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Es war ein sehr buntes, nettes Bild, das sich Kerlchens Blicken bot, als es im hellen Spitzenkleide am Arme Fritz von Rumohrs über die Schwelle der Festhalle schritt, in welche die mächtige Scheune umgewandelt war.

Zuerst stürmten alle Kegel auf Kerlchen los. Erni war auch zu den Ferien da und sollte dann Fritz mit nach E. aufs Gymnasium nehmen, und nun hatten erst mal die übrigen den herzerquickenden Anblick einer strahlend glücklichen Familie.

»Donnerwetter,« rief Major Heinsius halblaut, »das ist ja entzückend!«

Dann ging er auf Kerlchen zu und neigte sich tief vor ihm.

Selbst der phlegmatische Hauptmann Dickuß erhob sich verhältnismäßig rasch und verstieg sich sogar zu der Bemerkung, daß die »Sonne« dem Feste bis jetzt gefehlt habe.

Der cholerische Oberleutnant von Kilian mußte sich erst aus einer ziemlich heftigen Diskussion mit dem Inspektor über Yorkshire-Eber losreißen, er war selbst Landwirtssohn und sollte später sein großes Rittergut bewirtschaften.

Aber da Kerlchen nichts von dem Thema wußte, das die Herren verhandelt hatten, so erschrak es sehr über den Ausdruck »Schweinewirtschaft«, welchen der Oberleutnant laut und hörbar gebrauchte.

Leutnant von Kerßen bearbeitete mit finsterstem Gesichtsausdruck seinen Schnurrbart, dem noch viel Taubendünger und Honig fehlte. Eine Weile betrachtete er melancholisch die blühend schöne Frau an der Seite des hochgewachsenen Mannes, umgeben von den frischen, hübschen Kindern.

»So was blüht natürlich nicht für unsereinen, das schnappen einem die Zivilisten in den sogenannten gesicherten Lebensstellungen fort, – es ist 'ne Schmach,« seufzte er aus den Tiefen seiner Heldenbrust.

Oberleutnant von Kilian dachte ähnlich; er hatte den reizenden Backfisch Rose von Rumohr zur Polonaise engagiert und einen Korb bekommen.

»Ich, ich, bin, – ich habe, ich bin schon engagiert,« hatte sie errötend geantwortet, und nun mußte er sehen, daß das schöne, blonde Dingelchen mit dem Einjährigen Eulried antrat, der ganz ahnungslos war, daß er seinem Vorgesetzten in die Quere kam.

Major Heinsius hatte Frau von Mainro zu Partnerin, so schlängelte sich der wütende Oberleutnant an Nata heran, und beleidigte Erni tödlich, den er ohne weiteres beiseite schob.

Erni sah mit grimmen Blick der Jugendgespielin nach.

»Weiber!« sagte er nur verächtlich, und mit diesem Kraftwort, das er neulich von einem Oberprimaner aufgeschnappt hatte, erhob er sich über die Situation.

Alles in allem war es ein buntes, farbenprächtiges Bild, das sich in der alten Scheune entrollte.

Helle Kleider, Uniformen und die schöne Thüringer Volkstracht, die einzelnen alten Charakterköpfen und jungen frischen Gesichtern wunderbar gut kleidete.

Nach der Polonaise kamen die Ehrentänze.

Der Großknecht mit Kerlchen, Fritz von Rumohr mit der Obermamsell.

Von einem Podium aus schauten die anderen zu, Frau Oberst Schlieden in dunkler Seide und weißem Blondenhäubchen auf dem schönen Haar, – Frau von Mainro in glänzender, mattlila Seidenrobe, die Offiziere und die höheren Gutsbeamten, sowie die Pfarrer- und Lehrerfamilie.

Wie anmutig Kerlchen tanzte! Seine Bewegungen waren so geschmeidig wie bei einem ganz jungen Mädchen, und der Oberknecht warf stolze Blicke ringsum, daß er die verehrte, aber bei aller Liebenswürdigkeit stets so zurückhaltende Herrin in seinen Armen halten durfte.

Dicht hinter diesen beiden reigten Fritz von Rumohr und die Obermamsell.

Sie schmachtete ihn an, was furchtbar komisch aussah, da sie sehr kurz veranlagt war und sich vergeblich an ihm emporzuranken bemühte.

Die Erwachsenen respektierten sämtlich die uralt geheiligte Sitte des Ehrentanzes, aber den Kindern dauerte er zu lange, und schon nach der zweiten Umdrehung kegelten die Kegel in den Saal in mehr humorvoller, als anmutiger Verschlingung mit den Dorfkindern.

Dann war der Ehrentanz zu Ende.

Fritz von Rumohr machte eine tadellose Verbeugung, die mit einem ruckartigen Knicks der Mamsell beantwortet wurde, der Großknecht stieß wild mit dem rechten Fuße aus und erhob Kerlchens Hand bis zu seinem Herzen, – so hatte er erzählen hören, machten es vornehme Leute. Fräulein Kornelia saß etwas unglücklich herum auf den verschiedensten Plätzen.

Der Herr Lehrer hatte zwar seine Kollegin schon einmal geschwenkt, aber es war nicht richtig gegangen.

Er war sehr musikalisch, wie sich das für einen guten Organisten ziemte, und sie konnte keinen Walzer von einem Rheinländer unterscheiden, sie hatte es, wie die Großmagd von ihr sagte: »mehr innewend'ch mit die fremden Sprachens und dem Geogravieh«. So sah sie denn ziemlich gelangweilt umher, bis eine derbe, gutmütig ausschauende Bauernfrau auf sie zutrat, ihr ein Bündel in den Arm legte und kreuzfidel sagte:

»Halten Se miersch ämol, ich bin ankloschiert.«

Schier entsetzt betrachtete Dame Kornelia das schlafende Wickelkind auf ihrem Schoß, und ein ingrimmiger Blick flog der bereits vergnügt tanzenden Mutter nach.

Fräulein Kornelia hatte nie Geschwister gehabt, sie liebte überhaupt Kinder nicht, und die Wiegenatmosphäre, die das kleine Wurm ausströmte, war ihr über die Maßen zuwider.

Als nun gar noch ein alter Bauer zu ihr trat und gutmütig scherzend meinte:

»Da hat Ihne der Storch jo was Pletzliches gebracht,« streckte sie die Arme so steif und kerzengrade von sich ab, daß das Bündel auf ihrem Schoß bedenklich ins Rutschen kam.

Da kam aber schon Kerlchen gelaufen, das immer und allezeit von jeder Ecke des Saales aus mit Feldherrnblick alles überschaute, und hob mit vorsichtig-raschem Ruck das Kind zu sich herauf. Ein ernster Blick streifte Fräulein Kornelia.

»Ist es nicht furchtbar, Frau Baronin?« stieß diese ärgerlich hervor, und doch etwas verlegen unter Kerlchens klaren Augen.

»Ich kann nichts schlimmes dabei finden,« entgegnete Kerlchen ruhig, »außerdem, das Kind wäre beinahe gefallen. Die Mutter hat im ganzen Jahre kein Vergnügen, als dieses Erntefest, warum soll sie das Kleine nicht mitnehmen? Sie weiß, es ist bei jeder, anderen Mutter gut aufgehoben, wenn sie selbst mal tanzen will. – Himmel, bist du ein niedliches Ding, du Wunz!«

Kerlchen herzte das kleine Wochenkindchen mit strahlenden Augen, und die fremden Offiziere und die Rotbacher Bauern hatten wieder einen neuen Anblick von der kleinen Baronin.

Sogar über das Gesicht des melancholischen Leutnants huschte der Viertelsstrahl eines Lächelns, und er dachte an seine eigene verwaiste, trübe erste Kindheit, an seine öde, liebearme Jugend im Kadettenhause und fragte sich, ob er wohl ein so mürrischer, trauriger Kerl geworden wäre, wenn zwei solche Mutteraugen ihm geleuchtet hätten und er seinen Kinderkopf hätte so anschmiegen dürfen, wie dieses Bauernkind.

»So is se, unsere Frau von Rumohr,« sagte neben ihm ein jüngerer Bauer. Ihm gehörte das Kind; er beobachtete schon lange die kleine Szene und erriet auch instinktmäßig, wenn auch nur in Umrissen die Gedanken des jungen Offiziers.

Dann aber rief er kurz seine junge Frau an, die eben wieder vorbei tanzte.

»Kannste nich genug kriechen? Siehste nich, daß de Frau Baronin Kindsmagd is?«

»Herr du meines Läbens! Ich hab's der Schulmamsell gegeben.«

Sie rannte auf Kerlchen zu und nahm ihm errötend und verlegen das Bündel ab.

»Es war so ä scheener, melankatholischer Walzer!« entschuldigte sie sich, und Kerlchen lachte, strich noch einmal liebkosend über das kleine Gesichtchen des Kindes und ging wieder zu den Gästen.

Erst als die Wogen der Festesfreude anfingen bedenklich hoch zu schlagen, verabschiedete sich die Gutsherrschaft und wurde nun noch feierlich bis ans Ende des Dorfes geleitet.

Die Kegel hatten zwar eindringlich, stürmisch und laut um Verlängerung des Urlaubs gebeten, waren aber abschlägig beschieden worden.

»Gerade woz am Schönsten is,« brummte Li.

Erni war ganz damit einverstanden gewesen, das Fest zu verlassen, denn er hatte mit Nata kaum einmal tanzen können, immer war der cholerische Oberleutnant ihm dazwischen gekommen. Und das Niederschmetterndste war, daß dieser es nicht einmal merkte, sondern ihn völlig übersah, ihn, Ernst von Rumohr-Rotbach, den ältesten von neun Kegeln, der immer an Respekt gewohnt war. Und die gröbste Respektlosigkeit hatte der Leutnant bewiesen, als er ihn bat:

»Bring mir mal 'n Glas Bier!«

»Ich bin Obersekundaner,« war die Antwort gewesen, die dem Offizier zeigen sollte, daß das »Du« nicht mehr am Platze sei.

Aber der hatte gar nichts gehört, denn Nata erzählte ihm in ihrer frohen, koboldartigen Weise gerade einen Witz, und die Augen des Oberleutnants hingen an dem frischen Gesichtchen. – –

»Hexe,« knurrte Erni.

Und nun wandelte er einsam neben dem fröhlichen, lachenden Zuge einher, der sich zum Herrenhause bewegte. Es war ihm miserabel und elend zumute.

Liebe, gekränkte Manneswürde, kaltes Bier und Gurkensalat führten einen tollen Tanz in ihm auf.

Hinter ihm am Wegrain, auch abseits vom Zuge der Fröhlichen bummelte Fritz.

»Warum schlängelst du denn immer hinter mir her,« fuhr ihn Erni an. »Ich kann das Schwänzeln auf 'n Tod nich leiden.«

»Na, denn nich,« entgegnete Fritz. »Ich wollt' bloß fragen, ob ich dir 'n Gedicht machen soll. So eins mit Untreue, das schickst du ihr denn.«

»Phhh! Untreue! Ich hab' ihr ja nie gesagt, daß sie treu sein soll. Und wenn ich der Nata heut 'n Antrag mache, dann nimmt sie mich, da kannste Gift drauf nehmen!«

Erni sprach zuerst sehr verächtlich und dann sehr siegesgewiß, mit einmal aber schoß er mit unendlich schmerzvollen Grimassen davon, – es wurde ihm plötzlich, als hätte er Gift genommen.

