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Heutigen Tages haben wohl die meisten eine Fahrt mit einem Dampfschiff gemacht oder sich in einer Seestadt einen der Kolosse unserer neuen Dampferlinien angesehen; in einem Segelschiff aber sind sie nicht gewesen und können sich schwer vorstellen, wie es darin zugeht. Mir war es beschieden, jahrelang auf einem solchen zu leben und als Frau des Kapitäns – wir wollen ihn Jürgen nennen – meinen Mann auf seinen Fahrten zu begleiten.
Ich hatte das Meer noch nie gesehen, als ich meine erste Reise auf dem »Regulus« antrat. Sie ging nur bis England; weiter gestattet die Reederei grundsätzlich die Begleitung der Frau nicht, doch wurde nach einigen Jahren als besondere Vergünstigung für mich eine Ausnahme gemacht; wie das kam, erwähne ich seiner Zeit.
Die vorliegenden schlichten Blätter sind, wie man bald herausfühlen wird, nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Sie enthalten nur das Tagebuch, das ich in Form von Kollektivbriefen an die Meinen nach Hause schickte und das, von Hand zu Hand gegeben, einen sich stetig erweiternden Kreis durchlief. Wenn ich mich nun zu der mir öfter nahegelegten Herausgabe der Briefe entschlossen habe, so geschah es vornehmlich der vielen bekümmerten Herzen wegen, die mit banger Sorge eines Lieben gedenken, den Beruf und Neigung auf die See geführt hat. Ihnen, hoffte ich, würde der Einblick in die ferne fremde Welt tröstlich und willkommen sein.
Wie fremd diese Welt dem Binnenländer im allgemeinen ist, habe ich an den Fragen gesehen, die mir immer aufs neue vorgelegt werden, auch auf diese möchte ich hierdurch Antwort geben.
Freilich muß ich es darauf wagen, daß das Buch auch jemandem in die Hände fällt, der im Seewesen kein Neuling ist und dem das Erzählte trivial erscheint, aber selbst einen solchen mag es unterhalten, zu sehen, wie die ihm gewohnten Dinge sich in einem Kopfe spiegeln, dessen Auffassung, von Sachkenntnis gänzlich ungetrübt, notwendig naiv sein musste.
Mit Absicht habe ich daher diesen Aufzeichnungen so viel wie möglich die ursprüngliche Form gelassen, um ihnen nicht den einzigen Vorzug zu verkümmern, auf den sie vielleicht Anspruch machen können, die Frische des Eindrucks, unter dem sie niedergeschrieben sind.
Und nun zur Sache.
Unsere Fahrten führten uns meistens von Bremen oder Hamburg nach dem britischen Birma, Hindostan. Niederungen und Delta des Irawaddy sind das Reisland, das alljährlich Hunderte von Schiffen aller Gattungen mit Fracht versieht, von dem bescheidenen Küstenfahrzeug an bis zu dem mächtigen Dampfer, der seine 40 000 Sack über den Ozean trägt. An den vier breitesten Mündungen des Riesenstromes liegen die bekannten Reisplätze Moulmein, Akyab, Rangoon und Bassein. Dorthin kommen während der Zeit der Reisernte vom Januar bis zum April die indischen Reisboote unablässig den Fluß herunter; die deutschen und englischen Kaufhäuser speichern die Frucht auf und verfrachten die Schiffe, die ihrerseits Kohlen oder Salz dort abliefern. Beiläufig bemerkt, ladet der »Regulus« 17 000 Sack Reis. Manchmal verkauft der Bremer oder Hamburger Kaufherr die Schiffsladung in eine andere Seestadt; dann kommt das Schiff nicht erst nach Hause, sondern »versegelt« gleich an den Ort seiner neuen Bestimmung oder wird angewiesen, seine Order von einem anderen, bequem gelegenen Platze zu holen. Das geschah auch mehrmals mit dem »Regulus«; so kam ich nach Rio, Singapore, London und Rotterdam.
