten ...«
»In mein Hotel gehen«, sagte Jenkins sich eine Zigarette anzündend, »um es Ihnen ganz offen zu sagen: ich wohne gar nicht im Hotel. Das setzt Sie in Erstaunen, begreiflicherweise. Aber ich habe es vorgezogen, in einem ganz kleinen unbekannten Gasthof in der Rue Lemaitre unten am Alten Hafen zu wohnen. Aus Sicherheitsgründen. Das scheint Ihnen paradox; aber ich werde es Ihnen erklären. – Am Tage meiner Ankunft bin ich im Hotel ›Bassano‹ hier in der ›Cannebière‹ abgestiegen. Als ich spät in der Nacht mein Zimmer betrat, fand ich unter meinem Bett einen Mann. Der Eindringling konnte nicht wissen, daß ich die Gewohnheit habe, Hotelzimmer nachts immer mit meiner Taschenlaterne abzuleuchten, bevor ich das Licht einschalte. Der Mann verweigerte jede Aussage auf der Polizei. Er war weder eine Hotelratte noch sonst ein gewöhnlicher Einbrecher. Man fand außer einem dreikantigen Stilett nichts bei ihm. Aber ich hatte dem Burschen schon vorher ein Quantum Akonitin abgenommen. Daran erkannte ich, mit wem ich es zu tun hatte.«
Der Kellner servierte den Mokka. Von der Straße kam johlendes Gelächter; die beiden blickten durch die Scheiben. Vor den großen Fenstern stand eine Musikbande – junge Burschen in phantastischen Kostümen, Kinder, närrisch herausgeputzt und junge Mädchen in bunten grellfarbigen Kleidern. Sie hatten alle möglichen Instrumente, Topfdeckel, alte Konservenbüchsen, kleine Trommeln, aber auch Mandolinen. Der Führer, ein großer, stämmiger Bursche, mit einer kurzen, roten Seidenlarve vor dem Gesicht, blies sogar auf einem silberglänzenden Saxophon.
»Ziehen Sie die Vorhänge zu«, sagte Testi zu dem Kellner.
»Pardon, Monsieur, es ist Karneval. Eine althergebrachte Sitte, die Leute bringen den Gästen ein Ständchen, wir dürfen sie nicht erzürnen.«
Testi setzte sich mit dem Rücken zum Fenster. Jenkins ließ sich nicht in seiner Ruhe stören; er winkte den Musikanten lächelnd zu.
»Sie glauben«, nahm Testi das Gespräch wieder auf, »daß man einen Anschlag auf Sie plante?«
Der Detektiv nickte. »Es blieb nicht bei diesem Versuch. Ich wechselte das Quartier und zog ins ›Hotel Méditerranée‹ in der Rue de Rome. Gestern vormittag gehe ich auf den Balkon meines Zimmers, um mir den großen Karnevalszug anzusehen. Plötzlich saust, einen Zoll von meinem Kopf entfernt, ein schwerer, bronzener Palmenkübel vom oberen Balkon herab. Das Zimmer über mir war unbewohnt – aber der Schlüssel steckte im Schloß. Jemand muß sich diesen Schlüssel verschafft haben. Ich wartete die Untersuchung nicht ab; es wird doch nichts dabei herausgekommen sein. Sehen Sie, lieber Testi, deshalb kann unsere Unterredung nicht im Hotel stattfinden, denn ich beziehe jetzt jeden Tag ein anderes Quartier. Augenblicklich wohne ich in der Rue Bouterie. Es ist die verworfenste, schmutzigste Elendsgasse, die ich je gesehen. Aber ich tauche dort ungekannt und ungesehen unter. Ich fühle mich dort unter Dirnen und Zuhältern sicherer als in dem komfortablen Hotel der ›Cannebière‹.«
Jenkins blickte mit ernsten Augen zu Testi hinüber, der schweigsam vor sich hinsah. »Es geht jetzt hart auf hart, mein junger Freund, ich weiß, daß ich noch niemals mit so rücksichtslosen und mächtigen Gegnern gekämpft habe; sie fühlen, daß ich drauf und dran bin, das Netz zuzuziehen. Sie scheuen vor keinem Mittel zurück. Es wird Zeit, daß ich mit ihnen zu Ende komme.« Er ballte die Faust, und in sein Gesicht trat der Ausdruck einer unbezwinglichen Willenskraft.