Fritz setzte sich gedankenvoll am Wegrain nieder, er war nicht ganz aufrichtig gewesen.

Er hatte das Gedicht schon gemacht, ehe er es Erni anbot.

Der Bruder hatte ihm gar zu leid getan in seiner Eifersucht, und der Anblick von Ernis Weltschmerz hatte ihn zu Versen begeistert. Außerdem war das »Ries« Papier von Onkel Krone längst angekommen, dazu eine halbe Fabersche Bleistiftfabrik, das mußte alles benutzt werden. Gedankenvoll las er sein Gedicht noch einmal:

»Ich sitze und schwitze in Angst und Pein,
Denn ich liebe nur dich allein,
Du aber siehst nur den Leutnant an
Und die Treue ist doch kein leerer Wahn.«

»Wunderschön!« sagte Fritz zu sich selbst. »Aber ich bin nun wieder in Unruhe und weiß nicht, ob ich Offizier werden oder Dichter bleiben soll. Dieses Gedicht ist wenigstens sehr schön, und Erni 'n Esel.«

»Ja, es ist schön,« sagte Willy neben ihm, und das Bürschchen sah mit etwas leidender Miene zu ihm auf.

»Wo kommst du her, Pate?« fragte Flitz, »und wie merkwürdig siehst du aus!«

»Mmir is kkomisch!« sagte Willy. »Jich hab' die Bierreste und Weinflaschen ausgetrunken und so übriggebliebene Stummelchen geraucht, – Muusch sagt doch immer, man soll nichts umkommen lassen.«

»Ist dir schlecht, Pate?«

»Jich wweiß nich! Komisch is mir!«

Im Herrenhause hatten sich schon alle zurückgezogen. Die Offiziere und Mannschaften sollten in aller Frühe ausrücken, und Kerlchen hatte auch den heimlichen Hintergedanken gehabt, es sei heute genug gefeiert worden, und es wolle nun noch etwas von seinen Kindern haben.

So saß es denn im gemütlichen Wohnzimmer auf dem Runxsofa und harrte der Kegel.

Erni kam zuerst.

»Hast du Weltschmerz oder Leibweh, mein Junge?« fragte Kerlchen liebreich.

»Beides, Mutter! Aber wir wollen bitte gar nicht lachen.«

Erni setzte sich neben Kerlchen, und dieses schlang den Arm um ihn, so daß sein Kopf an der Muuschschulter lehnte.

»Ich habe geliebt, Muusch, und – bin nun fertig damit,« sagte er tragisch.

»O Erni!« – – –

»Du wirst es wohl gemerkt haben, Muusch, denn du siehst ja alles, die Nata war's.«

»Hattest du mit ihr drüber gesprochen?«

»Nnnnein,« war die zögernde Antwort. »So richtig eigentlich nicht, aber so was fühlt man ja, und dann wußte sie's durch Gedichte.«

»Dichtest du auch, Erni?«

»Nein! Ich bring nicht den leisesten Reim zusammen, aber Fritz tat es für mich.«

»Soso!«

»Aber Nata tat nie dergleichen als ob sie's merkte, ja sie unterstand sich sogar, ein paarmal zu lächeln und, – Lachen Mutter, ist der Tod der Liebe.«

»Du weißt ja gut mit diesen Sachen Bescheid, Erni, – ist's nicht noch ein bißchen früh?«

»Ach, mein Muusch, das fängt doch so ungefähr in Sexta an, aber weißt du, ich hätte nie mit Nata davon gesprochen, ehe ich das Abiturium hinter mir habe.«

»Das ist sehr verständig, Erni.«

»Muusch, lachst du?«

»Ein wenig, mein Junge! In deinem Alter waren mir Jungens so rasend schnuppe, und mit Mannsleuten im allgemeinen verband ich den Begriff, daß sie nur dazu da wären, für die Schwächeren Brot zu verdienen. Aber auch das Brot hab' ich mir schon frühzeitig selbst verdient, es schmeckt besser.«

»Ja, das war denn vielleicht im Mittelalter anders. Wir sind doch moderne Menschen und in der Schule sprechen die Jungens nur von Weibern.«

Mit einem Ruck sprang Kerlchen auf.

Ein Ausdruck lag auf seinem Gesicht, ein Gemisch von Zorn und Angst, daß Erni erblaßte.

»Was ist das für eine Sprache, Erni? – Was hast du jetzt für Umgang? Willst du nicht mehr mein lieber Junge sein? Merk dir's, ich leide diese Worte nicht, niemals! – O Erni, ich kann ja doch nicht immer bei dir sein, – ich glaubte so fest, ich könnte mich auf meinen Ältesten verlassen!«

»Das kannst du, Muusch, das kannst du,« rief Erni heftig und schmiegte sich aufs neue an die Mutter.

»Weiber! Wie das klingt! Und in deinem Munde! – – deine Mutter ist ein Weib und deine liebe zarte Großmutter – deine Schwester –«

»O ich sag es nie wieder, Muusch, gewiß nicht,« flehte Erni, und sah erschreckt in Kerlchens verfärbtes Gesicht. »Denk' doch nicht unrecht von mir, – o bitte nicht, – es klang so forsch und – sie sprechen nicht anders.«

»Du kamst mir schon gestern verändert vor, Erni, gleich bei deiner Ankunft. Was steht zwischen dir und mir? Sag es! Hast du mir was zu verbergen? – Erni!!!«

»Ich weiß es nicht, Muusch. – Es war wohl unrecht. – Ich will es dir sagen. – Ein Buch – – ein schlechtes Buch – ein miserables Buch, – der Kalmus gab's mir, – er sagte, so was müßte man wissen – – ich – ich – zu Ende hab' ich's nicht gelesen, – – und dann – könnt' ich dir nicht recht in die Augen sehen.«

»Erni! Mein Junge!«

Sie hielten sich fest umschlungen.

*

»Betest du jeden Abend, mein Junge?«

»Nicht immer, Muusch!«

»O tu's wieder! Ja Erni? Tu's wieder!«

»Ja, meine Muusch!«

»Ich vertraue dir, Erni! – Komm, gib mir deine Hand! Sieh, ein reines Herz mußt du dir bewahren, – – ach, mein Junge!«

Kerlchen küßte den Knaben, es sah ihm tief in die Kinderaugen. Einige stille Minuten folgten. Dann seufzte Erni tief:

»War es sehr unrecht, Muusch, daß ich die Nata so lieb hatte?«

»Nein, Erni! Das war eine Kinderkrankheit. Sieh, du hattest nie die Masern, – nun hast du sie gehabt, gelt?«

»Ja, und Scharlach, Röteln, Pocken, was du willst, noch mit dazu. Süße, goldene Muusch! Aber nun bin ich gesund! Nun bin ich gesund!« »Iiiich Will auch die Masern ham!« piepte ein klägliches Stimmchen neben ihnen.

»Pate – wo kommst du her, – bist du schon lange hier.«

»'n paar Tage! Ihr hörtet nich, ihr hattet euch lieb und so geumarmt. Ich will auch geumarmt werden. Mir is so komisch. Auf jeder Stufe hab' ich mir übergeben, einmal Bier, einmal Wein und einmal Tabak – oh!!!«

»Ach du Ärmster! Kleiner, lieber Kerl! Komm, ich bring' dich ins Bett! Weißt du wo die andern sind?«

»Der Fritz war auf der Schossee, da sah er und hat was Schönes gelesen, ich kann es noch:

»Und die Treue ist kein Lebertran.«

»O, o, o! Muusch, ich glaub', es kommt wieder Bier.«

»Rasch – rasch – Willy, Pate – – Unglückswurm – – – Erni, wo willst du hin?«

»In mein Zimmer, Muusch. Schleunigst. Du weißt es von großen Seereisen her, – das › Zusehen‹ bringt die Krankheit, – gute Nacht.«

*

Der Älteste und der Jüngste schliefen.

Kerlchen saß mit den übrigen Kegeln zusammen.

»War's schön, Rosel?« fragte Muusch das blühende Mädel.

»Rrrreizend!«

»Nu hast sehr viel getanzt. Kleine. War es dem Herrn Pfarrer recht?«

»Sehr recht, Muusch! Er ermunterte mich immer dazu, und meinte, der liebe Gott hätte selbst gesagt: ›Freuet euch!‹ Außerdem tanzte ich ja nur mit Hans-Hugo.«

»Soso. – Wovon unterhieltet ihr euch denn?«

»Ach so von allerhand. Er fragte, ob ich viel Lust an Zerstreuungen hätte, und was ich nach der Konfirmation anfangen wolle, und ob ich das Landleben liebte. Was war doch eine horndumme Frage, und ich sagte es ihm auch.«

»Aber, Rosel! Was tat er darauf?«

»Nichts, er lachte. – Ich mag ihn furchtbar gut leiden, wenn er lacht, aber manchmal schnappt er im längsten Quasseln plötzlich ab und wird melancholisch – dann ist er mordslangweilig.«

»Du bist ein Kindskopf, und Hans-Hugo viel zu schade für dich zur Unterhaltung. Sei hübsch dankbar, daß er sich so viel mit dir abgegeben hat. Wo in aller Welt aber hat Franz Korbs den ganzen Nachmittag gesteckt?«

»Ach der!« Rose zog ein Schmollmündchen. »Heut' hab' ich mich richtig über ihn geärgert. Man sah ihn nirgends, aber ich entdeckte ihn an dem niederen Fenster, was für den heutigen Tag in der Scheune angebracht war; durch das guckte er mit wütendem Gesicht. Da lief ich von Hans-Hugo fort und zu ihm hin, aber er rannte, als er mich kommen sah, – querfeldein.« »Er glaubte gewiß, du wolltest mit ihm tanzen, und er war verständig genug, das jetzt, kurz nach dem Tode seines einzigen Verwandten nicht zu tun.«

»Ach, das konnte er mir ja ruhig sagen, – nein, nein, er ist ein närrischer Zwickel. Nicht ›guten Tag‹, oder ›guten Weg‹ hat er mir heute gegönnt.«

Kerlchen sah nachdenklich aus.

»Und du, Fritzl?« fragte es dann und strich dem Zigeuner über das wilde Lockenhaar.

»Ach, Muusch!!« –

Fritz stieß einen herzbrechenden Seufzer aus.

»Na, das klingt ja ganz gefährlich!«

»Sie find alle so unpoetisch,« seufzte Fritz.

