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Am andern Tag stand Gretchen Döring am Wohnstubenfenster von Oberstens Villa und blickte auf das spärliche Treiben des Straßenverkehrs. Ihr frisches Gesicht trug Tränenspuren, und zwischen den Augenbrauen stand eine tiefe Falte.
Plötzlich hielt ein Wagen vor der Tür, helle Stimmen drangen zu ihr herauf, sie sah wie der Bursche Franz aus der Villa trat und noch einige Tücher und Decken in den Wagen legte, dann öffnete sich stürmisch die Zimmertür, und Kerlchen lief herein:
»Schnell, Gretchen, wir sind fast vollzählig – oh – der Ausflug wird herrlich – aber du, Dr. Hagelberg fehlt noch – – na, was machst du denn für'n Gesicht? Gott soll mich bewahren, was ist denn los?«
»Ich kann nicht mit, Kerlchen«, sagte Gretchen gepreßt, »eben hat die Großtante geschickt, denk' dir, sie ist nicht wohl, und ich soll ihr vorlesen!«
»Aber nee, sowas,« rief Kerlchen bestürzt, »das ist ja Tierquälerei! Du hattest dich doch so auf den Ausflug gefreut und nun sollst du bei dem herrlichen Wetter bei der gestrengen Großtante sitzen?«
»Laß mich, Kerlchen, ach, du weißt nicht, wie schwer es mir heute fällt, nicht mitzufahren, aber du weißt auch nicht, wie furchtbar böse Papa sein kann, wenn wir die Großtante mal vernachlässigen.«
»Kann ich nicht dableiben, Gretchen? Sieh, um mich kümmert sich da draußen doch niemand, ich fahr nur mit, um Wald zu sehen, mit den Bäumen zu reden und Pilze zu suchen, während du? – O Gretel, was wird Dr. Hagelberg sagen?! Laß mich hierbleiben, ich thu's von Herzen gern!«
»Nein, nein, mein Liebes, auf keinen Fall! Das würde die Sache ganz schlimm machen. Ich muß das Opfer schon bringen. Und wenn du den Doktor siehst – oh Kerlchen!«
Gretchens Tränen flossen unaufhaltsam, unten knallte der Kutscher ungeduldig mit der Peitsche, und Gretchen schob Kerlchen unter vielen Liebkosungen zur Tür hinaus. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und fing aufs neue an, ungestüm zu weinen. Sie hörte dann das fröhliche Lachen der Tanzstundenmitglieder, sie hörte das lustig verstümmelte Deutsch, mit dem Monsieur Poncet das Kerlchen begrüßte und die helle, klingende Stimme der Frau Landrat von Kauffungen, welche heute die junge Schar »bemutterte« und die der zurückbleibenden Frau Oberst Schlieden noch ein paar Scherzworte zurief.
Dunkel, ganz dunkel sah es in Gretchen Döring aus.
»Oh, was würde Dr. Hagelberg sagen!«
Sie lief in das Schlafzimmer und betupfte sich hastig die Augen mit kaltem Wasser.
Großtante liebte das lange Warten nicht, das wußte sie, drum hieß es eilen, und die scharfen klugen Augen der alten Dame sahen leider immer mehr, als sie sehen sollten.
Ehe sie die Villa verließ, ging sie erst noch einmal zu Frau Oberst Schlieden.
»Recht so, Gretel, sagte diese. »Immer tapfer sein, – ach Kind, es giebt Schwereres im Leben zu überwinden, als solch eine verlorene Landpartie.«
Gretchen hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Frau Schlieden zog sie liebevoll zu sich heran.
»Ich sage dir, deine Großtante ist es wert, daß man ihr ein Opfer bringt, also Kopf hoch!, und zeige ihr ein freundliches Gesicht, paß auf, heute Abend, wenn die Landpartie heimkehrt, wirst du im Bewußtsein einer schönen Tat die fröhlichste von allen sein!«
Gretchen küßte die Hand ihrer gütigen Pflegemutter und ging. Ihr Weg war nicht weit, sie hatte bald das weinumrankte Haus erreicht, in dem die Großtante ihr still beschauliches Dasein führte.
Der alte Diener Friedrich öffnete die Pforte und nickte ihr freundlich zu.
»Das ist mal schön, Fräulein Gretchen,« sagte er, »s' ist immer wie Sonnenschein im alten Hause, wenn Sie, oder das Kerlchen kommen!«
Grete lachte.
»Heut tut wohl der Sonnenschein besonders not,« fragte sie neckend, »Großtantchen plagt das Zipperlein?«
Friedrich kraute sich hinter dem Ohr.
»Schlimm, schlimm, Fräulein Gretchen, und nu will die Gnädige barduh vorgelesen haben. Ich kanns aber nich mit die schwachen Augen, die lesen nur noch die großen Buchstaben in die Bibel und ins Traumbuch –, und die alte Lene, – du liebe Zeit, die hat überhaupt nie lesen gelernt.«
Jetzt erschien auch Jungfer Lene. »Nur herein, Fräuleinchen, die Frau Tante warten schon.«
Das klang mürrisch, aber doch flog über ihr faltiges Gesicht ein Lächeln, als sie in das frische Gesicht des Mädchens sah.
Drinnen im Wohnzimmer saß die Frau Präsident Döring auf dem Sofa, ihr rechter Fuß ruhte fest umwickelt auf einem Schemel.
»Guten Tag, Herzenskind,« rief sie mit einer trotz ihres Alters kräftigen Stimme. »Na? Ohne Leichenbittermiene? Ich erwartete etwas dergleichen; denn Lene erzählte mir von deiner aufgegebenen Landpartie.«
»Oh Tante –«
»Still, Kind, wenn ich das eher gewußt hätte, wäre ich lieber allein geblieben, denn du wirst heute schlechte Gesellschaft für eine alte Frau sein. Doch nun setz' dich und trinke ein Täßchen Kaffee.«
»Du fühlst dich heute nicht wohl, Großtante?« fragte Gretchen.
»I, die Gicht treibt ihr Spiel in meinem rechtem Fuße, daß ich manchmal schreien möchte. Habe eben zum alten Medizinalrat geschickt, denn Doktor Hagelberg ist ja auch mit dem Tanzkränzchen fort. Hätte den Mann auch für gescheiter gehalten, als daß er Gefallen daran finden könnte, mit den Backfischen, »Reifchen« und »Bock, schiele nicht« zu spielen.«
Grete wurde rot. »Er spielt fast nie mit, er hält sich immer zu den älteren Herren,« sagte sie, wie entschuldigend.
»Na, da kann er auch nur lernen,« war die Antwort. »Wenn du fertig bist, Grete, liest du mir wohl ein bißchen vor; Friedrich hat mir den »Trompeter von Säkkingen« aus der Buchhandlung geholt. Ich liebe zwar das neumodische Zeug nicht, aber dies soll ja ein Grillenvertreiber sein.«
Grete trank hastig ihren Kaffee; es wurde ihr nach und nach leichter ums Herz. Das ließ sich ja heute alles ganz nett an. Bei der Großtante war's doch recht gemütlich, und der »Trompeter« doch etwas anderes, als die ewige »Henriette Paalzow.«
Sie schlug das Buch auf und fing an zu lesen.
Anfangs ging es fließend und gut, bald aber verwirrten sich ihre Gedanken und fingen an zu wandern; sie achtete nicht mehr auf Werner und Margarete, sie sah Doktor Hagelberg neben Kerlchen stehen und hörte seine klangvolle Stimme: »Ich sehe Fräulein Döring nicht, warum ist sie nicht hier?«
»Kind,« sagte da die Stimme der alten Dame, »steht das verkehrte Zeug wirklich in dem Buche?«
Grete fuhr zusammen. »Tantchen – ich – ich bin ein bißchen zerstreut!«
»Ja, ein bißchen sehr! – Komm mal her, Kleine, du bist schon seit einiger Zeit so – zerstreut, bald in Tränen, bald ausgelassen lustig – was giebt's?«
Grete blickte auf. Heute zum erstenmal bemerkte sie, daß es ein paar unendlich gute Augen waren, die aus dem sonst so strengen Antlitz der Tante sahen.
Einen Augenblick zögerte das Mädchen, dann schlang sie ihre Arme um den Hals der Großtante.
»Ich habe ihn so lieb,« flüsterte sie leise und drückte den blonden Kopf noch fester an die Schulter der Alten.
Nun kam die Beichte.
Schon als Kind habe sie den schmucken Studenten gern gehabt, aber der habe sich nie um sie gekümmert, und erst jetzt, seit er sich als Arzt hier niedergelassen, glaube sie, daß sie ihm nicht gleichgültig sei. Und gestern beim Ball, als sie im Saale herumgewandert seien, habe er so liebe, gute Worte geredet – ach – sie hatte geglaubt, heute auf der Landpartie würde er – – – und nun sei es nichts.
»Nun sieh einmal in die Höhe, Kind, und laß dich ordentlich anschauen,« sagte die Großtante. »Also der Hagelberg! – Nun, einen schlechten Geschmack hast du nicht! Es ist eine brave Haut, das liegt im Blute – ich habe ja seinen Großvater und Vater noch gekannt. Ich möchte dir gerne helfen, kleine Maus, aber wie soll ich erfahren, ob der Doktor just die Grete Döring zur Frau Doktorin haben will? Der Hagelberg ist ein verschlossener Mensch; er wird der Alten nicht auf die Nase binden, was er der Jungen verschwiegen. – Doch, Kind, da scheint mein alter Medizinalrat zu kommen, geh, hole uns eine Flasche Wein, das ist er so gewöhnt.«
Grete schlüpfte hinaus, kaum aber hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als sie wie angewurzelt stehen blieb.
Im Nebenzimmer war auch jemand eingetreten, und sie hörte den Ausruf der Tante: »Plagt Sie der Kuckuck, Doktor, ich denke, Sie sind auf der Landpartie?«
Und eine liebe, wohlbekannte Stimme antwortete: »Ich wollte wohl, verehrte Frau, aber ich wurde zu einem Kranken gerufen, just als ich in den Wagen stieg. Nun ist mir ihr dienstbarer Geist in die Hände gelaufen; der alte Medizinalrat ist selbst krank und liegt zu Bette.«
»So? Na die jungen Damen werden Sie schön vermissen.«
»Das glaube ich kaum,« sagte er achselzuckend, »ich bin kein Salonheld, aber ich kann nicht leugnen, daß ich heute sehr gern mit dabei gewesen wäre«
»Hm, hm! Doktor, denken Sie bloß, ich hatte mir heute, als ich merkte, daß mich der Fuß zum Stillsitzen verdammte, meine Nichte zum Vorlesen bestellt; – ich hatte ja keine Ahnung von dem Ausflug des Kränzchens – und wirklich, das gute Kind kommt, läßt alles im Stiche um meinetwillen, aber ich höre denn doch von ihr, daß auch sie – sehr, sehr gern mit dabei gewesen wäre.«
»Fräulein Grete ist hier?!«
Das junge Mädchen hörte den jubelnden Ausruf, sie preßte die Hand auf das klopfende Herz, dann öffnete sie die Thür.
Doktor Hagelberg streckte ihr beide Hände entgegen. »Welche Überraschung!« rief er. »Oh Fräulein Grete, daß Sie heute hier sind, ist so lieb und gut von Ihnen!«
Sie wehrte errötend ab.
»Doch, doch«, sagte er. »Ein langgeplantes Vergnügen aufgeben, weil man m u ß, weil der Beruf es fordert, das ist nichts; aber wenn ein lebensfrisches Mädchen dem entsagt, um eine alte kränkliche Tante zu pflegen –«
»Ich bitte mir sehr aus«, schalt die Tante, »daß Sie mich nicht gar zu hinfällig schildern.«
Alle lachten herzlich.
»Wissen Sie auch, Fräulein Grete, daß ich nach den heutigen Erfahrungen einen Beruf für Sie weiß?« fragte der Doktor.
Sie blickte ihn betroffen an. »Nun?«
Er lachte. »Oh nein, ich sage es Ihnen noch nicht, – jetzt noch nicht«, setzte er leiser hinzu.
»Doktor, wie kommen Sie mir nur vor«, rief die alte Dame. »Ich kenne Sie ja gar nicht, so lustig. Na immerzu, aber nachher halten Sie einmal Rücksprache mit dem Patienten da.« Sie zeigte auf ihren kranken Fuß.