»Auch ich bin diesen Menschen zum Opfer gefallen«, sagte Testi leise und sinnend, »wer weiß, ob ich noch die Kraft aufbringen werde, für meine Rehabilitierung zu kämpfen.«
»Das ist Ihre Pflicht, Signor Testi, denken Sie an Dorothy. Und jetzt erzählen Sie mir – kurz und knapp – was Sie auf die Insel Alina gebracht hat. Oder muß ich besser sagen, wer Sie dorthin gebracht hat?«
Testi nickte. »Das letztere ist richtig, Mister Jenkins. Mein Unglück ist das Werk eines Mannes, der – aber ich will nicht vorgreifen – urteilen Sie selbst. Sie wissen, daß ich als Sekretär der italienischen Botschaft in London arbeitete?«
»Das ist mir bekannt. Auch daß Sie im Dezernat zur Bekämpfung des Rauschgifthandels tätig waren, und zwar in dem Ressort, dem Lord Haddington als Chef vorstand.«
»Nun, in dieser Eigenschaft wurde ich damals in besonderer Mission nach Paris beordert.«
»Eine Frage, Signor Testi, damals waren Sie bereits mit Dorothy verlobt?«
Eine flüchtige Röte überzog das blasse Gesicht des jungen Mannes. »Ja«, sagte er zögernd, »nach meiner Rückkehr wollten wir heiraten.«
»Waren Sie in Ihrer Mission in Paris erfolgreich?«
»Ja, über Erwarten. Freilich muß ich betonen, daß ich dabei etwas auf eigenes Risiko arbeitete. Die Aktionen meiner Behörde erschienen mir nur als halbe Maßnahmen. Ich war sehr ehrgeizig und wollte zu einem großen Erfolg kommen. Das Glück war mir insofern günstig, als ich gewisse Spuren fand, die vielleicht dazu geführt hätten, die Drahtzieher des Schmuggelkonsortiums festzunehmen und damit das ganze Unternehmen lahmzulegen. Ich hatte damals schon die Namen und Wohnorte dieser Persönlichkeiten festgestellt. Mit einem einzigen überraschenden Schlag hätte man sie alle abfangen können.«
Testi blickte gedankenvoll auf die menschenerfüllte Straße. »Aber ich hatte doch starke Bedenken, diesen letzten entscheidenden Schritt auf eigenes Risiko zu unternehmen – ein einziger Mißgriff hätte meine Karriere für immer verdorben. Ich gab also meine Ermittlungen in der vorschriftsmäßigen Form von Berichten an Lord Haddington weiter. Und nun, Mister Jenkins, kommt das Seltsame. Ich erhielt oft erst nach Wochen eine Antwort auf meine Darstellungen; meistens dann auch noch in oberflächlicher Weise. Diese Antworten gingen um den Kern der Sache fast immer herum; irgendwelche Direktiven bekam ich überhaupt nicht mehr. Das Seltsamste aber war, daß ich feststellen konnte: die Gegenpartei begann ihre Maßnahmen zu treffen. Die betreffenden Personen verschwanden aus ihren Domizilen; gewisse Transaktionen unterblieben ganz.«
»Sie hatten den Eindruck, als ob die Gegner gewarnt wurden?« fragte Jenkins.
»Durchaus; eine Spur wies nach Marseille; wenn ich das Nachtflugzeug von Le Bourget benutzt hätte, wäre ich am frühen Morgen in Marseille gewesen. Ich erbat mir telegraphisch Aktionsfreiheit – das Telegramm blieb unbeantwortet.«
»Verzeihen Sie, Signor Testi«, sagte Jenkins bedächtig, »hier muß ich eine Frage einschalten. Wenn Ihnen die Beantwortung Ihrer Berichte und Telegramme so mangelhaft erschien, weshalb nahmen Sie nicht das Telephon zur Hand und verlangten ein Gespräch mit Lord Haddington? Ein Dienstgespräch mit dem Auswärtigen Amt in London. Das wäre doch ohne weiteres zu haben gewesen?«
Testi senkte langsam den Kopf. Er legte die Fingerspitzen an die Schläfen und schien in tiefes Nachdenken versunken. Endlich hob er den Blick; seine Augen glänzten in einem schwärmerischen Schimmer. »Ich will es Ihnen sagen, Mister Jenkins«, flüsterte er, »ich will nichts beschönigen; hier beginnt meine Schuld, meine schwere Schuld. Zu jener Zeit war ich nur noch mit halbem Eifer bei der Sache; ich hatte nur noch geringes Interesse für meine Aufgabe – denn ich war verliebt. Rasend verliebt in eine Frau – was sage ich – in die herrlichste, schönste Frau, die ich je gesehen.«
»Sie brauchen mir nichts weiter zu sagen, Signor Testi, Miß Dorothy hat mir das erzählt.«
»Natürlich müssen Sie mich verurteilen, Mister Jenkins. Und doch, glauben Sie mir, Sie würden milder denken, wenn Sie diese Frau gesehen hätten.«
»Vielleicht«, sagte Jenkins lächelnd.
Testi schüttelte wehmütig den Kopf. »Elena Falieri«, sagte er leise, »ist mir zum Schicksal geworden. Sie werden das kaum verstehen, was es zu bedeuten hat, wenn man in einer Frau die Erfüllung sieht, wenn einem bei dem Gedanken an diese Frau das Herz stockt und wenn man alles vergißt, nur in dem einen Gefühl, sie zu lieben.«
Francesco Testi blickte mit einer leichten Verlegenheit in die kühlen grauen Augen Jenkins', der ihm schweigend gegenübersaß. »Es mag Ihnen phantastisch und überschwenglich erscheinen – aber das ist eben der unbeschreibliche Zauber der Liebe, daß sie uns über uns selbst erhebt, daß wir in ihr ein tausendfach gesteigertes Leben haben.«
»Darf ich fragen, Signor Testi, wurden Sie von dieser Frau wiedergeliebt?«
»Ich glaube. Nein – sicher. Ich bitte Sie, Mister Jenkins, die Falieri war die gefeiertste Sängerin Europas, vielleicht der ganzen Welt. Als ich sie in Paris kennenlernte, war sie umschwärmt, verehrt. Alles lag ihr zu Füßen. Was wären ihr meine armseligen Huldigungen gewesen, wenn sie mich nicht geliebt hätte? Sie schlug einen Vertrag aus, um mit mir nach Italien zu fahren, nach San Remo.«
»Hatten Sie ihr den Vorschlag gemacht?«
»Nein. Ich hätte den Mut dazu nicht aufgebracht. Sie selbst regte den Plan an; das eben gab mir ja die beglückende Gewißheit ihrer Liebe.«
»Haben Sie damals nicht die verzweifelten Briefe Ihrer Braut bekommen?«
»Die Welt um mich war versunken. Ich weiß es, Mister Jenkins, damals hätte mir jemand meine Ehrlosigkeit vorhalten sollen – ich hätte ihm geantwortet: ich will leben, und ohne Elena ist kein Leben.«
Jenkins strich sich über das Kinn. »Hm. Was geschah nun in Italien? Sie fuhren also mit der Falieri nach San Remo?«
Testi runzelte die Stirn. »Es kam nicht so weit«, sagte er mit schwerer Stimme. »Gewiß, ich ließ alles hinter mir zurück und fuhr ohne Urlaub, ohne ein Wort zu hinterlassen, mit Elena über Marseille nach Ventimiglia. Aber kaum hatte ich italienischen Boden betreten, als mich das Verhängnis ereilte.«
»Sie wurden verhaftet«, warf Jenkins ein.
