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In einem Städtchen Oberfrankens lebte eine Schullehrerswitwe mit Namen Mändeg. Sie bewohnte eine Dachstube, arbeitete im Nähen und Plätten und lebte sehr still und einfach und sehr glücklich dahin. Ihr Glück bestand in einem – um die Zeit dieser Geschichte – zwanzigjährigen Jüngling, ihrem einzigen Kinde. Für das lebte, arbeitete, darbte, sparte, betete sie, und ihr Opfer hatte der Himmel in Gnaden belohnt.
Eines Tages kam der Sohn heim vom Gymnasium mit glänzendem Zeugnisse, glänzendem Gesichte und jubelnd. Die Anstalt war absolviert und in zwei Monaten beziehen wir die Hochschule zu Leipzig! Auch einen Brief hatte Gottfried bei sich – vom Direktor an Mutter Mändeg.
Hochachtbare Frau!
An diesem Tage, als ich Ihren Sohn Gottfried von unserer Anstalt scheiden sehe, empfinde ich es so recht, wie lieb ich den blonden Jungen habe und ich ergreife die Gelegenheit, um Sie zu diesem Sohne zu beglückwünschen. Rührend waren uns oft die Opfer, die Sie seit sieben Jahren für ihn gebracht haben; der nun heimkehrende gesunde, hübsche, mit wahrhaft edlen Eigenschaften des Geistes und des Herzens ausgestattete Jüngling soll Ihnen eine wohlverdiente Genugtuung sein. Gottfried war in unserer Anstalt ein Muster der Sittsamkeit und des Fleißes, bei seinen Lehrern wie bei seinen Kameraden gleich beliebt. Besonders zeichnete er sich durch kindliche Treuherzigkeit, durch Mut und Besonnenheit und durch einen lebhaften Natursinn von seinen Altersgenossen aus. Seit meiner Wirksamkeit an der hiesigen Anstalt ist es das erste Mal, daß die Schüler unter sich für einen Kollegen eine Ehrengabe sammeln, um ihm eine Ferienreise zu ermöglichen. Gottfried soll nun seinen langgehegten Wunsch, eine Reise in die Alpen zu machen, ausführen. Wir alle geben ihm den Segen für die Zukunft mit, in der Sie, hochgeschätzte Frau, große Freude und Ehre an Ihrem Sohne erleben werden.
Mit aufrichtiger Hochachtung
G. v. Elser,
Direktor.
Selig, überselig war Mutter Mändeg; sie reichte ihrem Sohne nur so in stiller Ehrerbietung die Hand und schaute ihm in das liebe, offene Gesicht. »Sieh, sieh!« sagte sie dann, »du bist aber doch ein Schlingel!«
Hernach am Abend, als die Leute sich unter der Ebereschen-Allee ergingen, führte Gottfried das kleine behendige Frauchen auch spazieren und alles kam herbei, um den Studenten zu begrüßen; aber die Mädchen, mit denen er in früheren Jahren kindisch gescherzt hatte, wechselten ein wenig die Farbe ihrer Wangen und verhielten sich eingezogen. Nur die Fräulein Töchter des Oberrichters nickten ihm gar freundlich zu und der Herr Oberrichter lud ihn für jeden Sonntag während der Ferienzeit zum Mittagsmahl ein.
Gottfried mußte danken, er beabsichtige, eine mehrwöchentliche Gebirgsreise anzutreten.
»Wohlan,« meinte der Oberrichter, »hoffentlich werden die Steinadler Sie uns nicht entführen und wenn Sie zurückkehren, sind Sie unser.«
Mutter Mändeg merkte wohl, ihr Sohn war nicht mehr der ihre wie einst, da er Knabe gewesen, alle Welt wollte teil an ihm haben; da schloß sie ihren Arm enger an den seinen, zog ihn heimwärts in die Dachkammer und vertraute ihm in Scherz und Ernst, sie wisse sich vor Eifersucht gar nicht zu fassen, sie wolle ihn noch in den Käfig sperren.
»Das ist gar nicht nötig, Mutterle,« sagte Gottfried, preßte ihre Hand an seine Brust und trillerte das Lied:
»Du hast eine güldne Ketten
Ums Herz mir angelegt.«
»Du!« drohte das Frauchen und hob den Zeigefinger, »man möchte nicht allemal gern untersuchen, wer euch Herren Studenten die güldne Ketten ums Herz hat angelegt!«
»Aber Mutter!« er küßte sie flüchtig.
»Daß ich's nur offen sage,« wendete die Mutter ein, »mit deinen Küssen bin ich nicht mehr zufrieden, 's ist wohl ein Kuß, aber es ist der Gottfried nicht mehr dran.«
»Er ist noch dran,« sagte der junge Mann, packte sie in die Arme und drückte und küßte, und kosete sie so gewaltig, daß sie einen Schreckruf tat. Ein solcher Kuß – da war freilich der Gottfried dran, aber nicht der Knabe mehr. Sie schwieg und war schier verwirrt wie ein Mädchen – beruhigt hatte sie der Kuß eigentlich nicht. Indes, wenn einem Sohne die Zeit der Liebe naht, da wird auch die Liebe der Mutter zu ihm eine andere. Und Frau Mändeg war so glücklich. »Daß du jetzt nicht mehr bei mir bleibst in den Vakanzen, wie sonst,« sagte sie, »das ist ganz selbstverständlich; ich wäre ja im Himmel, und das verlange ich nicht auf der Welt.«
Zwei Tage gab er ihr zuliebe zu, dann packte sie sein Ränzel. O, was sie ihm alles mitgeben wollte an Wäsche, an Beschuhung, an sonstigem Zugehör! Gottfried mußte es ihr immer wiederholen, daß auf Fußwanderungen im Gebirge das kleinste Gepäck das beste sei. So bepackte sie ihn – was er sich gern gefallen ließ – mit Segenswünschen und Ermahnungen, mit Bitten und Beschwörungen, ja recht auf sich achtzuhaben und gesund wieder heimzukehren. Als er dann reisefertig an der Tür stand – schlank und frisch und schön, das Auge schon voll Wanderlust, da schoß die Mutter plötzlich an ihn heran, faßte ihn am Arm und sagte: »Nein, Gottfried, ich lasse dich doch nicht fort. Was willst du in der fremden Welt? Bleib' daheim!«
»Lebe wohl, Mutter!« Ein rascher Händedruck, da war er davon. In Mutter Mändegs Stube war es wieder öde und einsam, wie es sonst gewesen, und wieder trat das stille Sinnen und Gedenken an ihn hervor, das Sorgen und Kümmern, das Hoffen auf die Wiederkehr, wie es sonst gewesen und das üppige Ausmalen der Zeit, wenn er wieder daheim sein werde. – Ob sie viel von Gottfried träume? ward Frau Mändeg eines Tages, als sie ihre Arbeit ins Haus des Oberrichters gebracht, von dem jüngsten »Fräulein Tochter« gefragt.
