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Aus Kerlchens Tagebuch.
Aus meinem Aufschreiben wird doch auch rein gar nichts mehr. Nicht, daß ich nichts zu berichten hätte, – oh eine ganze Menge, aber ich habe erstens etwas sehr strammen Dienst im Hause Käfermann, und zweitens stellt Bümi nicht nur die Käfervilla sondern ganz Hilskehmen auf den Kopf. Zur Besinnung kommt man überhaupt nicht mehr, manchmal denke ich, sie macht's zu toll, aber Frau Käfermann ist so beglückt, wieder etwas Feines im Hause zu haben, erstens, das Patenkind eines Fürsten, und zweitens die Schwester einer zukünftigen Baronin, daß sie sich alles von Bümi gefallen läßt. –
Bümi fand mich in Tränen und Wut, als sie ankam, ach, sie kam überhaupt so närrisch an.
Ich war mit Rika spazieren gegangen, weit über Perkallen hinaus, sie kann jetzt das Gehen weit besser vertragen, als früher, und bekommt auch die Anfälle nicht mehr so sehr oft.
Sie ist ein sonderbares Kind, ich hab' noch nie so eins gesehen, denn sie fragte mich neulich, wie sie aussähe, wenn sie den »Anfall« bekäme, und als ich sagte: »schauderhaft häßlich«, da wurde sie nachdenklich. Es tat mir nachher leid, daß ich's gesagt hatte, und ich wollte beim nächsten Anfall doppelt lieb zu ihr sein, – es ist aber noch keiner wieder gekommen. – – –
Auf dem Spaziergange verhält sich Rita auch wie eine erwachsene, alte Person, die mich erziehen soll, und nicht wie ein Kind von neun Jahren: »Fräulein, heute begegnet uns Dr. Schirmer nicht.«
»Wie kommst du darauf? «
»Weil Sie so niedlich aussehen.«
»Rede doch nicht solchen Unsinn, Rika, du weißt, ich mag so was nicht hören.«
»Doch, Fräulein, Sie sind rasend süß. Alle sagen's.«
»Phhhhh!«
»Nein, es ist gar nicht »phhh!« Und Dr. Schirmer will Sie heiraten, ich hab erst gestern wieder gehorcht, – da sagte Mama es dem Papa, aber Papa meinte, ein Kaufmann mit 'n soliden Hintergrund wäre besser für Sie, weil Sie so rein gar nichts hätten.«
»Rika, wir wollen von was anderm reden.«
»Nein, Fräulein, Sie müssen nicht so'n böses Gesicht machen, sonst kommt ganz gewiß mein Anfall. Mein voriges Fräulein sagte doch auch zu mir: »Jedes Mädchen will heiraten und soll heiraten, es ist unsere natürliche Bestimmung.« Ja, das hat sie gesagt, Angela war auch dabei und fand es sehr vernünftig. Fräulein, was machen Sie für ein Gesicht? Papas Buchhalter hat neulich gesagt, Sie wären zum Anbeißen, wenn Sie so'n trotziges Gesichtchen machten.«
»Der Buchhalter ist ein Schaf.«
»Oh, oh, oh, das sage ich ihm wieder, das sage ich ihm wieder!«
»Das wäre sehr häßlich von dir, Rika.«
»Wenn Sie mir einen Kuß geben, Fräulein, dann tue ich's nicht.«
»Nnnein Rika – – dann ist's mir schon lieber, du sagst es ihm wieder.«
Unter diesen erheiternden Gesprächen gingen wir weiter. Rika sprach aber von nichts anderem, als von »so was«. Sie weiß alles. Die vorige Erzieherin muß ein richtiges, geborenes Greuel gewesen sein, ach, ich denke trotz des hohen Gehaltes, trotz der Freundlichkeit, mit der Käfermanns mir begegnen, doch oft: »Wär' ich von hier fort!«
Als wir nach Haufe kamen, hatte Frau Käfermann selbst den Tee bereitet, ich wollte ja in einer halben Stunde nach K., um unsere Bümi abzuholen.
Frau Käfermann umarmte mich noch stürmischer als sonst, das tut sie leider jetzt immer, und wie wir so beim Tee saßen, fing sie plötzlich an zu stöhnen und zu seufzen, sie weinte sogar ein klein bißchen und dann fragte sie mich, ob ich sie denn gar nicht lieb hätte.« Ich wußte wirklich kaum, was ich drauf erwidern sollte, aber sie drang immer mehr in mich, und da konnte ich doch wirklich nichts anderes, als » nein« sagen.