»Wer denn, mein armer Dichter?«

»Die Kegel, und – na alle, – Vater auch.«

»Auf einmal kommt dir diese schmerzliche Erkenntnis?«

»Ach, siehst du, – ich hab' so 'n Haufen Gedichte fertig, und 'n paar Dramas, – aber niemand will sie hören. Wenn das später so bleibt – nee, denn mag ich nicht Dichter werden, dann werde ich lieber Soldat.«

»Ich halte das auch für besser, mein Junge. Nebenbei kannst du dann immer noch deine Kompagnie oder gar dein Regiment andichten und 'ne Hymne auf 'n ›Parademarsch‹ oder ›langsamen Schritt‹ loslassen.«

»Jetzt spottest du auch, Muusch. Du warst noch die einzige, mit 'n einigermaßen Verständnis.«

»Die will ich auch immer bleiben, Fritz. Und hast du mir nicht deine sämtlichen Dramen vorlesen dürfen?«

»Ja, Muusch, und du schliefst dabei ein, ganz fest, und wie du aufwachtest, wußtest du nicht mal mehr, daß ich dir vorgelesen hatte und sagtest: ›O wie bin ich erfrischt, – so ein Nickchen tut so gut‹.«

Kerlchen lachte herzlich und zog Fritz liebevoll an sich. »War ich so eine greuliche Muusch, armer Schelm? Aber du mußt nun denken, ich hab' von deinen Dramen geträumt, und die haben mich so erquickt.«

Fritz sah eine Weile seine Muusch an und nickte dann erleichtert, das war eine Lesart, welche die peinliche Angelegenheit erheblich milderte.

»Und nun dichte du ruhig deinen Stiebel weiter, mein Jung', einer muß in der Familie sein, der das eintönige, prosaische Leben würzt. Ab und zu versetzt du uns dann ein paar Dramen und Gedichte, und es werden hohe Strafen ausgesetzt für den, der nicht stille hält oder einschläft.«

Vielleicht erhebt Fräulein Kornelia dich mit der Zeit zu ihrem Leibdichter, da sie unsern Friedrich Kerntreu abgeschafft hat.«

»Phhhh!« sagte Fritz.

»Und was hat mein Li auf dem Herzen?« wandte sich Kerlchen an Elimar, der auch recht finster vor sich hinblickte.

»Ach, Muusch, ich bin ganz betrübt. Sieh mal, bis heute war meine Geige mir das liebste, sie kam gleich nach dir, so – so mitten unter die Geschwister – aber heute – – –

»Na, was hat sie dir denn heute verleidet?«

»O – ich weiß nicht recht. Bloß ich meine, man braucht eigentlich nicht Künstler zu werden. Wenn ich z. B. Offizier würde, könnte ich immer noch nebenbei – – –«

»Wieder einer, der seinem Ideal untreu wird,« rief Kerlchen. »Kinder, hat euch denn die Einquartierung verdreht gemacht? Wie ist's mit dir, Harald? Willst du noch Jurist werden und ganz neue Gesetze aufstellen, damit der Tierschutz endlich in seine Rechte kommt?«

»Ich werde Soldat!« rief Harald. »Da kann man als Vorsitzender von einem Tierschutzverein viel Gutes schaffen, – das erste ist, daß in meinem Regiment niemand ›rennen‹ darf oder sonst Pferde schinden.«

»Auch du, Brutus? Aber Carl«, du hältst doch am Apotheker fest, damit du jeden Tag Lederzucker futtern und Salmiak- und Lakritzensaft trinken kannst.«

»Kurellasches Brustpulver schmeckt auch fein,« rief Adolf und klopfte sich begeistert den Magen.

»O und Rizinusöl, – und Wurmkügelchen!!!«

»Kinder hört auf! Lukullische Genüsse sind nicht die Hauptsache im menschlichen Leben.«

»Ich möchte Husar werden,« gestand Carlo, »ich hab' das mit dem Apotheker aufgegeben.«

»Na – da hört aber doch verschiedenes auf,« rief Kerlchen. »Lauter Abtrünnige? Und was haben wir immer für schöne Luftschlösser gebaut auf eure verschiedenen Berufe hin! Im Sommer sollte ich ein paar Wochen auf Ernis Gut kommen, um wie eine ›Königin‹ behandelt zu werden. Den Winter sollte ich in Kibalimopituriklaks zubringen, einer Ortschaft im australischen Urwald, wo Rose mit ihrem Missionarmanne lebt. Dort wollten wir für die Kannibalen Hosen nähen und Strümpfe stricken.

»Das sollst du auch noch,« beteuerte Rose. »Erni und ich bleiben fest. Erni hat seit heute das Militär im Magen.«

»Fritz,« fuhr Kerlchen fort, »wollte sich ein Schloß in den Vogesen bauen und Väterchen und mich fürstlich aufnehmen und egal bedichten. Im Hofe sollten Weinquellen ›Dorlisheimer‹ aussprudeln und Ochsen gebraten werden, – – alles von seinem Honorar. – Li hatte mir bereits zu seinen sämtlichen Konzerten Freikarten versprochen, auf größeren ›Tourneen‹ sollte ich ihn überhaupt begleiten; sogar an der Kasse hatte ich sitzen dürfen. – Paul wollte mir seine Doktordissertation widmen, – – aber mein Gott, wo ist denn Paul? – Kinder jetzt hab' ich nicht gemerkt, daß ein Kegel fehlt.«

»Es sind auch so viele, Muusch.«

»Hier hängt er,« rief Paul, ziemlich ungestüm hereinstürmend. »Ich war mit Herrn von Kilian noch in den Ställen. Sag mal, Muusch, warum hat Vater eigentlich nur Mecklenburger und Ostpreußen bei seinen Pferden.«

»Weil Vater sagt, es sei 'ne Schande, immer das Ausland zu bevorzugen, – wir können uns, weiß Gott, mit unserer deutschen Rasse sehen lassen.«

»Na ja, ist alles ganz gut, aber – das steht fest, bin ich erst Offizier, dann müssen ein paar Engländer ran. – 'n paar Pferde hat dieser Kilian, – sag ich euch – – –«

»Paul!!! – Tu Offizier? – Und deine Doktorarbeit, mit der du uns seit Jahresfrist angraulst?«

»Ach, weißt du, Muusch, seit vorgestern hab ich den Gedanken rausgeschmissen. Harald wird ja schon Jurist – –«

»Fällt mir nicht ein.«

»Einerlei. – 'n Lehrer möcht' ich erst recht nicht werden.«

»Die Jungen sind ja nicht alle solche Pröbchen, wie du – –«

»Und Mediziner? Ich danke! – Nein, ich werde Offizier, aber ganz steht es noch nicht fest, Land oder Marine.«

»Ach, – da willst du wohl auf dem Kieler Hafen deine englische Rasse tummeln? O Paul, ich bin ganz zerschlagen, – was seid ihr für wetterwendische Kerle. Mir bleibt reinweg nur der Pate, der ja seit Urbeginn Konditor werden will, denn Adolf war ja vom Vater selbst zum Offizier bestimmt, als einziger von euch.«

Adolf sah sehr unglücklich aus.

»Ich will aber keiner werden,« sagte er weinerlich, »gibt es nicht einen Beruf, wo man nur immer und immerlos ruhig sitzen kann?«

»O ja, Zuchthäusler,« rief Fritz.

»Schäme dich, nicht im Scherz solltest du so'n Wort sagen. – Aber was hat dich denn mit einem Male so bequem gemacht, mein Adolf?«

Der Junge stand auf, stöhnte aber dabei heftig, und fiel dann wie ein kleiner Plumpsack auf das Runxsofa.

»Ja, was ist denn mit dir geschehen?« rief Kerlchen erschrocken.

»Geritten bin ich. Mit dem einen netten Dragoner. Er wollt's mir beibringen, es ging auch sein zuerst, aber dann Galopp, o, o, o, – ich muß was werden, wo man immer sitzt.«

»Nun mir scheint gerade deine Sitzgelegenheit stark mitgenommen.«

»Heul nur nicht, Brüderchen. Wir denken uns schon alle was für dich aus, wo du liegen oder hängen kannst.«

»Und nun gut Nacht, Kinder, – dieses Gespräch hat mich sehr angegriffen, alle meine Luftschlösser sind in die Gera gefallen, ich sah mich im Geiste als berühmte Mutter und bin nun so 'ne Art Mannövertante geworden. Gute Nacht!«

Dies letztere war leichter gesagt, als getan, die Verabschiedung der sieben wurde etwas länglich, und eine gute Nacht kam noch lange nicht für Kerlchen.

Zuerst sah es noch rasch nach Erni und Pate, die beide blaß, aber schlafend angetroffen wurden.

Erni schlief auch ruhig weiter, Willy blinzelte etwas, rekelte sich, und sagte murmelnd: »Ich werd' Soldat, Peter hat's gesagt.«

Peter war der Bursche von Major Heinsius.

Kerlchen ging noch ein wenig auf die Veranda. Es war ganz hell draußen, aber alles schon in tiefstem Frieden, nur vom Dorfe her schallten noch abgerissene Laute von Fiedel und Brummbaß.

Aber lange blieb Kerlchen nicht allein, Hans-Hugo Eulried schien noch einen Spaziergang gemacht zu haben und schritt nun die Stufen der Veranda empor.

»Darf ich mich noch einen Augenblick zu Ihnen setzen, Frau von Rumohr?«

»Gewiß, Hans-Hugo. Ich habe heute so wenig von Ihnen gehabt, und möchte auch einige ernste Fragen an Sie richten. Hatten Sie etwas mit Erni vor? Sie gingen sich heute aus dem Wege?«

Eulried sah Kerlchen mit seinem schönen, offen-ehrlichen Gesicht an.

»Nicht eigentlich, Frau Baronin. Nur, – Erni ist meiner etwas überdrüssig geworden.«

»Weshalb? Er hing doch so sehr an Ihnen, und ich sah die Freundschaft so gern.«

»Ich bin vier Jahre älter, Frau von Rumohr. Das ist sonst in den Jahren eine unüberbrückbare Kluft, – aber bei uns war sie's nicht – Sie wissen ja, wie wir uns lieb hatten.«

»Und nun?«

»Es kommt wieder, Frau Baronin, – bei Erni meine ich. Ich kann Ihnen das nicht so erklären, – Erni wird sich schon wieder auf sich selbst besinnen. Aber ich muß jetzt klug sein und mich nicht aufdrängen, wenn ich den Jungen nicht verlieren will.«

»Ich hatte heute schon eine Aussprache mit ihm, er ging von mir fort, ganz als mein altes, liebes Kind.«

Hans-Hugo atmete froh auf.

»Dann ist alles gut,« rief er, » darauf hatte ich gebaut. Nun wird er auch rasch zu mir kommen. – Ach, was sind Sie für eine Mutter! – Ich hab das nie gekannt!«

Er schlug im jäh ausbrechenden Empfinden beide Hände vor das Gesicht, Kerlchen trat zu ihm und sprach herzlich und aufmunternd:

»Kommen Sie nur recht oft zu uns. Wann Sie können, und wann es Sie treibt. Mein Fritz hat Sie sehr lieb, alle unsere Kinder hängen an Ihnen, und ich bin Ihnen so innig dankbar, daß Sie meinem Jungen der getreue Eckart waren.«

»Ich will es ihm auch wieder sein, gewiß. Erni wird zu mir kommen. Es ist eine unglückliche Zeit jetzt für ihn, – ich hab sie ja auch durchgemacht. Man hört da lieber auf gleichaltrige und sogenannte ›forsche‹ Jungens, als auf mahnende Stimmen, und Moralpauken gehen direkt gegen den Strich. Um Erni ist mir gar nicht bange, der findet sich wieder zurecht, er hat ja Sie!«

Schrankenlose Bewunderung lag in seinen letzten Worten.