»Ja. Ich wurde in eine Falle gelockt. Spät am Abend kam eine Dame ins Hotel und verlangte eine Rücksprache mit mir. Ich lehnte zunächst ab. Die Unbekannte bestand aber darauf, mit mir in dienstlicher Angelegenheit verhandeln zu müssen. Sie legitimierte sich jetzt als Agentin des Auswärtigen Amtes.«
»Wissen Sie noch wie sie hieß?«
»Ja. Es war Gloria Wynn, eine Spionin im Dienste des Auswärtigen Amtes.«
»So, so. Das dachte ich mir.«
Testi lächelte. »Nein, Mister Jenkins, Ihre Vermutung ist nicht richtig. Sie kam seltsamerweise nicht, um mir zu sagen, daß ich meine Pflicht verletzt hätte. Sie brachte mir eine Nachricht, die mich in ungeheure Aufregung versetzte.«
Jenkins hob die Hand. »Einen Augenblick, Signor Testi. Sie sagten vorhin, Sie seien ohne Urlaub, ohne Benachrichtigung, sozusagen bei Nacht und Nebel abgereist. Fiel es Ihnen jetzt nicht auf, daß man nach so kurzer Zeit schon Ihren Aufenthaltsort herausgefunden hatte?«
Testi stutzte. »Jetzt, Mister Jenkins, wo Sie mich so sachlich und logisch fragen, erkenne ich erst, wie blind ich in diese Falle gestolpert bin. Aber Sie müssen bedenken, ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen, in frevelhaftem Übermut eine sichere und glänzende Karriere zerstört. Als ich den Namen dieser Beamtin hörte, mußte ich glauben, daß man mir auf der Spur sei, daß man mich zurückholen und mit Schimpf und Schande aus dem Amt jagen würde.«
»Das begreife ich. Welche Nachricht brachte Ihnen nun die Wynn?«
»Man habe in Ventimiglia einen Zusammenkunftsort der Häupter des Rauschgiftkonzerns entdeckt. Es böte sich eine Gelegenheit, diese Leute heute nacht auf ihrer Durchreise nach Marseille zu verhaften.«
»Setzten Sie irgendwelche Zweifel in diese Mitteilung? Ich meine, erschien Ihnen irgend etwas daran verdächtig?«
»Nicht das geringste. Ventimiglia als Grenzort und Hafenstadt war wohl geeignet als Treffpunkt der Schleichhändler zu dienen. Außerdem: ich sah hier doch die Möglichkeit vor Augen, mich zu rehabilitieren. Wenn mir dieser Schlag gelang, durfte ich hoffen, meinen begangenen faux pas zu vertuschen. Mein Ehrgeiz war von neuem erwacht – ich verabredete alles Nähere mit der Wynn.«
»Benachrichtigten Sie die italienische Polizei?«
»Nein; das übernahm die Agentin.«
»Sprachen Sie mit Ihrer Freundin – mit Madame Falieri über ihr Vorhaben?«
»Ja. Sie warnte mich, ja, sie beschwor mich, dem Unternehmen fernzubleiben.«
»Und dann?«
»Dann geschah das Schreckliche. Während ich in einem primitiven Gasthof die vermeintlichen Häupter des Schmuggelkonzerns belauschte, erkannte ich zu meinem Erstaunen, daß diese Männer dort drinnen ganz andere Ziele und Zwecke verfolgten als Opiumhandel. Es war eine Versammlung von Gegnern des faschistischen Regierungssystems. Man sprach über einen Anschlag auf den Ministerpräsidenten. Verblüfft sah ich mich nach meiner Begleiterin um, sie war verschwunden. Ich wollte mich zurückziehen; in diesem Augenblick drangen Geheimpolizisten von allen Seiten ein – die Versammlung wurde aufgehoben. Auch ich wurde verhaftet.«
Testi schwieg und starrte vor sich hin. »Die Ereignisse der nächsten Wochen vermag ich heute noch nicht klar zu übersehen. Die Verhafteten, auch ich, wurden in derselben Nacht noch nach Rom transportiert. Ich kam mit der Außenwelt erst wieder in Verbindung, als ich vor dem Tribunal stand – angeklagt des Hochverrats. Man bewies mir meine Schuld durch Korrespondenzen, die man zwischen meinen Papieren gefunden. Briefe, die meine Zugehörigkeit zu den Verschwörern dokumentierten. Vergeblich berief ich mich auf meine Familie, auf meine Stellung als Botschaftssekretär. Es wurden uns nur Offizialverteidiger zugestanden, jeder Verkehr mit der Öffentlichkeit streng unterbunden. Es war vergeblich, daß ich nachwies, keiner der Verschworenen kannte mich oder hatte mich je gesehen. Der Prozeß wurde mit einer geradezu unheimlichen Schnelligkeit betrieben. Er endete mit der Verurteilung aller.«
Testi ballte die Faust und ließ den Kopf schwer auf die Brust sinken.