Sie träume gar nicht von ihm. – Ja, das sei ganz in Ordnung, an was man wachend beständig denke, das ruhe im Schlafe. Auch die Gedanken müßten sich ausrasten. So das kluge Fräulein. Trotzdem träumte Mutter Mändeg in einer der nächsten Nächte, ihr Sohn sitze unten im Buchenwalde am roten Kreuze und füttere ein schneeweißes Vöglein. Das Vöglein sang: »Du hast eine güldne Ketten . . .« In einer zweiten Nacht träumte ihr dasselbe, nur daß sie am Kreuze den Gottfried nicht sah, sondern bloß den Vogel; dieser hüpfte an den Balken hin und her und sang: »Du hast eine güldne Ketten . . .« Dann war eine Nacht nichts, aber in der darauffolgenden sah die Mutter im Traume wieder das rote Kreuz, sah aber nicht den Gottfried und auch nicht den Vogel, doch hörte sie singen: »Du hast eine güldne Ketten . . .«
Der Vormittag nach dieser Nacht brachte eine Depesche. Der Austräger, der die Depesche selbst aufgefangen hatte, sprach: »Es wird gewiß so schlimm nicht sein. Der junge Herr hat nur etliche Pfennige ersparen wollen, es taugt aber nicht, bei Depeschen so undeutlich sein,« und überreichte das Telegramm.
»Gottfried Mändeg aus Aching in Oberfranken verletzt. Mutter womöglich sofort kommen. Dorf Schrun in Tirol.
Jakob Höfinger, Pfarrer.«
Das war indes deutlich genug. Der Austräger hielt sich bereit, die alte Frau zu stützen, wenn sie umfallen würde. Aber eine Frau, die zum kranken Kinde gerufen wird, hat nicht Zeit umzufallen. Einen langen, schweren Atemzug tat sie, dann traf sie sofort ruhig und entschieden Anstalten zur Abreise.
»Dorf Schrun, wo ist das?«
Hierauf der Bescheid einer Nachbarin: »Dahin hat man auf der Eisenbahn wenigstens vier Stunden lang zu fahren.«
Der Oberrichter belehrte sie eines ganz anderen: »Dorf Schrun liegt in Tirol, sind zwei Tagreisen hin, oder mehr.« Der Oberrichter versorgte sie rasch mit dem Reiseplan, mit den Reisemitteln und mit den nötigen Ratschlägen. Frau Mändeg hatte vor Jahren wohl einmal eine Reise gemacht, aber nur in das sieben Wegstunden entfernte Stading zu einer Muhme – weiter war sie noch nicht gewesen. »Aber, ich fürchte mich nicht,« sagte sie, »und wenn's sein müßte auch ins Amerika. Nur gleich hintelegraphieren: Ich komme schon, er soll nur ruhig liegen bleiben und tun, was der Arzt sagt. Ist's eine Wunde: mit englischem Balsam auswaschen und einen Linnenfleck mit Talgaufstrich darüber.«
So war sie stark und so begab sie sich auf die Reise.
Als das Hügelland zurückgelegt war und die graue Fläche begann, an der man kein Ende sah, war die gute Frau erstaunt, sie hatte sich den Weg in die Alpen nicht so eben gedacht. Weil der Zug rasend schnell ging, so hatte sie sich der Hoffnung hingegeben, er würde diesmal früher ans Ziel kommen, als es angegeben war. Aber als es Mittag wurde, kam eine große Stadt und dann war wieder die Fläche. Auf einmal fuhr der Zug hoch über ein Wasser, man sagte ihr, es sei die Donau. Gegen Abend war wieder eine große Stadt. Hier wurde die Frau in einen Wagen gebracht, an dem die Worte »Nach Italien« standen; vergebens nannte sie ihr Reiseziel; es sei schon recht, bedeutete der Schaffner, sie solle nur drinnen bleiben. Sie machte Einwände und wies ihre Fahrscheine vor. Der Schaffner fuhr sie an, er werde es doch wissen, wo man nach Tirol fahre, sie solle sich beruhigen! Jetzt hatte sie den Kopf verloren und ergab sich in alles. Wer sie betrachtet hatte, wie sie dasaß im Winkel des nächtigen Gelaß: ein Frauchen im dunkelblauen Anzug, das schwarze Kopftuch über die Stirne herabgezogen, der Oberkörper vorgebeugt, die Ellbogen auf das Knie gestützt, die Hände gefaltet, als ob sie bete. Freilich betete sie; so in der weiten Fremde, in Kummer und Angst – was für ein Freund ist da nicht der liebe Gott dem glaubenden Herzen!
Unterwegs stiegen zwei Herren ins Gelaß; diese plauderten anfangs eine Zeitlang, dann ward ihnen langweilig, der eine lehnte sich an die Ecke und legte den Hut über das Gesicht, der andere zog eine Zeitung aus der Tasche und begann bei dem kümmerlichen Lichte zu lesen. Frostig ward es und Mutter Mändeg geriet in Sorge, ob ihr Gottfried doch wohl eine warme Kammer und eine gute Decke haben werde. Plötzlich begann der Zeitungsleser den Kopf zu schütteln und zu brummen: »Schon wieder ein Malheur. Das ist doch ein sträflicher Leichtsinn bei den jungen Leuten.«
»Was ist denn?« lallte der andere in der Ecke.
»Am Schrunstein sind zwei Touristen abgestürzt,« rief der Lesende.
