Peter Rosegger
Waldheimat
Peter Rosegger

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Weg nach Mariazell

Mein Vater hatte elf Saatfelder, die wir »Kornweiten« nannten und wovon wir alljährlich im Herbste ein neues für den Winterroggenbau umackerten, so daß binnen elf Jahren jeder Acker einmal an die Reihe kam. Ein solcher Jahresbau lieferte beiläufig dreißig Metzen Roggen; für die nächsten drei Jahre wurde dann das Feld für Hafersaat benützt und die sieben weiteren Jahre lag es brach, diente als Wiese oder Weide.

Unser vier – ich, mein Vater und die zwei Zugochsen – bestellten im Herbste das Roggenfeld. Hatten wir den Pflug, so führte mein Vater hinten die Pflug- und ich vorn die Ochsenhörner. Hatten wir die Egge mit ihren sechsunddreißig wühlenden Eisenzähnen, so leitete der Vater die Zugtiere und ich –

Ja, das war ein absonderlich Geschäft. Ich hockte mitten auf der Egge oben und ließ mich über den Acker hin und her vornehm spazieren fahren. Fuhr spazieren und verdiente dabei mein Brot. Der Acker hatte nämlich stellenweise so zähes und filziges Erdreich, daß die Egge nicht eingreifen wollte, sondern nur so ein wenig obenhin kratzte. Trotzdem durfte die Egge nicht zu schwer sein, schon um der Ochsen willen und auch nicht, weil an anderen Stellen doch wieder eine mürbe Erdschichte lag, in welcher tiefgehende Zähne mehr geschadet als genützt hätten.

So mußte denn stellenweise die Egge beschwert werden, und zwar durch ein lebendiges Gewicht, das zu rechter Zeit aufhocken und zu rechter Zeit abspringen konnte. Und dazu waren meine vierzig Pfunde mit den behendigen Füßlein gerade recht. Gefiel mir baß, wenn die Ochsen gut beim Zeug waren und die Egge hübsch emsig dahinkraute und auf und nieder wuppte, so daß mir der Vater zurief: »Halt' dich fest, Bub, sonst fliegst abi!«

Da hat sich eines Tages das große Glück zugetragen.

Es war morgens vorher mein zweiter Bruder geboren worden – ein Junge, daß es eine Freude war. Als wir hierauf das steile Schachenfeld umeggten, war mein Vater etwas übermütig und knallte stark mit der Peitsche. Fuhr- und Ackersleute, die keine Stimme haben zum Jauchzen oder Fluchen, lassen die Peitsche knattern und schmettern, daß es hinhallt in das Gebäume und zu anderen Menschen, die, wenn sie wollen und können, mitjauchzen oder mitfluchen mögen. Wir fuhren gerade an einem mit Büschen bewachsenen Steinhaufen vorüber, als meinem Vater – sicherlich des kleinen Jungen wegen – wieder die helle Lust aufschoß, die Peitsche schwang er und knallte eins herab. In demselben Augenblicke rauschte erschreckt eine ganze Familie von Haselhühnern aus dem Gebüsche auf – davor machten unsere Ochsen einen Sprung und schossen wild mit der Egge und mit mir, der darauf saß, quer über das steile Feld hinab. Mein Vater war beiseite geschleudert worden und konnte nun nachsehen, was mit seinem Gespann geschah. Die Rinder raseten dahin, die Egge hüpfte hoch empor und im nächsten Augenblicke war ich unter den Zähnen derselben und wurde hingeschleift.

Mein Vater soll die Augen zugemacht und sich gedacht haben: Jesses, kaum ist der Kleine da, ist der Große schon hin. – Dann schlug er die Hände zusammen und rief es zu den Wolken empor: »Unsere liebe Frau Mariazell!«

Mittlerweile waren Ochsen und Egge über den Feldrücken hinüber und nicht mehr zu sehen. Dort unten aber auf dem braunen Streifen, den das Fuhrwerk über den Acker hingezogen hatte, lag ein Häuflein und bewegte sich nicht.