Draußen klang Lärm auf – die Musikbande war zurückgekehrt. Das Geplärre der Mandolinen vermischte sich mit dem Rasseln der Trommeln und dem hellen Diskant der Flöten. Jaulend fiel das Saxophon ein, mit Händeklatschen begleiteten die Frauen und Kinder den Refrain des Liedes.
Der große stämmige Bursche mit der roten Seidenmaske trat dicht an das Fenster heran. Man sah seine dunklen Augen durch die Larve. Es schien, als ob er das Lokal mit einem langen suchenden Blick überflog.
Mit leiser dunkler Stimme begann Testi wieder zu sprechen: »Erlassen Sie mir die Schilderung meines Lebens auf Alina. Sie haben mich dort gesehen, Sie wissen, wie nahe ich dem Tode war. In den qualvollen, schlaflosen Nächten in meiner Zelle, in den Stunden, in denen ich zu der furchtbaren Erkenntnis kam, daß meine Tage gezählt waren, erfüllte mich nur noch der eine große glühende Wunsch, meinen Namen von der Schmach zu reinigen – und mich zu rächen.«
»Es gelang Ihnen, eine Nachricht an Mister Crane zu vermitteln – einen Hilferuf.«
»Ja, durch einen Sträfling, der zur Entlassung kam. Luigi ... ich weiß nicht einmal seinen Namen. Er war der einzige Mensch, der mir Mitleid bezeugte, der mir half, der mir Hoffnung gab.«
»Hatte er außer den Zeilen, die Sie ihm mitgaben, noch eine mündliche Botschaft?«
Testi sprang auf, seine Augen glühten. »Ja – ich vertraute ihm den Namen an. Den Namen des Mannes, der mich zugrunde gerichtet hatte. Vernichtet, ausgelöscht aus dem Leben, mit kalter unbarmherziger Grausamkeit. Einzig und allein, weil er erkannte, daß ich hinter sein großes Geheimnis gekommen war.«
Jenkins legte seine Hand auf den Arm des Erregten. »Wir fallen auf. Beruhigen Sie sich, Testi.«
Testi blickte sich schnell im Kreise um. Einige Gäste hatten die Zeitung sinken lassen und sahen neugierig zu den beiden hinüber.
»Wer war also dieser Mann?« fragte Jenkins leichthin.
Testi hob die Augen mit einem erstaunten, fast verständnislosen Ausdruck. »Muß ich Ihnen das wirklich erst sagen, Mister Jenkins? Sollten Sie nicht längst erkannt haben, daß es nur einen Mann gibt, der in der Lage ist, alle getroffenen Maßnahmen der Regierung zu durchkreuzen? Daß es nur im Interesse dieses Menschen lag, wenn ich für immer verschwand? Er war es, der skrupellos alles beiseite schaffte, was zur Entlarvung seiner Person diente.«
»Sie meinen, auch Ihr Bote aus Alina fiel dem Manne zum Opfer«, warf Jenkins ein.
»Natürlich – und Mister Crane ist verschwunden. Er mußte verschwinden und wird kaum mehr am Leben sein; denn Luigi hat ihm den Namen genannt. Den Namen Sir Ernest Haddington – ja, Mister Jenkins, ich behaupte es: Lord Haddington ist das Haupt des Rauschgiftkonsortiums!«
Jenkins hob lauschend den Kopf. »Ich glaube, diese Musikanten bringen dem Wirt ein Ständchen. Sehen Sie nur, sie gruppieren sich dort am Eingang.« Er trommelte mit den Fingern den Takt des Liedes mit und sah sich lächelnd zu den Gästen um. Fast alle sangen mit, wiegten die Köpfe im Rhythmus des Refrains; der eben noch so stille Raum war von Lärm und Fröhlichkeit erfüllt.
»Ich muß gestehen«, sagte Jenkins, »diese Jungens spielen trotz ihrer unmöglichen Instrumente verteufelt gut. Finden Sie nicht auch?«
Testi gab keine Antwort. Er sah unmutig zu den Musikanten hinüber, die Almosen sammelnd jetzt von Tisch zu Tisch gingen.
»Lord Haddington«, nahm Jenkins das Gespräch unvermittelt wieder auf, »also mit anderen Worten, hinter diesem mysteriösen Georg Stylianides verbirgt sich, Ihrer Meinung nach, der ehrenwerte Lord Ernest Haddington?«
»Es gibt keine andere Lösung«, sagte Testi finster.
»Offengestanden, ich glaube überhaupt nicht an die Existenz eines Georg Stylianides.«
»Aber, Mister Jenkins, Sie verfolgen diesen Mann und glauben nicht an seine Existenz? Wie soll ich das verstehen?«
»Ganz einfach. Ich halte die Fiktion aufrecht, daß ich hinter einem Georg Stylianides her bin. Es dient zur Irreführung.«
»So halten Sie Sir Ernest nicht ...?«
»Excusez, Messieurs, une douceur ... s'il vous plaît.« Zwei junge Burschen waren an den Tisch getreten und hielten ihre Baskenmützen hin.