»Steigen jetzt die Sakra auch schon auf die Hausdächer?« sagte der andere.
»Hausdächer? Am Schrunstein!«
»Ah so, am Schrunstein,« lachte der andere, »ich habe verstanden am Schornstein. Am Schrunstein, ah das ist was anderes. Ist ihnen was geschehen?«
»Tot sind sie. Ein Student und der Führer. Das kommt davon. So Bravourstückeln da. Lauter Bravourstückeln. Alle Jahr' geschieht was. Lassen sich nicht witzigen. Das Gebirg versteht keinen Spaß nicht. Und das ist das Ende.«
»Mit Erlaubnis, wo ist denn der Schrunstein?« fragte nun die Frau mit beklommener Stimme.
»Der ist bei Schrun in Tirol,« antwortete der Zeitungsleser.
»Willst nicht auch ein bissel schlafen?« mahnte der andere den Zeitungsleser. Bald schnarchten beide und Mutter Mändeg blieb wach, allein mit ihrer Angst.
Als es endlich zu tagen begann, blickte sie zum Fenster hinaus, der Anblick des Morgenrots linderte ihr das Herz. Ringsum war immer noch Ebene, Heide und Kiefernwald. Der Himmel war klar, aber nach einer Seite hin türmten sich hinter der Ebene graue Wolken auf in scharfen, zackigen Gestalten, teils von der aufgehenden Sonne rötlich beleuchtet.
Die Schläfer hatten sich aufgerichtet, der eine schaute hinaus und sagt gähnend: »Das Gebirge ist da.«
Mutter Mändeg erschrak. Dieses Gewölk wäre das Gebirge? Etwa gar Tirol?
Der Zug setzte über breite Sandhalden, in denen vielarmige Wässer rannen. Auf den Auen standen weißschimmernde Weiden und hohe Fichten, auf den Wiesen weideten Rinder und Ziegen. Die getürmten Wolken waren sachte zurückgesunken, vor ihnen hatten sich Berge mit grünen Lehnen und Wäldern erhoben und dazwischen standen turmhohe Felsen, alles schon in nächster Nähe. Wenn ein solcher Fels niederbräche? Wenn ein Mensch da hinaufstiege und stürzte herab? – Mit solchen Gedanken quälte sich Mutter Mändeg. Was aber das nur für schöne hellgrüne Bäume sind, so gleich und glatt und kegelförmig. Die Lärche wäre es. Das glaube ich schon, daß solche Bäume dem Gottfried gefallen; aber der Steine wegen kann ein vernünftiger Mensch unmöglich eine solche Reise machen.
Die Frau blieb immer am Fenster und schaute hinaus. Die Gegend wurde unheimlicher. So eng waren die Berge zusammengerückt, daß sich die Eisenbahn nach links und rechts winden, Abgründe überbrücken, Bergvorsprünge durchbohren mußte, um weiter zu kommen. So ging es fort unaufhörlich. Dann einmal seitlings hin ein Engtal, in dessen Hintergrunde stand eine blaue Nacht, wieder gefärbt wie Wolken vor einem Gewitter. In diesen finsteren Wolken waren weiße Flecken und Ränder. Die Mitreisenden schauten darauf hin und nannten sie Ferner.
Die Berge voran bauten sich immer gewaltiger, schroffer auf und an deren Fuß schmiegten sich Häuser, Dörfer mit flachen Dächern, auf denen Steine lagen. Die armen Menschen! Hoch von den Gebirgen nieder gingen weiße Streifen, die sich herunten als Schuttriesen dartaten, ausgetrocknete Bachbette – was kann das für ein Wasser sein, das hier herabfährt! Mehrmals sah die Frau auch so ein Wasser niedergehen in einem schneeweißen Bande, unten in der Schlucht mit einer solchen Gewalt an die Felsen schlagend, daß ein dichter Nebel aufwirbelte und die Bäume weithin in hellen Tropfen funkelten. Die Felswände waren ungeheuerlich geworden und die turmhohen Steine, vor denen die Frau vorhin erschrocken, waren dagegen wie Sandkörner, die unterhalb der Wände herumlagen. Und auf manchem dieser Sandkörner wuchsen Bäume und ganze Wäldchen. Der Eisenbahnzug rollte trotzig dahin zwischen diesen Schrecknissen und die Wände schleuderten seinen Lärm zurück, daß einem die Ohren gellten.
Dann war der Zug wieder wie hoch und frei in der Luft und an einer solchen Stelle tat sich zur linken Seite ein weites Tal auf mit Dörfern und spitzen Kirchtürmen, einem großen eisgrauen Wasser und einer weißen Straße. Dieses Tal war nur dazu gut, daß man noch viel mehr Berge sah als früher, sie standen nah und standen fern und einer saß auf dem anderen; zu Füßen der Berge und weit hinan waren dunkelblaue Wälder, höher oben kam das blasse Grün über Kuppen und Hochflächen, es waren die Almen, auf denen graue Körnlein lagen – die Sennhütten. Und im Hintergrunde stand wieder jenes gewölkartige Hochgebirge, vor dem der Mutter Mändeg so bange war. Wie Wolkenbänke lagen die weißen Ferner dahin. Dort und da erhob es sich in seinen sonnigen Zacken und brachen sich die grauen Massen in senkrechten Abstürzen, daß man dazwischen hinaussah in ein lichtes Firmament, welches gewiß schon über einer anderen Welt lag. Besonders ein blaßrötliches Dreieck war es, welches hoch über alles Gewüste emporstand. Die eine Linie dieses Dreiecks ging steil wie ein Dach, die andere stürzte schnurgerade und senkrecht ab. So blickte es still und glatt aus fernem Hintergrunde herüber. Der Mutter Mändeg fiel dieser Berg auf und die Mitreisenden sagten, es wäre der Schrunstein. Die Frau schaute darauf hin, solange sie ihn sah, aber die Bahn machte eine Wendung, so daß es schien, der Schrunstein bleibe zurück und der Zug trachte anderen Gegenden zu.