»Ich bin ein ganz schlechter Mensch, verehrte Frau,« sagte Doktor Hagelberg, und sein Blick streifte die erglühende Grete – »ich bin so unendlich glücklich, daß Sie gerade heute nach dem Arzt verlangen mußten«.
»I, da hört aber doch alles auf; was für eine Strafe verdient der Bösewicht, Grete?«
»Er muß uns den »Trompeter« weiter vorlesen«, lachte diese.
»Nein, das ist viel zu milde gedacht«, sagte die Tante. »Da weiß ich besseren Rat. Doktor Hagelberg klappert seine Patienten ab, die Grete schicken wir nach Hause und lassen Oberstens durch sie bitten, heute Abend bei mir zu speisen, so trefft ihr euch alle gemütlich in meiner Burg, und Gretel wird durch einen schönen Pudding für ihr Landpartieopfer belohnt. Das ist dir doch das Liebste?« schloß Frau Präsident Döring neckend.
Grete hatte schon ihren Hut geholt. In ihrem Herzen jubelte und sang es, schöner als alle Vögel zusammen draußen im Walde, wo sich jetzt die Landpartie lagerte, schöner als all die frischen Mädchenstimmen, die vielleicht gerade jetzt ein gemeinsames Lied anstimmten.
Als Grete dem jungen Arzte die Hand zum Abschied reichte, hielt er sie fest.
»Darf ich heute Abend noch mal bei Oberstens vorsprechen«, fragte er leise und eindringlich...»Ich muß nämlich unbedingt nach Frau Schlieden sehen« – wie er spitzbübisch aussehen konnte, der Doktor – »werden Sie dann zu Hause sein, Fräulein Gretchen?« setzte er ernster hinzu.
Sie nickte. Ihre Augen begegneten sich, dann machte sich Gretchen los und enteilte ohne Abschiedsworte.
Gott Lob und Dank, der Oberst und seine Frau waren gleich bereit, einen gemütlichen Abend bei der befreundeten alten Dame zuzubringen. Diese hatte, nach des Obersten Meinung, nicht nur einen reichen Schatz von Erlebnissen in sich selbst, sondern auch einen Reichtum an guten, alten Tropfen in ihrem Keller, und es freute die lebhafte alte Dame immer sichtlich, wenn der gewiegte Kenner einer staubumhüllten Flasche den Garaus machte und den Inhalt mit »Verstand« trank.
Übrigens war die Freude gegenseitig.
Nun saß Gretchen in ihrem Zimmerchen und träumte. Während sie ein weißes Kleid anzog und sich so hübsch wie möglich machte, gaukelten die lieblichsten Zukunftsbilder vor ihrem Auge, – »ach Gott, so ein lieber, entzückender Mensch, – die prachtvolle Praxis – was werden bloß die Eltern sagen – und alle – ach ich bin ja zu glücklich – das Doktorhaus muß aber neu angestrichen werden – hellgrau oder weiß – nee, das ist zu unpraktisch – ach lieber Gott, ich bin so glücklich!«
Das eben so stürmisch, wie es fortgeeilt, auch heimkehrende Kerlchen fand ihre Freundin merkwürdigerweise in glückseligster Stimmung. Es hatte über die verlorene Landpartie trösten wollen und sah in ein strahlendes Gesicht, konnte sich auch nicht genug wundern über den »Staat«, den Gretchen noch zu »nachtschlafender Zeit« angelegt hatte. Außerdem tanzte Grete sofort nach Kerlchens Ankunft mit diesem im Zimmer herum und gebärdete sich, wie Kerlchen meinte, einfach »übergeschnappt«.
»Ach du Dummes, du Dümmsert!« rief Gretchen immer wieder dazwischen, »Du weißt ja von garnichts! Kerlchen, Kerlchen, sieh mich doch nur an, ich hab ihn ja gesehen, gesprochen, gleich kommt er und – will – ach Kerlchen!«
Fee machte nicht gerade das gescheiteste Gesicht, begriff aber doch rasch, daß mit »ihn« und »er« der Doktor Hagelberg gemeint sei, und daß da vor ihr so etwas ähnliches, wie eine Braut stünde.
»Grete, ist's Spaß oder Ernst?« fragte Kerlchen endlich.
»Ernst!« rief Grete jubelnd.
»Na, da muß ich doch wohl eintreten,« sagte Doktor Ernst Hagelberg durch die geöffnete Tür.
»So schön hat mich noch niemand gerufen.« Er ging auf die erschrockenen Mädchen zu.
»Verzeihung, meine Damen, – draußen ist niemand, der mich anmelden konnte, ich ging den Stimmen nach und – da bin ich.«
Kerlchen gab ihm nicht einmal die Hand, sondern lief einfach hinaus, viel bestürzter, als Gretchen es war, und ganz rot und verlegen. »Nein, aber die Gretel!«
Der Doktor hatte aber einfach beide Hände des jungen Mädchens erfaßt und sie dicht zu sich herangezogen.
»Fräulein Gretchen, mir bleibt nicht viel Zeit übrig. Gleich jetzt muß ich Ihnen sagen, welchen Beruf ich für Sie im Auge habe. Wollen Sie mich hören? Als mir Ihre Großtante heute Ihre heldenmütige Entsagung schilderte, und ich Sie so liebreich um die Kranke bemüht sah, da dachte ich: oh, wie gut paßt Klein-Gretchen doch zur Doktorsfrau – nein, nicht fortlaufen – sieh mich an, Grete, – gelt, du bist mir gut?!«
»Ernst, lieber, lieber Ernst!«
Sie ruhte an seinem Herzen, von seinem Arm umschlungen.
»Aber Du weißt garnicht die volle Wahrheit,« sagte sie endlich etwas kleinlaut. »Ich wollte garnicht zur Tante, nein, durchaus nicht, und habe so viel geweint, weil ich nicht mit den andern fahren durfte, aber Papa hatte es streng verboten.«
»Ei, da bin ich ja ganz falsch berichtet«, lachte der Doktor, »da bist du am Ende gar nicht gern barmherzige Samariterin?«
»O doch, Ernst, sieh – ich glaubte nur, du würdest auf der Landpartie sein – und – –«
Er küßte sie herzlich. »Du brauchst dich nicht zu verteidigen, Liebling, ich kenne meine Grete!«
Der Oberst und seine Gattin waren nicht wenig überrascht, als das neue Brautpaar sich vorstellte.
»Wir hätten dich gern noch länger bei uns behalten, kleines Gretel,« sagte Oberst Schlieden zum Bräutchen, »aber jetzt werden dich deine Eltern im Sturmschritt verlangen, und im Sturmschritt soll ein Telegramm zu ihnen gelangen:
»Bin unartig gewesen und habe mich mit einem wildfremden Menschen verlobt.«
»Soll ich so schreiben, Gretel?«
*
Aus Kerlchens Tagebuch.
Nun habe ich eigentlich niemand mehr so recht, mit dem ich briefwechseln kann, und das tat ich doch immer so besonders gern. Die meisten Leute sind schreibfaul auf die Welt gekommen, und die andern verloben sich. In diesem Zustand ist aber nichts und nichts mit ihnen anzufangen. Das sehe ich so recht an Gretchen Döring und Ada Lölhöffel. Die muß auch verlobt sein, obgleich sie erst so alt ist wie ich, aber in jedem Briefe schreibt sie irgend etwas von einem »süßen Max«, heute nennt sie ihn allerdings in ihrer Zerstreutheit »Arthur«, – ach ich werde garnicht mehr klug aus ihr und aus Gretchen auch nicht.
Ich möchte ihre Briefe garnicht mehr lesen.
Sie kann die Zeit nicht erwarten, bis sie zum Doktor Hagelberg kommt, und sie hat doch ein schönes Vaterhaus! Aber die Eltern freuen sich gerade so. Dann heißt sie Grete Hagelberg, und das macht ihr kein bißchen Kummer.
Ohhh! Wenn ich dächte! – Ohhh! Wenn mich jemand von Papa wegholen wollte! Wenn er mich dann z. B. plötzlich »Felicitas Schlumpumprich« nennen müßte! Aber ob nun »Schlumpumprich«, oder »Felicitas von Rabenstein-Geierhorst-Lilienfels-Strumberg-Hocheck«, es ist mir Wurscht, – »Schlieden« ist der schönste Name! Wenn ich aber andern so was sage, dann lachen sie, nennen mich »Grübelgroßmutter« und verstehen mich einfach nicht.
Dabei wissen sie doch sicher ebensoviel wie ich – – –ach, – – wissen doch gewiß, wie schwer das Leben ist; es wird einem ja zu viel Schönes, Liebes, Heiliges weggenommen!
Mein Muusch ist ein Engel! Ich hab's ja schon immer gewußt, aber ich merk' es immer mehr und mehr.
Wir sind jetzt wie ein paar richtige Kameraden, mein Herzensvater ist ja so viel fort, Fürst Li will ihn immer um sich haben, und der ist so ruhelos. Da sitzen Muusch und ich des Abends immer zusammen und plaudern, ich hab entsetzlich viel gefragt und nicht locker gelassen, bis Muusch mir in ihrer zarten, sanften Art eine Menge erklärt hatte, – ach lieber Gott – ich hab' ja nicht alles begriffen, aber doch so viel, daß ich wollt', ich hätte nie gefragt, wäre noch das winzig, kleine Kerlchen von einst – –
Erich war auch auf Urlaub hier. Er ist aber längst nicht mehr mein lustiger, lieber, großer Bruder. Ob er wohl zu viel arbeitet?
Sein Oberst, bei dem er Adjutant ist, schreibt immer ganz begeisterte Briefe an Papa, »er wünschte, sein eigener Filius schlüge solche Bahnen ein, wie Leutnant Erich Schlieden.« Muusch lächelt still vor sich hin beim Lesen solcher Worte, von denen sie nicht genug bekommen kann, sie sieht Erichs Hosen im Geiste schon nicht mehr mit der schmalen Biese, sondern mit karmoisinvergnügten Streifen.
Aber Erich lachte garnicht so herzensfroh, wie früher, wenn wir ihn mit dem Generalstab neckten, er hat so ernste Augen bekommen – was kann es nur sein? Wenn ich in ihn dringe, dann lenkt er schnell ab, – ich habe schon gemeint, es könne ein Zerwürfnis mit dem Fürsten sein, aber die beiden haben sich ja nicht mal als Jungens gezankt, die waren ja immer die »Inséparables«.
Auch über Neid und Scheelsucht der Hofmenschen ärgert sich Erich nicht. »Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten«, sagte er neulich und ich verstand ihn so gut, – unser lieber Li giebt uns ja so sehr viel Licht!
Fürst Elimar weiß, daß er sehr krank ist, aber er ahnt nicht, daß er nie, nie wieder gesund werden kann. –
Oh, es ist so traurig, daß man nur gleich losweinen möchte und nie mehr aufhören damit!
Aber auch das kann nicht so schwer auf meinem Erich lasten. Wenn ich ihm doch helfen könnte! In Muusch's Gegenwart ist er immer heiter und so zärtlich mit ihr, als sei er ein Vater, und sie sein kleines, süßes Wickelkindchen.
Wir haben viel Ausflüge in die Umgegend gemacht, während Erich da war. Was sind wir aber auch für Fußgänger! Zehn Stunden tun mir nichts, aber so weit gings natürlich nicht immer. Wir haben drei Stunden von uns mitten im Walde ein kleines Jagdhaus, das dem Fürsten gehört, es liegt aber ganz verlassen und ziemlich verfallen, doch nirgends giebt es so prächtige Tannen, so große, prächtige Buchen – ach, und Plätzchen, tief versteckt im Walde, und auch solche, von denen man weit hinaus schauen kann ins Thüringer Land.
Nach diesem Jagdschlößchen sind wir viel gewandert, manchmal eine große, lustige Gesellschaft, gewöhnlich aber nur Emmy Hassee und ich, bis Erich kam und uns begleitete. Wir haben uns sehr lieb gewonnen, Emmy und ich, wenn sie auch viel sanfter, klüger und besser ist, als ich. Es ist ein Jahr her, daß wir uns in der Edeltanne kennen lernten. Sie macht nun bald ihr Lehrerinnenexamen, das sie dann von ihrer schrecklichen Tante Kalkulator erlöst, bei der sie die Hölle hat.