Darauf wurde Frau Käfermann beinahe so giftig, wie sie früher war, aber dann weinte sie auf einmal los, und Rika sprang auf und lief hinaus, indem sie rief: »Ich kann Mama nicht weinen sehn, es steht ihr nicht.« »Warum sind Sie so greulich zu mir, Fräulein Felicitas,« wimmerte Frau Käfermann.
»Bin ich greulich? «
»Natürlich sind Sie das, und das ist sehr undankbar von Ihnen bei dem hohen Gehalt und den vielen Schmucksachen, die Sie doch alle tragen dürfen, wenn Sie sich mal verheiraten.«
»Ich will sie gar nicht haben, ich trage nicht gern Schmucksachen.«
»Sehen Sie, nun setzen Sie sich schon wieder aufs hohe Pferd. Sie haben es gar nicht so nötig, dies zu tun. Warum lassen Sie mich »Käfermadam« schimpfen und »Käferweib«, ist das hübsch von Ihnen?«
»Wer – wer hat Ihnen – – –«
»Sehen Sie, wie Sie blaß sind? – Kein Mensch hat es mir gesagt, ich habe es aus Ihren Briefen, die Sie bekommen haben, da steht es auf jeder Seite.«
»Meine Briefe? Woher – – –«
»Ich hab' sie alle gelesen, oder doch fast alle,« triumphierte Frau Käfermann, »das habe ich bei all meinen Stützen getan, man lernt sie so am besten kennen. Sie hatten auch noch ein dickes Buch liegen, auf welchem »Tagebuch« stand, aber ein ganz verzwicktes Schloß war dran, keiner von meinen Schlüsseln paßte.«
Ich war wie erstarrt. Frau Käfermann berichtete alles, trotz des wütenden Ärgers, der in ihr tobte, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als ob sie im schönsten Rechte sei.
»Nein, Fräulein Felicitas,« rief sie plötzlich und fiel mir um den Hals, »so dürfen Sie mich nicht ansehen, das leide ich nicht, – sehen Sie, ich will Ihnen ja alles verzeihen, ich will Sie ja gar nicht rausschmeißen, wie ich es immer bei so 'ner Revision mit den andern Stützen getan habe, – – –«
»Ich gehe schon von selbst,« sagte ich bebend vor Entrüstung und riß meine sämtlichen Schubfächer auf, um gleich mit dem Packen anzufangen, aber Frau Käfermann hielt meine Hände fest und dann umarmte sie mich wieder und bat und flehte, daß von ihrem Getöse schließlich Herr Käfermann herbeigelockt wurde.
Er machte ein sehr ernstes Gesicht, als seine Frau ihm alles erzählte, sagte nur: »Aber Minna!« und ging schnell wieder fort.
»So und nun seien Sie vernünftig, kleines Mädchen und fahren Sie jetzt hübsch nach K., um ihre Cousine zu holen. Ich will Ihnen gern alles verzeihen und Ihre Verwandte soll es gut bei uns haben, – sehen Sie, Sie kommen ja furchtbar billig weg, »Trautste«, »Baste«, ich ziehe Ihnen nichts am Gehalt ab, trotz des Besuchs, aber nun auch »hibsch verninftig« sein!«
Ich sah nach der Uhr, zitternd vor Erregung und Empörung.
Der Zug mußte längst fort sein, ich konnte nicht mehr zu meiner Bümi nach K., ach und ich hatte sie doch anflehen wollen, gleich mit mir umzudrehen, gleich zurückzureisen nach Buchenwalde, oder sonst wohin, nur fort von diesen Krämern.
Trotzdem es zu spät war, lief ich doch nach dem Bahnhof, ohne noch ein Wort zu Frau Käfermann zu sagen, deren weinerliche Stimme klagend und beschwörend hinter mir hertönte.
Der Bahnhof lag dunkel und öde da. Das Wartezimmer war stark geheizt, aber auch ganz dunkel, in Hilskehmen kommt nur alle Jubeljahre mal ein Zug.
Die Wirtin erschien aber gleich mit einer Lampe und leuchtete mir dreist ins Gesicht.