»Ich kann nicht immer bei ihm sein,« sagte Kerlchen ernst.

»Das tut auch nichts. Sie wirken aus der Ferne. Ihre Kinder werden Sie immer als Schutzengel spüren, – ich, – ich wollte, ich wäre auch Ihr Kind.«

Kerlchen lächelte.

»Das sind Sie ja auch, Hans-Hugo; Fritz und ich sind Ihnen sehr gut!«

»Ich danke Ihnen! Ob mir wohl, – hm – ich meine – liebe, liebe Frau von Rumohr – ob mir wohl die Rose auch gut ist?«

»Rose ist ein Kind – ein liebes, offenes, ehrliches Kind von fünfzehn Jahren, – warum sollte sie Ihnen nicht gut sein? Sie hängt so sehr an den Brüdern, und wer diese lieb hat, ist auch Ihr Freund.«

Hans-Hugo Eulrieds Gesicht war ernst und blaß.

»Nur deshalb?« sagte er leise. »Ich – ich glaube, ich werde nie in meinem Leben ein anderes Mädchen lieb haben, als Rose.«

Kerlchen sprang jäh auf.

»Nicht doch, Hans-Hugo, nicht doch so sprechen! Das erschreckt mich. Meine Rose, das junge Kind! Es ist noch nicht einmal eingesegnet!«

»Ich will ja vorläufig nichts von ihm. Sie ist ein Kind, ja! Aber ich bin ernster, als es meinem Alter zukommt, und ich weiß, was ich will. Und heut sah ich erst, wie einzig lieb und schön und gut das Rosel ist, und ich dachte, –daß ich's nicht aushalte, wenn sie ein anderer holt, während ich fern bin.«

»Still, Hans-Hugo! Nicht ein Wort weiter! Ich hab nie darüber nachgedacht, daß mir jemand mein kleines Mädchen holen könnte. Zeit lassen, Hans-Hugo! Ich – danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Aber Sie werden jetzt erst die Welt kennen lernen und andere Mädchen sehen, viele schöne, gute, liebenswerte Mädchen.«

»Keine, wie das kleine Rosel, und nie – eine solche Mutter, wie Sie!«

»Gute Nacht, Hans-Hugo Eulried. Verständig sein, ja? Und Kopf oben behalten! Ich brauche Sie nicht zu bitten, daß – – Sie mein Kind nicht beunruhigen werden? – –«

»Frau von Rumohr!«

»Gute Nacht, Hans-Hugo.«

*

Kerlchen war allein, – aber gar nicht lange. Der Gutsherr sprang mit gewaltigen Sätzen die Verandastufen empor.

»Gut, daß du noch da bist, mein Kerlelein. Ich hab mich mit wahrer Bräutigamsungeduld nach einem Kuß von dir gesehnt. Es war heut ein bisset viel des Guten. Und gleich muß ich wieder fort, denn der ›Hassan‹ macht mir Sorgen, vielleicht ist's der veränderte Stall, – das sind so Segnungen der Einquartierung – – du siehst so ernst aus, mein Kerlchen. Wo fehlt's? Dich haben die Tage wohl elend angestrengt?«

»Behüte Fritz! Du warst so gut und sorgsam mit mir. Aber mir geht vieles im Kopf herum, viel Ernstes. Wie gern ›nüßlerte‹ ich ein bißchen mit dir, – aber vielleicht bleibt auch manches besser ungesprochen.«

Was klingt ja sehr ernst, mein Liebling. Folge du deinem Gefühl, – ich wollte, ich könnte mich auf das meine immer so verlassen, daß es das Rechte trifft.«

»Mein lieber, einziger Friedel!«

»Süßes Kerlelein! Willst du noch etwas Mondschein genießen? – Sieh, da kommt Major Heinsius, der wird dir gern Gesellschaft leisten. Noch nicht in den Federn, Herr Major?«

»Der Abend ist zu verlockend, Herr Baron. – Und Sie denken ebenso, wie ich sehe, meine Gnädigste?«

»Sie entschuldigen mich wohl, mein Gaul wartet,« rief Fritz von Rumohr.

Langsam kam der Major auf die Veranda und ließ sich oben in einen Rohrsessel fallen. – Eine ganze Weile hing jedes seinen eigenen Gedanken nach. Endlich räusperte sich der Major vernehmlich, und Kerlchen fuhr auf.

»Es ist mir eigentlich ungeheuer angenehm, meine gnädigste Frau, daß ich Sie heute abend noch sprechen kann – – –«

»Herr Major?«

»Ich will Ihnen keine Redensarten machen, – aber – weiß Gott, ich, hab noch kein Haus gesehen, wie das Ihre. Ganz warm und wohl wird so'm alten, einsamen Soldaten in Ihrer Nähe. Wie Sie und der Baron zusammen stimmen – es ist erstaunlich. – Mich haben Sie vom Hagestolzentum bekehrt.«

»Es ist die Möglichkeit!« lachte Kerlchen.

»Nee, nee, es ist 'ne verfl .... ernsthafte Geschichte und sehen Sie, – Ihnen kann man so recht sein Herz ausschütten, Sie haben so was an sich, wenn Sie auch 'ne junge Frau sind, und ich 'n alter Knacks.«

»Aber Herr Major, das stimmt doch beides nicht so recht.«

»Ich weiß, ich weiß! Sie haben 'n sechzehnjährigen Buben, sehen aber wie seine Schwester neben ihm aus, – wie seine jüngere Schwester,« lachte der Major scherzend. »Aber mal ernsthaft: ›Würden Sie mich nehmen, wenn Sie mich heute kennen gelernt hätten und unverheiratet wären?‹«

»Herr Major,« rief Kerlchen erschrocken, dann nach einer kleinen Pause: »Ich finde, das ist eine gräßlich dumme Frage.«

»Jetzt sehen Sie genau so aus, wie Ihr reizendes Backfischchen Rose, und das gab heute nachmittag dieselbe Antwort dem jungen Einjährigen, Ihrem Schützling Eulried. – Aber können Sie mir wirklich meine Frage nicht beantworten?«

»Nein, Herr Major, Ich kann mich absolut nicht in die Lage versetzen, – für mich gibt's immer nur einen auf der Welt, – meinen Fritz.«

»So! Na dann war die Frage wirklich ›horndumm‹, wie Ihr Rosel sagt. Ich will sie anders stellen: ›Glauben Sie, daß Frau von Mainio mich nehmen würde?‹«

»Frau von Mainro?« Kerlchen war wirklich über die Maßen erstaunt, aber nun sah sie in das tiefernste Gesicht des Mannes, dessen Augen gespannt an ihr hingen.

»Wie kann ich das wissen, Herr Major?« stammelte Kerlchen, »und doch – warum sollte sie nicht, – sie wurde ganz jung Witwe, – und – Herr von Mainro soll nicht sehr gut mit ihr gewesen sein – – Nata ist ein liebes, herziges Ding, aber eine feste Manneshand könnte noch viel Gutes erziehen – kurz – Herr Major – ich wünschte Frau von Mainro recht, recht herzlich ein rechtes, echtes Glück, sie ist eine prächtige Frau.«

Major Heinsius küßte Kerlchen mit jugendlichem Feuer die Hand.

»Wie Sie das so lieb sagen! Ich danke Ihnen! – Und noch eins: jetzt wär's wohl schon zu spät, in Haidbusch anzufragen?«

Kerlchen lachte laut und herzlich.

»Warum denn, Herr Major? Frau von Mainro ist sicher noch auf, sie revidiert immer noch spät das Gut – – –«

Kerlchen kam nicht zu Ende, es hatte ihm noch Grüße auftragen wollen, aber der Major schüttelte ihm nur energisch die Hand, dann rannte er schon die Stufen hinunter in den Park, und nach ganz kurzer Zeit hörte man die jagenden Hufe seines Pferdes.

»Das ist nun schon die dritte Liebeserklärung, die ich heute höre, – was die Leute nur alle mit mir haben – – –«

In diesem Augenblick rannte Hans-Hugo Eulried an der Veranda vorüber, Kerlchen sah im Dämmerlicht, daß er das Taschentuch vor die Nase hielt.

»Ist Ihnen was passiert?« rief es erschrocken herunter.

»Gefallen bin ich,« lautete die Antwort, »Hab mir elend das Gesicht verschrammt, Hand verstaucht und sonstige Lieblichkeiten.«

Wie ging denn das zu?«

»Ich war noch ein wenig planlos in den Wald gelaufen, dadrin ist's ja schon stickenduster, – mit einmal fall ich über einen Gegenstand, der sich als das langausgestreckte Bein von dem Bengel Franz Korbs erwies. Längelang schlug ich hin, und der Bursche kniff aus, anstatt mir behilflich zu sein, – sonderbarer Kauz. – Gute Nacht!«

»Gute Nacht, und recht gute Besserung« rief Kerlchen ihm nach und schritt dann langsam und kopfschüttelnd noch ein Stückchen in den Park hinein.

Aber ebenso rasch drehte es wieder um. Es hatte unter der einen Tanne ein Liebespärchen entdeckt, das in zärtlicher Umarmung Abschied nahm.

»So'n Manöver ist doch greulich,« dachte Kerlchen, und dann lief es eilends nach seinem Zimmer, um dort seinen Fritz zu erwarten.

Kaum war es drin, als es an die Tür klopfte.

»Herein.«

Es war Henriette, die Köchin, ihre »Perle«.

»Was gibt's so spät noch, Jettchen?«

»Frau Baronin verzeihen – aber – Frau Baronin liefen eben noch an uns vorüber – der Peter und ich – – –«

»Wer ist Peter?«

»Der Bursche von Herrn Major Heinsius.«

»So, so! Was soll's?«

»Wir – wir – dachten, Frau Baronin hätten was gesehen und – ich wollte nicht in Ungeläjenheiten kommen, – weil's nämlich streng reell is.«

»Tu hast dich also mit ihm versprochen, Jettchen?«

»Jawohl Frau Baronin, richtig versprochen und alles abgemacht. Nach'n Monnever kemmt er frei, dann machen mir bei seine Eltern, wenn's Frau Baronin erlauben.«

»Was ist dein Bräutigam?«

»Sargmacher.«

Kerlchen schauderte etwas, es war ja auch nachtschlafende Zeit, und es hatte heute schon so viel erlebt.