Emmy Hassee wird immer lieblicher und schöner, das findet jeder in Schwarzhausen, und wenn Erich, Emmy und ich so zusammen sitzen am Waldesrand und uns erzählen und besprechen, dann merke ich wohl, wie gut Emmy ihn versteht und wie sie ihn auch so schön und sanft zu beruhigen weiß, wenn er mal so wilde Anfälle bekommt und von »Uniform ausziehen« redet. Himmel! Ich renne dann immer gleich fort, denn ich kann so etwas nicht hören, und noch viel weniger begreifen.
Manchmal hatte Erich auch wieder ganz liebe, übermütige Stunden, erzählte die lustigsten Geschichten aus seiner Garnison, neckte Emmy mit dem Fürsten und dem Strauß, den dieser ihr im vorigen Jahr gebracht, und dazwischen musizierte er ganz meisterhaft auf einer Flöte, die er sich zugelegt, um »gegen Fritz von Rumohr und Kerlchen« nicht zu sehr abzustechen, wie er sagt, in Wahrheit aber spielt er besser, als Fritz und ich zusammen. Waren wir dann ganz fidel geworden, so machte er sämtliche Tierstimmen nach und redete schließlich sogar »Bauch«, so daß wir aus dem Lachen garnicht herauskamen. Aber dann wars mit einem Male, als zöge ein Schleier über all unsere Fröhlichkeit und plötzlich konnte Erich ganz bitter sagen: »Na, schließlich kommt man ja immer noch bei einer Specialitätenbühne an.« Da sah ich ihn nur erschrocken an, aber Emmy Hassee hatte die Augen voll Tränen.
Mir ist alles wie ein großes Rätsel!
Unser liebes Nestchen fliegt schon wieder einmal auseinander.
Fürst Li soll nach dem Süden und hat Papa ganz flehentlich gebeten, bei ihm zu bleiben. Mama soll ihn begleiten, was ihrer überaus zarten Gesundheit auch sehr gut ist, – aber ich? – Ich habe so gebittelt, gebettelt und gefleht – ja ich habe sogar ein ganz klein bißchen sanft mit dem Fuße gestampft, – zum ersten Mal seit meinem Vorsatz, vernünftig zu werden, – ich habe an den Fürsten Li geschrieben, der sich doch gewiß riesenstaudenhaft freuen würde, wenn ich mitkäme, aber Papa hat den Brief in den Ofen gesteckt, ehe der Fürst ihn zu Gesicht bekam. Ohhh!
Obiger Zwischenraum ist mit Zähneknirschen, Augenrollen und Wutstränen ausgefüllt. – Papa trat zwischendurch mal in mein Zimmer und suchte mich zu bereden, den Spruch: »Sanftmut ist die Zierde eines Weibes« in Frakturschrift dreißigmal aufzuschreiben, aber ich bin nicht über das erste »S« hinausgekommen.
Schließlich lief ich zu Meister Johannsen. Der würde mich doch nicht im Stiche lassen, meinte ich, der müßte fühlen, wie es in mir aussieht, denn wir sind doch zwei eng verbundene Musikantenseelen.
Aber nein! Er verbindet sich mit Papa. Ich soll aufs Land, soll mal, wenns möglich ist, ein halbes Jahr keine Taste anrühren, tüchtig im Hause umherschanzen und Wald- und Wiesenluft atmen.
»Johann Sebastian Bach und Mozart und Beethoven brächten mich sonst noch um«, sagt Johannsen, – aus dem Grabe heraus, aus »dem Reiche der Schatten.« – –
Ohhh, so schlimm ists nicht!
Das bißchen schnelle Wachsen!
Na ja und ein bißchen viel geübt habe ich, und wie Meister Johannsen sagt, »zu große Augen bekommen,« – –
Dafür werden aber andere Leute noch lange nicht in die Verbannung geschickt.
Übrigens ist bei näherem Nachdenken meine Verbannung gar nicht so schlimm, zu Väterchens Bruder und Schwägerin soll ich, Onkel Waldemar und Tante Hedwig Schlieden nach Buchenwalde. Das Rittergut liegt in Schleswig-Holstein und soll riesengroß und einträglich sein, ein wunderschönes Herrenhaus haben und in den Ställen alles, was ein Menschenherz begehrt.
Aber gesund und stark werden kann ich doch nimmermehr ohne meinen Herzensvater.
*
Buchenwalde im September.
Der Abschied ist vorbei, ich sitze im Oberstübchen des Herrenhauses Schlieden und sollte »von Gottes und Rechtswegen urfidel sein«, wie meine jüngste Cousine Carla sagt.
Ich aber sehe immerfort den Bahnsteig von Schwarzhausen vor mir, als ich mein zartes, kleines Muusch und meinen großen, lieben Vater zum Zuge brachte, der sie fort nach dem Süden trug. Ich weinte so fassungslos an Vaters Brust, daß er wohl gar nicht wußte, was er mit mir anfangen sollte – –
»Kerlchen! Aber mein Kerlchen!« Das sagte er immer und immer wieder.
Dann gellte der Pfiff der Lokomotive, er zerriß mir mein Herz, und wie sich mein Zug in Bewegung setzte, schrie ich laut auf:
»Papa, ach Papa, bleib bei mir!«
Dorette und Johann führten mich zurück, es mag wohl manch Einer über unsern trübseligen Zug gelacht haben, denn Dorette hatte mich rechts und Johann links eingehakt, und beide redeten laut und vernehmlich auf mich ein.
Zu Hause war erst recht nichts mit mir anzufangen, ich warf mich auf den Teppich und tobte mich aus, oh, wie mein Herz weh tat! Wie lange ich so gelegen, weiß ich gar nicht, aber plötzlich ging die Tür auf, und ich sah durch einen Tränenschleier Meister Johannsen.
Das verblüffte mich denn doch so, daß ich aufsprang, er sollte ja seit Menschengedenken nicht aus seiner Wohnung gegangen sein.
Meister Johannsen sah mich durchdringend an und sagte dann mit seltsam zitternder Stimme:
»Wer Musik in sich hat und vertraut ihr nichtsein Herzeleid an, der ist nicht wert, daß ihn die Sonne bescheint.«
Damit schlug er einfach Mamas Flügel auf, setzte sich davor und – – – – ach, was soll ich sagen, wie er spielte, man kann es ja doch nicht beschreiben, man kann so etwas nur fühlen.
Ich wurde wirklich ruhig, ganz ruhig und dann küßte ich seine alte, welke Hand, und wie er ging, ohne ein Wort weiter mit mir gesprochen zu haben, da trat ich ans Fenster und sah ihm nach, bis sein altmodischer Rock um die Ecke verschwunden war.
Dann spielte ich auf dem Flügel, bis ich das letzte Restchen Heimweh ganz und gar niedergekämpft hatte.
»Musik du Mächtige! Vor dir entschwindet
Der armen Sprache ausdruckvollstes Wort,
Wozu auch sagen, was das Herz empfindet,
Tönt doch in dir die ganze Seele fort.«
Und nun bin ich hier. Haus Buchenwalde ist wirklich ein prächtiges Gebäude, man könnte es gut »Schloß« nennen, und Tante tut es auch, schon weil sie eine geborene »Freiin Moltke« ist.
»Die Natur spielt wunderbar«, sagte Onkel Schlieden gleich am ersten Tage zu mir: »Moltke heißt sie, aber Reden hält sie – da is das Ende von weg!«
Und dann lachten alle schallend los.
Überhaupt so was von Lachen hier!
Ich glaube doch, daß man davon gesund werden kann. Onkel hat so ein tiefes, gemütliches, dröhnendes Lachen, Tante Hedwig meckert fröhlich wie ein Zickelchen, und die Cousinen »brüllen grad naus«, wie Carla sich poetisch ausdrückt. Carla ist die Jüngste, zwanzig Jahr alt, Paula ist zweiundzwanzig, und Henny, die Älteste, vierundzwanzig.
Diese Namen stehen aber nur im Taufschein, im gewöhnlichen Leben nennen sie sich »Munke«, »Bümi« und »»Luttewete«, wollten mir auch erklären weshalb, aber sie kamen vor schallendem Lachen nicht weiter, und so ists mir unverständlich geblieben. Es ist eine »schöne« Familie, die Schliedens aus Buchenwalde. Der Onkel riesengroß mit stattlichem, langem Bart, den er sanft streichelt, wenn er vergnügt ist, und unheimlich durcheinander wühlt, wenn er sich ärgert. Die Tante ist beinahe ebenso groß und aristokratisch dünn, sie hat ein entzückend feines Gesicht, das von dunkelblondem Haar eingerahmt ist. Die Cousinen heißen die »Walküren« in der Umgegend, sie sind alle groß und blond mit blauen Augen und der echten Schliedenschen »Grotsnuut«. Man könnte die drei beinahe verwechseln, so ähnlich sehen sie sich.
Die erste Begrüßung fiel schon sehr närrisch aus. Onkel und die drei Cousinen holten mich von der Station in einem netten Jagdwagen ab, »Munke« hatte kutschiert und kurz vor dem Bahnhof einmal umgeworfen, aber trotz ein paar Beulen und Hautschürfungen kamen alle strahlend und lachend auf mich zu.
»Über sowas machen wir keinen Sums«, berichtete »Luttewete«, denn »Munke« wirft uns stets um.«
Dann küßten sie mich alle rundum ab, was eine fürchterliche Angewohnheit von ihnen ist, Munke rief: »Morjen, Kamerad« und legte die Hand an ihre kleine Kutschermütze, Bümi schrie: »Oha, oha, wat forn lüttger Katteiker!«
Henny tründelte mit mir herum und sagte: »Dich wolln wir rausfuttern«, Onkel hob mich hoch in die Höhe, als ob ich ein kleines Kind wäre, und äußerte sich bloß: »Donnerwetter!« Mit Tante war die Begrüßung schon umständlicher. Sie stand am Herrenhause und wirklich, sie redete und redete, ich hab sowas noch nie gehört.
Dann kam aber Onkel, gab ihr einen liebevollen Puff und rief: »Stopp!« worauf sie schnell abbrach, alle tosend lachten, und Tante am fröhlichsten mit meckerte.
Dann führten sie mich feierlich ins Oberstübchen, das mit frischem Grün und bunten Guirlanden reizend geschmückt war.
Dieses Oberstübchen bildete nun wieder die Quelle nicht endenwollenden Lachens.
»Oh, oh, oh, Kerlchen will ihr Oberstübchen aufräumen«, oder:
»Bei uns ists nicht richtig im Oberstübchen, Kerlchen haust drin«.
»Wir haben alle unsere Freier durch unser fideles Lachen verscheucht,« erklärte mir Carla seelenheiter, und nun warten wir, bis mal der Himmel drei eben solch vergnügte Kerle schickt wie wir sind.«
Ja, vergnügte Kerle sind sie! Ihre Mutter nennen sie die »Olsch«, ihren Vater »das Jüngschen«.
Mir steht manchmal der Mund offen vor Staunen, wie sie mit ihren Eltern umspringen.
Heute beim Kaffeetisch sagte ..Munke«, die Älteste, zu ihrer Mutter: »Oha, oha Olsch, wie siehst du ut, hest di all wedder en Placken upt Kleed makt, – t'is nich utohollen mit di, ik mutt di woll mal wedder 'ne Jack vull gewen«.
Da sprang Tante Hedwig schnell auf und fing an. auf Munke loszuprügeln, bis eine allgemeine große Keilerei entstand.
Zuerst blieb ich etwas abseits, aber als ich merkte, daß ich von Püffen nicht verschont blieb, keilte ich feste mit und wurde durch die Cousinchen ermuntert:
»Hau die Olsch, feste, feste! Rut mit de Olsch.«
»Runner mit dat Jüngschen!«
Es war ein Hallo! Und dann holten sie ihre arg zerzauste Mama wieder herein, glätteten sie und küßten sie zärtlich.
Abends wird vorgelesen, gewöhnlich Reuter, den ich ja kenne, oder Klaus Groth, den ich noch nicht kannte.
Auch musiziert wird viel, das heißt, es werden Volkslieder gesungen und Tänze gespielt, wobei das altersschwache Spinett beinahe in Stücke geschlagen wird.
Besuch kommt immer eine Menge, aber dann ists lange nicht so lustig, als wenn wir allein sind. Sonntags gleich nach der Kirche essen der Pfarrer mit seiner Frau und der Lehrer, der zugleich Organist ist, mit bei uns, darauf freue ich mich schon immer die ganze Woche.