Mein Vater lief hinzu und riß es von der Erde auf – da hob es auch schon ketzermäßig an zu schreien. Der ganze Bub voll Erde über und über; ein Ärmel des Linnenröckleins war in Fetzen gerissen, über die linke Wade hinab rann Blut – sonst nichts geschehen. Hinter dem Feldsattel standen unversehrt auch die Ochsen. Mich nahm mein Vater jetzt auf den Arm. Ich hätte zehnmal besser laufen können als er, aber er bildete sich ein, ich müsse getragen sein, aus Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ich noch lebe und aus Angst, ich möchte mich etwa jetzt erst verletzen. Als ich hörte, daß ich eigentlich in Todesgefahr gewesen war und von Rechts wegen jetzt in Stücke zerrissen nach Hause getragen werden sollte, hub ich erst recht an zu zetern. – Und so kamen wir heim, und wenn die alte Grabentraudel nicht vor der Tür die Antrittsteine sauber kehrt – weil die Godel kommen soll – und sie uns solchergestalt nicht den Eingang zur Wöchnerin verwehrt, so geschieht erst jetzt das Unglück: die Mutter springt vor Schreck aus dem Bett, kriegt das Fieber und stirbt.

Auch das hat die liebe Frau Mariazell verhindern müssen und hat es durch ihre Fürbitte erwirkt, daß es der Grabentraudel eingefallen ist, es wäre draußen der Antrittstein nicht ganz sauber und die Godel könnte leichtlich daran ein Ärgernis nehmen.

Später hat das mein Vater alles erwogen und ist hierauf zum Entschluß gekommen, mit mir zur Danksagung eine Wallfahrt nach Mariazell zu machen.

Ich war glückselig, denn eine Kirchfahrt nach dem eine starke Tagreise von uns entfernten Wallfahrtsort war mein Verlangen gewesen, seit ich das erstemal die Zeller Bildchen im Gebetbuche meiner Mutter sah. Mariazell schien mir damals nicht allein als der Mittelpunkt aller Herrlichkeit der Erde, sondern auch als der Mittelpunkt des Gnadenreiches unserer lieben Frau. Und so oft wir nun nach jenem Gelöbnisse auf dem Felde oder im Walde arbeiteten, mußte mir mein Vater all das von Zell erzählen, was er wußte, und auch all das, was er nicht wußte. Und so entstand in mir eine Welt voll Sonnenglanz und goldener Zier, voll heiliger Bischöfe, Priester und Jungfrauen, voll musizierender Engel, und inmitten unter ewig lebendigen Rosen die Himmelskönigin Maria. Und diese Welt nannte ich – Mariazell; sie steht heute noch voll zauberhafter Dämmerung in einem Abgrunde meines Herzens.

Und eines Tages denn, es war am Tage des heiligen Michael, haben wir vormittags um zehn Uhr Feierabend gemacht.

Wir zogen die Sonntagskleider an und rieben unsere Füße mit Unschlitt ein. Der Vater aß, was uns die Mutter vorgesetzt – ich hatte den Magen voll Freude. Ich ging ruhelos in der Stube auf und ab, so sehr man mir riet, ich solle rasten, ich würde noch müde genug werden.

Endlich luden wir unsere Reisekost auf und gingen davon, nachdem wir versprochen hatten, für alle daheim, und für jedes insbesondere bei der »Zellermutter« zu beten.

Ich wüßte nicht, daß meine Füße den Erdboden berührt hätten, so wonnig war mir. Die Sonne hatte ihren Sonntagsschein, und es war doch mitten in der Woche. Mein Vater hatte einen Pilgerstock aus Haselholz, ich auch einen solchen; so wanderten wir aus unserem Alpl davon. Mein Vater trug außer den Nahrungsmitteln etwas in seinem rückwärtigen Rocksack, das, in graues Papier eingewickelt, ich ihn zu Hause einstecken gesehen hatte. Er war damit gar heimlich verfahren, aber jetzt beschwerte es den Säckel derart, daß dieser bei jedem Schritte dem guten Vater eins auf den Rücken versetzte. Ich konnte mir nicht denken, was das für ein Ding sein mochte.