»Ja, Sargmacher!« bestätigte Jettchen noch einmal. »Und er hat mir das alles ausgemährt un gesagt, daß er viele Kundschaft hätte, un daß mer mit 'ner scheenen Mittelleiche schon hibsche Sprünge machen kennte. Un wenn sich denn de Vornehmen noch von uns begraben lassen – – ich war doch immer en braves Mächen, un Frau Baronin werden mir doch nich vergessen – –«

»Danke, danke, Jettchen! Du bist sehr freundlich, aber hoffentlich haben wir vorläufig keinen Bedarf.«

»Nee, und denn nehmens Frau Baronin nur ja nich ibel, daß ich nu auch in was 'nein treten will. Ehstand is Wehstand, aber mein Peter is noch einer von die besten.«

»Alles Glück, Jettchen, alles Glück! Deine besonderen Wünsche zur Hochzeit sagst du mir noch; die Kegel sollen dir jeder ein Andenken schenken.«

Jettchen küßte ihrer gütigen Herrin die Hand und ging dann weinend hinaus, um in der Küche zu erzählen, wie seelensgut die Frau wäre und daß sie, Jette, auch nicht eher heiraten däte, als bis 'n ordentlicher Ersatz für sie da wäre, »Heerscht de Peter? Nich eher, un wenn de mir alle Särge der Welt versprichst.«

*

»Nun riegele ich mich aber ein,« sagte Kerlchen zu sich selbst und besann sich, wer nun wohl noch kommen und sich verloben könnte.

Aber es kam niemand, außer Fritz von Rumohr, und der war todmüde und kaum zum Sprechen aufgelegt und gestand Kerlchen, daß er sich heute entschieden nicht verlobt haben würde.

Doch hörte er seinem Frauchen ganz geduldig zu, und ohne großes Erstaunen zu äußern, ja als es ihm die größte Neuigkeit von Major Heinsius und Frau von Mainro auftischte, schien er aus langem Schlafe zu erwachen, gähnte herzhaft und sagte gänzlich zusammenhanglos und unlogisch:

»Na schön, ich bin bloß froh, daß mein Gaul wieder auf Deck ist.«

Damit schlief er endgültig ein.

Nach einer Stunde ungefähr weckte beide ein Pochen an den mit Laden verschlossenen Fenstern.

Kerlchen fuhr erschrocken hoch und Fritz desgleichen, seine Hand griff gleich nach dem Revolver, dann besann er sich.

»Irgend welche betrunkene Nachzügler vom Erntedankfest, die sich einen ungehörigen Scherz erlauben,« brummte er. »Der Nachtwächter ist natürlich auch dabei, anstatt die Runde zu machen, – ich werde da mal ganz energisch auftreten. Na klopft es schon wieder – Donnerwetter – hat man denn nie Ruhe?«

»Vielleicht ist's doch was mit Hassan?«

»Hallo, ich komme schon! Laßt das verd... Pochen sein. – Der Kerl muß Bohnen gegessen haben und die Schlusen stecken ihm noch in den Ohren. – Ich komme, hab ich gesagt.«

»Gebrüllt« wäre richtiger gewesen.

Fritz fuhr in die allernotwendigsten Sachen und öffnete vorsichtig den Laden.

»Was ist los?«

»Wie freundlich, daß Sie kommen! Ich dachte mir's, daß Sie noch mit Frau Gemahlin plauderten.«

»Wer ist da,« schnob Fritz wütend.

»Der Glücklichste unter der Sonne,« rief Major Heinsius in gänzlicher Verkennung der Tatsache, daß ihm der Mond auf den Kopf schien. »Sagen Sie Ihrer Gattin, – sie hätte ja gesagt.«

»Wer? Meine Frau?« »Nein doch! Sie!«

»Ich?«

»Herr Baron, ich will den lieben Namen nicht in alle Lüfte schreien, obgleich es mir so zu Mute ist, – Frau Baronin weiß, wen ich meine, – gute Nacht, gute Nacht!«

»Viel Glück,« brüllte Fritz, und schlug das Fenster zu, daß es klirrte.

Kerlchen fuhr zusammen, aber der Major auch.

»Welchen Anteil der Baron an mir nimmt,« dachte er dankbar, »ich habe ihn noch nie so erregt gesehen.«

»Hol ihn der Kuckuck!« fauchte drinnen Fritz.

*

Aus Kerlchens Tagebuch.

»Und heut ist Ostern über allen Landen,
Und Gottes Blumen hauchen ersten Duft.«

Auch ich bin in Osterstimmung.

Wie ist der Frühling in unserm Tannenruh schön!

Beinahe achtzehnmal sah ich ihn schon kommen und blühen, und immer wieder kann mich das Treiben und Knospen jauchzend begeistern und zu Tränen rühren.

Und diesmal ist's ein ganz besonderes Ostern, denn unsere Rose wurde eingesegnet. Mir war's, als sei ich es, die da am Altar im Schwarzhausener Kirchlein stand, und da ich vor Tränen doch nichts sehen konnte, so vermißte ich auch niemand.

Sie waren ja auch alle bei mir, – ich fühlte es. Mein Väterchen, Onkel Rumohr, Tante Laura Hartwig – alle, alle, die längst der kühle Rasen deckt.

Und so schön, so wunderschön sprach der Pfarrei, daß uns allen das Herz warm wurde.

Er wendete sich an seine Konfirmanden, die mit heißen Tränen in den reinen Kinderaugen Abschied von ihrem einzig verehrten Seelsorger nahmen, und uns Alten war es, als gehörten wir mit zu der jungen Schar, als gälte auch uns das innige Christuswort: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!«

»Mit dieser Stunde erreicht unsere gemeinsame Arbeit ihren Abschluß,« sprach der Pfarrer tiefbewegt. »Das Beste und Notwendigste für euer Leben habe ich euch gegeben, soweit ich es vermochte. Nun kommt es darauf an, daß ihr die empfangenen Unterweisung auch für das Leben nutzbar macht; deshalb laßt mich in dieser weihevollen Stunde eine ernste Frage an euch richten: ›Welches ist der wertvollste Besitz, den ihr habt und den ihr mitnehmt in das Leben? – – Eure Seele ist es!«

*

Unsere Rose sah beinahe überirdisch schön aus.

Ein Leuchten lag auf der klaren Kinderstirn, und ihre strahlenden Augen sahen den Seelsorger an.

Rein lagen die Blätter ihres Herzens vor uns, »Liebe« stand auf jedem einzelnen, Liebe für die Eltern, Liebe für die Brüder, herrliche Nächstenliebe.

Jedes Blatt schlug ich um und konnte mich nicht satt lesen, es war ein köstliches Buch.

Dann standen die Kinder auf, falteten ihre Hände und sangen eine uralte Weise, die wohl schon unser kerniger deutscher Luther sein Hänschen gelehrt.

Aber neue, herrliche Worte waren dazu gedichtet, Worte, die aus einem großen, edlen Herzen kamen:

»Dank, o Vater, daß ich dir gehöre,
Daß ich singen darf so frohe Chöre,
Daß dein Gnadenlicht
Goldig niederbricht.
Wie der Glanz der Wiesen,
Vater, sei gepriesen!

Gut sein will ich und will glücklich machen.
Will verwandeln Leid in Dank und Lachen,
Laß mich Sonnenschein
Vielen Menschen sein.
Daß ein Segen walte.
Wo ich geh' und schalte.

Nur von dir, du Vater aller Stärke,
Kommt die Kraft zu gutem Lebenswerke,
Gib mir Kraft, ich fleh'.
Daß ich leuchtend steh'
Und im Strahlenkleide,
Wie der Tau der Heide.

Singen will ich dir in frohen Chören,
All mein Leben soll nur dir gehören,
Bin ich zart und klein,
Du wirst mit mir sein,
Bis ich heimwärts kehre.
Dank sei dir und Ehre!«

Ein Schluchzen ging durch die kleine, liebe Rotbacher Gemeinde.

Solche Stunden sind unvergeßlich!

Ich drückte die schwieligen Hände der Bauernfrauen, eine nach der andern, – heute waren wir alle Schwestern.

Dann hielt ich mein Kind, unsere erwachsene Christin, am Herzen.

Ich weinte fassungslos. – Väterchen, mein Väterchen, die Sehnsucht nach dir packte mich mit einemmal, und trotz der heißen Tränen sah ich mit harter Deutlichkeit, es war nicht unser Schwarzhausener Kirchlein – und du fehltest.

*

Aber eine andere liebe, hohe Gestalt in blitzender Uniform trat auf mich zu und ich legte meinen Kopf an seine Schulter.

»Mein Erich-Bruder!«

Wie er dem Vater ähnlich sieht! Auch Muttchens Blicke ruhten auf ihm, wir dachten beide dasselbe.

Erich ist Major im großen Generalstabe, – wie glücklich war ich, daß er kam, der seltene Gast.

Und Junggeselle ist er noch immer zu meinem Leidwesen und zur Freude des Herrn von Reymerstal und Onkel Hagedorn, die in Frau von Mainro ihren »dritten Mann« beim Skat verloren haben. Sie lebt zwar noch als unsere liebe Nachbarin, aber es scheint, als wollten die Flitterwochen beim »jungen« Paar Heinsius gar kein Ende nehmen, vorläufig hat sie noch kein Mensch gesehen.

Nach der Einsegnungsfeier fuhren wir alle still nach Hause.

Die Stimmung war sehr ernst, – das kam von Rosel her, sie nimmt alles schwer – es macht mir oft bange Sorge.

Und doch ist sie auch wieder eine so sonnige Natur, – wie wird der liebe Gott sie führen? Ich muß die Feder fortlegen, meine Hände falten sich unwillkürlich.

Es war ein Glück, daß unser lieber Freund Krone bei uns war, – seine kleinen Bemerkungen, die aus so ehrlichem, treuem Herzen kamen und so urwüchsig klangen, waren wie Steinchen, die mit lustigem »Plumps« in einen stillen See geworfen werden; es war auch für Rosel gut, die jedesmal so herzensheiter auflachte.

»Mir war's genau wie vor zwanzig Jahren zu deiner Einsegnung, Felicitas,« sagte Muttchens sanfte Stimme zu mir. »Genau so! Und unser Erich verkörperte mir den Vater, ich mußte ihn immer ansehen. Und gerade als der Segen gesprochen wurde, fiel ein Sonnenstrahl schräg in die Kirche und legte sich wie ein funkelndes Krönchen auf Rosels Kopf, – wie damals, wie damals.«

Ein Weilchen war es still, und wir alle in Erinnerung versunken, dann setzte sie beinahe schelmisch hinzu:

»Und Fritz von Rumohr war auch da.«

Sie lachten alle, und sahen mich an und neckten Fritz, daß er schon damals sein Kerlchen geliebt und sich im Geiste neben das kleine Persönchen an den Altar gestellt habe.

Ich konnte nicht so herzlich mitlachen, denn als ich aufsah, blickte ich in Hans-Hugo Eulrieds Augen, und das Herz tat mir weh, – ich wußte nicht, warum.

Gottlob, ganz unbefangen ist unser Liebling, unsere Rose, und das soll sie auch bleiben.