Der Pfarrer Jürgensen paßt so recht zu meinen Verwandten, er ist auch immer vergnügt und seine runde, kleine Frau ebenfalls.
Der Lehrer, Herr Helsa, dagegen ist ein ernster stiller Mensch, aber er sitzt gerade so voll Musik wie Meister Johannsen und ich.
Ich merkte es gleich beim ersten Kirchgang, – so hab ich noch nie die Orgel spielen hören, es waren nicht nur die alten Präludien, die man sonntäglich immer wieder hört, – er phantasierte so aus dem Herzen heraus und dann wob er alte Volkslieder mit hinein, was aber niemand in der ganzen Versammlung merkte, nur der Herr Pfarrer drohte ihm nachher mit dem Finger und sagte gemütlich:
»Na, ist die heilige Cäcilie wieder mal mit Ihnen durchgegangen?«
Da wurde er glühend rot, und die ganze Gesellschaft lachte schallend.
Nach Tisch wird des Sonntags immer musiziert, jeder giebt sein Bestes und – wie Onkel sagt:
»Ein Schelm giebt mehr als er hat.«
Ich muß immer den Reigen mit einer Beethovenschen Sonate oder einer Bachschen Fuge einleiten, dann setzt sich Herr Helsa in meine Nähe und ist ganz versunken in die herrliche Musik. Dann wollt' ich immer, ich könnte noch viel besser spielen – sie thun hier, als sei ich eine gottbegnadete Künstlerin, – du liebe Zeit, wie weit ab bin ich noch davon.
Haben Beethoven und Bach ausgeklungen, dann holt sofort Onkel seine Akkordzither, lacht dröhnend und sagt: »Oho, unsere Musik ist auch nicht von Pappe.«
Nun knippst er das Vorspiel zu einem Ländler und singt dazu:
»Mien Vadder is im Zuchthaus
Mien Bruder hat g'stohlen
Mien Mudder is a da
Un mi werdens bald holen.
Zum holla de ria hahaha!«
Dies Lied hat mindestens zwanzig Verse und wenn sie alle gesungen sind, werden andere dazu gedichtet, z. B.
»Unser Herr Helsa is der Musika hold
Er singt auch a Liedel, wenn'r Buben versohlt.
Zum holla de ria hahaha!«
Aus dem letzten vorgeschriebenen Lachen wird dann aber immer ein lautes, natürliches, echt Schliedensches, und der Pfarrer lacht am meisten.
Das verdenkt ihm auch hier niemand. Seine Bauern sagen, »Dat Lachen is gesund, un uns' HErrgott will, dat wi g'sund bliwen, drum mutt uns' Herr Pastor erst recht un tauirst för sorgen.«
Nach der Akkordzither kommt Tante Hedwig, setzt sich ans Spinett, spielt lum tata, lum tata und singt dazu: »Bald gras' ich am Neckar, bald gras' ich am Rhein,« was furchtbar komisch klingt, wenn man weiß, daß Tantchen nie aus Buchenwalde herausgekommen ist.
Nach diesem musikalischen Genusse setzen sich Munke und Bümi ans Klavier und spielen den Dessauermarsch »vierbeinig«, wie Onkel sagt, denn ihre Füße sind teils auf dem Pedal, teils trampeln sie den Takt, und zu diesem Ohrenschmaus schlägt die gänzlich unmusikalische Luttewete mit zwei Blechdeckeln gegen einander.
Ist der ganze Lärm vorbei, dann tritt Herr Helsa ans Spinettchen und singt mit einem ganz wunderbar schönen Tenor:
»Lat mi gahn, mien Moder slöppt,
Lat mi gahn, de Wächter röppt,
Hör! wo schallt dat still un schön,
Gah un lat mi smuck alleen.«
Das klingt so warm und voll ins Herz hinein.
Zum Schluß wird dann noch ein Allgemeines gesungen, und da hab' ich denn zum erstenmal gehört, daß ich eine ganz wunderschöne Stimme haben soll.
Oh, ich hab sie tüchtig ausgelacht, aber Herr Helsa wurde ganz begeistert und bat mich, wie um eine große Gunst, daß ich ihm erlauben möchte, mich zu unterrichten. Er selbst ist im Gesang in Berlin ausgebildet worden und hat dort in dem großen Lehrergesangverein immer die Soli übernommen.
Ich war natürlich sofort bereit, aber die Cousinen scheinen es nicht gern zu sehen – na, ich kann mich auch irren – ich wüßt auch wahrlich keinen Grund. – – – –
Eine herrlich schöne Nachricht! Fritz von Rumohr hat das Staatsexamen bestanden! Himmel, wie ich mich freue! Und so ein lieber Brief ist's, der die Nachricht brachte:
*
»Mein liebes Kerlchen!
Durch! Glücklich durch! Gelt, ein schönes, erfreuliches Wort? Ich wäre am liebsten zu Dir geeilt, das heißt, wenn Du noch in Schwarzhausen wohntest, nach Buchenwalde reichen die Moneten nicht, ich hätte so gern von Deinen lachenden Blauaugen meinen ersten Glückwunsch bekommen. Übrigens bitte ich mir energisch aus, Fräulein Sonnenscheinchen, daß Du noch lachende Blauaugen hast, – Deine Briefchen sind verteufelt ernsthaft –Kerlchen, Du wirst doch nicht etwa vernünftig? Tu mir das nicht an, uns allen nicht! So, wie Du warst, so mußt Du bleiben, hörst Du? Erich, den ich neulich sprach, gefiel mir auch neunundneunzigmal nicht, was ist aus dem Jungen geworden? Doch davon ein ander mal.
Jetzt bin ich im Begriff, zu Großmutter Heinke Tönningsen zu fahren, ihr Hof heißt ja auch Buchenhagen, könnt' es nicht Buchenwalde sein?
Sie hat mir ein reichliches Reisegeld geschickt, vielleicht komm ich doch noch mal hinüber zu Euch, es ist ja nicht so weit. Von Onkel Liskow soll ich Dich und Euch tausendmal grüßen, er will Weihnachten bestimmt in Buchenwalde verleben. Der Glückliche! Wer doch mitreisen könnte! Aber zur Weihnachtszeit habe ich hier schauderhaft viel Dienst. Und zweitens: » Sparen«.
Kerlchen, Dir will ich's verraten, ich darf an garnichts anders denken, als an Sparen, ich habe Schulden, Kerlchen! Erschrick nicht, es sind nicht meine Schulden, ich habe da einen Ehrenposten von meinem verstorbenen Vater übernommen – oh Kerlchen, Du weißt ja jetzt, wie er starb. »Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet«.
Ich will den Namen Rumohr wieder rein sehen, ganz rein, – aber das wird eine lange, lange Zeit erfordern. Mit Großmutter werde ich einen schweren Stand haben, sie nennt meine Ideen kurz: »Dumm Tüg«! Na, wenn sie nicht hilft, dann muß ich halt allein fertig werden. Kerlchen, liebes Kerlchen, leb wohl! Wie alt bist Du jetzt? Siebzehn? Oder wirst Du's erst zum nächsten Geburtstag? Gott befohlen. Dein treuer Freund
Fritz von Rumohr.
*
Die Cousinen sind wirklich eine greuliche Gesellschaft. Gerade als ich gestern ins Tagebuch schrieb, kamen sie ganz sachte an meine Tür, so daß ich gar nichts hörte, und stürmten plötzlich herein, um mich zu überraschen und zu sehen, was ich vorhätte.
Das Tagebuch konnte ich noch retten und blitzgeschwind verschließen, aber der Brief von Fritz flatterte zur Erde, und sie balgten sich förmlich drum und lasen ihn laut vor. Oh ich kann sowas für den Tod nicht leiden. Wir machten wirklich einen Höllenradau im Oberstübchen, aber schließlich knebelten sie mich beinah, stupsten mich aufs Sofa, Bümi und Munke setzten sich als Wächter neben mich, während Luttewete las, und zwar laut und vernehmlich, Wort für Wort.
Als sie fertig war, wars 'ne ganze Weile totenstill, worauf Munke sagte:
»Siehst du, Kerl (sie nennen mich hier selten »Kerlchen«, »Kerl« wäre strammer, sagen sie), – siehst du, Kerl, wenn du uns gleich von vornherein ohne Mucksen den Brief gegeben und deine verständigen Cousinen – –«
»Hm, hm!«
»Bitte räuspere dich nicht – also deine verständigen Cousinen ihn hättest lesen lassen, dann hätten wir uns nichts dabei gedacht, so aber müssen wir uns was dabei denken.«
»Was ist denn los? Was wollt Ihr Euch denn denken?«
»Kerl, mach' nich so fragsige Augen und tu nich so, – dieser besagte Rumohr spart, um dir seinen reinen Namen demnächst überreichen zu können. Klar, wie dicke Tinte!«
Oh, oh, oh! Ich hab noch eine Weile ganz stumm dagesessen und ihr wahrhaftiges Indianergeheul über mich ergehen lassen:
»Nee, seht bloß mal, den Heuchelmajor!«
»Kinners, es is 'n Hauptspaß, daß wir den Brief gefunden – –«
»Ne, so'n Kerlchen, so'ne lüttge Deern!«
Da nahm ich aber meinen ganzen Wortschatz aus der Zoologie und schimpfte, schimpfte, schimpfte. Mit »Gänsen« fings an; dann immer so fort, und dazwischen sangen die Cousinen, oder vielmehr sie brüllten:
»Wo still ein Herz in Liebe glüht.«
Endlich war ich allein. Wie die wilde Jagd tobten die drei Mädchen die Treppe hinunter, und unten hörte ich sie mit ihrer Mutter lachen, und dann kam noch der lachende Onkel dazu – – na da hab ich auch gelacht hier oben, ganz still für mich. So ein Unsinn, so ein Unsinn!
Nach einer Weile kam Luttewete wieder herein, fiel mir um den Hals und – wahrhaftig sie weinte, – das heißt, sie lachte mit weinenden Augen.
»Kerlchen, ich muß dich küssen und lachen und danken und tanzen, Kerlchen ich bin so froh!«
»Ja, das sehe ich,« meinte ich trocken, »aber eine greuliche Bande seid ihr doch.«
»Ja das sind wir,« bekannte sie ehrlich, »aber das ist auch sehr gut, denn wenn wirs nicht wären, dann hätten wir dich heute rausgeschmissen!«
»Mich? Mich rausge – – Ja warum denn?«
»Weil ich dachte, du wolltest mir den Helsa wegkapern, Kerlchen, du, den geb ich nicht her!«
»Herrn Helsa??? Oh Luttewete!«
»Gott, ich weiß ja nun, daß es nicht wahr ist, du liebst diesen Rumohr – – –«
»Laßt mich in Ruh,« schrie ich nun ganz erbost, »ich versteh kein Wort von eurem Blödsinn, rauszuschmeißen braucht ihr mich auch nicht, ich – ich – gehe schon von selbst!«
»Kerlchen, Kerlchen, sei nicht so temperamentvoll! Sieh, wir haben dich ja über die Maßen lieb, wir lieben alles, was närrisch und außergewöhnlich ist, und du bist nun mal das närrischste, außergewöhnlichste Kerlchen, das uns je vorgekommen ist, – – aber wenn du mir den Helsa weggenommen hättest. – –«
»Luttewete, rede nicht solch greulichen Unsinn!«
»Es ist kein Unsinn, Kerlchen, Helsa macht große Kalbsaugen, wenn er dich sieht, er soll aber nur Kalbsaugen machen, wenn er mich sieht! Kurz, ich hätte dich unbedingt rausgeschmissen, denn ich hab ihn zu lieb, aber nun bin ich glückselig und werde ihm gleich heute sagen, daß du Braut bist.«
»Untersteh dich, Luttewete,« rief ich zornig. »Wahrhaftig, ihr habt eine blühende Phantasie! Aber ich verstehe eins nicht – wird es dein Vater zugeben, daß du Herrn Helsa heiratest?«
»Kerlchen, bist du etwa auch so ein modernes Scheusal, das auf Amt und Titel und Geld guckt? Ist Helsa nicht ein Prachtmensch? Sein Vater war Pfarrer und hatte zehn Söhne, kann Helsa was dafür, daß er der Jüngste ist, daß, – als er Medizin studieren wollte, das Geld alle war, und er Volksschulmeister werden mußte? Ist er nicht ein grundgescheites Huhn? Spielt er nicht Orgel wie der Mann von der heiligen Cäcilie? (das heißt, ich weiß nicht, ob sie verheiratet war,) – singt er sich nicht buchstäblich ins Herz hinein, hat er nicht einen Christuskopf und – seine Nase –!!! Kerlchen, sahst du seine Nase?!«
Nun lachte ich aber hell auf.