Wir kamen ins schöne Tal der Mürz und in das große Dorf Krieglach, wo einige Tage zuvor mitten im Dorfe einige Häuser niedergebrannt waren. Ich hatte in meinem Leben noch keine Brandstätte gesehen. Ich schloß die Augen und ließ es noch einmal nach Herzenslust brennen, so daß mich mein Vater gar nicht von der Stelle brachte. Eine Frau sah uns zu und sagte endlich: »Mein, 's ist halt armselig mit so einem Kind – wenn es ein Hascherl ist.«

Ich erschrak. Sie hatte mich gemeint und ich kannte die Ausdrucksweise der Leute gut genug, um zu verstehen, daß sie mich – wie ich so dastand mit offenem Mund und geschlossenen Augen – für ein Trottelchen hielt.

Ich war daher froh, als wir weiterkamen. Nun gingen wir schon fremde Wege. Hinter dem Orte Krieglach steht ein Kreuz mit einem Marienbilde und mit einer hölzernen Hand, auf welcher die Worte sind:

»Weg nach Mariazell.«

Wir knieten vor dem Kreuze nieder, beteten ein Vaterunser um Schutz und Schirm für unsere Wanderschaft. »Das greift mich frei an«, sagte mein Vater plötzlich und richtete sein feuchtes Auge auf das Bild, »sie schaut soviel freundlich auf uns herab.« Dann küßte er den Stamm des Kreuzes und ich tat's auch und dann gingen wir wieder.

Als wir in das Engtal der Veitsch einbogen, begann es schon zu dunkeln. Rechts hatten wir den Bergwald, links rauschte der Bach, und ich fühlte ein Grauen vor der Majestät und Heiligkeit dieses Zeller Weges. Wir kamen zu einem einschichtigen Wirtshaus, wie solche in den Wäldern der Räubergeschichten stehen – doch über der Tür war trotz der Dämmerung noch der Spruch zu lesen. »Herr, bleib' bei uns, denn es will Abend werden!« – Aber wir gingen vorüber.

Endlich sahen wir vor uns im Tale mehrere Lichter. »Dort ist schon die Veitsch«, sagte mein Vater, aber wir gingen nicht so weit, sondern bogen links ab und den Bauernhäusern zu, bei welchen es in der Niederaigen heißt. Und wir schritten in eines dieser Häuser und mein Vater sagte zur Bäuerin:

»Gelobt sei Jesu Christi, und wir zwei täten halt von Herzen schön bitten um eine Nachtherberg'; mit einem Löffel warmer Suppen sind wir rechtschaffen zufrieden und schlafen täten wir schon auf dem Heu.«

Ich hatte gar nicht gewußt, daß mein Vater so schön betteln konnte. Aber ich hatte auch nicht gewußt, daß er auf Wallfahrtswegen nur ungern in ein Wirtshaus einkehrte, sondern sich Gott zur Ehr' freiwillig zum Bettelmann erniedrigte. Das war ein gutes Werk und schonte auch den Geldbeutel.

Die Leute behielten uns willig und luden uns zu Tische, daß wir aßen von allem, was sie selber hatten. Dann fragte uns der Bauer, ob wir Feuerzeug bei uns hätten, und als mein Vater versicherte, er wäre kein Raucher und er hätte sein Lebtag keine Pfeife im Munde gehabt, führten sie uns in den Stadl hinaus auf frisches Stroh.

Wir lagen gut und draußen rauschte das Wasser. Das mutete seltsam an, denn daheim auf dem Berge hörten wir kein Wasser rauschen.

»Im Gottesnamen«, seufzte mein Vater auf, »morgen um solch' Zeit sind wir in Mariazell.« Dann war er eingeschlafen.