Muttchen konnte sich gar nicht Genüge tun, in der Erinnerung zu schwelgen, immer wieder flüsterte sie vor sich hin:

»Gerade wie damals, wie damals.«

Und der Pfarrer ging darauf ein, indem er meinte:

»Was sind die wunderbaren Stimmungen, die plötzlich über uns kommen und uns zuraunen:

›Genau das Gleiche hast du schon einmal erlebt‹.«

»So ist's,« fiel Meister Krone ein. »Bloß, daß wir damals Hammel hatten, und heute Filet. Was so Feinheiten sind bei 'n Fest, da hab ich 'n gutes Gedächtnis. Ich weiß genau, ich hatte noch 'ne Kalbskeule im Keller, achtzehn Pfund, schön ›abgehängt‹, aber es war mir 'ne zu starke biblische Anspielung, und da gab ich sie dem Klempner Biele an der Ecke, den sein Sohn wurde auch konfirmiert und war so'n Taugenichts. Ich hatte von Geburt an 'ne Pieke auf den Jungen, ich konnt'n nich ersehn, na, er ist denn auch verdorben und schließlich als – Vegetarianer gestorben.«

Schlächter Krone sprach das Wort mit ungeheurer Verachtung aus.

Als wir nach dem Essen so traut zusammen saßen, legte mein Fritz seinen Arm um mich und fragte:

»Wollen wir aber den heutigen Tag ganz so wie damals feiern, so muß mein Liebling zum Flügel kommen, und ich darf meine Geige holen. Weißt du noch?«

Ob ich es wußte! – Leuchtend klar stieg die Vergangenheit empor!

Dann lagen die Noten vor mir, Beethoven, Brahms, Spohr, Grieg, – lauter köstliche Namen, und wir spielten, – spielten wie damals, vor hochmusikalischen, feinsinnigen Zuhörern.

Wie es um mich sang und klang! Das war wieder alles lebendig, und die Meister redeten zu mir eine wundervolle Sprache, so daß ich ganz eins mit ihnen wurde.

Dort stand mein Fritz, mein geliebtes Zigeunerlein! Wie er die Geige im Arme hielt, den Bogen führte, wie er spielte! – Ab und zu flogen seine Augen zu mir herüber, das war, wenn ich in gar zu verwickelten, schwierigen Läufen und Akkorden den Faden ein wenig verlor, – aber dieser Blick tat Wunder, gleich war ich wieder in der Reihe und folgte ihm willenlos, meinem Rattenfänger von Hameln.

Ist es denn nur denkbar, daß so viele, viele Jahre vergangen sind, seit damals unsere Herzen zusammenklangen. Bin ich wirklich nicht mehr das kleine Kerlchen, das nachher mit tiefem Aufatmen die Hände von den Tasten sinken läßt und zu Väterchen läuft, die Arme um seinen Hals schlingt, den silbernen Streifen im dunklen Blondhaar sacht küßt und leise fragt:

»Hab ich gut gespielt, Väterchen?«

Und sagt mir niemand solch liebe Antwort, wie mein Herzensvater, der mit nassen Augen mich streichelte und mit so liebem Lächeln meinte:

»Es ging, mein Kerl. So ziemlich!«

Doch! Ich bekam solch' eine Antwort, auch ohne Frage, und etwas anders, als sie Väterchen gab, der so sehr für das »Ducken« war.

Mein Fritz zog mich ins Nebenzimmer.

»Hexe! Zauberin!« sagte er zärtlich. »Wie du spielst! Ob ich wohl auf der ganzen, weiten Welt jemand finde, der so begleitet wie du! Und nun bekomme ich endlich einen Kuß. Kerlelein, Kerlelein, du scheinst zu vergessen, daß heute meine Tochter eingesegnet worden ist, und daß man zu solch' festlichem Ereignis von Verwandten und Freunden geküßt und umärmelt wird. Bist du nicht mein Freund, mein bester? Mein Kamerad!«

»Das bin ich, Fritz!«

Und ich betätigte es ihm, – gezählt haben wir sie nicht.

Als wir wieder zu den andern traten, sagte Meister Krone nachdenklich:

»Es war sehr schön, Frau Kerlchen! Aber ich komme ebend da noch nicht recht dahinter, es wird mir wirbelicht außen- und innewendch. Spielen Sie mir nachher noch was Ordentliches, Musikalisches, z. B. ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹, dann weiß ich doch, was es bedeuten soll.«

*

Rosel war immer in meiner Nähe. Ich fühlte, wie ihr Blick auf mir ruhte und wenn ich ihn lächelnd erwiderte, dann kam sie zu mir und einmal sagte sie: »Ich möchte werden wie du!«

»Kann Rose nicht das schwarze Kleid ausziehen?« raunte Fritz, – »ich kenne mein Mädel gar nicht wieder, sie sieht so vergeistigt aus.«

Ja, das tat sie, aber sie war ja auch noch mit allen Gedanken bei der schönen Feier und hatte das ganze Herzchen voll guter Vorsätze. Daß sie auch schön war, ahnte sie gar nicht, ihre blonden Zöpfe hatte sie schlicht nach Defregger-Art um das feine Köpfchen geschlungen und als einzige Verzierung trug sie an goldenem Kettchen ein seltsam geformtes Schmuckstück, das die Fürstin-Mutter gesendet, einen winzig kleinen Rosenstrauß, dessen Tautropfen Rubinen, Smaragden und Perlen bildeten.

Hans-Hugo Eulried war ganz unbefangen. Er scherzte mit Rose und den andern Kegeln, er ließ sich die Geschenke zeigen und freute sich teils mit ihr und stimmte auch in ihre Klagen ein, daß es gar so wenig Bücher seien; – Rose war immer noch Leseratte. Er selbst hatte ihr ein köstliches Buch gestiftet, – Reiseschilderungen aus fernen Ländern, Urwaldstimmungen, Erlebnisse der Missionare in unsern Kolonien, ein Prachtwerk ist es! Rose dankte ihm mit leuchtenden Augen.

Aber nicht mit einem Blick verwirrt er mir mein Kind. Er hält Wort. Ich hab' den Hans-Hugo Eulried sehr lieb; ich weiß, daß er still warten wird, bis die Frucht reift, und hoffe mit ihm, daß er sie pflücken darf.

Mein liebes, kleines Rosel! Bei aller heißen, großen Liebe für dich, bin ich doch eine recht arme, schwache Muusch. Ich kann das Glück nicht für dich vom Himmel herunterholen, muß ganz still abwarten und die Hände in den Schoß legen.

*

Während eines Ruhestündchens, da jeder sich zurückgezogen hatte, las ich die eingegangenen Briefe, und nicht lange dauerte es, so war ich mitten unter den lieben Absendern. Die Walküren hätte ich gar zu gern persönlich bei mir gehabt, aber Luttewete konfirmiert selbst ein Zwillingspaar, das heißt natürlich, der Pfarrer tut es, aber sie ist doch nicht abkömmlich. Munke weilt mit ihrem Manne in Berlin, er ist Herrenhausmitglied, und sie haben eine schöne Wohnung am Tiergarten. Die beiden Schwestern Munke und Bümi verleben eine köstliche Zeit zusammen, denn Bümi wohnt auch längst in Berlin. Franz Schirmer ist »Geheimer Hof- und Medizinalrat«.

Er selbst hat sich rasch in die veränderte Sachlage gefunden, während Bümi immer noch köpfschüttelnd und von Vornehmtuerei nicht im geringsten angekränkelt sagt: »Wat ut 'n Minschen ni allens warden kann«.

»Du glaubst nicht, Herzenskerlchen,« schrieb sie, »wie verwunderlich ich mir immer vorkomme, wenn mein Franz im seidengefütterten Überzieher, die Angströhre auf dem Kopfe und mit dem Spazierstock mit goldenem Knauf in der Hand in unsern ›begummiten‹ Wagen springt. Manchmal steht auch eine Hofequipage vor der Tür, die ihn abholt, und dann gucke ich hinter den Gardinen nach, – sie steht ihm so gut.

Aber ich muß dann merkwürdigerweise immer an Buchenwalde denken und – an den Parnaß, mit den elenden gelbgestrichenen Tannenmöbeln, mit dem steinharten Sofa, auf dem man sich Schwielen sah, wenn man nicht zufällig den Punkt erwischte, wo nach unverbürgter Familienüberlieferung sich wirklich zehn Roßhaare befinden sollten.

Ach, Kerlchen, und wir waren damals doch auch glücklich; ich weiß es noch wie heute, wenn wir an dem Tannentisch uns Patience legten, – ach ich wünschte mir so sehr 'n Mann, weißt du noch?

Und nun hab' ich 'n Hof- und Geheimen Medizinalrat, und nur zu ganz seltenen Stunden ist er mein Franzl.

Er hat noch so ein ganz altes Röckchen aus seiner Studentenzeit, graugrün sieht's aus, und er selbst entsinnt sich nicht mehr, wie es einstens war.

Dies Röckchen muß er dann anziehen, es geht natürlich nicht zu, denn Franz hat auch längst ein ›Geheimes Hof-Bäuchlein‹, aber das macht nichts, – in dem Röckchen hab' ich ihn kennen gelernt, – damals in nebelgrauer Vergangenheit auf der Fahrt zu dir und Käfermanns.

Wenn er dann auf dem Sofa sitzt und dieselbe Marke raucht, wie früher in S. (denn der Geruch tut bei mir unendlich viel), dann frisiere ich ihn noch rasch seinen alten ›schewen Scheitel mit der Tolle‹, denn jetzt trägt er einen graden, und zwar über den ganzen Hinterkopf, – ich will dir's nicht näher schildern, sonst könnte ich unparlamentarisch werden.

Und dann sitzen wir zusammen, Franz schlingt den Arm um mich, und wir schwatzen von alten, lieben Zeiten. Bis es plötzlich klingelt und irgend ein betreßter Lakai mit einer Bestellung kommt und uns daran erinnert, daß wir nicht mehr in S. sitzen als Dr. med. Schirmers und auf verstauchte und zerbrochene Gliedmaßen lauern, sondern daß der Fall mit der ›verletzten Russin‹ uns zu berühmten Menschen gemacht hat. In ganz besonders feierlichen Stunden beschäftigt mich sogar schon der Gedanke, wie es sein wird, wenn wir den Adel – ablehnen.

Bümi Schirmer, geborene Schlieden

for ever!

Überhaupt Hofluft! Jetzt erst kann ich sie dir nachfühlen, armes Kerlchen. Oft bei großen oder kleinen Festlichkeiten hab' ich das Gefühl, als müßte ich die Leute mit ihren dicken Köpfen zusammenrennen, aber Franz bittet mich, mich zu beherrschen, weil es aussehen könnte, als suchte ich ihm auf solche Weise Patienten zu verschaffen.

Manchmal macht er mir auch Vorwürfe, daß ich die Spreu nicht vom Weizen zu unterscheiden vermöchte, doch das ist nicht meine Schuld.

Er hat es leichter, er lernt die Leute im Bett kennen, wenn sie Schmerzen haben, dann fällt all der Krimskrams von ihnen ab und sie legen die falschen Haare, Zähne, Waden, Hüften und Gott weet wat all auf den Stuhl neben ihrem Lager hin und sind bloß Menschen. Ich aber sehe sie als Figuren, – ach Kerlchen, – heißes Heimweh habe ich oft nach Buchenwalde, als wir noch seelenfrohe, ungeschminkte Landkinder waren.