»Kerlchen, lach nicht! Seine Nase liebte ich zuerst, – ach, und dann sein Spiel! Oh Kerlchen, und ich bin so unmusikalisch! Er kann mich gewiß nicht lieben. Aber ich übe ja, Kerlchen, – ich will mir ein Stück einüben, das Mama in früheren Zeiten mal sang, ehe sie bald am Neckar, und bald am Rheine graste: »An Alexis send ich dich«. Es ist nur so furchtbar schwer, aber ich lasse nicht locker, ich will Helsa an unserm Hochzeitstag damit überraschen.«
Ich schüttelte stumm den Kopf über die Bestimmtheit, mit der sie den letzten Satz aussprach.
»Kerlchen, hast du mich nicht manchmal spät abends üben hören, wenn ihr alle schon zur Ruhe gegangen wart?«
»Oh, – da hab ich immer gemeint, es sei die Katze, die wimmerte, weil sie ihren Schwanz zwischen die Haustür geklemmt hätte –«.
»Kerlchen, du bist roh und herzlos und dafür wirst du jetzt gestraft – – hörst du, die Olsch kommt die Treppe herauf, um dir ihren Glückwunsch zu bringen, diesem Redestrom bist du nicht gewachsen, ich sehe dich bereits am Boden liegen«. Luttewete lachte laut und gefühllos, drehte mich mindestens zehnmal wild im Kreise und lief dann fort, während ich Tante Hedwig in die Arme fiel.
»Herzenskind«, meckerte sie vergnügt und drückte mich herzlich an sich, »kleines, süßes, liebes Deernchen, Heimlichtuer, wie hast du uns alle überrascht! Nun erzähle aber mal, wie ist er, wie sieht er aus, was ist er, was wird er, was war sein Vater? Lebt er noch? Ich meine den Vater, denn wenn der Sohn nicht mehr lebte, könnte er dir ja keine Liebesbriefe schreiben und schon zur Hochzeit sparen. – –«
»Oh Tante Hedwig.«
»Ja wohl, deine liebe, treue Tante Hedwig, die dich in ihr Herz geschlossen hat und dich glücklich sehen will, du gehörst ja leider auch in die Kategorie der armen Mädchen aus höheren Ständen, die es immer als ein großes Los betrachten müssen, wenn ein ehrenhafter Mann sich um sie bewirbt, deshalb haben wir Eltern auch nichts gegen die Verbindung von Luttewete mit dem Lehrer Helsa; sie werden sehr glücklich werden, die beiden, er ist ein selten kluger Mensch, und sie ein tüchtiges, wirtschaftliches Mädchen, es fehlt nichts zu ihrem beiderseitigen Glücke, als daß der Mann um sie anhält; Waldemar und ich sind ganz derselben Meinung: was nützt es den Kindern, unseren prächtigen Mädchen, wenn sie auf eine standesgemäße Heirat warten und darüber ihre goldene Jugend vertrauern, Munke hatte früher so ihre Mucken, das liegt so im Blut von ihrer Großmutter, meiner Mutter her, die eine »Neunzinkige« war, aber ich selbst schon schlug aus der Art, die adligen Fräuleinstifte waren mir ein Greuel, und so überließ ich sie meinen Schwestern und nahm von Herzen gern den bürgerlichen Rittergutsbesitzer Schlieden auf Schloß Buchenwalde, worüber sich alle meine Ahnen im Grabe herumdrehten, wir sind aber so glücklich geworden, mein Waldo und ich, daß sie nun hoffentlich wieder auf der richtigen Seite liegen. Geld hatte Schlieden nicht, wenn wir auch gerade keine notleidenden Agrarier sind, wir kommen eben gerade durch. Schlieden hätte mehr, wenn er nicht meine Brüder, die vornehmen Hungerleider, ein paarmal kräftig unterstützt hätte, das bürgerliche Geld wird nämlich immer sehr gern genommen, aber man bedankt sich nicht groß dafür, na ja und was ich sagen wollte, du willst also nun umgekehrt in den Adel hineinheiraten –«
»Oh Tante Hedwig – –«
»Ja, deine treue gute Tante Hedwig wünscht dir, daß es dich nie gereuen möchte, und hat sogar schon weiter gedacht, hat sogar schon ein Hochzeitsgeschenk für dich, kleines, liebes, gutes Kerlchen, ein herrliches, praktisches Hochzeitsgeschenk, kein dünnes Silber oder eine Prunklampe, die nie brennt und ewig riecht, nein, zwei wunderschöne Sessel, die wir nicht mehr brauchen, und die gegenwärtig auf dem Boden stehen, möchten sie dir und deinem Manne etwas Freude machen und stets nur frohe Gesichter sehen. Glückauf, Herzenskind, Glückauf! – – ich hole sie dir, ich hole sie dir – – – –«
Ohhh! Wie zerschlagen blieb ich zurück, war ganz dumm und stumm zuerst und dann besah ich mir meine Finger; wenn plötzlich ein Trauring dran gewesen wäre, gewundert hätte ich mich über nichts. Aber es war keiner dran, und ich jauchzte laut und schloß einen kleinen Jodler an den Jauchzer, wenn ich auch nicht im Wald oder auf den Bergen war.
»Ja, du hast gut jodeln«, tönte da schon wieder Tantes Stimme, »du Glückspilz. Schau dir die Sessel an, hast du im Leben so was Schönes gesehen?«
Sie riß die Thür auf und zeigte mir die beiden Ungetüme, und ich stand verblüfft vor ihnen. Nun, es ist wahr, schön sind die Sessel, aber sie haben eine eigentümlich schmale längliche Form und gänzlich altmodische Pracht; und was ich damit anfangen soll, ist mir schleierhaft.
»Ich darf sie doch hier lassen?« fragte ich sehr kleinlaut.
»Bis du heiratest? Aber sicher, Kerlchen! Ich schicke sie dir direkt in dein neues Heim. Wo werdet ihr es gründen?«
Ja, wenn ich das wüßte! Oh, es ist doch eigentlich furchtbar, so plötzlich verheiratet zu werden! Tante hatte mich schon längst verlassen, da saß ich immer noch und grübelte über den einen Punkt nach, wie ich es unter allen Umständen verhindern könnte, daß Fritz von Rumohr hierher käme, – er darf nicht kommen, ich schäme mich ja tot!
Eben brachte mir der Briefbote einen kurzen, lieben Brief vom Fürsten Li. Wie gut und lieb er schreibt! Aber müde, sterbensmüde. Ach lieber Gott, gieb doch, daß er nicht so lange leidet, oder mach ihn doch durch ein Wunder wieder gesund! Ach Gott, könnte ich doch in San Remo sein! Dann sollte Li schon wieder lachen lernen. Er schickt mir die Ansicht von dem Häuschen mit, darin er wohnt, solch ein liebes, hellgraues, rosenumranktes Haus, wie ein Märchenbild sieht es aus. Ich kann mir so gut meinen alten Li in dem Häuschen denken, auch wie er im Rosengarten sitzt und träumt. »Unser Aufenthalt ist ein Himmel auf Erden« schreibt Li, »die gütige Mama Schlieden verwöhnt mich über alle Begriffe, der gestrenge Herr Oberst legt niemals ein Veto ein, und alles, was uns fehlt, ist: »– – –...!«
Nun freilich, das Kerlchen fehlt euch, ihr bösen Menschen – – oh, und ich wette, der Fürst hat diesen lieben Brief heimlich geschrieben, sie sind sonst ganz anders, ich weiß ja wohl, daß die Etikette es verbietet, so lieb und gut an ein bürgerliches, erwachsenes Mädel zu schreiben.
Schon früher hatten wir einmal ein Gespräch über diesen Punkt, und Erich fragt den Fürsten in unserm Garten in Schwarzhausen:
»Elimar, wirst du es durchsetzen können, mich, den Bürgerlichen, immer gleich lieb zu haben und hoch zu halten?«
Und Li sagte:
»Ach was, bürgerlich! Mein liebster Herzensfreund bist und bleibst du!«
Und wie ich stürmisch fragte: »Und ich? Und ich? Was bin ich? Bin ich bürgerlich oder dein Herzensfreund, Li?«
Da sagte er:
»Du bist: Kerlchen, von Gottes Gnaden Sonnenscheinchen von Schwarzhausen.«
Gerade wie ich so stark an die alte Zeit dachte und den Brief vom Fürsten immer wieder las, hörte ich die Cousinen im Park umhertoben wie die wilde Jagd und lachen, daß man es zwei Meilen im Umkreis hören mußte, ich riß das Fenster auf und rief alle drei herauf.
»Was is los«, schrieen sie und stürmten in mein Oberstübchen, daß die alte Tür ächzte und die Dielen krachten.
»Hier ist ein Brief vom Fürsten Elimar«, sagte ich feierlich.
»Ich gebe ihn euch von selbst zu lesen, damit ihr euch nicht wieder was dabei denkt.«
Sie rissen mir das Schreiben beinahe in Fetzen aus der Hand und lasen es wieder laut unter »ach« und »oha« und »sieh mal an« und »nein so was« und dann schrieen und lachten sie wieder tosend durcheinander, bis Munke mich packte und rief:
»O Kerlchen, sollten wir dich ungerecht mit Rumohr in Verdacht haben? Ist es der Fürst? Liebst du ihn? Beabsichtigt er vielleicht eine morganatische – – –«
»Also so seid ihr«, schrie ich erbost, »nun weiß ich doch Bescheid. Oh ihr greulichen, abscheulichen Dinger! Aber das sag ich euch: Wenn ihr mir Tante Hedwig wieder auf den Hals hetzt – – –«
Ein wahrhaft ohrbetäubendes Gelächter huben sie jetzt an: »Die Olsch hat geredet, Gott soll uns bewahren, die Olsch hat eine ihrer Reichstagsreden gehalten!«
Und in diesem Gejohle und Gelache setzte ich mich auf einen der geschenkten Sessel und – heulte wie ein Schloßhund.
»Kerlchen, Unglücksmensch«, rief auf einmal Bümi, »willst du wohl aufstehen? Worauf sitzt du Unglückliche?«
Ich sprang auf, mußte mich aber sofort wieder setzen, so weh that mein Rücken, ja meine sämtlichen Knochen schmerzten mich.
»Wer hat die Unglückssessel hierher gebracht?« fuhr mich Munke an.
Ich schluchzte zum Gotterbarmen.
»Eure Mutter hat sie mir geschenkt!«
»Dir geschenkt? De Olsch isch jo woll rain ut he Tüt!«
»Warum hat sie sie dir geschenkt? Wozu?«
»Zu meiner Hochzeit.«
»Zu deiner Hochzeit? Allbarmherziger, mit wem denn?«
»Mit – Fritz – von – Rumohr.«
»Kerlchen, so giebst du's also zu?«
»Was denn?«
»Deine Verlobung!«
»I wo, is ja alles Lüge.«
»Aber ich denke, die Sessel sind zur Hochzeit?«
»Na ja doch!«
»Kerlchen, hast du 'n Sonnenstich?«
»Nein, ihr habt ihn«, schrie ich, rannte zu meinem Bett und riß das Kopfkissen heraus, das ich im höchsten Zorn Munke an den Kopf warf, das zweite Kissen folgte nach, ebenso alles übrige, bis wir schließlich alle zerzaust, verprügelt und heiß und rot vor Lachen und ich vor Heulen auf der Erde saßen.
»Nachtlager von Granada,« sagte Munke endlich trocken und bürstete ihr Haar zurecht.
»Es is doch 'ne Gemeinheit von der Olsch, unserm Kerlchen diese Sessel zu schenken,« rief Luttewete.