Eine solche Reise von Deutschland nach Birma und zurück »Große Fahrt« ist die fachmännische Bezeichnung für alle Reisen außerhalb der Binnenmeere. nimmt je nach der Gunst oder Ungunst des Wetters neun bis elf Monate in Anspruch, der Aufenthalt im Bestimmungshafen etwa vier Wochen, auch länger, wenn man spät gekommen ist und die Regenzeit bereits störend eingesetzt hat. Wir sind gewöhnlich im November zurückgekehrt und trotz der fast fieberhaften Eile, mit der das Schiff wieder instand gesetzt und aufs neue verproviantiert wurde, selten vor dem Januar wieder fortgekommen. Ein Dampfer macht dieselbe Tour in ungefähr vier Monaten; freilich kürzt er die Reise wesentlich durch den Suezkanal und hält dann den direktesten Kurs nördlich vom Aequator. Für das Segelschiff würde diese Route zu kostspielig sein, denn es müßte durch den Kanal geschleppt werden; es nimmt daher Vasco de Gama's uralten Weg und geht um das Kap der Guten Hoffnung; auf diese Weise habe ich auf meinen wenigen Reisen die Linie über zwanzig Mal gekreuzt. Da das Schiff sich nach den herrschenden Winden richten muß, so macht man bei der Ausreise einen großen Bogen südlich von Afrika, an den Inseln St. Paul und Amsterdam vorbei, meistens ohne sie zu Gesicht zu bekommen, und geht dann in möglichst gerader Richtung nordwärts; auf der »Hausreise« aber segelt man quer über den Indischen Ozean, südlich von Madagaskar und so nahe am »Kap Hoffnung« vorüber, daß man tagelang die afrikanische Südküste vor Augen hat und ihre charakteristischen Formen mit den Angaben der Seekarte identifizieren kann.
Auf der Rückreise läuft man meistens St. Helena und Ascension an, ohne jedoch zu landen. Außer den erwähnten Küsten bekommt man monatelang kein Land zu sehen und kann auch nicht, wie mit einer Yacht, anlegen, wo es einem gefällt, im Gegenteil wird jede Viertelstunde zu Rat gehalten, jeder gute Wind ausgenutzt, denn eine möglichst schnelle Reise ist ein Ehrenpunkt für den Kapitän und jeder Tag kostet, außer der geschäftlichen Chance, die versäumt wird, Unterhalt und Heuer für die Besatzung. Diese bestand auf dem »Regulus« außer den Offizieren, dem Kapitän und den Steuerleuten, aus neunzehn Mann: Koch, Zimmermann, Segelmacher, Steward, elf Vollmatrosen, zwei Leichtmatrosen und zwei Jungen. Die einzigen weiblichen Wesen an Bord waren die Katze und ich und obendrein zählten wir, hieß es, überhaupt nicht mit, da wir weder zur Mannschaft gehörten, noch eigentlich Passagiere waren.
Jürgen ist noch einer jener alten, immer seltener werdenden Kapitäne, die sich nie haben entschließen können, auf einen Dampfer zu gehen. »Ich habe meinem Berufe zu große Opfer gebracht, um ihn wieder aufzugeben,« war seine Antwort, als er gefragt wurde, weshalb er nicht, wie ihm zurzeit angeboten worden, zum Lloyd übergegangen wäre. In der Tat galt es früher unter den Seeleuten für eine Art Fahnenflucht, einen der neu aufgekommenen Dampfer, die man nicht recht für voll ansah, zu führen, anstatt ein ehrliches Segelschiff, in dem man den Kampf mit dem Element so zu sagen Brust an Brust ausficht und nicht abhängig ist von einer Maschine und deren Personal.
Jetzt ist das freilich anders, und der Zudrang zu den großen überseeischen Linien die reine Jagd nach dem Glück; ja, es klingt fast unglaublich, wenn erzählt wird, es sei anfangs so schwer gewesen, die unteren Offiziersstellen beim Lloyd zu besetzen, daß die Leute dazu »schanghai't« Betrunken gemacht und mit List oder Gewalt zu der verhängnisvollen Unterschrift gezwungen. werden mußten und noch vor wenigen Jahren in Philadelphia ein alter Seemann lebte, der diesem Geschäft, wenn auch nicht im Auftrage, so doch im Interesse der Gesellschaft obgelegen haben soll. Die Betroffenen mögen später froh genug gewesen sein, daß das Glück sie so beim Kragen faßte, mancher ältere Dampferkapitän aber erzählt noch heute mit einer Art von Entschuldigung, wie er zu seiner Stellung gekommen sei.