Mehrmals setzte die Eisenbahn auf hohen langen Brücken über ein wild daherwallendes Wasser. Am Rande des Flusses waren wieder die weißen Schutt- und Sandfelder, die oft das ganze Tal ausfüllten, und Häuser und Kirchen standen an den Berghängen. Manchmal war ein Dammbau den Wassern ausgesetzt, die in schweren Massen sich heranwälzten und schäumend in die Abgründe stürzten. Auf dem Flusse rannen Scheiter und ganze hölzerne Brücken, auf denen Menschen, klein wie Ameisen, umherstanden und mit Stangen in das Wasser stachen. Wie so ein Menschenkörperlein doch nichtig ist zwischen den Wuchten des Gebirges!
Durch einen langen Tunnel fuhr der Zug, an qualmenden Pechfackeln vorüber; als er wieder ans Tageslicht kam, war das Tal so schauerlich eng, daß man an einem Muttergottesbild, welches an der gegenüberstehenden Wand hing, die sieben Schwerter sah, die Mariens Herz durchbohrten. Und in der Tiefe goß der Fluß wie Milch so weiß, und zwängte sich rauschend zwischen schwarzen Felsblöcken und niedergebrochenen Urwaldstämmen durch.
Einer der Reisenden wußte allerhand Geschichten, wie draußen an den Wehren einer ertrunken, unten auf den Holzflößen einer zerquetscht, dort von der Felswand einer in den Abgrund gestürzt, von Schneelawinen einer begraben, von Wildschützen einer erschossen worden war. Sie ahnten nicht, was Mutter Mändeg litt, sie sah ihren Sohn ertrinken, stürzen, erdrückt, erschossen, von Schnee und Schutt begraben werden. Die Hände auf dem Schoß gefaltet, so saß sie unbeweglich da und starrte zum Fenster hinaus.
Endlich, als sie in ein kleines Wiesental kamen, wo auch ein Waldschachen und ein stattliches Haus stand und das Wasser still und klar hinrann auf braunem Sande, war es für Mutter Mändeg Zeit, auszusteigen.
Und als der Zug hinter dem nächsten Felsvorsprunge verschwunden war, kam die Ausgesetzte erst zu sich. Jetzt in der Stille und Einsamkeit, ringsum das wüste Gebirge, jetzt war ihr, als müsse sie laut nach ihrem Gottfried rufen.
Einen Mann, der ihr die Fahrkarte abnahm, fragte sie, ob denn das die Schrun sei?
»Die Schrun? Da muß die Frau über das Fandeljoch hinüber. Drei Stunden gelangen, wenn's gut geht. Aber sie kann fahren. Der Wirt von da fährt zur Bestattung hinüber, der nimmt sie gern mit.«
»Der Wirt von da« war ein langer, hagerer Geselle in kurzer Lederhose und steifer Lodenjoppe. Er hielt eine baumelnde Tabakspfeife im Mund und war mürrisch. Trotzdem nahm er die fremde Frau mit und überließ ihr im Wäglein sogar den guten Sitz, während er vom Vorderbrett aus das Pferd leitete. Sie suchte mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen und drückte ihre Besorgnis aus, ob sie wohl auf dem rechten Weg in die rechte Schrun sei. Sie könne es nicht glauben, daß ihr Sohn sich hierher verschlagen habe. Krank soll er liegen in der Schrun, ob man nichts gehört habe? Was der »Wirt von da« antwortete, das verstand sie kaum, es war so wie: was werde man denn viel hören, wenn einer krank liege. Krank lägen die Leute in aller Welt.
Der Weg – ein weißer Kiesboden, in welchen die Räder keine Spuren eindrückten – ging über Wiesen sachte aufwärts gegen eine waldige Engschlucht. Zur Rechten derselben ragte über blauenden Wald eine Felswand mit feinen Schrammen, als wäre sie in tausend Teilchen zersprungen. Sie stand scheinbar in nächster Nähe, aber eine ganze Stunde fuhr der Wagen, fuhr in einen Wald hinein, fuhr wieder hinaus, fuhr über sumpfiges Moor, bis er endlich am Fuße der Wand war. Die Schrammen an derselben waren zu tiefen Runsen und Schrunden geworden, in denen Knieholz wucherte, ein Teil her Wand ragte hoch oben über, zu sehen, als müsse sie jeden Augenblick auf den Wald herabstürzen in die Schlucht.
»Da heißt's aussteigen,« sagte hier der Fuhrmann und sprang vom Wagen. Der Weg war steinig geworden und stieg steil bergan. Das Pferd zog den ächzenden Wagen mühevoll empor; die beiden Menschen gingen hintendrein.
Ein Bergler kam des Weges dieselbe Richtung.
»Auch in die Schrun?« fragte unser Fuhrmann.
»Auch in die Schrun«,« antwortete der Bergler.
»Heut' geht alles in die Schrun,« sagte der Fuhrmann, der andere entgegnete: »Freilich wohl,« und stieg bergan.
Nun war dem »Wirt von da« die Zunge gelöst.
Mit dem Pfeifenrohr deutete er gegen die Wand hinauf und sagte: »Tu' die Frau just einmal dort aufs Grat hinaufschauen, wo der Stein so überhängt.«
Sie blickte hinauf zur bezeichneten Stelle.
»Von dort ist er herabgesprungen.«
»Wer, um Gottes willen?« fragte Mutter Mändeg.
»Mein Bruder, der Zenz, vor sechs Jahren. Wachst Edelweiß dort oben. Beim Suchen hat er sich verstiegen in der Wand, ist zwei Tage und Nacht gesessen dort oben.«
»Es steht ja auch jetzt jemand dort oben,« bemerkte die Frau.
»Das ist ein dürrer Baum,« belehrte der Begleiter, »selbiger ist leicht zehnmal so groß wie ein Mensch. Ja, da ist's hoch hinauf! Am vierten Tag haben wir etwelches von seinen Gliedern gefunden da hinten im Wald. In seinen Filzhut ist ein Stein gebunden gewesen und ein Blatt Papier gesteckt: das hat er sich aus dem Gebetbuch gerissen.«
Der Mann zog seine Brieftasche aus dem Sack und griff ein Papierblatt heraus, das an seinen Bögen nur mehr schwach zusammenhielt. Er entfaltete es und sagte: »Da ist's. In seiner letzten Stund' hat er's geschrieben, wenn ich's lesen soll?«
Die Frau bat darum. »Ho, Brauner, gunn dir 'ein Rastel,« sagte er zum Pferd; das stand auf die Worte augenblicklich still, der Mann legte unter das Rad einen Stein, daß der Wagen feststand, dann las er stockend und ergriffen:
›Meine lieben Leut'!