»Ja,« stimmte Bümi bei, »sie muß exemplarisch bestraft werden.«
»Was ist denn mit den Sesseln?« fragte ich neugierig, »warum gönnt ihr mir sie nicht?«
»Gönnen?« schrien alle drei und Munke rief: »Wir würden jubeln, frohlocken, auf den Knieen rutschen, wenn jemand sie uns abnähme, wir würden ihn mit Lorbeer bekränzen und – einen Sarg für ihn bestellen.«
»Schweig, Pythia auf dem Dreibein,« unterbrach sie Bümi. »Kerlchen ist deine Redeweise zu hoch.«
»Es ruht ein Fluch auf den Sesseln,« fuhr sie geheimnisvoll erklärend fort, »irgend eine Urahne hat sie mal gestiftet, und wer sich auch darauf setzt, wird zuerst von einem wohligen Gefühl gefesselt, sowie er aber aufsteht, merkt er, daß alle seine Knochen wie zerschlagen sind. Was haben diese Sessel alles auf ihrem Gewissen! Ehen sind um ihretwillen unglücklich geworden, zarte, sich eben anspinnende Verlöbnisse sind nie zu stande gekommen, Verträge sind gebrochen oder überhaupt verhindert worden, noch vor drei Jahren zerschlug sich um des einen Unglückssessels willen ein vorteilhafter Kauf für Vater vom Rittergut Maruten. Vater hatte den Verkäufer auf den Sessel gesetzt, er wurde bettlägrig und verkaufte nicht.«
»Früher existierte sogar eine Urkunde drüber,« berichtete Luttewete weiter, »aber bei einem Brande ist sie verloren gegangen, du hättest sie sonst mit den Sesseln beanspruchen können. Kerlchen, aber nein, du bist uns zu schade für dieses Hexengeschenk, geliebter Kerl, und die Olsch soll unserer Rache nicht entgehen.«
»Ich nehme sie,« schrie ich aufgeregt und kampfbereit, »geschenkt sind sie, und ich fürchte mich nicht. Werde ich eine alte Jungfer, dann setze ich mich in den einen und den Mops in den andern, und wir bleiben sitzen, bis wir sterben, denn es soll ja nur wehtun, wenn man aufsteht.«
»Spotte nicht, Kerlchen!« warnte Munke mit Grabesstimme.
»Aber die Olsch ist an allem schuld,« schrie Bümi, »und ich denke, wir sperren sie dafür in die Garderobenkammer ein, die heute von ihr revidiert wird. Zum Abendbrot giebts Buchweizenpfannkuchen, die mag sie so gern, aber hüt krieg se da nix vun af.«
So sehr ich auch bat für Tante Hedwig, die gottlosen Mädchen waren unerbittlich, und als wir abends bei den leckern »Bookweetenpannkoken« saßen, hörten wir durch all das dröhnende Gelächter des Hausherrn und der drei Mädchen ein dumpfes Geräusch, das kam aus der Garderobenkammer, wo Tante Hedwig mit den Absätzen gegen die Thür bollerte.
Erst nach dem Abendbrot wurde sie herausgelassen und jubelnd empfangen. Sie selbst war nicht im mindesten böse, nur dankbar, daß man sie endlich erlöst hatte, und die Tränen, die ihr an den Wangen hingen, erklärte sie von dem unerträglich scharfen Naphthalin herrührend, mit dem sie die Garderobengegenstände eingemottet hatte.
Als nun Munke noch die schönsten Pfannkuchen eigenhändig für sie buk, da küßte sie mit ihrem lustigen Ziegenlachen ihre Älteste fröhlich ab, und wir alle fünf stimmten später mit Blechdeckelbegleitung das Lied an: »Rut mit de Olsch an de Fröhjahrsluft,« worauf Tante Hedwig unter Gekreisch und Gejohle um den Rasenplatz gejagt wurde, damit das Naphthalin von ihr weiche.
Schachmatt kamen wir wieder herein, und da erzählte Onkel noch sehr interessant von dem holsteinischen Bauernschlag, machte auch der Bauern langsame, niederdeutsche Art so drastisch nach, daß wir nicht aus dem Lachen kamen.
Zwei Bauern stellte er uns vor, die im Wirtshaus sitzen und sich Rätsel aufgeben.
»Klaas, ik will di wat seggen: »'s flüggt äwert Dach un hat veer Been un süht swart ut.«
»Dat' s 'n Kreih.«
»Schafskopp, de hat doch ni veer Been?«
»Denn weet ik dat ok ni.«
»Dat sünn twee Kreihn.«
»Oha, oha Krischan Cassen, nu will'k dir mol eens upgewen:
Es hängt in de Slaapstub un süht witt ut, un man drögt sik de Hänn' dran af.«
»Dat 's 'n Handdook!«
»Ne, dat's keen Handdook, dat 's 'n Spickaal!«
»Wo kann denn dat en Spickaal sünn, de hängt doch ni in de Slaapstub!«
»Denn kannst em jo henhängen.«
»De süht doch ok ni witt ut!«
»Denn kannst em jo witt anstriken laten.«
»Äwer da drög ik mi doch nich de Hänn dran af – –«
»Denn lat dat nah!«
Luttewete ist Braut. Wie viel mal hab ich nun »sowas« durchgemacht, ich denke, ich muß wirklich ein närrisches, unbegreifliches Kerlchen sein, denn was die andern zum Frohlocken, zum Lachen und »Dollsein« reizt, das macht mich ernst, und worüber die andern stundenlang ernsthaft beraten, darüber kann ich mich totlachen.
Ich meine also das Verloben. Es wird garnicht als etwas Feierliches behandelt oder als etwas Schweres, was es doch eigentlich ist, sondern mehr als etwas Urfideles und nebenbei recht Anstrengendes, wenn man die Aufregung dabei, die vielen Besuche, die Beratungen in Betracht zieht.
Über die Verlobung wird unendlich viel gelacht, besonders wie der Bräutigam sich benommen und was Luttewete dabei gesagt und getan hat, über die Aussteuer aber wird ernst und ungeheuer wichtig gesprochen, sie haben gestern eine ganze Stunde über Handtücher verhandelt, ob »Gerstenkorn«, oder »gestreift Leinen«.
»Himmel,« rief ich endlich ganz wild, »das ist doch so Wurscht, wenn ihr euch nur lieb habt.«
»Hoho,« rief Luttewete, »freilich haben wir uns lieb, aber doch nicht ohne Handtücher!«
Ich habe nun gleich an Dorette nach Schwarzhausen geschrieben, daß sie mir mein von Tante Emerenzia geschenktes Dutzend schickt, ich will sie Luttewete geben, ich brauche sie nicht und wenn ich heirate, kaufe ich mir eben sechsundzwanzig neue, für »mich«, für »ihn« und »für die Kinder« eins.
Als ich diesen Plan den Cousinen vortrug, lachten sie sich wieder von Sinn und Verstand, und Munke, die prachtvoll Karikaturen zeichnet, entwarf gleich ein Bild. Sie hat die beiden Prunksessel täuschend gezeichnet, darauf sitzen mein Mann und ich, (e r sieht wie ein Räuberhauptmann aus) um uns purzeln vierundzwanzig Kinder herum, und wir alle schwingen Handtücher, die mit F. v. R. gezeichnet sind. So ein Unsinn, so ein Unsinn!
Herr Helsa ist ein sehr ernster Bräutigam, aber er scheint doch sehr glücklich über sich und seine Luttewete zu sein. Vor einigen Tagen hat er seine Ernennung zum Domorganisten von S. bekommen, es soll eine außergewöhnlich gute Stelle sein, dazu Dienstwohnung und mächtiger Garten, und zum Überfluß kam auch noch der erste Preis an für eine größere Komposition von ihm für Männerchor, die nun überall gekauft wird, da hat er endlich gewagt, um Luttewete anzuhalten. »Das heißt, ich hab wohl um ihn angehalten,« bekannte sie ehrlich, denn, Kerlchen, er druckste und druckste, es war nicht zum anhören. Da sagte ich und nahm seine Hände: »Quälen Sie sich doch nicht so, ich will ja!« Und da schrie er: »Gott sei Dank!« und küßte mich, daß mir Hören und Sehen verging.«
Nun ist es, als ob Niels Helsa unser Bruder, oder schon seit Jahren Luttewetes Verlobter wäre, sie brachte ihn nach ihrer Verlobung gleich angeschleppt, legte unsere Hände zusammen und rief:
»Kindlein, liebet Euch untereinander, sagt »Du« und gebt Euch 'n Kuß. Ich gucke derweile fort.«
Aber Gottlob, so weit kam es nicht, er schüttelte mir nur furchtbar die Hände und sagte, ich möchte ihn immer als treuen Bruder betrachten.
Nun, das thue ich auch mit Freuden, aber die Cousinen nennen ihn einfach: »Unsern Bräutigam.«
In drei Wochen siedelt er schon nach S. über, läßt die Dienstwohnung neu in Stand setzen, und dann soll auch bald die Hochzeit sein. Inzwischen wird Haus Buchenwalde der Tummelplatz von Nähterinnen, es wird ein solcher Schatz von Leinwand bestellt, als sollte ganz Buchenwalde sich verheiraten.
Mir ist eine sehr große Ausgabe zugefallen, ich brauche beim Nähen nicht zu helfen, wenn ich nicht will, dafür soll ich den Polterabend »bedichten«, sowohl für die eigentlichen Gäste, als auch beinahe für jede Magd und jeden Knecht.
Beim Umherschnüffeln in meiner Kommode hat nämlich die abscheuliche Luttewete meine Gedichte und Balladen gefunden und nennt mich nun abwechselnd »die Schiller'n«, oder »die »Goethe'n«. Sofort stand auch bei ihr der Plan fest, mich als Reimschmied zu verwenden, na, ich tu's ja gern, – lieber, als Hemden nähen.
Die dämmerigen Herbstabende sind hier wunderschön; sobald wir Abendbrot gegessen haben, bekommt jeder ein buntes Papierlaternchen in die Hand, worin ein Lichtchen angezündet ist, und nun ziehen wir im Gänsemarsch durch den Park, d. h. Luttewette und unser Bräutigam tründeln eng umschlungen hinterher und wir singen schallend:
Lanterne, Lanterne,
Sonne, Mond und Sterne,
Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht,
Aber meine liebe Lanterne nicht.
Olsch mit de Lüch' kann't Bett ni fin'nen
Fallt mit de Näs' nah'n Kellerloch 'rinnen.
Lanterne, Lanterne.
Bäcker de backt de Stuten so lütt,
Kopmann gift so weni in be Tüt.
Lanterne, Lanterne.
Und so lange wird das gesungen, bis die Lichter zu Stümpfen runtergebrannt sind, und keiner mehr einen Ton in der Kehle hat.
Dann bläst jeder sein Stümpfchen Licht aus, giebt dem andern den »Letzten«, was nie ohne ohrbetäubendes Gelächter und Gekreische abgeht, und zuletzt wird Niels Helsa buchstäblich hinausgeworfen, wobei sich Luttewete am eifrigsten beteiligt.
Oben in den Erkerstübchen, die alle nebeneinander liegen, sitzen wir dann noch eine Weile, und während wir unsere Haare bürsten, schwatzen wir schnell das Blaue vom Himmel herunter, bis Onkel Waldemar und Tante Hedwig ihre Stiefeln gegen die Thür werfen, eine zarte Andeutung, daß Ruhe im Lande sein soll.
Was hab' ich für Sehnsucht nach Papa! Sie wird nach jedem Brief, den er mir schreibt, stärker, ich kann es niemand hier so recht sagen, sie sind alle so vergnügt tagaus, tagein, nur Fritz von Rumohr ahnt so etwas, aus seinen Briefen klingt's immer so lieb und teilnahmevoll.
Muusch schreibt auch recht sehnsüchtig, wenn auch ihre Hauptsorge dem Fürsten Li gilt; er soll so seltsam eigensinnig sein, soll alle seine Verwandten von sich weisen und immer nur Mama um sich haben wollen, er muß doch sehr, sehr krank sein. Er darf auch garnicht mehr reiten, sondern sitzt meistens still im Sonnenschein, während Mama ihm vorliest und Papa große Reitausflüge unternimmt. Oh, könnt' ich doch neben Papa dahinfliegen in dem fremden schönen Land!
Hier reiten wir wenig; besonders seit Luttewete Braut ist, sieht man die Schwestern eigentlich nur mit Nähnadeln in der Hand, aber Onkel nimmt mich manchmal mit auf die Felder oder das Vorwerk. Schöne Reitpferde hat er nicht im Stall, das kann der stärkste Mann nicht behaupten, er sagt, dafür seien die Zeiten zu schlecht. Mir stellt er ein Pony zur Verfügung, das »Kismet« heißt und nur Leichtgewicht verträgt, wollen die drei Walküren reiten, so müssen sie die Kutschpferde nehmen.