»Ach so, die Stütze von Kommerzienrats! I Chott, Freilein, was wollen Sie hier, es geht kein Zug in den nächsten Stunden.«
»Ich will jemand abholen.«
»Soooo? Jemand? Wen denn?«
»Meine Cousine!«
»Ach? – Was will die denn hier?«
»Mich besuchen!«
»Woher kommt sie denn?«
»Aus Buchenwalde.«
»Wo liegt denn das?«
»In Schleswig-Holstein.«
»Schleswig-Holstein? Ich meine, ich hätt's früher mal in der Schule gehabt, – wo bring' ich's denn nur gleich hin?«
»Da oben.« – Ich beschrieb mit der Hand einen großen Bogen.
»Ach so, – da oben im Süden«,« sagte sie befriedigt. »Na und nun machen Sie sich's bequem, soll ich Ihnen einen Grog bringen? Es ist kalt draußen.«
»Nein, nein,« wehrte ich ab, »dafür ist's heiß hier drinnen, ich möchte nur ganz still sitzen und den Zug von K. abwarten.«
»Das tun Sie dann man, Freilein,« lautete die freundliche Antwort, und als die Bahnhofswirtin hinter dem Buffet verschwunden war, hörte ich sie noch laut zu irgend jemand sagen: »Ist man gut, daß wir nich lauter so Gäste haben, die nichts bestellen, aber ich seh' schon, die Käfermannsche hat wieder etwas angestellt, deshalb wird wohl das junge Ding keinen Appetit haben, bin nur neugierig, wieviel Stützen hier noch ankommen werden, bis die Käfermannsche der Deibel holt.«
»Sie schläft, wahrhaftig, Herr Doktor, sie schläft,« rief eine lustige Stimme neben mir, und Bümis lachendes Gesicht beugte sich über mich.
Ich fuhr erschrocken in die Höhe.
»Hast du den ganzen Nachmittag verschlafen, anstatt nach K. zu fahren, wie ich dir schrieb?« examinierte Bümi weiter.
»Natürlich nicht,« gab ich etwas ärgerlich zur Antwort, »aber hier war's so totenstill, und ich bin immer etwas müde jetzt.«
»Das seh ich,« meinte Bümi mit ernstem Gesicht und überflog prüfend meine ganze Gestalt, »du siehst erbärmlich aus.«
»Aber Bümi, liebste Bümi, wie herrlich, daß du da bist,« rief ich und zog sie an mich, und wie ich ihr liebes, offenes Gesichtchen sah, da überkam mich die Erinnerung an die Vergangenheit so stark, daß ich bitterlich weinte.
»Das ist sehr gut, daß Sie sich mal ordentlich ausweinen,« sagte Dr. Schirmer, der auf Gott weiß welche Weise hierher kam, »allzu tapfer sein taugt gar nichts für ein junges Mädchen.«
Jetzt fiel mir erst ein, daß Bümi und ich nicht allein seien, und guckte aus rotgeweinten Augen den Doktor an.
»Wir treffen uns immer so ein wenig eigentümlich, Fräulein Fee,« sagte er und bot mir die Hand.
»Ja, das weiß Gott,« stimmte ich bei, »Sie müssen mich für ein Tränenkrüglein halten, aber nun komm, Bümi, und erzähle von deiner Reise.«
»Da ist nicht viel zu erzählen,« plauderte Bümi. »Ich hatte mich extra von Kiel aus in ein Nichtrauchercoupé gesetzt, nachdem ich mich bis Kiel sittsam in ein Damenabteil gequetscht hatte, wo es natürlich mörderlich langweilig war. Aber denk dir, bis Berlin fuhr ich desgleichen mit lauter Frauenzimmern, weil für sie kein anderer Platz vorhanden war, und mußte schließlich in den sauren Apfel beißen und mich »Für Raucher« setzen, wenn ich überhaupt eine vernünftige Männerunterhaltung haben wollte. Und siehe, mein Streben wurde belohnt, Herr Doktor Schirmer machte die Reise mit mir.«
»Sie waren in Berlin?« fragte ich erstaunt.
»Ja, es tagte eine Ärztekonferenz dort, und als ich ziemlich ermüdet meine Reise nach Ostpreußen wieder antreten wollte, fand ich Ihre Cousine in dem Rauchcoupé, worin ich schon vorher einen Platz für mich belegt hatte.«
»Er machte ein sehr verblüfftes Gesicht,« triumphierte Bümi, »er wußte nicht, ob er in meiner Gegenwart rauchen sollte, aber da bat ich ihn selbst um eine Cigarre, und wir qualmten zusammen.«
Ich lachte.