Das ist mein letzter Bericht. Ich habe mich verstiegen, kann nicht mehr rückwärts und vorwärts. Zwei Tag und zwei Nacht habe ich geschrien und gebeten um Hilf. Ich sehe die Leut' gehen und fahren unten auf der Straßen, es hört mich keiner. Kunnt auch keiner helfen, als der liebe Gott. Bei mir ist's zum Sterben. Aber ich will nicht verdorren da heroben und von Raben und Geiern gefressen werden; auf dem Kirchhof will ich liegen bei Vater und Mutter, Freunden und Bekannten. Darum springe ich hinab, so lang' ich noch lebendig bin und ich bitte Gott und die Menschen um Verzeihung. Ich lasse meinen Bruder grüßen, er soll so gut sein und meine Schuld zahlen beim unteren Wirt in der Schrun. Vierundsiebzig Kreuzer. Die Antonia Auerin laß ich auch grüßen. Bis in den Tod
Vincenz Baumer.
Jesus Christus sei mir gnädig. Im Gottesnamen.‹
So las der Mann, faltete das Papier zusammen, tat es in die Brieftasche und trieb das Pferd an. Mutter Mändeg war so tief erschüttert, daß sie sich an den Wagen halten mußte, um nicht umzufallen.
»Schier war's umsonst gewesen,« sagte nun der Fuhrmann, »gleichwohl er sich des Kirchhofs wegen hat herabgestürzt, hat ihn der Pfarrer doch nicht begraben lassen wollen auf dem Kirchhof; weil's ein Selbstmörder ist, hat's geheißen. Zu hart Kräften haben wir's durchgesetzt – aber ganz im Winkel, wo die Lutherischen liegen. – Wenn sich die Frau bei mir will anhalten! sie wird gewiß die Berg' nicht gewohnt sein.«
Fast eine Stunde lang stiegen sie bergan, immer in Biegungen, daß man glaubte, jetzt sehe man schon die letzte Höhe und es war immer nicht die letzte. Endlich aber waren sie an der Stelle, wo der Weg eine kleine Strecke lang am Gewände hinging und dann abwärts bog. Die Bäume hatten aufgehört, nur etliche gerippfahle Strünke standen noch da auf grüner Matte. Binsengräser standen in Büscheln, dort und da war der Rasen aufgewühlt, daß man die schwarze Erde sah, und ein moderiger Wassertrog war zum Teil in den Boden hineingewachsen. Querhin war ein Steinkar, in welchem, wie der Fuhrmann behauptete, ein Rudel Gemsen weidete; Mutter Mändeg sah nichts davon, hörte aber das Niederrieseln von Steinen, die von den Tieren losgetreten worden waren. Steinblöcke lagen überall umher und Felsen ragten auf. Eine kühle Luft strich und Kräuter dufteten. Am Wege stand ein hohes Kruzifix – das Kreuz auf dem Fandeljoch.
Ein Blick nach rückwärts zeigte Berge in Nah und Fern mit abenteuerlichen Spitzen und Riffen, die vom Tale aus nicht sichtbar gewesen. Ein Blick nach vorwärts zeigte ein weniger weites, aber um so schauerlicheres Bild. Man sah in ein tiefes, schattenfinsteres Engtal hinab, scheinbar von allen Seiten in Felsen eingeschlossen. Und die Felsen stiegen fast unvermittelt auf, ohne viel Vorberge. Nur zwischen den Schutthalden, die von den Bergen niedergingen, lagen blauende Waldstreifen und im Tale Wiesengründe. Auf solchem Wiesengrunde lagen etliche winzig kleine, weiße Würfel, zwischen denen sich ein lichter Faden hinschlängelte. Das war die Schrun. Nach einer einzigen Seite war zwischen den Bergen eine Scharte hinaus und durch dieselbe schimmerte aus fernen Höhen ein blendendweißes Feld herein. Der Mann sagte, das seien die Ferner. Mutter Mändeg fragte, was das wäre, die Ferner? Ja, das wäre das tote, versteinerte Wasser im Hochgebirge, das ewige Eis, das kein Sommer kann lösen, von dem immerfort die grauen Wässer niederfahren, in die Täler und das doch immerfort größer wird und die steinernen Höhen zudeckt.
Die nahen Berge der Schrun türmten sich übereinander in ungeheuren Wuchten und Tafeln, schrundig und zackig – man sah ihnen von hier aus gerade an die Brust. Aber einer unter ihnen war, der erhob sich kühner als alle anderen. Mutter Mändeg schwindelte, als sie hinblickte auf die ätherblasse Hochzinne dieses Berges, dessen eine Linie senkrecht niederging bis zu den bewaldeten Böschungen, die ins Engtal der Schrun ausliefen. Hinter diesem Riesen stand die Sonne und er allein legte die ganze Schrun und ihre Wände in Schatten.
»Das ist ein hoher Herr, nicht wahr?« sagte der Begleiter zur Mutter Mändeg. »Das ist der Schrunstein, und von dem sind sie abgestürzt.«
»Auch hier jemand abgestürzt?«
»Ist auch wieder ein Verwandter von mir dabei. Ein Vetter mutterseits, der Knappen-Wolf. Seit das Bergwerk in der Eigen nicht betrieben wird, hat er keine Arbeit gehabt. Ein Kind ist auch da und keine Mutter dazu, so hat er sich als Bergführer was verdienen wollen bei den Fremden. Jetzt haben sie sich verstiegen. Ein Student ist's gewesen, heißt's, der mit ihm verunglückt ist. – Der Dunner, jetzt müssen wir wieder anrucken, sonst kommen wir gar noch zur Bestattung zu spat. Tu' sich die Frau nur in den Wagen setzen.«
Eine Stunde später fuhren sie tief unten im abendlichen Wiesental. Der Schrunstein hatte, von hier aus gesehen, die ganze Breite seines Gewändes entfaltet und seine Spitze zeigte eine andere Form als früher. Die Falten und Runsen, die an ihm niedergingen, bargen Schnee und Eis. Ein solches Eisfeld ging herab bis zur Böschung des Tales. Auf einer der unteren Lehnen stand ein wenig Getreide, aber es war noch ganz grün. Die Wiesen waren glatt gemäht und dort, wo irgendein Felsblock Schutz bot vor den kalten Winden, lagen Gärtchen mit kümmerlichen Kohlköpfen und dunkelgrünem Salat. Etliche Häuser mit dicken weißen Mauern und kleinen Fenstern waren da; die Wetterseite der Wände war mit Schindeln verschalt, aus Schindeln waren auch die breiten Dächer. Auf dem Hügel stand die Kirche mit einem roten spitzen Holztürmchen, das sich von dem schattenblauen Hintergründe der Felswand freundlich abhob.