Am anderen Morgen, als wir aufstanden, leuchtete auf den Bergen schon die Sonne, aber im Schatten des Tales lag der Reif. Von der Veitscher Kirche nahmen wir eine stille Messe mit; und als wir durch das lange Engtal hineinwanderten, an Wiesen und Waldhängen, Sträuchern und Eschenbäumen hin, über Brücken und Stege, an Wegkreuzen und Bauernhäusern, Mühlen, Brettersägen und Zeugschmieden vorbei, trugen wir jeder den Hut und die Rosenkranzschnur in der Hand und beteten laut einen Psalter. Des schämte ich mich anfangs vor den Vorübergehenden, aber sie lachten uns nicht aus; an den Zeller Straßen ist's nichts Neues, daß laut betende Leute daherwandern. Mein Vater betete überhaupt gern mit mir; er wird gewiß immer sehr andächtig dabei gewesen sein, aber mir kamen im Gebete stets so verschiedene und absonderliche Gedanken, die mir sonst sicherlich nicht eingefallen wären. War ich im Beten, so kümmerte ich mich für alles, woran wir vorüberkamen, und wenn sonst schon gar nichts da war, so zählte ich die Zaunstecken oder die Wegplanken.

Heute gab mir vor allem das Ding zu sinnen, das mein Vater in seinem Sacke hatte und das im Rockschoß gerade so hin und her schlug, wie gestern. – Für einen Wecken ist's viel schwer. Für eine Wurst ist's viel groß. –

Ich war noch in meinen Erwägungen, da blieb mein Vater jählings stehen und das Gebet unterbrechend, rief er aus: »Du verhöllte Sau!«

Ich erschrak, denn das war meines Vaters Leibfluch. Er hatte sich ihn selbst erdichtet, weil die anderen ja alle sündhaft sind. »Jetzt kann ich schnurgerade zurückgehen auf die Niederaigen«, sagte er.

»Habt Ihr denn was vergessen?«

»Das wär' mir ein sauberes Kirchfahrtengehen«, fuhr er fort, »wenn man unterwegs die Leut' anluigt! – Hast es ja gehört, wie ich gestern erzählt hab', ich hätt' mein Lebtag keine Pfeifen im Maul g'habt. Jetzt beim Beten ist's mir eingefallen, wie ich dort den Holzapfelbaum seh', daß wir daheim auch einen alten Holzapfelbaum gehabt haben und daß ich unter dem Holzapfelbaum einmal 'glaubt hab', 's ist mein letztes End'. Totenübel ist mir gewesen, weil ich mit dem Riegelberger Peter das Tabakrauchen hab' wollen lernen. – Das ist mir gestern nicht eingefallen und so hab' ich unserm Herbergvater eine breite Lug' geschenkt und desweg will ich jetzt frei wieder zurückgehen und die Sach' in Richtigkeit bringen.«

»Nein, zurückgehen tun wir nicht«, sagte ich und in meinen Augen wird Wasser zu sehen gewesen sein.

»Ja«, rief der Vater, »was wirst denn sagen, wenn du unsere liebe Frau bist und einer kommt weit her zu dir, daß er dich verehren möcht' und bringt dir eine großmächtige Lug' mit?!«

»Gar so groß wird sie wohl nicht sein«, meinte ich und sann auf Mittel, das Gewissen meines Vaters zu beruhigen. Da fiel mir was ein und ich sagte folgendes: »Ihr habt erzählt, daß Ihr Euer Lebtag keine Pfeife im Mund gehabt hättet. Das kann ja wohl wahr sein. Ihr habt bloß das Rohr und von dem nur die Spitz' im Mund gehabt.«

Darauf schwieg er eine Zeitlang und dann sagte er: »Du bist ein verdankt hinterlistiger Kampel. Aber verstehst, das Redenverdrehen laß ich dir nicht gelten, und auf dem Kirchfahrweg schon gar nicht. Ich hab's so gemeint, wie ich's gesagt hab', und der Bauer hat's so verstanden.«

»So müsset es halt gleich beichten, wenn wir nach Zell kommen«, riet ich und darauf ging er ein und wir zogen und beteten weiter.

Beim Rotwirt hielten wir an, mußten uns stärken. Wir hatten nun die Rotsohl zu übersteigen, den Sattel der Veitschalpe, die mit ihren Wänden schon lange auf uns hergestarrt hatte. Die Wirtin schlug die Hände zusammen, als sie den kleinwinzigen Wallfahrer vor sich sah und meinte, der Vater werde mich wohl müssen auf den Buckel fassen und über den Berg tragen, wenn ich nicht brav Wein trinke und Semmel esse.