Als Jürgen zuerst, vor nunmehr sechzehn Jahren, auf den »Regulus« kam, war dieser ein großes, stolzes Schiff. »Wir sind wieder das schönste Schiff im Hafen,« pflegte er von den verschiedenen Bestimmungsplätzen aus zu schreiben. Seit indessen der Schiffsbau in geradezu riesenhaften Dimensionen arbeitet, gilt er nur eben für ein Schiff mittlerer Größe, aber gefällig, schmuck und tüchtig ist er noch immer und solider gebaut als viele größere und neuere Fahrzeuge. Mit Stolz haben wir ihn in manchem Sturm sich wehren und die schwersten Seen sicher und stetig nehmen sehen und oft hat mir Jürgen erzählt, wie einst, als beim Hinausgehen aus Kapstadt der Wind plötzlich fiel und sie in größter Gefahr vor Zusammenstößen waren, der »Regulus« zwischen den Schiffen durchgeglitten wäre, »als hätte er Verstand«, bis der Wind ihn wieder faßte und ihn heil und glücklich aus dem Hafen brachte.
Seine Länge beträgt 215 F. über Deck, 200 F. im Kiel, seine Breite 35 F. und die Höhe des Hauptmastes 140 F. vom Deck aus. Im Schiffsverkehr wird nicht nach Metern, sondern nach Faden und Fuß, und zwar nach englischen Fuß, gerechnet. Der Faden hat 6 Fuß; der englische Fuß hat 30½ cm. Da es sich hier nur um allgemeine Anschauungen handelt, so lasse ich die Angaben, wie sie mir gemacht worden sind.
Mir freilich hätten diese trockenen Zahlen nie eine lebendige, höchstens eine Verstandesvorstellung erweckt, wenn ich nicht, wie wohl die meisten, einen ganz persönlichen Maßstab in mir trüge – das ist mein Elternhaus. Es steht an einer Böschung und hat an der Straßenseite zwei Stockwerke, nach der Wiese zu aber vier und die Höhe vom Garten aus beträgt sechzig Fuß; ebenso viel hat es in der Breite. Wollte ich mir nun die Dimensionen des »Regulus« klar machen, so stellte ich ihn in Gedanken in unsere Dorfstraße, und wenn ich mir dann vergegenwärtigte, daß er die ganze Breite derselben einnehmen und vor unserem Hause, am Nachbar Barbier, dem Krämer, der Gartenwirtschaft und der Apotheke vorüber, noch vor dem Häuschen der »Tanten Senff« stehen würde, so war mir das viel anschaulicher und imponierender, als die kahlen zweihundert Fuß. Die Masten sind für mich doppelt so hoch, wie die riesigen Pappeln, die unser Haus überragen und nur wenig niedriger als der Kirchturm uns gegenüber.
Die Masten – der »Regulus« ist ein eisernes Vollschiff und hat deren drei, Großmast, Kreuz- und Fockmast – sind begreiflicher Weise nicht aus einem Stück; der untere Teil besteht aus einer mächtigen eisernen Röhre von etwa zehn Fuß Umfang an der Basis und fünfzig Fuß Höhe. In manchen Schiffen ist dieser Eisenteil des Großmastes zur Aufnahme von Wasser eingerichtet. Es wird von einem Schiff erzählt, daß es an Wassermangel gelitten und nur mit genauer Not den Hafen erreicht habe und als es für die nächste Reise instand gesetzt wurde, fragte der Zimmermann, ob das Wasser im Mast abgelassen werden solle? Ein verborgener Schatz, der eine so große Wohltat hätte sein können und von dem keiner der Besatzung etwas geahnt hatte.