Beim »unteren Wirt« stellte der Fuhrmann sein Gefährte ein. Als ihn Mutter Mändeg nach dem Fährlohn fragte, machte er einen Deuter mit der Hand: sie möge bei Gelegenheit einem Armen ein paar Kreuzer geben; er nehme nichts, er habe ihretwegen keine Mühe gehabt.
Nun fragte die Frau bei dem »unteren Wirt« an, ob da ein Kranker im Hause liege? Ein Fremder?
Man wußte nichts von einem solchen. Vielleicht beim »oberen Wirt«. Das große Haus, neben der Kirche.
Mutter Mändeg stieg rasch den Hügel hinan. An der Kirchhofsmauer, an welcher sie vorüberkam, hockte ein helläugiges Knäbl. Es legte kleine Steinchen übereinander und lächelte die Frau treuherzig an.
»Kannst du mir sagen, Kind, wo der obere Wirt ist?« fragte sie es.
»Ich mache eine Leichenbahr',« entgegnete das Kind vergnügt.
Mutter Mändeg ging weiter und nach wenigen Schritten, als sie um die Mauer bog, sah sie das Wirtshaus vor sich. Vor demselben standen Leute in Gruppen beisammen. Zuckenden Atems fragte sie im Hause, ob da der Kranke sei? Der Fremde, ein junger Mann aus dem Bayerland, blond, Gottfried Mändeg mit Namen.
Die befragte Kellnerin wies die Frau in die Gaststube, dort wolle sie ein wenig warten, und eilte davon.
An den Tischen der Gaststube saßen Männer herum; sie sprachen vielfältig durcheinander, soviel herauszuhören, von einem Unglück im Gebirge war die Rede; der Frau wollte vor Bangigkeit das Herz zerspringen. Im Wandwinkel hing ein geschnitztes Kruzifix, zu dem tat sie einen Blick und mit einem tiefen Atemzug war's, als wollte sie ihren Kummer aus der Brust schöpfen.
Nun trat ein ältlicher, glattrasierter Mann in schwarzem Kleid und hohen Glanzstiefeln in die Stube. Die Männer an den Tischen zogen ihre Hüte von den Köpfen. Der Pfarrer war's. Er trat auf die Frau zu, grüßte und fragte, ob er Frau Mändeg aus Bayern vor sich habe?
Sie bejahte die Frage mit einem Kopfnicken.
Der Pfarrer setzte sich neben sie auf die Wandbank und sagte: »Ich bedaure, daß Sie aus so traurigem Anlaß den weiten Weg zu uns haben machen müssen.«
»Ist er tot?« stöhnte sie auf.
»Aus seinem Notizbuch habe ich ersehen,« sagte der Pfarrer, »wie innig das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn gewesen sein muß. Die erste Depesche konnte demnach nur eine schonende, vorbereitende sein und die zweite haben Sie wohl nicht mehr abgewartet.«
»Herr Pfarrer,« hauchte die Frau und ergriff seine Hand, »sprechen Sie offen mit mir. Ich bin nun auf alles gefaßt.«
»An diesem Tische saßen wir beisammen am letzten Abend,« erzählte der Pfarrer. »Er war munter und die wenigen Tage, als er bei uns war, hat er uns alle gewonnen. Es gefiel ihm sehr in der Schrun und an jenem Abende sagte er noch, er wolle doch einmal seine Mutter herbringen und ich solle ihr im Pfarrhof ein Stübl einräumen. Das war ja gerade so, wie der Herr am Kreuz seine Mutter dem Johannes empfohlen hat. Ich will gerne der Johannes sein, liebe Frau Mändeg, möge mich der Herr nur erleuchten, daß ich Sie beruhige und tröste!«
»Er ist verunglückt!« schluchzte die Frau und sank zusammen. Der Pfarrer stützte sie, ihr Haupt lag an seiner Brust. Als sie es wieder erhob, wischte sie zwei große Tränen aus ihren Augen und bat den Pfarrer, daß er erzähle.
»Am Schrunstein,« fuhr der Pfarrer fort, »ist er abgestürzte. Er und der Führer. Gelitten haben sie nicht, der Tod ist sofort eingetreten, kein Zweifel. Zwei Tage lang haben wir – da sie zur bestimmten Zeit nicht zurückgekehrt waren – gesucht. An der großen Schrunsteinwand sind sie gefunden worden.«
»Nicht wahr!« sie sagte das in sanft flehender, herzerschütternder Weise, »nicht wahr, in der Erde ist er noch nicht?«
Hierauf antwortete der Pfarrer: »Die Leute, die Sie hier und vor dem Hause sehen, sind versammelt, um den Toten die letzten Ehren zu erweisen.«
»Ich will ihn sehen,« sagte die Frau und stand entschlossen auf.