Hinter dem Wirtshause zeigte eine Hand schnurgerade den steilen Berg hinan: »Weg nach Mariazell.« Aber ein paar hundert Schritte weiter oben im Waldschachen stand ein Kruzifix mit der Inschrift: »Hundert Tage Ablaß, wer das Kruzifix mit Andacht küsset, und fünfhundert Tage vollkommenen Ablaß, wer Gelobt sei Jesus Christus sagt.«

Auf der Stelle erwarben wir uns sechshundert Tage Ablaß.

Dann gingen wir weiter, durch Wald, über Blößen und Geschläge, bald auf steinigen Fahrwegen, bald auf glatten Fußsteigen, nach einer Stunde waren wir oben.

Wir setzten uns auf den weichen Rasen und blickten zurück in das Waldland, über die grünen Berge hin bis in die fernen blauen. Und zwischen den blauen heraus erkannte mein Vater jenen, auf welchem unser Haus stand. Dort ist die Mutter mit dem kleinen Brüderlein, dort sind sie alle, die uns nachdenken nach Zell. Wie müssen die Leute jetzt klein sein, wenn schon der Berg so klein ist wie ein Ameisenhaufen! –

Es war die Mittagsstunde. Wir vermeinten vom Veitschtale herauf das Klingen der Glocke zu hören.

»Ja«, sagte dann mein Vater, »wenn man's betrachtet, die Leut' sind wohl recht klein gegen die große Welt. Aber schau, mein Bübel, wenn schon die Welt so groß und schön ist, wie muß es erst im Himmel sein?«

Wir erhoben uns und gingen den ebenen Weg, der hoch auf dem Berge dahinführt, und ich sah schaudernd zum schroffen Gewände der Veitsch empor, das drohend, als wollte es niederstürzen, auf uns herabstarrte. Endlich standen wir vor einem gemauerten Kreuze, in dessen vergitterter Nische ein lieber, guter Bekannter stand. Der heilige Nikolaus, der alljährlich zu seinem Namenstage mich mit Nüssen, Äpfeln und Lebzelten beschenkte, anstatt daß ich ihm es tat. Und von diesem Kreuze sahen wir auf die Zeller Seite hinab. Doch wir sahen noch lange nicht Zell; wohl aber ein so wildes, steinernes Gebirge, wie ich es früher meiner Tage nicht gesehen hatte. Ein Gebet beim Nikolo, und wir stiegen hinab in die fremde, schauerliche Gegend.

Wir kamen durch einen finsteren Wald, der so hoch und dicht war, daß kein Gräslein wuchs zwischen seinen Stämmen. Mein Vater erzählte mir Raub- und Mordgeschichten, welche sich hier zugetragen haben sollen, und ein paar Tafeln an den Bäumen bestätigten die Erzählungen. Ich war daher recht froh, als wir in das Tal kamen, wo wieder Wiesen und Felder lagen und an der Straße wieder Häuser standen.

Wir waren bald in der Wegscheide, wo sich zwei Wege teilen, der eine geht nach Seewiesen und den anderen weist eine Hand: »Weg nach Mariazell.«

»Wenn du nach Zell gehst, so wirst du die größte Kirche und die kleinste Kirche sehen«, sagte mein Vater, »die größte finden wir heut' auf den Abend, zur kleinsten kommen wir jetzt. Schau, dort unter der Steinwand ist schon das rote Türml.«

Das Wirtshaus war freilich viel größer als die Kirche; in demselben stärkten wir uns für den noch dreistündigen Marsch, der vor uns lag.

Dann kamen wir an der gezackten Felswand vorüber, die hoch oben auf dem Berge steht und »die Spieler« genannt wird. Drei Männlein sitzen dort oben, die einst in der Christnacht hinaufgestiegen waren, um Karten zu spielen. Zur Strafe sind sie in Stein verwandelt worden und spielen heute noch.

Die Straße ist hin und hin bestanden mit Wegkreuzen und Marienbildern; wir verrichteten vor jedem unsere Andacht und dann schritten wir wieder vorwärts, wohl etwas schwerfälliger als gestern, und im Rockschoße meines Vaters schlug fort und fort das unbekannte Ding hin und her.