Ziehe aber aus dem letzten Satz nicht den Schluß, als ob ich jetzt etwa »auflegte«. O nein, dazu bringt mich selbst die Hofluft nicht.

Und nun, mein einziges Kerlchen, nochmals die innigsten Wünsche für eure Rose. Sie soll eine Schönheit sein, erzählte einer aus dem Herrenhause dem Schwager Russee. Eine Schönheit, aber – kein »Kerlchen«.

Deshalb nenne ich dich auch mein »einziges«.

Es wäre aber doch jammerschade, wenn du aussterben solltest, – hoffen wir das beste für die Zukunft, manchmal überspringt es eine Generation, und deine neun Kegel geben dir genug Bürgschaft, daß unter ihren Kindern auch mal wieder ein »Kerlchen« ist.

Küsse die ganze Bande und deinen schönen Mann von deiner treuen Hof- und Geheimen Medizinalbümi.«

Nachschrift.

»Den Eltern geht's gut, Muttchen redet immer noch, gottlob! Ich habe sie in starkem Verdacht, daß sie Schwager Russees Reden im Herrenhause verfaßt, sie erinnern furchtbar an Mutter.«

*

Ganz die alte, liebe, treue, unveränderte Bümi!

Ein goldenes Herz lacht hinter ihrem Schwadronieren, o, wie auch mein Heimweh wächst nach der alten, lieben Vergangenheit.

»Weit, weithin über das Gelände
Trägt mich ein Traum voll Seligkeit,
Ich falte stumm nun meine Hände:
O du meine köstliche Jugendzeit.«

*

Aus Kerlchens Tagebuch.

Zwei Jahre dahin, zwei ganze Jahre. »Und wieder ist Ostern über allen Landen«.

Und immer etwas neues ist da, was einen in Atem hält, – nur schön und gut, so wird man nicht alt. Rast ich, so rost ich.

Erni hat das Abiturientenexamen bestanden und tritt in – Buchenwalde als Volontär ein.

Fritz und Li sind konfirmiert und nach Unter- und Obersekunda versetzt, auch die andern Kegel machen tüchtige Fortschritte.

Die Manöverbegeisterung hat sich etwas gelegt, Fritz dichtet weiter, und Li will Arzt werden, der Geheime Hof- und Medizinalonkel sticht ihm in die Augen.

Vorläufig läßt sich ja gar nichts sagen und tun, – ich habe mehr denn je das Gefühl einer Henne, die Entlein gebrütet hat.

Eins nach dem andern versucht auf dem Strom des Lebens zu schwimmen, und ich laufe angstvoll am Ufer hin und her.

Gottlob, meine Rose bleibt mir noch.

Wie ist das Kind erblüht!

Und wie einzig lieb ist sein Gemüt!

Nein, ein »Kerlchen« ist sie nicht. Kein häßliches Wort kommt von den Lippen, ihre Bewegungen sind gleichmäßig und durchaus vornehm, ich wundere mich oft, wie sehr sie meiner Mutter gleicht.

Manchmal sieht sie viel älter, viel reifer aus, als ob sie nicht erst siebzehn Jahr alt sei, – besonders wenn ich sie an Krankenbetten im Dorfe sehe.

Da ist sie ganz am Platze und geht völlig in der Pflege auf, und ich wundere mich, daß sie noch nie den Wunsch ausgesprochen hat, Diakonissin zu werden. Doch glaub' ich, es steckt eine ganze Portion gesunder Lebensfreude in ihr, und die soll sie behalten.

Hans-Hugo Eulried ist selten bei uns, vielleicht hofft er, Rose soll sich so mehr mit ihm in Gedanken beschäftigen, sie schreibt ihm auch ab und zu liebe, kindliche Briefe, erzählt von ihren Kranken im Dorf und unterbreitet ihm Pläne und Wünsche.

Dann schickt er ihr oft große Summen – für eine Altarbekleidung, für ein Kinderheim, für ihre kranken Schützlinge – die sie jubelnd in Empfang nimmt.

»Wie gut er ist, rührend gut,« sagt sie dann, »ich kenne keinen besseren Menschen, – er kommt gleich nach Väterchen.«

Gleich nach Väterchen! So sprach auch' ich damals, damals, als Fritz von Rumohr anfing, sich in mein Herz einzunisten.

Fröhliche Hoffnung lebt in mir.

Augenblicklich schwenken wir den großartigen Gedanken im Kopf herum, diesen Winter einmal in Berlin zu verleben.

Kaum zu atmen vermag ich vor Wonne.

Schwelgen, in Musik schwelgen!

Ich will ja nichts, als den einen Abend im Opernhause sitzen und den folgenden in der Philharmonie, früh Gesangstunden nehmen, mittags in der Singakademie zuhören und mich zwischendurch von Aschinger nähren.

Dressel imponiert mir nicht, wenn ich Musik haben kann.

Aber es wird wohl etwas anders kommen.

Rosel soll in die Gesellschaft eingeführt werden, in Pension ist sie nicht gewesen, das Elternhaus hat ihr hoffentlich alles gegeben, was nötig für das Leben ist, ich bin ja nicht von meinem Kinde gewichen.

Rosel meint eigentlich gar nichts zu unseren Berliner Plänen, über die jedes andere junge Mädchen deckenhohe Luftsprünge vollführen würde, sie sorgt eifrig für liebevolle Vertretung bei ihren Dorfarmen und -kranken und hat viel Besprechungen mit Pfarrer Truling, dessen rechte Hand sie ist.

Die Kegel kommen zu Pfarrers und Lehrers in Pension, und da es etwas neues ist, macht es ihnen auch Spaß.

Hans-Hugo will auch nach Berlin kommen und dort Vorlesungen hören; – als er es uns schrieb, klatschte Rose fröhlich in die Hände.

»Herrlich,« rief sie, »dann hab' ich gleich einen Tänzer und brauche nicht zu schimmeln.«

Du liebe Zeit, schimmeln! Ich habe viel mehr Sorge, daß sie mir mein Röslein welk tanzen.

Vorläufig tritt aber unser Berliner Plan noch in den Hintergrund, denn wir haben ein großes Missionsfest in E. Morgen ist der erste Tag, an dem die großen Reden geschmettert werden, Missionare werden vereidigt und sollen dann als tapfere Kulturpioniere hinausziehen.

Offen gesagt, – für die äußere Mission habe ich nicht so sehr viel übrig, und mein Fritz auch nicht.

Die innere krankt mir noch zu sehr, da möchte ich erst helfende Hand anlegen.

Aber Rosel ist Feuer und Flamme.

Pfarrer Truling ist mit in E. und hätte sie am liebsten mitgenommen, aber da ist ein krankes Kind im Dorf, das will sie nicht verlassen.

Gegen Abend kommen dann viele Herren hier herüber, unsere alte Kirche soll besichtigt, ein Gemeindehaus neu gegründet werden; wir haben auch einen Herrn ins Schloß aufzunehmen versprochen, einen jungen Missionar Namens Doktor Christiani. –

*

Mein liebes Buch, du sollst immer recht geführt werden, – so schwer es mir heute auch wird, – du sollst ein echtes, rechtes Familienbuch werden.

Die Begrüßung der fremden Gäste liegt schon hinter uns.

Ein ganz heiteres Abendessen war es, und die hohe und höchste Geistlichkeit zeigte, daß auch ein fröhliches Menschentum in ihr lebte, was mich erleichtert aufatmen ließ.

Auch nicht ein einziger unter ihnen verschmähte die guten Tropfen, die Fritz aus der Tiefe seines behüteten Weinkellers hervorsprudeln ließ, und nach all den heiligen und ernsten Gesprächen in G. kam nun bei uns manch launiger Toast und kräftiger Spruch zu seinem Rechte.

Ich saß zwischen dem Generalsuperintendenten Forselius und dem jungen blassen Doktor Christiani, der schon in einem Vierteljahr nach Australien gehen soll.

Er ist eine interessante Erscheinung, eine echte Christusgestalt mit zartem, schwärmerischem Ausdruck, der aber durch die hohe, kluge Stirn und die durchdringenden Augen der leiseste Schein von Weichlichkeit genommen wird. Ein weicher, brauner Bart umschattet Lippen und Kinn.

Ich mußte ihn immer wieder ansehen, ich konnte nicht anders, besonders da ich hörte, daß er der einzige Sohn seiner alten Mutter sei, die in einem kleinen oldenburgischen Residenzstädtchen als Witwe eines Pfarrers lebt.

Ich konnte die Bemerkung nicht unterdrücken, ob die Mutter nicht grenzenlos verzagt und traurig sei, da sie ihren Einzigen hinausziehen lassen müßte, – so weit, in so unwirtliche Gegenden.

»Gott ruft mich,« sagte er leise und ernst, und der schwärmerische Ausdruck trat wieder stärker hervor.

»Er ist unser Bester, unser Eifrigster,« sagte auf der anderen Seite der Generalsuperintendent zu mir, doch so, daß es Dr. Christiani nicht hören konnte. »Ein seltener Mensch mit hohen Geistesgaben. Wenn er zurückkehrt, stehen ihm die höchsten Stellen offen, er ist gut vorgemerkt.«

» Wenn er zurückkehrt.«

Der Geistliche nickte mir ernst zu.

»Die erste Silbe darf man in diesem Satze eben nicht betonen. Unser Johannes Christiani hat felsenfestes Gottvertrauen, und das wird noch gestärkt werden bei ihm in den Urwäldern Australiens.«

In den Urwäldern Australiens!

Ein lähmender Schrecken befiel mich mit einem Male. Ich konnte ihn nicht abschütteln, er kroch mir ans Herz, und ich fühlte, wie ich kalt und blaß wurde bei dem Gedankengang, der plötzlich durch mein Hirn zog.

Ich hob die Augen, und da sah ich mein Kind, – mein junges, weltfremdes, scheues Mädchen, aber Rose sah mich nicht an, ihre Augen hingen selbstvergessen an dem Gesicht des jungen Predigers, der ihr mit beredten Worten, in denen eine heilige Begeisterung lag, von seinem »herrlichen« Berufe erzählte.

Wie im Traum hörte ich ringsum das Sprechen und Lachen, ich sah niemand, nicht meinen Fritz, nicht das Heim, das mich umgab, sah nichts als die beiden Menschenkinder, deren Augen sich jetzt fanden und nicht mehr losließen.

*

Nun ist der Schlag schon gefallen – – schon längst – aber mein armes Mutterherz kann sich nicht erholen, das zuckt und windet sich und will nicht ruhig schlagen.

Und doch hab' ich beide Kinder an dieses wildtobende Herz genommen und sie gesegnet unter tausend Tränen.

Johannes Christiani ist unser Sohn.

Sollten wir zusehen, daß Rose verging?

Sie war gereift, gewachsen in wenigen Stunden, sie weinte nicht, aber ihre Augen flehten herzzerreißend: »Gebt mir den Geliebten, ich kann nicht leben ohne ihn!«

Zuerst hatte uns ein heftiger Zorn erfaßt, uns beide, meinen Fritz und mich.