Jenkins suchte in seinen Taschen nach kleinen Münzen. »Vorsicht!« schrie er plötzlich und riß Testi mit einem Ruck zur Seite.
Ein klirrendes Splittern ertönte, Glasscherben flogen umher, krachend fiel der runde Spiegel von der Wand.
Jenkins, der sich blitzschnell gebückt hatte, stürmte durch die Reihen der bestürzten Gäste. Aber ehe er die Tür des Cafés erreicht hatte, war der Führer der Musikbande – jener Mann mit der roten Seidenlarve – im Gewühl der Straße verschwunden.
Eine leichte Wolke von Pulverdampf lag im Raum, Kellner und Gäste umringten die zwei Burschen, die bleich und zitternd keine Antwort auf die erregten Fragen der Gäste fanden.
»Was war das?« fragte Testi den zurückkehrenden Detektiv.
Jenkins ging hinüber zu dem zersplitterten Spiegel, er bückte sich suchend nieder. »Um ein Haar«, sagte er ruhig. »Hier«, er legte das abgeplattete Projektil auf den Tisch, »ich sah glücklicherweise den Burschen hinter mir im Spiegel auftauchen. Eine Sekunde später wäre es zu spät gewesen.«
Zwei sergents de ville drängten sich durch die Menge.
»Bitte, meine Herren«, wandte sich Jenkins an die beiden, »bringen Sie diese Leute auf die Präfektur – wir werden dort einige Worte mit den Bürschchen zu wechseln haben. Kommen Sie, Signor Testi, noch heute abend will ich Ihnen die Lösung des Rätsels sagen.«
*
Der Schlitten der Schreibmaschine flog mit beängstigender Schnelligkeit hin und her. Ohne aufzusehen hämmerte die kleine dunkelhaarige Dactylo auf die Tasten; sie nahm die schnellen abgehackten Worte des Diktierenden gewissermaßen im voraus von seinen Lippen.
»Befehl für Capitaine Malon: Zwanzig Mann besetzen um zehn Uhr dreißig die sämtlichen Zugänge zum Alten Hafen. Haben Sie, Mademoiselle? Gut, weiter. Die Gruppe des Leutnants Gaillard von der Wache X riegelt Punkt elf Uhr die Rue Bouterie und die Coutellerie ab. Weiter: Sämtliche Patrouillen durch die Hafenviertel sind von zehn Uhr ab zu verstärken. Haben Sie? Ordre für Monsieur Raynal von der Hafenkommandantur: Sämtliche Polizeibarkassen und Motorboote sind in erhöhter Alarmbereitschaft zu halten, die Hafenwache bleibt in beständiger telephonischer Verbindung mit der Präfektur. Weiter: Befehl für Monsieur Defresne von der Kriminalpolizei: Sämtliche Detektive und Agenten der Abteilung M werden ab zehn Uhr in unauffälliger Weise, vielleicht unter Benutzung von Masken, auf Säle und Eingänge des Lokals ›El Paradiso‹ verteilt. – So, das wäre alles. Halt, noch eins: Jeder Gruppenführer hört gegebenenfalls auf das Kommando des Monsieur Joe Jenkins, von mir mit besonderer Vollmacht versehen. Alle Gruppen melden mir in einer halben Stunde ihre Bereitschaft. – Es ist gut, Mademoiselle. Nun, Monsieur Jenkins«, wandte sich der Sprechende an den Detektiv, »sind Sie mit diesen Maßnahmen einverstanden oder haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«
»Nein, Herr Präfekt, diese Anordnungen sind ganz ausgezeichnet. Ich danke Ihnen für Ihre liebenswürdige Bereitwilligkeit, mich zu unterstützen.«
Der Polizeipräfekt von Marseille ging auf den Amerikaner zu und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Ich bin entzückt, zusammen mit Ihnen, Monsieur Jenkins, diese Operation durchführen zu können.« Er ging mit der sprudelnden Lebhaftigkeit des Südländers im Zimmer auf und ab. »Glauben Sie mir, mein Herr, gerade die Marseiller Polizei hat das größte Interesse daran, diese Rauschgifthändler endlich zur Strecke zu bringen. Die kleinen untergeordneten Stellen dieses Konsortiums sind uns natürlich seit langem bekannt. Ja, ich muß sogar gestehen, daß wir sie stillschweigend geduldet haben. Was wollen Sie, mein Herr? Wir wußten, daß wir in den Schlupfwinkeln dieser Leute schon oft langgesuchte Verbrecher gefunden haben; mancher schwere Junge ist uns dort ins Garn gelaufen. Aber jetzt handelt es sich ja, wie ich die Ehre hatte, von Ihnen zu erfahren, um einen Schlag gegen die Häupter dieser Organisation. Sie dürfen fest auf mich und meine Leute vertrauen, mein Herr. Die Marseiller Polizei wird ihrem Ruf alle Ehre machen, hoffe ich.«
»Ich bin davon überzeugt, Herr Präfekt. Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, wo ich Sie später erwarten darf?«
»Ich stehe in einer Viertelstunde zu Ihrer Verfügung, Monsieur Jenkins.« Der Präfekt erhob sich und verließ das Zimmer.