Aber wie gesagt, sie reiten jetzt lieber auf dem Metermaß herum, lachen und toben aber dermaßen in ihrer Schneiderstube, daß man eher denkt, ein Athletenklub hielte Sitzung, als zarte Jungfrauen.
Und wenn ich dann mal dazwischen fahre und rufe:
»Kinder, seid doch ein bißchen still, ich muß mal dichten,« dann ist erst recht die Hölle los, und ich muß wahrhaftig auf den »Parnaß« steigen und mich einriegeln. Der »Parnaß« ist ein winzig kleines, ziemlich dunkles Stübchen, in welchem ein Stiefonkel von Tante Hedwig mal einen Vers gemacht haben soll.
Das Dichten ist sonst nicht Sitte in Tantens Familie. Ich muß aber sagen, mein »Elfenfestspiel« gedeiht, blüht und wächst, wahrscheinlich umschwebt mich im Parnaß der Geist des seligen Stiefonkels.
Unterbrochen wird die Schneiderei und das Dichten häufig durch die Besuche von den Nachbargütern oder der Kreisstadt, da ist's wirklich recht interessant zuzuhören, wie verschieden Luttewetes Verlobung mit dem »Lehrer« Niels Helsa beurteilt wird.
Merkwürdigerweise sind die wirklich vornehmen Menschen unserer Bekanntschaft ganz einverstanden mit dieser Verbindung, sie schätzen Helsa alle sehr, während kleinliche Seelen bei jeder Gelegenheit den »Volksschulmeister« ausspielen.
Da wird Luttewete immer furchtbar zornig, so inwendig, man sieht, wie ihr das heiße Blut in ihr weißes und rotes Apfelblütengesichtchen steigt, ich möchte immer gleich dreinschlagen und verlasse jedesmal schnell das Lokal, um unten in der Garderobe wenigstens dem Hut oder Überzieher des Betreffenden die Zunge herauszustrecken. Heute kam auch so ein Wesen, – na ich will nicht schimpfen – Frau Hofbesitzer Althof auf Althof, sie ist eine Witwe, und man sagt, sie möchte gern wieder einen Mitregenten auf Althof haben, – die gratulierte so süßsäuerlich und dann setzte sie hinzu: »Aber bestes Fräulein, sind Sie nicht ein klein bißchen unüberlegt »hineingetappt« auf den Volksschullehrer? Gott, wenn er auch sämtliche Prüfungen bestanden hat, wonach ich mich natürlich sofort erkundigte, er ist und bleibt doch – – na wie gesagt, liebes Fräulein, ich stand Kopf, wie ich es hörte.«
Ohhh! Wir waren alle empört über die taktlose Suse, und ich tobte bereits mit einigen Stühlen umher, da stand Luttewete auf und sagte ruhig:
»Kopfstehen würde ich niemals in Ihrem Alter, es ist nicht gesund und außerdem unanständig.«
Na, da waren wir Frau Hofbesitzer Althof mit einem Male los. –
Gleich darauf kam Helsa, und Luttewete war so einzig lieb mit ihm, als müsse sie ein Unrecht wieder gut machen. Sie ist doch ein herziges Geschöpf, und Helsa fragte mich mindestens fünfmal: »Bin ich nicht beneidenswert?«
Erich war hier, aber nur auf einen Tag, er hat eine größere Reise gemacht, und nun trieb ihn die Sehnsucht zu seinem »Terle-Terle«, wie er mich manchmal nennt.
Er sah garnicht erholt, sondern recht abgehetzt aus, und Onkel Waldemar schalt freundschaftlich mit ihm, daß er lauter verräucherte Fabrikstädte aufgesucht hätte, anstatt sich in Gottes herrlicher Natur, in Wald und Feld von dem dumpfen Berlin und den Anstrengungen der Kriegsakademie zu erholen.
»Ja, ja, lieber Onkel«, lachte Erich etwas nervös, »ich bin auch lieber in Gottes freier Natur, sag mal, hast du nicht einen gut bezahlten Inspektorposten für mich?«
»Ich werde wahrscheinlich in nächster Zeit mein eigener Inspektor sein,« sagte Onkel ziemlich ernst, »die Zeiten ändern sich, na Gottlob, du hast deinen schönen, dich befriedigenden Beruf –«
Erich stand plötzlich auf und öffnete das Fenster, die Cousinen kamen über den Hof, mit denen er lachte und ulkte, überlaut schien es mir.
Und von nun an war Erich wie verwandelt, – er holte seinen ganzen Vorrat an lustigen Einfällen heraus, redete Bauch, führte uns eine Frau »Kommerzienrätin« vor, daß Onkel Schlieden beinahe Krämpfe bekam, und wir noch während der Vorstellung hinausgejagt wurden. Bald darauf reiste er ab, ich packte noch allerhand in sein kleines Handköfferchen, und da nahm er mich in seine Arme und sagte hastig:
»Ich soll dich auch noch viel tausendmal von Emmy Hassee grüßen.«
»Hast du sie denn gesprochen?« fragte ich sehr erstaunt.
»Ja, ich war einen Tag in Schwarzhausen, aber nun muß ich wirklich fort, leb wohl, mein süßer Terle-Terle!«
Ich küßte meinen Erich-Bruder herzlich und streichelte seine Hand und da sah ich an dem vierten Finger seiner linken Hand einen Ring, so ein ganz altmodisches Ringelchen, einen einfachen Türkisen in Herzform, – Erich hatte ihn nie getragen, aber – ja – ich wußte es sofort, ich hatte ihn früher bei Emmy Hassee gesehen – – –
Mir that plötzlich das Herz seltsam weh.
»Erich?« fragte ich leise, aber da riß er sich los und sprang in den Wagen, der ihn zur Bahn bringen sollte, er hatte nur den jungen Kutscher bei sich, jede andere Begleitung hatte er abgelehnt.
Ich stand noch lange und sah ihm nach. Die Cousinen winkten und schrieen ihm nach, sie ließen ihn ungern ziehen, den lieben Jungen, ach, und mir wars doch, als sei er früher ganz, ganz anders gewesen.
Als von dem Abfahrenden auch nicht mehr ein Pünktchen zu sehen war, kehrten die Walküren ins Haus zurück, Munke sang in gellenden Tönen:
»Mich verläßt der Undankbare, meinem Jammer giebt er mich hin.«
Bümi wimmerte: »Mag der Himmel dir vergeben, was du an mir Armen tust« und warf sich das Betttuch, mit dem sie Erich nachgewinkt, trauernd über Kopf und Schultern, und Luttewete sagte mit Grabesstimme zu ihrem Verlobten:
»Welch' ein Glück für dich, Helsa, daß ich dich früher kannte als diesen Kriegsgott!«
Das Herrenhaus von Buchenwalde lag in tiefstem Frieden.
Die letzten Gäste von Luttewetes Hochzeit waren abgereist, der Trubel und Wirrwarr hatte sich gelegt und gelöst, und nun war so eine kleine wehmütige Nachfeststimmung geblieben, als Illustration zu dem Worte: »Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.«
Auch Luttewete und ihr Mann waren erst gestern abend abgereist, die eingeladenen Junggesellen hatten alle im Schulhaus gewohnt, und Helsa hatte dort bis jetzt den liebenswürdigen Wirt gemacht, wie auch Luttewete die Fidelste auf ihrer Hochzeit und Nachhochzeit war und schon am Polterabend ihren Verlobten herzbeweglich bat: »Laß uns unsern Ehrentag gründlich genießen und die folgenden Tage auch, gewiß, wir heiraten nur einmal.«
Er war einverstanden, und so kletterte jeden Abend Luttewete vergnügt ins Oberstübchen mit den andern Mädels hinauf, wo die »gnädige Frau« lachend und fürsorglich bedient und als Ehrengast behandelt wurde.
In diesen Tagen wurden auch keine Stiefeln in zarter Mahnung an die Tür geworfen, im Gegenteil, Onkel und Tante erschienen in schlichtester Toilette selbst noch mitternächtlich, um ihre Luttewete ein wenig zu genießen und das herrliche Fest noch einmal gründlich durchzunehmen. Und regelmäßig zum Schluß wurde Kerlchen mit den süßesten Kosenamen bedacht, nachdem es schon von der ganzen Hochzeitsgesellschaft zum »Hof-, Feld-, Haus-, Wald- und Wiesendichter ernannt worden war.
Von der Mamsell herab bis zum jüngsten Kleinmädchen, vom Kutscher bis zum Pferdejungen, alles hatte »in Versen geredet«, Buchenwalde war, wie Onkel sich ausdrückte: »literarisch« geworden.
Und alles hatte Kerlchen im »Parnaß« verbrochen. So wie es sich irgend einmal unauffällig zurückziehen wollte, gleich schrieen ihm lustige Kehlen nach:
»Wißt ihr, was ich jetzt mache?
Nein, nein, ihr wißt es nicht,
Ich gehe in den Garten
Und mache ein Gedicht.«
Kerlchen hatte auch alles einstudiert, die vielen Köpfe und vielen Sinne unter einen Hut gebracht, was wahrlich keine leichte Aufgabe war, aber es hatte es doch durchgesetzt und konnte bei aller Heftigkeit des Temperaments, die gelegentlich durchbrach, auch wieder so lieblich bitten, daß man sich dem »schrecklichen Mädchen«, dem »kleinen Tyrannen«, dem süßen Tausendsappermenterchen willig gefügt hatte. Man sah ja auch, daß Kerlchen eigentlich nur Sorge und Mühe von der Hochzeit hatte, denn während die andern tanzten, Reifen spielten und plauderten, probierte es unermüdlich an dem Elfenfestspiel, gab die Zusammenstellung der Kostüme an, oder hörte die Knechte und Mägde »ab«, die immer den ersten Vers wieder vergessen hatten, wenn sie den zweiten anfingen. Kerlchen hatte die große Scheune in eine Bühne verwandelt, ja sogar in einen echt holsteinischen Buchenwald, und nur dem Umstande, daß für Kerlchen Knecht, Magd, Vieh und alles was »Onkels« war, durchs Feuer ging, verdankte man die Tatsache, daß in unglaublich rascher Zeit alles Nötige herbeigeschafft war. –
Es hatte dann aber auch reizend ausgesehen, wie die blühend schönen Schwestern Luttewetes sowohl, als auch die zierlichen, hübschen Mädchen aus der Kreisstadt und die drei lieblichen Kinder eines benachbarten Gutsbesitzers in ihren phantastischen Blumengewändern durch den Buchenwald gehuscht waren, der mit farbigem Licht bengalisch beleuchtet war.
Im Walde war ein Thron aufgebaut, auf dem Munke als Blumenkönigin saß, ihre hohe Gestalt überragte alle jungen Mädchen, sie war einstimmig dazu ausersehen worden. Rings um den Thron scharten sich die Blumenelfen: »Maiglöckchen, Heckenrose, Tausendschönchen, Vergißmeinnicht, Efeu und drei Kinder als Zwergenelfchen.
Nachdem der erste Beifallssturm sich gelegt, hatten die älteren Damen sich Kerlchen kommen lassen, um ihr ein paar liebe, aufmunternde Worte zu sagen, Kerlchen hatte sich errötend bedankt, es war gleich gut Freund mit allen, es hatte in seiner guten Kinderstube gelernt, dem Alter ehrerbietig zu begegnen, und so gewann es rasch die Herzen.
Die alten Herren vollends »rissen« sich förmlich um das Kerlchen, es konnte so frischweg von der Leber antworten, so herzlich schallend über ein derbes, deutsches Kernwort lachen und so wundernett die langen Pfeifen mit duftendem Barinas stopfen, Fidibusse falten und stille, verschwiegene Plätzchen auskundschaften, wo man ungestört »paffen« und sein Schläfchen machen konnte. Auch die jungen Herren »wollten sich das Kerlchen mal ansehen«, wie sie herablassend bemerkten, aber sie zogen ziemlich »bedrippt« wieder ab, es war doch recht stachelig, das Persönchen, und »ansehen« ließ es sich überhaupt nicht.