Auf diesem unteren eisernen Teil des Mastes erheben sich noch zwei Teile aus Pitchpine, amerikanischer Fichte. Jeder der drei Masten trägt fünf mächtige Querbäume, die Rahen, an denen die Segel hängen, die drei unteren Rahen sind gleichfalls aus Eisen; die oberste, kürzeste ist noch immer vierundvierzig Fuß lang und diese ganze ungeheure Wucht ruht auf dem Schiffsboden, denn die Masten stehen frei im Schiff, mit den Seitenwänden und untereinander durch stählerne Taue verbunden und gehalten.
Wenn das ganze Schiff so ununterbrochen arbeitete, rollte und stampfte und in allen Fugen stöhnte, quiekte, krachte und knackte, ist es mir immer aufs neue wie ein Wunder erschienen, daß Menschenhände ein Bauwerk zimmern können, das zugleich so fest und so elastisch ist. Nichts ist schöner anzusehen, als ein Schiff auf offener See, das unter all seinen Segeln leicht und anmutig wie ein Schwan dahingleitet, fein wie Spitze das Tauwerk und zierlich die kleinen dreieckigen Stagsegel zwischen den Masten und vorn am Klüverbaum. Ich meinte anfangs, diese kleinen Dreiecke könnten kaum einen Unterschied machen, wurde aber bedeutet, sie seien so klein nicht, die Längsseite eines solchen Segels betrüge etwa vierzig Fuß, die des großen Klüvers gar sechzig.
Höchst selten nur sind mir wirklich gegenständliche Fragen über das Leben an Bord vorgelegt worden und die Begriffe darüber gingen weit auseinander. Die einen bildeten sich ein, ich hätte über Räume verfügt, wie in einem eleganten Dampfer und wunderten sich, daß wir keinen Arzt mit gehabt hätten! Anderen schwebte offenbar der dunkle niedrige Eingang in die Kajüte »für alles« vor, wie man sie auf den Flußkähnen sieht. Eine kurze Beschreibung der Wohnungsverhältnisse auf dem »Regulus« ist daher vielleicht am Platz.
Der »Raum« des Schiffes wird bekanntlich nach oben abgeschlossen durch das große Deck. Auf diesem steht frei im Vorderschiff das »Logis« der Leute mit der Kombüse (Küche). Das Logis enthält nur zwei lange Tische und vier Bänke (alle Möbel natürlich unbeweglich). An den Wänden ringsum befinden sich Kojen (Bettkästen), immer zwei übereinander; davor stehen die Kisten der Matrosen mit deren wenigen Habseligkeiten.
Das ist die Unterkunft der Mannschaft.
Das Hinterschiff nun hat über dem großen Deck ein zweites, das den Boden um vier Fuß erhöht; in dieses eingelassen und es um drei Fuß überragend, ist die Kajüte mit ihren Nebenräumen.
Der eigentliche Wohnraum, der »Salon«, liegt in der Mitte und ist von vorn und hinten durch je einen kleinen, weiß gestrichenen Vorplatz zugänglich, in den einige Stufen hinunterführen. Die Einrichtung ist einfach, alles Ueberflüssige von selbst ausgeschlossen und der Raum möglichst ausgenutzt. Etwa zwölf Fuß lang und sieben Fuß hoch, ist der Salon nur so breit, daß zwischen den Holzwänden und den Bänken an beiden Seiten des langen Kajütstisches ein Durchgang bleibt. Auf See sind die Seitenbretter des Tisches aufgeklappt und dieser durch eine Querleiste geteilt. Die eine Seite dient als Eßtisch, auf der andern »lebt« man; da liegen die Bücher, die man eben liest, die Hefte und Jahrbücher zum Rechnen; da steht das »Gärtchen« mit Tulpen und Hyazinthen, das uns bei der Abreise von lieber Hand gestiftet wurde, die Kästen mit Messern, Federn, Lupen, Zirkeln und all dem nötigen Kleinkram und – nicht zu vergessen – der Tabakskasten.