Jenkins ging zu Francesco Testi, der teilnahmslos der Unterredung gefolgt war, hinüber; er legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Jetzt, Signor Testi, trennen sich für kurze Zeit unsere Wege.«
Testi sah mit einem überraschten Blick zu ihm auf. »Ich verstehe Sie nicht, Mister Jenkins.«
»Um neun Uhr siebenunddreißig geht ein Schnellzug nach Cannes, lieber Freund, den müssen Sie benutzen.«
»Was soll ich in Cannes?«
»Sie gehen dort ins Hotel Grande Bretagne, dort finden Sie Miß Dorothy.«
Testi sprang auf. »Dorothy ... ich soll Dorothy wiedersehen?« Seine Augen leuchteten, aber dann senkte sich eine tiefe Schwermut auf seine Züge. »Wird sie mich aber auch sehen wollen?« Testi schüttelte wehmütig den Kopf. »Ich habe wenig Hoffnung, daß Dorothy ... ich könnte es verstehen, wenn sie es ablehnen würde, mich zu empfangen.«
»Ich auch«, erwiderte Jenkins trocken. »Wirklich«, er nickte Testi gutgelaunt zu, »ich glaube ja auch nicht, daß Sie auf einen zärtlichen Empfang rechnen könnten, wenn nicht ...« Jenkins unterbrach sich und zog einen Briefumschlag aus seiner Tasche. »Sie haben Glück, Testi, unwahrscheinliches Glück. Sie werden Dorothy Crane eine Nachricht bringen, die Sie wie einen Himmelsboten erscheinen läßt: Mister Wilbur Crane ist aufgefunden!«
Testi packte den Arm des Detektivs. »Was sagen Sie, Jenkins, Mister Crane lebt?«
»Ja, er ist gesund, wenn auch durch das Erlebnis geschwächt, in seine Wohnung in West-Kensington zurückgekehrt.«
»Wo hat man ihn gefunden?«
»Man hat ihn überhaupt nicht gefunden. Er hat sich vorgestern früh in Scotland Yard gemeldet. Hier ist der Bericht von Inspektor Bramwell.« Jenkins entfaltete den amtlichen Bogen. »Mister Wilbur Crane, sechzehn Victoria Grove, West-Kensington, gibt zu Protokoll: Am Abend des sechsten Februar bin ich in meinem Hause von einem Unbekannten überfallen worden. Der Eindringling muß sich mit dem besonderen Mechanismus meines Tresorzimmers vertraut gemacht haben. Während ich die Polizeistation anrief, verlor ich – wahrscheinlich infolge von Betäubung – die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Zimmer, dessen Fenster dicht vergittert und bis oben hinauf verklebt waren. Während meines zehntägigen, unfreiwilligen Aufenthaltes wurde ich gut und reichlich verpflegt. Außer dieser Freiheitsberaubung ist keine Gewalttat gegen mich angewendet worden. Ich hatte alle Bequemlichkeiten; aber der mich bedienende Wärter blieb auf alle Fragen stumm. Eine Flucht war nicht möglich; Fenster und Türen waren stets fest verriegelt. Vorgestern abend wurde ich von einem mir gänzlich unbekannten Mann aufgefordert, ihm zu folgen. Wir bestiegen zusammen ein geschlossenes Auto. In der Dunkelheit vermochte ich nichts von der Umgebung zu erkennen. Nach einer halbstündigen Fahrt wurde ich aufgefordert, den Wagen zu verlassen. Man ließ mich auf einem großen freien Feld zurück, ohne mir zu sagen, wo ich mich befände. Nach einem mehrstündigen Weg erreichte ich die Untergrundstation Shepherds Bush.«
Jenkins ließ das Blatt sinken. »Soweit der nüchterne Tatbestand. Mein Kollege von Scotland Yard schreibt mir in seiner drastischen Art dazu: Daraus wird der Teufel klug, vielleicht Sie, lieber Jenkins? – Mister Bramwell ist manchmal grimmig witzig.«
Testi schüttelte den Kopf. »Ich muß sagen, daß ich genau sowenig verstehe, was diese Handlungsweise der Verbrecher bezwecken soll.«
»Es könnte den Eindruck erwecken, als ob die Gegner eine neue Taktik einzuschlagen gedächten, oder aber auch mit diesem Trick Spuren verwischen wollten. Kaum anzunehmen, daß diese raffiniert arbeitende Gesellschaft irgend etwas unüberlegt oder zwecklos tun würde.«
»Gerade deswegen«, erwiderte Testi, »erscheint mir das Verhalten der Leute rätselhaft. Mister Cranes Entführung hatte doch wohl den Zweck, ihn daran zu hindern, meinen Angaben auf den Grund zu gehen und damit einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das Lord Haddington als einen Verbrecher entlarvt hätte.«
Jenkins nickte. »Sie sind unmittelbar vor der Lösung, Signor Testi. Wenn wir jetzt ein wenig hinter die Dinge sehen, werden wir auch das Verhalten der Verbrecher verstehen können.«
Testi blickte fragend auf den Sprechenden.
»Sie haben«, fuhr Jenkins fort, »wenn ich mich so ausdrücken darf, Mister Crane den Namen Haddington ins Ohr geflüstert. Ich nehme an, Mister Crane hat auf Zwang hin, den Leuten diesen Namen nennen müssen. Vielleicht hat er auch aus Trotz oder Wut den Namen herausgeschrien; was sehr unklug von ihm gewesen wäre. Jedenfalls hatte es den Effekt, daß man ihn plötzlich freiließ.«
»Was folgern Sie daraus, Mister Jenkins?«
»Ganz einfach, daß man einen ganz anderen Namen erwartet hatte. Mister Crane erschien den Leuten nun nicht mehr gefährlich.«
Testi schwieg und blickte sinnend vor sich hin.