»Nein, nein, nein,« schrie es in mir, »sie wird ihn vergessen und alles wird wie zuvor.«

Vergessen? Eine Schlieden vergißt nie, was sie einmal geliebt, und auch Rose ist eine Schlieden in tausend feinen Zügen.

Und sie vergaß ihn auch nicht. Aber sie verzehrte sich – in Leid um uns und in heißer Sehnsucht nach ihm.

Seine Briefe mit der schönen, klaren Handschrift legte sie immer still auf meinen Schreibtisch, und ob ich sie auch erst in meiner Hand einballte, ich glättete sie wieder und las sie: »Meine Rose, Du liebes herrliches Kind, verzage nicht!

Dein Mütterchen wird »Ja« sagen, ich vertraue auf Gott!

Auch ich bin jetzt bei meiner alten Mutter und spüre ihre Sorge und ihr tiefes Leid, mich herzugeben.

Und jeden Abend beten wir gemeinsam, daß unser Herrgott die Herzen Deiner Eltern lenken möge, daß sie unsere Hände ineinanderlegen und Dich mit mir ziehen lassen.

Sei gut mit Deiner Mutter, – sie ist eine seltene Frau, und ich habe sie lieb, weil sie Dich geboren hat, und weil ich ihr so großen Schmerz zufügen muß.

Leb wohl, mein Herzensliebling, Gott segne Dich!

Dein
Johannes Christiani.«

Da nahm ich mein Herz in beide Hände, daß es in mir aufschrie vor Qual und Weh – und ich sagte »Ja.«

»Und die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Dieses Bibelwort ging nicht aus meinen Gedanken.

Ich bin die Mutter, ich muß mein Kind mit heiliger Liebe lieben und darf nicht an mich denken.

*

Johannes Christiani ist ein glückseliger Bräutigam, und Rose eine ernste, strahlend schöne Braut.

Sie haben beide nur einen Gedanken, den, daß sie nun bald vereint sind vor Gott und Menschen.

Ich kenne mein Kind kaum wieder, und flüchte mich oft zu Fritz, um seine beruhigende Stimme zu hören, bei ihm ist mir am wohlsten.

Arbeit habe ich genug und das tut wohl.

Die ganze Aussteuer soll in dieser unglaublich kurzen Zeit beschafft werden, – ach und was ist sonst alles zu bedenken.

Nur von einem habe ich mich ganz frei gemacht, vom Briefelesen und -beantworten.

Ganz allein, fern und unbeirrt von den Meinungen, Vermutungen und Ratschlägen anderer muß ich meinen Weg gehen, allein mit mir und unserm Herrgott, dem ich mein Kind befehle.

Wenn Rose erst fort ist – – ich weiß nicht, was dann werden soll mit mir

*

Kerlchen! Tapfer!

Wer sprach es, wer rief es mir zu mit lieber, allbekannter Stimme?

Warst du es, mein Väterchen, dessen Bild über mir leuchtet und dessen sonst so gütige Augen mich heute mahnend anschauen?

»Ach, wie doch Mutterschmerzen so herbe sind,« – – Väterchen! Dank für die Mahnung! Ich war klein und verzagt, – lieber Gott hilf mir, lehr mich tapfer sein!

Am 31. Juli.

Heute an meinem Geburtstage hat Pfarrer Truling ihre Hände zusammengelegt und – soeben find sie nach Genua gefahren – – –

Wie ich es ausgehalten habe, ich weiß es nicht. Ich bin so ruhig, – zu ruhig, als daß mein Fritz mir erlaubt hätte, die beiden noch ein Stück Wegs zu begleiten. Wie unsere Rose vor dem Altar stand! Wie sie alle weinten, die Leute aus dem Dorfe, denen das Kind von ihrem ersten erwachenden Verständnis an nur Liebes erwiesen hatte.

Ach, – eins weiß ich. Nur weil alles so rasch und plötzlich über mich gekommen ist, kann ich den Schlag überleben, – einer langen Verlobungszeit, einem immerwährenden Wühlen in den herbsten Seelenschmerzen wäre ich nicht gewachsen gewesen.

Und eins gibt mir Trost: Es ist ein Ehrenmann, dem wir unsern Liebling gaben, Stolz und demütig zugleich sah er aus, als er im Talar neben Rose stand.

Rose, unsere kleine, süße, eben erblühte Rose im Brautgewand.

Ich konnte nicht weinen, – ach, die Tränen kommen wohl hintennach. –

Ich sah ja nur das helle Glück aus ihren Augen leuchten und noch etwas anderes daneben, etwas Gutes, Hohes, Reines, Ehrenhaftes, – den festen Entschluß, diesem Manne eine Gehilfin zu sein, ein treuer Kamerad durch alle Fährnisse des Lebens.

Als sie dann ihre Arme um mich und meinen Fritz schlang, als sie ihren Mund den Brüdern zum Kusse reichte, – war es, als sollte sie auf einmal zusammenbrechen.

Da wurde ich riesenstark.

Fast heiter sprach ich mit beiden, dann nahm ich mein Herzenskind noch einmal in sein trautes Mädchenstübchen und dort zog ich's auf meinen Schoß und küßte es wieder und wieder.

Wie einst, da mein Röslein klein war und im umhüteten Garten des Elternhauses blühte.

Was wir beiden dann allein in jener heiligen Stunde gesprochen – – das sollen nur wir beide wissen und der gütige Allwissende.

Meine Mission ist nun zu Ende für lange Zeit, – mir ist's, als hätte ich auf der weiten Gotteswelt nichts mehr zu tun.

Aber ich hatte noch ein anderes armes Menschenkind aufzurichten, das hatte sich die unnütze Qual bereitet, hinter einem Pfeiler verborgen der Trauung beizuwohnen, die ihm doch das Herz zerriß.

»Mutter, ach, Mutter!« sagte Hans-Hugo Eulried, und der liebe Name, den er sich so heiß ersehnt, und der ihm nun für immer verloren war, trat ihm mit einem Male auf die Lippen.

»Wein dich aus, Hans-Hugo! Wein dich aus!«

Lange saßen wir so beisammen, dann tat sich die Tür auf, und einer nach dem andern schlich sich herein. –

Nicht mehr »alle Neune!« – Ach – –

Sie suchten Schutz bei ihrer Muusch, die Kegel, und ich fühlte mich selbst so schutzbedürftig.

Dann kam auch mein Fritz.

Wir reichten uns erst stumm die Hand, – dann sprach er gleichgültige Worte vom Wetter, von allem Möglichen, und mit veränderter, kurzer Stimme, er wollte nicht weich sein.

»Noch eine große Sorge habe ich,« sagte er dann, »Franz Körbs ist fort.«

»Fort? Wohin?«

Er zuckte die Achseln.

»Niemand hat ihn gesehen, gleich nach der Trauung ist er verschwunden, – ich fürchte – –«

»Was fürchtest du? So sprich doch, Fritz!«

»Ich kann mich ja täuschen, – ich möchte mich täuschen, aber, – alle Spuren deuten darauf hin, daß er sich ein Leid angetan hat. – Ist er morgen nicht gefunden, so lasse ich den Parkteich absuchen, – seinen Hut und seine Jacke – – fand man am Rande.«

Ich richtete mich energisch auf.

Wie ein untrügliches Gefühl, – wie ein Befehl war's mir im Innern erklungen: »So mußt du jetzt reden und gar nicht anders!«

»Du brauchst den Teich nicht absuchen zu lassen, Fritz, – Franz Körbs liegt gewiß nicht darin, – der ist den Kindern nach, – der verläßt Rose nicht, – Gottlob, so hat sie doch einen aus der Heimat.«

Es schien ein erlösendes Wort gewesen zu sein.

Zum erstenmal seit langen Wochen lachte mein Fritz, lachte am schwersten Tage unseres Lebens.

»Du echtes Kerlchen,« sagte er, und zog mich in seine Arme. »Da läßt du dein Kind mit dem ehrenhaftesten Manne, der es über alles liebt, in die Ferne ziehen und bist gebrochen und verzagt, aber daß das Lümpchen Franz möglicherweise bei ihm sein könnte, – das tröstet dich.«

»Er ist kein Lump, das weiß ich gewiß, – und nun hat Rosel einen Schutzengel mehr

Die Dämmerung war hereingebrochen, wir saßen immer noch still beisammen.

Der Diener kam und überbrachte die eingegangenen Briefe und Telegramme.

Ich konnte sie nicht lesen, nur einen hob ich heraus, der die kindlichen, ungefügen Schriftzüge meines ältesten Freundes Krone zeigte, – er durfte heute mit bei uns sein:

»Mein teures, kleines Kerlchen!

Ich kann mir nicht helfen, heute muß ich Sie so nennen, wo ich fühle, daß Ihnen beinahe das Herz bricht, wenn Sie an das Schiff denken, das da draußen auf dem Meere schaukelt und Ihr Kind fortträgt.

Sie haben Ihren alten Schlachterfreund Krone nie verleugnet, auch wie er noch nicht in hoher Beamtenstellung als Fürstlicher Kommissionsrat war und deshalb betrachte ich mich als Ihren Allernächsten, denn Herr von Rumohr kommt nicht in Betracht, da er nicht bei Ihrer Geburt Zeuge war, wie ich.

Außerdem hat er nie Ihre Tante Laura heiraten wollen, wie ich, oder wollte sie mir? Ich werde alt, und die Geschichte verwirrt sich, aber ich betrachte mich als ihren Witwer. Ich fühl's nun ordentlich, wie arg Sie heute traurig sind, und möchte Ihnen trösten mit all meinen hohen Gaben und Überredungskünsten. Und ich lese weiter nichts jetzt als wie Unglücksfälle von Schiffen und Greueltaten von Eingeborenen, nur um Ihnen immer wieder zu sagen, »es ist nicht alles Gold, was glänzt«.

Soviel wird dabei erstunken und erlogen.

Unser Röschen das behütet der liebe Gott schon, weil Sie erstens seine Mutter sind, und zweitens ich ihn darum gütigst gebeten habe.

Auch auf den Herrn Schwiegersohn wird er wohl ein Vaterauge haben, wenngleich ich auch noch nicht einsehe, weshalb er wie ein Dieb in der Nacht in unsere Schafherde eingebrochen ist, und das Lämmchen gemaust hat.

Dafür soll er noch mal in der Hölle – i was schreib ich denn da?

Es wird noch alles schön und gut und Sie werden nach der gesetzmäßigen Zeit eine schöne und fröhliche Großmutter sein, wozu ich meine ergebensten Glückwünsche auch an den Herrn Baron richte.

Und verzeihen Sie mein Geschreibsel. Die Tränen rinnen mir heiß aus den alten Augen, und die hatten das Weinen längst verlernt.

Gott nehme uns alle in seinen Schutz und möchte das Seewasser recht ruhig sein und die Wilden sind nicht so schlimm, wie schon der Dichter sagt:

»Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen,« der muß es ja wissen.

Und gebe ich Ihnen den allerersten Kuß, den ich meintag gegeben habe, außer meiner hochseligen Alten.

In Schmerz und Anhänglichkeit

Ihr

Allergetreuster
Krone.«

 

Ende des neunten Bandes.


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