»Ja, sehen Sie, Fräulein Fee, diese edle Handlungsweise Ihrer Cousine erinnerte mich unabweisbar an Sie, und ich dachte: So würde Kerlchen handeln, wenn es eben noch »Kerlchen« wäre.«
Bümi machte ein erstauntes Gesicht und fragte: »Bist du nicht mehr Kerlchen?« und als der Doktor sich mit dem Gepäck beschäftigte, das eben herangefahren wurde, raunte sie mir zu: »Kerlchen, er spricht so intim mit dir, so »mit 'n Tonfall«, – Kerlchen, er wird doch nicht – – – –?«
»Was denn?«
»Wirkliche Absichten auf dich haben?«
»I wo! Keine Spur!«
»Gottlob! Ich bin fest entschlossen, ihn zu heiraten, er ist ein ganz lieber Kerl. Und »Franz« heißt er – wundervoll!«
»O Bümi, den Namen hast du doch nie ausstehen können!«
»Is wahr? Na, da siehst du, was die Liebe tut, jetzt finde ich ihn entzückend.«
Wir gingen nun nach Hause, neben uns fuhr der Handwagen des Bahnhofwirtes mit Bümis Koffer und des Doktors Reisetasche, welche Zusammenstellung der sanguinischen Bümi schon eine gute Vorbedeutung schien.
Und auf diesem Wege erzählte ich ihnen alles, meinen ganzen Schmerz im Hause Käfermann und Bümi, die sich wohl schon als künftige Doktorsfrau fühlte, bemerkte ingrimmig: »Man sollte sie einfach sezieren.«
Der Doktor lachte, aber dann wurde er gleich wieder ernst.
»Sie müssen fort,« sagte er rauh, »je eher, je besser, Sie verkommen hier.«
»Das meinte ich auch,« entgegnete Bümi gemütlich, »unser Kerlchen hat ja niemand hier, dem es ihr Leid tragen könnte. Ja, wenn Sie, Herr Doktor, eine nette Frau hätten, – natürlich müßte sie Kerlchen kennen und lieb haben – – –«
»Au!« sagte der Doktor. Er hatte sich mit dem Ellbogen an dem Gepäckkarren gestoßen, der dicht neben uns fuhr.
Vor des Doktors Hause verabschiedeten wir uns sehr umständlich, er und Bümi hatten ein richtiges Komplott geschmiedet, das darauf ausging, für mich zu sorgen. Sie verhandelten aber so laut darüber und blieben so lange vor der Haustür stehen, daß ich endlich sagte:
»Na, wenn ihr noch lange für mich »sorgt«, dann kommt Frau Käfermann heraus und versorgt uns auch, indem sie uns mit dem nächsten Zuge heimjagt.«
Bümi zuckte nur verächtlich die Achseln, und wir gingen zu Käfermanns.
Beim Anblick des Hauses sagte Bümi nichts als: »Übergeschnappt«, und als Frau Käfermann die Treppe herunter kam, um uns zu begrüßen, flüsterte Bümi mir zu:
»Du redest jetzt keinen Ton und läßt mich allein handeln.«
Von nun an erkannte ich Bümi überhaupt nicht wieder. Sie war ganz grande dame, sah die kleine, dicke Frau Käfermann von ihrer stattlichen Gardemaßgröße herab an und sagte mit strenggerunzelten Augenbrauen :
»Eigentlich wollte ich in's Hotel gehen, aber in so einer kleinen Stadt würde dann jeder gleich wissen, daß etwas vorgefallen ist, und es muß Ihnen ja daran liegen, daß nicht alle Welt erfährt, was Sie getan – nämlich das Briefgeheimnis in gröbster Weise verletzt haben.«
Frau Käfermann wußte gar nicht, wie ihr geschah, sie hatte hoheitsvoll meine Cousine empfangen wollen und nun wurde sie selbst so traktiert. Sie wollte, nachdem sich ihre Verblüffung gelegt, zornig aufbegehren, aber Bümi wies sie mit einer überaus vornehmen Handbewegung in ihre Schranken.
»Uns ›vom Hofe‹ sind derartige Sachen doppelt so peinlich wie andern Sterblichen,« sagte Bümi und errötete kein bißchen bei dieser faustdicken Lüge, während Frau Käfermann ganz zusammenknickte.
Bümi und ich stiegen nun nach meinem Stübchen hinauf, in welchem wir beide wohnen sollten.
Ich hatte ihr mein Bett abgetreten, denn das Sofa ist viel zu hart und schmal für sie, aber auch beim Anblick des Bettes fragte sie, ob sie sich einen Knoten in die Beinchen knüpfen sollte.