Die Tür ging auf. Der Präfekt, im Frack und Abendmantel, trat ein. »Eh bien – ich bin bereit, Monsieur Jenkins. Gehen wir!«
»Sie fahren jetzt zum Bahnhof, Signor Testi. Richten Sie Miß Dorothy meine Grüße aus.«
Testi schüttelte die Hand des Detektivs. »Sie gehen einer schweren Gefahr entgegen, ich möchte doch lieber ...«
Jenkins hob abwehrend die Hand. »Vergessen Sie nicht, mein junger Freund, welche glückliche Nachricht Sie Miß Dorothy zu bringen haben. Das Schicksal, scheint es, will alles wieder gutmachen. Wirklich, Signor Testi, um diesen Gang könnte ich Sie beneiden.«
Testi hielt die Hand des Detektivs in der seinen. »Und wann sehen wir uns?«
Jenkins blickte sinnend vor sich hin. »Ich hoffe, morgen abend«, sagte er langsam, »aber, wer weiß.« Er drehte sich rasch zu dem Präfekten herum. »Monsieur Testi hat die Ehre, sich von Ihnen zu verabschieden. Er fährt nach Cannes. Zu seiner Braut.«
Der Präfekt gab Testi die Hand. »Ich beglückwünsche Sie herzlichst, mein Herr«, sagte er liebenswürdig. Er öffnete die Tür und ließ die beiden vorangehen. »Wenn es Ihnen gefällig ist, meine Herren.«
*
Über der langen engen Häuserschlucht von Saint Jean lag der nächtliche Himmel. Aus den krummen Gassen, die in der ungewissen Beleuchtung der spärlichen Laternen wie Theaterkulissen wirkten, stiegen die Ausdünstungen der Fisch- und Gemüsereste, um die sich verwahrloste Katzen und Kinder balgten. In den Kehrichthaufen in der Mitte der Straße wühlten alte zerlumpte Frauen nach fortgeworfenen Speiseresten, deren ekler Geruch die Luft ringsum verpestete.
Ein wahrer Höllenlärm durchtobte die engen Straßen. Überall zogen die kostümierten Musikbanden umher, aus jedem Torweg, aus den vielen offenen Türen quoll Gesang und das dröhnende Klirren der Orchestrions. Johlend durchzogen Gruppen betrunkener Seeleute aller Nationen, Inder, Malaien, Chinesen, die schmalen Gänge. Lockend und bettelnd standen in den trüb erleuchteten Toren die armseligen Dirnen, zu deren Füßen halbnackte Kinder sich mit Hunden im Schmutz herumwälzten.
In dem Gewirr der gewundenen Gäßchen, die zum Hafen herabführten, auf glitschigen, ausgehöhlten Stufen, überspült von rieselnden Abflüssen, patrouillierten die Schutzleute zu zweien und dreien, den Revolver am Gurt.
Joe Jenkins stieg mit schnellen Schritten an der Seite des Präfekten die holprigen Stufen zum Hafen hinab. Die Straßen an den Kais waren menschenleer; im Dunkel lagen die grauen Häuserreihen, und das weite Rund des Hafenbeckens dehnte sich schweigend. An den Docks wuchteten stumm und drohend die schwärzlichen Leiber der Ozeandampfer; die Masten und Takelage der Segelschiffe standen ragend gegen den nächtlichen Himmel. Die grünen und roten Positionslampen, das Licht aus den Kabinen und ein plötzlich aufblitzender Scheinwerfer irgendeines Kriegsschiffes belebten die düstere Wasserfläche.
Die beiden kamen zur Kaimauer. Dort unten lag ein langes schmales Boot, mit vier Leuten bemannt. Einer der Polizisten half dem Präfekten beim Einsteigen.
»Nehmen Sie die Richtung zum Neuen Hafen«, sagte Jenkins und ließ sich neben dem Präfekten auf der mittleren Bank nieder.
Das Boot glitt langsam in die Mitte des Fahrwassers.
»Vermeiden Sie den Lichtschein der Schiffe«, befahl Jenkins mit leiser Stimme, »halten Sie sich möglichst im Schatten.«
Aus dem Dunkel hoben sich wuchtig die Umrisse von gewaltigen Pfeilern. Die riesige Weite der Drehbrücke nahm das Boot auf.
»Rechts halten, dort, auf die weiße Jacht zu. Vorsicht, ziehen Sie die Riemen ein.«
Die Strömung trieb das Fahrzeug langsam dem Schiff näher, das an der Mole vertäut lag. Die schlanken gefälligen Formen des weißen Schiffskörpers zeichneten sich deutlich gegen den dunklen Hintergrund der Kaimauer ab. Nur wenige Kajütenfenster der Backbordseite waren erleuchtet.
»Bringen Sie das Boot dort hinter jene Dückdalben«, sagte Jenkins, »man darf uns hier nicht sehen.« Er wies auf die drei starken, schräg gegeneinander geneigten Pfähle.
Lautlos legte das Boot den kleinen Weg zurück.
Jenkins nahm das Glas zur Hand und blickte zur Jacht hinüber.