Der Pfarrer hielt sie zurück: »Liebe Frau! Ich möchte Sie bitten in seinem Namen!«
»Ich will ihn sehen. Laßt mich. Ich bin stark. Eine Mutter ist stärker als Ihr glaubt.«
Der Pfarrer führte sie in das Vorhaus und die Stiege hinauf in den Oberboden, der bei Hochzeiten und Kirchweihen als Tanzstube verwendet wurde. Auch heute war er voll von Menschen, aber sie sprachen gedämpft zueinander. Der Raum war dunkel und an der Wand lag roter Kerzenschein. Querüber auf Bänken standen zwei Särge aus weißen Fichtenbrettern. Sie waren geschlossen und zwei Lichter standen an beiden Seiten eines Kruzifixes. Mutter Mändeg stand aufrecht und verlangte, daß man den Sarg ihres Sohnes öffne. Nach einigem Weigern geschah es. Und hier lag er, der schlanke Körper, im Gewande, in welchem Gottfried vor fünfzehn Tagen daheim Abschied genommen hatte. Die eine schneeweiße Hand auf die Brust gelegt, die andere sah man nicht. Das Haupt schien tief gebettet und war verhüllt. Als sie das Tuch heben wollte, fiel ihr der herbeigekommene Arzt in die Arme und beschwor die Mutter, das Bild zu schonen, das sie von ihrem Sohne im Gedächtnis trage. – Sie riß das Tuch herab und – taumelte zurück.
Das Haupt war zerschmettert. Nicht mehr zu erkennen . . .
Ein aufregendes Getöne ging durch den Raum, die Frau wurde fortgetragen.
Eine halbe Stunde später, als schon die Abenddämmerung angebrochen war, klangen auf dem Turme die zwei Glöcklein. Die Särge wurden, von der laut betenden Menschenmenge begleitet, auf den Kirchhof getragen. Rechts am Eingang sieht eine alte Linde; sie ist zur Frühsommerszeit voll Vogelgezwitscher und ihr Blütenduft läßt keinen Modergeruch aufkommen. Nahe an dieser Linde war das tiefe Doppelgrab, in welches nun die beiden Bergwanderer gemeinsam, wie sie gestorben waren, versenkt wurden.
Als der Pfarrer in einem Vaterunser den Frieden Gottes herniederflehte auf diese Stätte, röteten sich die Kirchenmauern, die hölzernen Grabkreuze, die Gesichter der Umstehenden. Es war der Widerstrahl der leuchtenden Hochwand des Schrunstein, auf der das Alpenglühen lag.
* * *
Der Frau aus der Fremde war im Pfarrhof eine Stube angeboten worden. In derselben saß sie stundenlang am Fenster und schaute hinaus in die Mondnacht. Die Kirche stand im weißen Lichte da und die Grabkreuze legten ihre Schatten hin über den Friedhof. Im finsteren Schatten der Linde schwebte ein Licht hin und her, auf das Mutter Mändeg unverwandt hinblickte, bis es heranschwamm über die Gräber gegen ihr Fenster und sich dann in den Büschen der Mauer verlor. Ein Johanniswürmchen war's gewesen.
Hoch hinter der Kirche stand eine blasse Wolke auf – das Gewände des Schrunstein.
Am nächsten Morgen, als sie wieder dahinblickte, sah sie den Schrunstein nicht, graue Nebel hingen an den Bergen und im Engtal lag Dämmerung.
Von allen Seiten kamen Leute herbei – daß nur noch so viele Leute leben konnten in diesem Gestein! – und strömten in die Kirche. Es war der Gedächtnisgottesdienst für die Verunglückten. Mutter Mändeg kniete in der hintersten Kirchenbank, aber die Leute murmelten sich doch zu: »Das ist die Mutter vom abgestürzten Herrn.« Die Kerzen warfen einen düsteren Schein auf die vergoldeten Heiligen des uralten hölzernen Altares; zu beiden Seiten des Tabernakels je ein Totenschädel als äußeres Zeichen, wem dieser Gottesdienst gelte. Die stille Einfachheit erhöhte den feierlichen Ernst. Mutter Mändeg versank in Wehmut und Erinnerung an die vergangenen Zeiten, da Gottfried noch ein Knabe war, nicht größer als der, mit dem dort eine alte Frau vor dem Altare steht.
Die »obere Wirtin« weckte sie endlich aus ihrer Versunkenheit. Die Kirche war leer, die Kerzen waren verlöscht. Die Wirtin, verlegen, machte ihre Einladung, die Frau möge doch mit ihr kommen in die Stube zu einer warmen Schale Kaffee.
Und als der Trank das arme Herz ein wenig erquickt hatte, erzählte die Wirtin von Gottfried.
Gerade vor acht Tagen war er in die Schrun gekommen, hatte im Wirtshause ein Zimmer gemietet und jeden Tag Wanderungen unternommen auf diesen und jenen Berg, in diese und jene Schlucht. Hatte Kräuter mit heimgebracht und die braunen und blauen Steine, die da noch lagen auf dem Fensterbrett, hatte Bekanntschaft gemacht mit den Dorfleuten, auch mit den Hirten und Holzern, und man habe sich nicht genug wundern können, was doch dieser junge Herr für ein freundlicher, lustiger Mensch sei! Als er höhere Berge bestieg, habe er den Knappen-Wolf als Führer aufgenommen. Und als es hieß, sie wollten an den Schrunstein, habe man ihnen abgeraten; das sei ein schlimmer Berg und wenn der Führer nicht gut Bescheid wisse, so sollten sie lieber auf die Hochwildferner gehen und den Schrunstein in Ruh' lassen. Aber der Knappen-Wolf habe gesagt, er wage es, und der Herr habe gesagt, er wage es auch. »Mit Strick und Steigeisen,« fuhr die Wirtin in ihrer Schilderung fort, »und was sich sonst noch gehört, sind sie am Erchtag (Dienstag) in der Morgenfrüh fortgegangen. Wie sie am Abend nicht da sind, heben die Leut' schon an zu reden. Am nächsten Tage sind zwei Knechte suchen gegangen, dem Pfarrer seiner und unserer. 's ist nichts und es hat geheißen, sie müssen doch noch auf die Hochwildferner gegangen sein; da sind sie drei Tage aus. Ist aber am Pfingstag (Donnerstag) doch alles suchen gegangen, was gehen kann, und unser Knecht ist's gewesen, der um drei Uhr nachmittags was gefunden hat. Dem Wolf sein Griesbeil (Gebirgsstock). Schier ganz oben, wo man vom Königsköpfel über das Grat zur Schrunsteinspitze aufsteigt, in einer Felsspalten soll's gelegen sein. – Ich darf gewiß noch einmal nachgießen, ich bitt!«