Am andern Morgen wohnte Bümi meinem Unterricht bei, das heißt, sie hörte zu, wie ich mit Rika deren Schulaufgaben durchging.
Rika war unausstehlicher denn je, – dieses frühreife Kind ist eifersüchtig auf Bümi, ich soll mein Cousinchen weder ansehen, noch mit ihr lachen, ich soll nur für Rika da sein.
Ich muß doch ein recht schwacher Kerl geworden sein, – mich macht dieses ganze Treiben so unsäglich müde, ich kann auch nicht darüber lachen, – nein, als Bümi der schreienden und um sich schlagenden Rika gehörig heimleuchtete. was ihr doch gewiß recht gesund war, da heulte ich mit Rika um die Wette.
Beim Mittagessen lag schon wieder ein kleines Lederetui neben meinem Gedeck, und Herr Käfermann bat mich ganz demütig, die goldene Nadel als Versöhnungszeichen anzunehmen, es tue seiner Frau so sehr, sehr leid, in meinen Briefen herumge – – hm, hm – – – Einsicht in meine Briefe genommen zu haben.« Ich war recht hilflos und bedrückt bei dieser Rede – und doch stieg mir das Blut heiß in den Kopf, daß mit schnödem Geschenk alles abgetan sein sollte.
Bümi aber stellte einfach das Kästchen auf den Platz von Frau Käfermann und sagte energisch :
»Meine Cousine nimmt ungern Schmucksachen von fremden Leuten an – noch dazu, wenn sie so schwer gekränkt worden ist, ich denke, Frau Käfermann wird noch öfters Gelegenheit haben, bei ihren Stützen Unrecht gut zu machen – – wir verzichten darauf.«
Da tat mir nun wieder Herr Käfermann leid, aber Bümi meinte nachher:
»Wie kann einem ein Mann leid tun, der sich so ein Weib genommen hat. »An der Frau, die der Mann sich erwählt, sieht man, wes Geistes er ist, und ob er den eigenen Wert fühlt.« Aber Dr. Schirmer hat recht, du mußt hier fort, und zwar bald. Du bist nur noch ‚der Schatten der Maria'. Du mußt fort, und Dr. Schirmer soll her, ich muß ihn notwendig sprechen.«
»Das geht nicht, Bümi, er wird hier nicht mehr vorgelassen. Herr Käfermann hat ihm das Honorar schicken müssen, seine Frau liebt den Doktor nicht.«
»Das will ich mir auch verbeten haben, ich liebe ihn schon alleine und sprechen will und muß ich ihn.«
»Ach, liebe Bümi,« flehte ich, geh bloß nicht zu ihm in die Wohnung, – du darfst es nicht, wirklich nicht.«
Bümi sah mich eine Weile starr an.
»Kerlchen!« rief sie endlich ganz entsetzt, »was ist in dich gefahren? – Hältst du mich für so in Grund und Boden verdorben, daß ich einem jungen, unverheirateten Manne aufs Zimmer laufe?«
Oh, wie war mir zu Mute! Ganz blaß war ich geworden, und die Tränen stiegen heiß in meine Augen. Was für ein schreckliches Geheimnis schwebt nun zwischen diesem fremden Doktor und mir! Aber er ist ja so gut und klug, er wird mir schon längst verziehen haben.
Bümi war sehr zärtlich zu mir.
»Du liebes Kerlchen,« sagte sie, »du wirst uns hier noch krank und bekommst Wahnvorstellungen, ich werde jetzt energisch überlegen, wie ich den Doktor sprechen kann.« – – – Aber – weiß der liebe Himmel, ob ihr die Reise schlecht bekommen war, oder sie sich so um mich abgesorgt hatte, unsere lustige, übermütige Bümi wurde krank.
Sie lag den ganzen Nachmittag auf dem Ruhebett, hatte sich in einen Schal gehüllt, weil sie fror, und aß nichts, als Leberwurstsemmeln, für die sie schon immer eine Leidenschaft hatte, und die ich ihr von ihrem eigenen Taschengeld besorgen mußte.
Willy Reymers las ihr vor, und da Frau Käfermann in großer Angst um eine abermalige schwere Krankheit im Hause war, schickte sie Willy auch zum Medizinalrat, der aber nicht zu Hause war.
Auf dem Rückwege von ihm war der gute Junge in seiner Sorge um Bümi rasch zu Dr. Schirmer gelaufen und brachte ihn auch gleich mit.