Verwehte Klänge kamen, vom Nachtwind getragen, aus den Hafengassen, von einem Schiffsdeck trug er die gezogenen Töne einer Harmonika herüber. Ein auslaufender Dampfer ließ den dumpfen Laut seiner Sirene durch die Nacht gehen. Leise rauschte das Kielwasser und warf klatschend die Wellen gegen die Bootswand.
»Jetzt – aufpassen! Ganz vorsichtig dort der Pinasse folgen.« Jenkins deutete mit der Hand auf die Jacht. Aus ihrem Schatten löste sich ein kleines Motorboot, das in schneller Fahrt dem Alten Hafen zustrebte.
Die vier Männer legten sich in die Riemen.
»Nehmen Sie Kurs auf den Kai, der Rue Providence gegenüber. Dort liegt die Leuchtboje D 12 verankert, nicht wahr?«
Der Steuermann nickte. »Gewiß, mein Herr.«
»Halten Sie sich möglichst außer Sichtweite der Pinasse. Wenn Sie hier rechts einbiegen – ja, dort, zwischen dem ›Africa-liner‹ und dem schmutzigen Kohlendampfer, schneiden Sie dem Boot den Weg ab.«
Mit einer raschen Wendung schoß das kleine Fahrzeug zwischen die Schiffsrümpfe. Zur Linken lagen jetzt die Uferstraßen von Marseille.
»Gut so«, sagte Jenkins, »und nun, Herr Präfekt, nehmen Sie, bitte, das Glas und beobachten Sie die Pinasse.«
Der Angeredete stellte das Fernrohr ein. »Teufel«, sagte er, »diese Kerle fahren doch unter dem Marseiller Polizeiwimpel!«
»Allerdings.«
»Und die Halunken tragen die Uniform der Hafenpolizei.«
»Natürlich.«
»Was bedeutet das?« fragte der Präfekt und setzte das Glas ab.
»Sie werden es gleich sehen, Herr Präfekt. Bitte, beobachten Sie weiter.«
»Die Pinasse dreht bei. Einer der Männer öffnet die Klappe der Boje. Hm, es scheint als ob er den Mechanismus der Lampe kontrolliert.« Der Präfekt, der aufrecht im Boot stand, sah verständnislos auf Jenkins hinab.
»Bitte«, sagte der Detektiv, »lassen Sie die Leute nicht aus den Augen; es wird Ihnen gleich klar sein.«
»Ah ... diese Schurken! Jetzt sehe ich es ganz deutlich – sie laden dort kleine Ballen ab; es muß da neben dem Lampenraum noch einen anderen Raum geben. Sacré nom de Dieu, das ist eine beispiellose Frechheit!« Der Präfekt blickte mit wutblitzenden Augen zu dem Detektiv hinüber.
»In der Tat«, sagte Jenkins, »es ist ein starkes Stück. Gewissermaßen unter den Augen der Behörden wird eine behördliche Einrichtung als Stapelplatz der Schmuggler benutzt. Das ist zum mindesten originell.«
»Seit wann beobachten Sie dieses Treiben, Monsieur Jenkins?« fragte der Präfekt mit schlecht verhehltem Ärger.
»Seit einigen Tagen. Vorgestern früh lief die Jacht ›Elena‹ im Marseiller Hafen ein, und am gleichen Abend entwickelte sich dieser Frachtverkehr. Sehen Sie dort an der Ecke der schrägen Gasse den alten verfallenen Speicher, Herr Präfekt? Ja, das schmale rote Gebäude mit dem spitzgiebeligen Dach und den schmutzverkrusteten Fenstern. Es steht scheinbar leer. Aber wenn wir hier zwei Stunden warten, werden Sie sehen, daß der Speicher doch bewohnt sein muß; wenigstens zeitweise.
Aus jener kleinen niedrigen Einfahrt – der Zugang ist ganz verschlammt von brackigem Hafenwasser und so winzig, daß man ihn nur entdeckt, wenn man ganz dicht an ihm vorbeifährt – aus jener Einfahrt also werden Sie dann ein Boot kommen sehen. Es führt gleichfalls den Wimpel der Polizei, und seine Bemannung trägt die Uniform der Hafenbeamten.«
Der Präfekt fiel dem Detektiv ins Wort. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Monsieur Jenkins. Diese Kerle holen die Ware über.«
»Nicht nur das, Herr Präfekt. Sie bringen auch frische Ware. Marseille ist der Verschiffungshafen für ein neuerfundenes Opiat, das in der Schweiz hergestellt wird. Das Dironyl wird von hier aus nach Ägypten geliefert – es sollen ganz beträchtliche Umsätze erzielt werden.«
Der Präfekt unterdrückte einen Fluch; er zog die Uhr. »Es ist gleich elf. Ich glaube, wir kommen jetzt gerade zur rechten Zeit ins ›Paradiso‹.«
Jenkins nickte. Schweigend saßen die Männer im Boot, das langsam zur Kaimauer hinüber glitt.
»Monsieur Jenkins«, sagte der Präfekt, während sie die Stufen zur Straße hinaufstiegen, »darf ich Sie bitten, zunächst allein ins ›Paradiso‹ zu gehen? Ich werde inzwischen nochmals alle Posten inspizieren. Aber vergessen Sie nicht, sich umzuziehen. Man hat zum ›Paradiso‹ nur im Frack oder Smoking Zutritt. Wir sehen uns in einer halben Stunde – leben Sie wohl, mein Herr.«
*