Neben uns rauschte ein großer Bach, der aus verschiedenen Schluchten, zwischen hohen Bergen herausgekommen war. Die Berge waren hier gar erschrecklich hoch und hatten auch Gemsen.

»Jetzt rinnt das Wasser noch mit uns hinaus«, sagte mein Vater, »paß auf, wenn es gegen uns rinnt, nachher haben wir nicht mehr weit nach Zell.«

Wir kamen nach Gußwerk. Das hatte wunderprächtige Häuser, die waren schön ausgemeißelt um Türen und Fenster herum, als ob sich die Steine schnitzen ließen, wie Lindenholz. – Und da waren ungeheure Schmieden, aus deren Innern viel Lärm und Feuerschein herausdrang. Wir eilten hastig vorbei und nur bei der damals neuen Kirche kehrten wir zu. Das war wunderlich mit dieser Kirche – nur ein einzig Christusbild war drin, und sonst gar nichts, nicht einmal unsere liebe Frau. Und so nahe bei Mariazell! Die Lutherischen sollen es gerade so haben. – Wir gingen bald davon.

Und als wir hinter das letzte Hammerwerk hinaus waren und sich die Waldschlucht engte, daß kaum Straße und Wasser nebeneinander laufen konnten – siehe, da war das Wasser so klar und still, daß man in der Tiefe die braunen Kieselsteine sah und die Forellen – und das Wasser rann gegen uns.

»Jetzt, mein Bübel, jetzt werden wir bald beim Urlaubkreuz sein«, sagte der Vater, »bei demselben siehst du den zellerischen Turm.«

Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir sahen die Kapelle, die gerade vor uns auf dem Berge stand und die Sigmundskirche heißt. Da oben hat vor lange ein Einsiedler gelebt, der sich nicht für würdig gehalten, bei der Mutter Gottes in Zell zu sein, und der doch ihr heiliges Haus hat sehen wollen jede Stund'. Ein Vöglein hätte ich mögen sein, daß ich hätte hinauffliegen können zum Kirchlein und von dort aus Zell etliche Minuten früher schauen, als von der Straße.

An der Wegbiegung sah ich an einem Baumstamm ein Heiligenbild.

»Ist das schon das Urlaubkreuz?«

»Das kleine«, sagte mein Vater, »das ist erst zum Urlaubkreuz das Urlaubkreuz. Schau, dort steht es.«

Auf einem roten Pfahl ragte ein roter Kasten, der hatte ein grünangestrichenes Eisengitter, hinter welchem ein Bildnis war. Wir eilten ihm zu; ich hätte laufen mögen, aber mein Vater war ernsthaft. Als wir vor dem roten Bildstock standen, zog er seinen Hut vom Kopfe, sah aber nicht auf das Bild, sondern in das neu hervorgetretene Tal hin und sagte mit halblauter Stimme: »Gott grüß' dich, Maria!«

Ich folgte seinem Auge und sah nun durch die Talenge her und durch die Scharte der Bäume eine schwarzglänzende Nadel aufragen, an welcher kleine Zacken und ein goldener Knauf funkelten.

»Das ist der zellerische Turm.«

Mit stiller Ehrfurcht haben wir hingeschaut. Dann gingen wir wieder – ein paar Schritte vorgetreten und wir haben den Turm nicht mehr gesehen. Wir sollten ja bald an seinem Fuße sein...

Noch eine Wegbiegung und wir waren im »Alten Markt« und hinter diesen Häusern stiegen wir die letzte Höhe hinan und hatten auf einmal den großen Marktflecken vor uns liegen, und inmitten, hoch über alles ragend und von der abendlichen Sonne beschienen, die Wallfahrtskirche.

Die Stimmung, welche zu jener Stunde in meiner Kindesseele lag, könnte ich nicht schildern. So wie mir damals, muß den Auserwählten zumute sein, wenn sie eingehen in den Himmel.

Wir taten, wie alle anderen auch – auf den Knien rutschten wir in die weite Kirche und hin zum lichterreichen Gnadenbilde, und ich wunderte mich nur darüber, daß der Mensch auf den Knien so gut gehen kann, ohne daß er es gelernt hat.