Frau Käfermann wollte erst sehr ablehnend sein, aber Bümi war so hinfällig, daß sie ins Gegenteil verfiel und ordentlich nett mit dem Doktor wurde, wenigstens bat sie ihn dringend, am andern Tage wieder nachzusehen.
O diese Bümi!
Heute Nacht wachte ich plötzlich auf, das Zimmer war erleuchtet, und in ihrem Bett saß Bümi aufrecht.
Ich sprang mit beiden Füßen zugleich heraus, denn ich glaubte, es gehe ihr noch viel schlechter, aber sie sah mich vergnügt an, hatte den letzten Rest Semmeln neben sich liegen, in der rechten Hand das Messer, in der linken eine halbe Leberwurst und sagte ruhig :
»Ich komme um vor Hunger!«
»Geht es dir denn besser?«
»Es war mir nie im Leben so wohl, als in den letzten Tagen.«
»Bümi!!!«
»Schrei nicht so, und mach nicht so'n entsetztes Gesicht. Gib mir lieber 'n Kuß und bedank dich, daß deine süße, gute Bümi auf den genialen Einfall kam, den Doktor herzuschwindeln und treu vereint mit ihm für dein Wohl zu sorgen. Kerlchen, glaubst du außerdem, daß er mich liebt?«
Aber ich war noch zu verblüfft, zu – zu zornig – ja zornig war ich auf Bümi!
Als ich jedoch in ihr strahlend glückliches, gutes Gesichtchen sah, auf den lachenden Mund, der voll Leberwurstsemmel steckte, da schlug mein Zorn in das Gegenteil um, ich faßte sie um den Hals und küßte sie herzhaft.
»Was habt Ihr denn nun über mich verhandelt?« fragte ich.
»Die Sache ist noch nicht spruchreif,« entgegnete Bümi mit wichtiger Miene. »Ich muß morgen noch ein kleines, unschuldiges, gegen die vorhergehenden Tage sehr abgeschwächtes Fieberchen heucheln, – dann wirst du die Frucht unserer edlen Bestrebungen sehen.«
»Ach, Bümi, – es ist doch nicht recht!«
»Kerl, bist du ein Philister geworden, schäm dich! Aber du hast mir noch garnicht gesagt, ob du glaubst, daß Dr. Schirmer mich liebt.«
»Bümi, – ich – ich – ich weiß es nicht – – –«
»Siehst du, Kerl, das ist schlimm! Und das Schlimmste ist, daß ich es auch nicht weiß.«
Die unberechenbare Bümi fing plötzlich an bitterlich zu schluchzen, hörte aber eben so plötzlich auf, entfernte wütend die Semmelkrumen aus ihrem Bett und fuhr mich an:
»Marsch, ins Bett! Du willst wohl krank werden? In diesem gesegneten Lande, wo sich Füchse und Bären Gutenacht sagen, kannst du dich ja in den Tod erkälten. Klock 3 Uhr nachts im tiefsten Negligee!«
Ich stieg ganz erschrocken wieder in mein Sofalager und hörte zu meinem tiefsten Leid sie bald leise weinen.
»Gute Nacht, Bümi! Ach, wein doch nicht.«
»Hol dien Mul! – Ich schlafe!«
»Dein dummes Tagebuch!« sagte heute Bümi zu mir.
»Es kann wohl sein, daß es dumm ist,« gab ich zur Antwort, aber deshalb lasse ich doch nicht von ihm.«
»Ach, so meine ich's ja gar nicht,« rief sie ärgerlich. »Es ist dumm, daß du immer bei ihm sitzt und alles andre drüber vergißt.«
»Er ist mein einziger Freund.«
»Sooo? Und wir?«
»Ihr seid ja nicht immer bei mir, und außerdem schreib ich Euch ja hinein.«
»Laß mal sehn!«
Es entspann sich ein heftiger Kampf zwischen uns, aber ich blieb Sieger, schleuderte mein Tagebuch in den offenstehenden Schrank und schloß zu.