Durch ein gewölbtes Oberlicht erhält der Salon die nötige Helle. Dort ist auch die schwebende Lampe angebracht, die immer gerade hängt und oft so beängstigend schief erscheint. Ein Kompaß, der »Spion« genannt, verrät dem Kapitän, ob der Mann am Steuer seine Pflicht tut; daneben hängt eine verschlossene Messingbüchse und es rührte mich, wie mein Bruder, nachdem er die Aufschrift gelesen: »Remember the poor seamen«, »Gedenke der armen Seeleute.« still den Beutel zog und sein Scherflein hineinsteckte. Die Hinterwand nimmt das obligate rote Plüschsofa ein, auf dem stets die eben im Gebrauch befindliche Seekarte liegt, darüber hängt der Spiegel, der die Spuren von über zwanzig feuchten Dienstjahren aufweist und den Hineinblickenden nicht gerade verschönt. Rings um die Kajüte liegt eine Reihe kleinerer Kammern und eine größere, die »Proviantkammer« mit den Kartenkisten, dem Medizinschrank, den Koffern und dem Eingang zu dem tiefer gelegenen Proviantraum. Hierauf folgen das Badezimmerchen, die Pantry (eine kleine Speise- und Geschirrkammer für den Steward), die Kammer der Steuerleute, das ganz mit Blech ausgeschlagene Ofenkämmerchen, die Lotsenkammer, aus der die Koje entfernt ist und an deren Stelle auf Borten meine Siebensachen hausen, die Bücherei, Näh- und Schreibgerät und an einem Wandrechen Stiefel- und Schuhsäcke, Strumpfnetz und anderes mehr, auch befindet sich hier ein Wandschrank für die Kleider und ein Petroleumkocher, auf dem ab und zu etwas gebraut oder gewärmt wird. Dann kommt unsere eigene kleine Kammer.
Sprachrohre, Hirschfänger und sieben Gewehre, die die Wände zieren, zwei Aexte über der Koje zum Kappen der Masten und Taue in Notfällen, rufen die Vorstellung von allerhand unheimlichen Möglichkeiten wach und erinnern an die Seeabenteuer, die man in der Jugend zu lesen pflegt. Die Koje ist mit Kopf- und Fußende fest in die Seitenwand gefügt; sie läßt sich durch Herausziehen verbreitern und ist vorn mit zwei Pfosten versehen, zum Anklammern und Gegenstemmen fast unentbehrlich. Außerdem enthält die Kammer noch ein Sofa, einen Sekretär, Jürgens eigene alte Seekiste, den Waschtisch, einen Wandschrank, die Kommode mit den Chronometern – ich habe nie begriffen, wie man dieses alles in einen so kleinen Raum hat hineinbekommen können.
Hiermit wäre denn das corps de logis erschöpft. Und doch haben wir uns nirgends so wohl befunden als dort und auch im Hafen den Aufenthalt an Bord dem an Land weit vorgezogen. Jürgen vollends war nur zufrieden, wenn er das Schiff in Sicht hatte und suchte wenigstens immer in erreichbarer Nähe zu bleiben.
Das war einer der Hauptunterschiede zwischen uns und anderen Reisenden. Kommt der Dampfer in den Hafen, so eilen die Passagiere an Land und stürmen die Sehenswürdigkeiten in erprobter Reihenfolge; bei uns spielten diese keine Rolle. Am Anfang und Ende des Aufenthaltes ist der Kapitän ohnehin mit Geschäften überhäuft, auch wenn nichts Besonderes vorliegt, ist doch gewohnheitsmäßig der erste Gang des Tages meist zum Shipchandler oder in das Kontor, an das er adressiert ist.
Mir hat es immer Vergnügen gemacht, ihn auf seinen Geschäftsgängen zu begleiten und auf diese Art mehr vom Handel und Wandel, Land und Leuten zu sehen, als eine Dame sonst zu Gesicht bekommt, wogegen mir freilich vieles von dem entgangen ist, was andere mit Recht für unerläßlich halten.
Doch zurück zum »Regulus«.