So die Wirtin und goß die Kaffeeschale voll, ohne daß Frau Mändeg wehrte oder dankte. »Ach ja Gott!« seufzte die Wirtin auf und faltete die Hände. »Nun und nachher unten, ganz tief herunten sind sie halt gelegen. Soll eine schauderliche Höhen sein, sie sagen, hundert Klafter gelangen nicht. Sind nicht lebendig auf den Boden gekommen, sagen die Leut', die Luft hätt' sie schon unterwegs totgestoßen. Vom Wolf ist kein Beindl (Knöchlein) ganz geblieben. Der junge Herr ist eine Kirchturmhöhen weiter oben gelegen, in einem Zirmbusch; man hat ihm nicht an können, hat mit Stricken müssen aufgezogen werden. Wie das Unglück geschehen ist, mein Gott, wer weiß es, gesehen hat's niemand. Die Leut' meinen halt, sie werden über das Grat haben wollen hinauf gehen, wird einer gestürzt sein, hat den anderen mitgerissen. Es kann auch sein, daß der Wolf zuerst abgefallen und daß ihm der junge Herr hat zu Hilf' kommen wollen. – Die Leut' zanken der Leichtsinnigkeit wegen, wie sich heutzutag die jungen Herren in Gefahr begeben auf hohem Birg. Freilich wohl. Aber ich sag', wie unser Arzt sagt: 's ist halt doch auch eine brave Sach', wer Kurasch' hat, und daß er unsers Herrgotts schöner Natur wegen das Leben wagt. – Mit dem Knappen-Wolf ist's wohl eh auch eine traurige Sach'. Hat ein kleines Bübel zurückgelassen. Dort – tu' die Frau einmal beim Fenster hinausschauen – dort bei der Kirchhofsmauer sitzt das Waisel, tut alleweil Leichenbahr' bauen aus Steinen. Für seinen Vater, sagt er. Mein Gott, ist wohl ein Glück, so lang' der Mensch noch so kindisch ist. – Ludel!« rief die Wirtin zum Fenster hinaus gegen den spielenden Knaben, »magst einen Kaffee? Geh her zu uns.«
Mutter Mändeg war dagesessen scheinbar teilnahmslos und doch hatte bei der Beschreibung des Unglücks jedes Wort eine Furche gerissen in ihrem blutenden Herzen – eine brennende Schrift gegraben, die erst mit ihrem Leben auslöschen wird.
Am Nachmittag hatte sie versucht, das Grab mit Blumen zu schmücken. Sie hielt bald inne, sie konnte nicht. Sie konnte auch keinen Plan fassen, ob sie dableiben solle oder abreisen in die Heimat. Ihr war die Welt ausgestorben. Als am nächsten Morgen die Sonne wieder schien und der Schrunstein im Lichte zum blauen Himmel aufstand, ach wie weh! Die Frau konnte kein Leuchten und Lachen mehr sehen auf dieser Welt.
Als sie in ihrem Pfarrhofstübel wieder zum Fenster hinausblickte, sah sie ein altes Weib mit dem Knaben des Knappen-Wolf über den Kirchhof gehen. An der Linde vor dem frischen Grabhügel standen sie still und das Weib sagte zum Knaben: »Jetzt nimm deine Kappen ab! Deine Kappen nimm ab, sag' ich! Da unten liegt dein Vater, bet' ein Vaterunser für ihn!«
Der Knabe blickte sie befremdet an; sie riß ihm die Mütze vom Kopf und mit drohender Miene mahnte sie nochmals: »Ein Vaterunser bet'!«
Der Kleine begann zu schluchzen.
»So!« sagte die Alte, »du kannst nit einmal Vaterunser beten? Mußt eine saubere Zucht haben gehabt bei deinem Vater! Scham dich! Ich will dir schon helfen! Zu essen kriegst mir nichts, so lang' du das Gebet nicht kannst. Zum Flennen hörst mir auf, abscheulicher Bub'!«
Frau Mändeg wendete sich an die eben eintretende Haushälterin des Pfarrhofs mit der Frage, wer die Person sei, die dort mit dem Knaben unter der Linde stehe?
»Ach du mein!« rief die Gefragte, »bei der wird das Kind auch nichts Gutes haben. Eine entfernte Verwandte ist sie vom Knappen-Wolf und die erbarmt sich jetzt über das Waisel, wie sie sagt, weil sich sonst auch niemand drum annehmen will.«
Mutter Mändeg stand einen Augenblick unbeweglich, als besinne sie sich, dann atmete sie auf, wie jemand, der eine Last abgeworfen hat, und ging rasch hinaus auf den Kirchhof.
»Liebes Kind,« sagte sie zum weinenden Knaben, »möchtest du nicht eine Mutter haben?«
Der Kleine barg sein Gesicht sofort an ihrem Kleide und weinte noch heftiger. Im selben Augenblick schritt der Pfarrer über den Plan. Mutter Mändeg hielt ihn an und in seiner wie in der alten Base Gegenwart erbot sie sich, dieses Waisenkind, dessen Vater ihres Sohnes wegen zugrunde gegangen sei, an Kindes Statt anzunehmen. Man möge sich amtlich nur nach ihrem Leumund und nach ihren Verhältnissen erkundigen. Ihre kleine Pension und der Ertrag ihrer Arbeit habe bisher für zwei ausgereicht, so werde Gott auch in Zukunft seinen Segen nicht versagen. Sie habe die weite Reise gemacht, um ihr Kind zu suchen, und sie wolle allein nicht heimkehren.
Alles war bewegt; im Pfarrhof sagten sie es und im Wirtshaus und in der ganzen Schrun: ein schöneres Denkmal als das könne die Frau ihrem Sohne nicht setzen.
Auf dem frischen Hügel drückte Mutter Mändeg den Knaben an ihre Brust und nun erst – gelöst der Schmerz durch eine Liebestat – brach der Tränenstrom aus ihren Augen. Gegenüber an der Kirchentür stand ein hohes, rotangestrichenes Kreuzbild. Auf einem Arm desselben hockte ein Vöglein und in diesem Augenblick war es der Mutter Mändeg, als höre sie wie damals im Traume das Lied: »Du hast eine güldene Ketten ums Herz mir angelegt.«
Ende