Onkel Waldemars stattliche Gestalt war immer in Kerlchens Nähe zu sehen. Er »zeigte« das von ihm sehr geliebte Nichtchen gern seinen Gästen, und immer hörte man sein lautes, behagliches Lachen, mit dem er den Ausspruch begleitete:
»Wir geben es auch so bald nicht wieder her, nimmt mir der Helsa die eine weg, bringt der Storch schon wieder 'ne andere.«
Die Aufführungen hatten bis Mitternacht gedauert. Für die Dorfjugend hatte Kerlchen einen »Tag im Schulhause zu Buchenwalde« eingeübt, die Kinder wollten doch ihrem geliebten Lehrer auch etwas »hersagen« und ernteten stürmischen Beifall.
Das ermunterte wieder die Knechte und Mägde, die in den wunderbarsten Verkleidungen erschienen waren und so ihre »Lex« herunterrabbelten, als gelte es, Sieger im Schnellsprechen zu werden.
Siegerin auf den Brettern, die die Welt bedeuten, blieb aber unstreitig »Stina«, die vierschrötige Kuhmagd, welche auf ihren eigenen dringenden Wunsch als »Königin der Nacht« erschienen war. Man hörte ihre liebliche Stimme, schon ehe man sie sah, denn sie rief hinter den Kulissen ihren Genossen zu:
»Gottsverdimmig, ik gah hüt ni melken un gah ok nich Swin faudern, ik bün Königin!«
Tosendes Gelächter empfing sie, worüber sie ganz verschämt knixend quittierte, und als die Bravorufe am Schlusse nicht enden wollten, wischte die Königin der Nacht sich in höchster Verlegenheit die Nase am Ärmel ihres schillernden Gewandes.
Andern Tags war die Hochzeit gewesen.
Kerlchen lief immer noch fast wie im Traum umher, obgleich es doch jetzt tüchtig zu tun gab, und die Wirklichkeit sich energisch breit machte, – aber der Tag, Luttewetes Hochzeitstag, war eben zu schön und wunderbar gewesen.
»Sei nicht böse, Kerlchen, du bekommst als Tischherrn und Brautführer den alten Major von Borby«, hatten die Cousinen ihr berichtet, »er hat noch in letzter Minute zugesagt und wir wissen ihn nicht unterzubringen.«
»Ihr seid wohl übergeschnappt?« hatte Kerlchen im ersten, höchsten Zorn gerufen, und dann war es auf den Parnaß geflüchtet, um dem nicht endenwollenden Gelächter der übermütigen, schadenfrohen Mädchen zu entgehen.
Kerlchen war wirklich böse und enttäuscht.
Hauptmann a. D. von Borby war das enfant terrible der Gesellschaft, er war klein und dick, mit rotem Gesicht, das nach dem siebenten Glas Wein eine Scharlachfarbe annahm, so daß jeder ängstlich den Mann anblickte, in der Erwartung, er werde im nächsten Augenblick vom Schlage gerührt zu Boden sinken; er schnupfte greulich und ununterbrochen, sein Rock und Vorhemdchen waren mit »Schneeberger« (Art Schnupftabak, LG) bedeckt, und dabei sollte er jedes Gespräch zu einer Dame mit den knurrigen Worten einleiten: »Können Sie kochen, he?«
Also den hatten ihr die Cousinen ausgesucht! Kerlchens Augen waren verdächtig blank, als sie am Hochzeitsmorgen das zartduftige, mattblaue Kleidchen überzog und sich mit Vergißmeinnichtsträußchen bestecken ließ.
»Kann ich nicht gar keinen Tischnachbar haben?«, fragte es noch in letzter Stunde die Tante.
»Nein, mein Herzenskind«, kicherte diese, »du bist unser liebes Nichtchen und mußt fein versorgt werden, Hauptmann von Borby ist zwar etwas wunderlich, aber doch ein Ehrenmann und Borby ein schönes Gut, du liebe Zeit, tausend Mädchen würden glücklich sein – – –«
»Ich will aber gar nicht glücklich sein«, unterbrach Kerlchen ihre Tante recht energisch, und diese guckte ihr Nichtchen sehr erstaunt an und verlor den Faden.
Meckernd und kichernd setzte sie noch ein zierliches Vergißmeinnichtkränzchen auf Kerlchens Lockenkopf und lachte auf alle Bitten Kerlchens still in sich hinein.
Dann erschien Munke, um sich das Kerlchen zu besehen, stand zuerst ganz froh erschrocken vor der lieblichen Erscheinung, küßte es zärtlich und rief: »Ich möchte wissen, was blauer strahlt, deine Augen oder dein Kleid«, dann aber sah sie Kerlchens trotzig geschürzten Mund und das Lachen der Mutter und fragte:
»Olsch, du hest doch nicht? – – –«
»I wo werd' ich!« war die unverständliche Antwort auf die unverständliche Frage, und beide Damen hatten dann laut und fröhlich lachend das Zimmer verlassen.
Kerlchen aber saß still in ihrem Stübchen, und die Sehnsucht nach Vater und Mutter kam mit großer Gewalt über das kleine, verlassene Herz.
Dann wurde ein herrlicher Strauß aus großen, leuchtenden Vergißmeinnicht abgegeben, ein langes, mattblauseidenes Band flatterte daran, eine schneeweiße Rose duftete in der Mitte.
Kerlchen ließ seine Augen liebevoll ein Weilchen auf dem wahrhaft künstlerischen Blumengebilde ruhn, das ihm die Farben der geliebten Thüringer Heimat zeigte, dann fiel sein Blick auf die stark verknüllte und ziemlich unsaubere Visitenkarte: »Balduin von Borby auf Borby, Hauptmann a. D.« und es legte den Strauß still beiseite.
Ein unterdrücktes Lachen war hinter der Tür vernehmbar, dann trat Bümi herein und verkündete feierlich:
»Herr Hauptmann von Borby bittet um die Ehre, Fräulein Felicitas Schlieden zum Altare führen zu dürfen« und brach gleichzeitig über ihren Witz in so schallendes Lachen aus, daß Kerlchen mit fortgerissen wurde.
»Nun denn her mit dem Ungetüm!« rief Kerlchen laut und übermütig, nahm den Strauß hastig vom Tisch und rannte hinaus, rannte aber draußen schon gegen das Ungetüm an, das sich tief verneigte, leise lachend sagte: »Hier hängt es« und Kerlchen treuherzig und hochbeglückt aus Fritz von Rumohrs braunen Augen anschaute.
Sie sahen sich dann alle ein wenig erschrocken an, Bümi und Fritz, Tante Hedwig und Onkel Waldemar, die auch auf der Treppe standen, um dem »Experiment« beizuwohnen, denn Kerlchen lehnte so blaß und erschrocken an der Tür und seine Augen schauten auf Fritz von Rumohr, als sehe es einen Geist. Dann lief es mit einem Male wieder blitzgeschwind in ihr Stübchen, welches sie hinter sich verriegelte und die Draußenstehenden konnten ruhig ihre Köpfe schütteln und Fritz seinen braunen Spitzbart nervös drehen und streichen und unwillig sagen: »Wir hätten nicht Komödie spielen dürfen, sie ist zu gut dazu« – sie sahen ja nicht drinnen im Zimmerchen das Kerlchen mit gefalteten Händen stehen, und so rührend dankbar in den tiefblauen Septemberhimmel schauen, während das klopfende Herz und die zuckenden Lippen zugleich sprachen: »Lieber Gott, ich danke dir! Lieber Gott, er ist doch so ein Stückchen Heimat und – und –«
Dann war es wieder hinausgelaufen, wo auf dem stillen, dämmerigen Flur immer noch Fritz ganz demütig stand, und es hatte ihm beide Hände entgegengestreckt, so daß der liebe, blaue Strauß zur Erde fiel, nach dem sich beide bückten. Tüchtig rannten ihre Köpfe aneinander, und das löste sehr glücklich den Bann. Sie rieben sich beide die Stirn und Fritz sagte: »Guten Tag Kerlchen,« und Kerlchen sagte: »Fritz, du bist ein Strolch!«
Dann rannte es spornstreichs die Treppe hinunter und der mahnende Ruf von Fritz: »Kerlchen, erschrick nicht, es ist noch 'ne Überraschung da«, kam zu spät, Kerlchen war direkt gegen den Kapitän geflogen und schon umklammerten ihre Arme seinen Hals:
»Onkel Liskow! Onkel Liskow!«
Kapitän Liskow streichelte immer wieder Kerlchens Köpfchen, das sich so zärtlich an ihn schmiegte, er sah, daß die Tränen unaufhaltsam über seine Wangen liefen, und auch in ihm kämpfte die Rührung mächtig.
Fritz von Rumohr schaute still auf die Gruppe.
Er dachte an den »Strolch«, den ihm Kerlchen an den Kopf geworfen hatte, und meinte innerlich, daß er wohl eine andere Begrüßung erwartet hatte, aber – er wußte doch nun, wie stürmisch zärtlich das Kerlchen sein konnte.
Dann hatten die Glocken vom Buchenwalder Kirchlein mit vollem Ton zu schwingen angefangen, eine liebe, leichte Mädchengestalt war neben ihm geschritten, das Köpfchen gesenkt, weil die Sonne so voll und blendend auf den Hochzeitszug herniederschien, und dann waren sie ins Gotteshaus getreten.
Fritz von Rumohr sah auf das Köpfchen und den Vergißmeinnichtkranz nieder, und da hob es sich langsam zu ihm empor, und die Blauaugen schauten ihn träumend, glücklich, vertrauend und fragend aus leicht erblaßtem Gesichtchen an:
»Hab ich das schon einmal erlebt?« fragte Kerlchens Stimme flüsternd.
Er hatte sacht den Kopf geschüttelt, aber das heiße, klopfende Herz ging mit dem Verstande durch, und er raunte leise in ihr Ohr: »Erlebt noch nicht Kerlchen, aber vielleicht – – vielleicht erleben wir's noch einmal – Kerlchen, – liebes, liebes Kerlchen!«
Wie wunderherrlich doch mit einem Schlage das alte Kirchlein von Buchenwalde aussah!
Kerlchen meinte, es hätte niemals eine so heilige, verklärte Stätte gesehn.
Erst beim Hochzeitsmahl fand Kerlchen die einfache schlichte Frage:
»Und nun sag' mal Fritz, wo du plötzlich herkommst?«
»Geradeswegs aus Berlin, wo ich im prosaischsten Dienst vergraben lag, – – da kommt plötzlich Onkel Liskow und legt mir eine Fahrkarte auf die Akten und sagt: »Hast du Zeit?«
Darauf ich: »Zwei Tage.«
Darauf er: »Genügt.«
Und hier sind wir.«
Kerlchens Augen strahlten, aber die Stimme zitterte ein wenig, als es fragte, »Wann mußt du wieder fort?«
»Heute Abend noch.«
Aber es lagen doch frohe, liebe Stunden zwischen der Frage und dem »heute Abend«. Kerlchen kannte den ernsten Fritz von Rumohr gar nicht wieder, so sehr taute er auf und so tief ließ er das junge Mädchen in sein Inneres blicken, in seine Arbeiten, seine Pläne und Hoffnungen. Auch ihre gemeinsamen Sorgen um Erich tauschten sie aus, wenn es auch Kerlchen noch nicht vermochte, von ihren Befürchtungen in Bezug auf die junge angehende Lehrerin Emmy Hassee zu äußern. Kerlchen war doch im tiefsten Innern zu scheu, zu einem Fremden (und das war ihr Fritz von Rumohr eigentlich noch) von so zarten Herzensbeziehungen zu sprechen.
Nun lag in Kerlchens Kommode schon ein langer Brief von Fritz, kameradschaftlich-brüderlich, heiter wie sonst auch, aber es lag doch in den losen Blättern etwas, was man nicht lesen, nur fühlen konnte, und Kerlchen fühlte es auch, ohne sich selbst Rechenschaft davon zu geben.
Das Liebste an dem Brief war aber Kerlchen, daß niemand ihn gesehen und gelesen hatte, die Cousinen hatten viel mit sich zu tun gehabt, um in andrer Leute Sachen umherzustöbern.
Nun war es so still und friedlich in Buchenwalde, nur Onkel Liskow weilte als einziger Gast auf dem Gute und er war auch mit Riesenkoffern übergesiedelt, um auf dringenden Wunsch der Buchenwalder den Winter auf dem Lande zu verbringen.
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