Ich darf als bekannt voraussetzen, daß die Mannschaft in zwei Wachen, unter je einem Steuermann, geteilt ist, die sich alle vier Stunden in Arbeit und Schlafen abwechseln. »Koje de Wacht!« ist das Kommando, das die einen ablöst und die andern aufruft, nur Koch und Steward brauchen nicht Wache zu gehen, müssen aber dafür schon um vier Uhr heraus, um den ersten Kaffee zu kochen. Der Kapitän allein hat das Leben bequem – so lange das Wetter gut und alles im Gleis ist. Bei bedrohlichem Wetter indessen und in gefährlichen Gegenden, z. B. im Kanal, teilt der Kapitän die Wache des zweiten Steuermanns oder ist auch wohl die ganze Zeit oben. Manches Mal habe ich unten in der Koje gelegen, während Jürgen auf Deck war und nach jeder See, die krachend und donnernd über das Schiff brach, zitternd in atemloser Angst gelauscht, bis ich durch das Getöse seine Stimme wieder hörte.
Seeleute altern früh; Sorge, körperliche und seelische Erregung, die Schwere der Verantwortung für alle die Menschenleben und das anvertraute große Gut, drängen sich in kurze, aufreibende Zeiten zusammen und nehmen im Verein mit dem beständigen Klimawechsel die Konstitution mit. Ich habe jederzeit das Alter eines Seemannes überschätzt; jetzt gebe ich ihm immer zehn Jahre weniger als er zu haben scheint, und manchmal ist auch das noch zu hoch gegriffen.
Nun haben auch wir unsere Fahrzeit abgeschlossen und die freien Wandertage sind auf immer vorbei. Man ertrug die unvermeidlichen Entbehrungen zuletzt nicht mehr so leicht wie sonst, und immer stärker regte sich die Sehnsucht nach einer geordneteren Häuslichkeit, nach den Seinen, nach dem Fleckchen Heimaterde, das einem ans Herz gewachsen ist. Aber das wußten wir beide wohl und sagten es einander voraus: mitten im Getriebe des Tages, in den verzweigten Anforderungen des Lebens an Land würden wir an den »Regulus« zurückdenken, wie an ein verlorenes Paradies, an einen Hafen des Friedens und stillen Glücks.
Wie herrlich, wenn er so lustig dahinschoß im frischen Passat durch die blaue Weite, daß ihm der Schaum um den Bug flog und Scharen fliegender Fische vor ihm aufstoben, oder wie er in kälteren Breiten mit den grauen schwellenden Hügeln stieg und sank, während die Albatrosse mit kaum bewegtem Flügel ihre Kreise zogen – oder wie in stürmischen Nächten die breiten phosphoreszierenden Kämme gespenstig aus dem Dunkel tauchten in endloser Folge, bis einem auf der kleinen schwankenden Scholle das Grauen überkam vor der ungeheuren wilden Macht rings umher, und wie zwischen schwarzen Wolkenballen die südlichen Sterne flimmerten und das Kreuz uns zu Häupten stand.
O glückselige Zeit, da wir zuerst mit einander hinauszogen in die weite Welt, das Erstrebte erreicht, das Sehnen und Hoffen, der Traum des Lebens erfüllt!
Wenn nun der Herbstwind die Bäume rüttelt und die Flocken vor dem Fenster tanzen, bei häuslicher Beschäftigung oder in stiller Dämmerstunde, steht uns oft plötzlich ein Bild aus alten Tagen vor der Seele: die große Pagode im Morgenglanze tropischen Sonnenlichts, die dunklen geschmeidigen Gestalten der Inder in ihrem phantastischen Putz, eine Strandszene von Singapore, die Riesenpyramide des Krakatau aus den Fluten ragend, oder eine Allee von Königspalmen in Rio – und im Hintergrunde immer das Meer, das weite, blaue, unendliche Meer.
Das wird noch in unseren Träumen rauschen, wenn alles andere verblaßt; dann pfeift nochmals der Wind durch das Takelwerk, das Schiff schüttert vom Stoße des Ruders, von fern tönt der Taktruf der Matrosen, der frische Seewind weht uns wieder um die Stirn und draußen singt donnernd und schäumend die See ihr ewiges Lied oder es plätschert leise murmelnd und glucksend am Kiel.