Bümi war übrigens gar nicht aufgebracht drüber. »Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen«, sagte sie ruhig, »ich habe auch gar kein Mißtrauen, dazu sind wir beide zu anständige Kerle.«
»Wenn du hineingesehen hättest, würde ich das Buch sofort in den Ofen gesteckt haben,« sagte ich trotzig, »und wenn ich wüßte, du trautest mir etwas Unehrenhaftes zu, dann verbrenne ich es jetzt noch.«
»Na, ein Trost – ich sehe, du bist noch die Alte! Schreibe also ruhig weiter an dem dickleibigen Bande und ergötze in späteren Jahren deine vierundzwanzig Kinder damit. Sie werden dann aus den Blättern sehen, welch ein Engel Tante Bümi war, die schon so lange – lange der grüne Rasen deckt.«
»Bümi, dafür siehst du noch recht munter aus.«
»Spotte nicht, Kerlchen. Daß meine Lebenskraft untergraben ist, habe ich heute ganz deutlich gemerkt, als Doktor Schirmer nicht kam. Hörtest du nicht mein wahnsinniges Herzklopfen, sahst du nicht meine gerungenen Hände?«
»Keins von beiden, Bümi, ich sah nur, daß du mehrmals die Treppe herunterrastest und dich an die zugige Haustür stelltest. Nun tobt ein Schnupfen in dir, und wir müssen einen Nasenspezialisten aus Königsberg rufen.«
»Kerlchen, du bist herzlos. ›Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide, es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide.‹ Aber das kümmert den Barbaren nicht. Anstatt mir helfend beizustehn, fährt er über Land auf Praxis und läßt mir diesen öden Zettel zurück. Hör zu:
Alles läßt sich gut an. Ich halte G. für das Geeignetste. Sollte es meine Zeit erlauben, so fahre ich unbedingt selbst noch hin. Grüßen Sie Fräulein Fee, ich muß gleich über Land und kann Sie heute nicht sehen, da es ein schwerer Fall ist.
Ergebenst Dr. S.«
»Schwerer als mein Fall ist, kann der andere auch nicht sein,« setzte Bümi seufzend hinzu.
»Aber, Bümi! – – Und nun möcht' ich endlich wissen, was ihr zwei miteinander verhandelt, mich geht's was an, also heraus damit!«
»Kerlchen, Genaues darf ich dir noch nicht sagen. Sieh, Doktor Schirmer und ich betrachten uns als deine Eltern – –«
Ich lachte laut und anhaltend.
»Kerlchen, findest du dein Benehmen edel? Ich nicht. Du kannst dir nirgends treuere Beschützer denken, als Doktor Schirmer und mich.«
»O Bümi, Bümi, das weiß ich ja, aber als »Eltern!« – denk doch an die Jahre!«
»Auf die Jahre kommt es nicht an, sondern auf den Geist, aber – einerlei – sagen darf ich dir also noch nichts – du hörst ja, er will selbst hin – er bemüht sich sehr um dich, Kerlchen, – sehr – sehr!«
*
Heute morgen, als ich an Rikas Sachen etwas in Ordnung brachte und recht gemütlich mit Bümi arbeitete, wurde Dr. Schirmer gemeldet.
Bümi war Feuer und Flamme, nahm aber sofort ein sehr leidendes Aussehen an, als Frau Käfermann gleichzeitig auf der Bildfläche erschien.
Zum Glück für Bümi kam auch die Schneiderin, die einen wichtigen Platz in der Villa behauptet; Frau Käfermann und ich verschwanden in der »Nähstube« und überließen die beiden ihren Verhandlungen. Ich muß ja jetzt immer in Toilettenangelegenheiten raten, es kommt mir oft so lächerlich vor, ich hab mich ja früher nie um diese Art »Staatsangelegenheiten« gekümmert.
Heute nun zog ich die Sache mit Absicht recht in die Länge, die Schneiderin konnte mir gar nichts recht machen.
Als ich endlich, endlich fertig war, hatte der Doktor das Haus schon verlassen, Bümi saß ganz still vor dem Tisch und starrte vor sich hin.
Ich erschrak wirklich, als ich ihr blasses Gesicht sah, in welchem ich ein paar ganz traurige Augen erblickte.
»Ist etwas geschehen, mein gutes Bümi,« fragte ich teilnehmend.
»Nein,« sagte sie müde. »Passiert ist gar nichts, – nur – siehst du, Kerlchen, du nimmst es mir wohl nicht übel, wenn ich – – sieh mal – ich habe hier doch eigentlich nichts zu tun – und der Aufenthalt bei Käfermanns ist so niederdrückend für mich und auch für dich – Kerlchen, ich möchte spätestens morgen wieder abreisen.«
»Bümi,« rief ich in grenzenloser Bestürzung, »wie ist denn so was möglich!«
Ich dachte an ihren großen Reisekoffer, an die »4–5 Wochen«, von denen sie immer gemunkelt hatte, an ihre Pläne mit dem Doktor.