Wir besahen an demselben Abende noch die Kirche und auch die Schatzkammer. An den gold- und silberstrotzenden Schreinen hatte ich lange nicht die Freude, wie an den unzähligen Opferbildern, welche draußen in den langen Gängen hingen. Da gab es Feuersbrünste, Überschwemmungen, Blitzschläge, Türkenmetzeleien, daß es ein Schreck war. Es ist kaum eine Not, ein menschliches Unglück denkbar, das in diesen Dank- und Denkbildern nicht zur Darstellung gekommen wäre. Wer hat diesen Volksbildersälen je eine nähere Betrachtung gewidmet?

Wir stiegen auch auf den Turm; das war unerhört weit hinauf zwischen den finsteren Mauern, wie oft mocht der Rockschoß meines Vaters hin und her geschlagen haben, bis wir da oben waren! Und endlich standen wir in einer großen Stube, in welcher zwischen schweren Holzgerüsten riesige Glocken hingen. Ich ging zu einem Fenster und blickte hinaus – was war das für ein Ungeheuer? Die Kuppel eines der Nebentürme hatte ich vor Augen. Und du heiliger Josef! wo waren die Hausdächer? Die lagen unten auf dem Erdboden. – Dort auf dem weißen Streifen krabbelte eine Kreuzschar heran. Als der Türmer dieselbe gewahrte, hub er und noch ein zweiter an, den Riemen einer Glocke zu ziehen. Diese kam langsam in Bewegung, der Schwengel desgleichen und als derselbe den Reifen berührte, da gab es einen so schmetternden Schall, daß ich meinte, mein Kopf springe mitten auseinander. Ich verbarg mich wimmernd unter meinen Vater hinein, der war so gut und hielt mir die Ohren zu, bis die Kreuzschar einzog und das Läuten zu Ende war. Nun sah ich, wie die beiden Männer vergebens an den Riemen zurückhielten, um die Glocke zum Stillstand zu bringen; hilfsbereit sprang ich herbei, um solches auch an einem dritten niederschlängelnden Riemen zu tun – da wurde ich schier bis zu dem Gebälke emporgerissen.

»Festhalten, festhalten!« rief mir der Türmer zu. Und endlich, als die Glocke in Ruhe und ich wieder auf dem Boden war, sagte er: »Kleiner, kannst wohl von Glück sagen, daß du nicht beim Fenster hinausgeflogen bist!«

»Ja«, meinte mein Vater, »kunnt denn da in der Zellerkirchen auch ein Unglück sein?«

Abends waren wir noch spät in der Kirche; und selbst als sich die meisten Wallfahrer schon verloren hatten und es auch an dem Gnadenaltare dunkel war bis auf die drei ewigen Lampen, wollte mein Vater nicht weichen. Gar seltsam aber war's, wie er sich endlich von seinen Knien erhob und in die Gnadenkapelle hineinschlich. Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den Altar.

Jetzt sah ich, was es war – ein Eisenzahn von unserer Egge war es. –

Und am anderen Tage gegen Abend, als wir meinten, unsere Kirchfahrt so verrichtet zu haben, daß Maria und unser Gewissen zufrieden sein konnten, gingen wir wieder davon. Beim Urlaubkreuz blickten wir noch einmal zurück auf die schwarze, funkelnde Nadel, die zwischen zwei Bäumen hervorglänzte.

»Behüt' dich Gott, Mariazell«, sagte mein Vater, »und wenn Gottes Willen, so möchten wir noch einmal kommen, ehvor wir sterben.« –

Dann gingen wir bis Wegscheid', dort hielten wir nächtliche Rast. Und am nächsten Tage überstiegen wir wieder den Berg und durchwanderten das Veitschtal. Als wir zu den Bauernhäusern der Niederaigen kamen, sprach mein Vater dort zu, wo wir auf dem Vorweg zur Nacht geschlafen hatten, machte das Einbekenntnis wegen der Pfeife und überreichte der Bäuerin ein schön bemaltes Bildchen von Mariazell.

Als wir am Abende desselben Tages heimgekommen waren und uns zur Suppe gesetzt hatten, soll ich, den Löffel in der Hand, eingeschlafen sein.


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