»Doch, mein Kerlchen, es ist alles möglich,« erwiderte Bümi ernst. »Ich will dir auch reinen Wein einschenken.«
Sie zog mich neben sich aufs Sofa.
»Sieh, Kerlchen, bis jetzt habe ich viel dummes Zeug geschwatzt, viel Ulk gemacht, – aber jetzt weiß ich's ganz, ganz genau: »Den Doktor hab ich lieb von Herzensgrund.« Und ihm bin ich so – so gleichgültig, wie – nun wie ungefähr Frau Käfermann. Wir kennen uns ja noch wenig, – aber ich fühl's bei jedem Worte, bei jedem Blick, den er auf mich richtet, kein Gedanke von ihm beschäftigt sich länger als zwei Sekunden mit mir. Dagegen hat er sich unglaubliche Mühe gegeben, daß du aus diesem Haufe kommst. Er hat neben seiner großen Praxis, die ihn doch wahrhaftig genügend in Anspruch nimmt, noch eine weite Reise unternommen, um dir zu helfen.
Sein drittes Wort ist »Kerlchen,« er quält sich mit dem Gedanken, daß du hier nicht gut behandelst wirst, daß du zu viel arbeiten mußt, daß du am Ende »deine Eigenart« verlierst, wie er sich ausdrückt, – kurz und gut, Kerlchen, der Doktor sorgt sich so um dich, wie man sich um die sorgt, die einem »alles« ist. – Ach – ich kenne ja die Männer!«
Dabei machte Bümi ein so weises Gesicht, als hätte sie mindestens schon ihren vierten Mann begraben und eine Greisin sei von achtzig oder so herum.
»Ich glaube doch, Bümi, du täuschest dich,« wagte ich einzuwerfen, aber sie trumpfte mich energisch ab:
»Ich täusche mich nie! So, – und hier ist der Brief, den dir der Doktor schickt, du brauchst ihn mir nicht zu zeigen, ich habe kein Talent zu dem berühmten Pelikan, den wir früher in der Geschichtsstunde hatten.«
Ich überflog rasch den Brief.
Liebes, verehrtes Fräulein Fee!
Durch einen Patienten bin ich auf eine Stelle aufmerksam gemacht worden, die Ihnen hoffentlich in jeder Weise zusagen wird. Ich bin selbst in G. gewesen und habe die alte Dame gesprochen, die etwas wunderlich, aber sonst von Herzen gut ist. Bei Käfermanns dürfen Sie nicht bleiben, Sie kommen hier ganz herunter, das sehen Sie wohl selbst ein. An Gehalt bekommen Sie bei Fräulein von Dörrberg dasselbe, was Käfermanns Ihnen geben, aber Sie haben dort nur »Gesellschaft« zu leisten, nicht zu erziehen, wenn es auch nichts schaden wird, bei den Wunderlichkeiten des alten Fräuleins ein wenig »Kerlchen als Erzieher« zu spielen.
Verzeihen Sie mir das Komplott, das ich im Verein mit Ihrer guten und liebenswürdigen Cousine geschmiedet, ich meine es ja so gut mit Ihnen.
Ich werde in den nächsten Tagen nicht zu Ihnen kommen, da ich über Land bin. Wenn ich zurückkehre, ist hoffentlich alles in Ordnung, sprechen Sie sofort mit Käfermanns.
Ihr treu ergebener
Schirmer.
Adresse:
Fräulein von Dörrberg,
Haus Hammer in G.
*
Nun bin ich wieder allein. Eben hab ich meine Bümi zur Bahn gebracht, sie ließ sich nicht halten, sie war so verändert, so ernst und niedergedrückt und wollte die Rückkehr des Doktors gar nicht erst abwarten.
Lauter dummes, häßliches Zeug redete sie, es tut mir weh, und ich glaube nicht, daß sie recht hat.
»Ich hab mich ihm an den Hals geworfen, Kerlchen,« sagte sie zu mir, »und deshalb mag er mich nicht leiden, oh, Kerlchen, wenn ich doch so werden könnte, wie du!«
Der letzte Satz ist ja nun vollends der offenbarste Unsinn, aber die Tatsache steht fest, meine Bümi ist fort, der Doktor ist fort, von Fräulein von Dörrberg hab ich noch keine Antwort, Frau Käfermann ist außer sich, daß ich fort will, Rika spricht kein Wort mehr mit mir und das Essen wird mir auf dem Zimmer serviert.
Vogelfrei!
*
Als ich heute am Fenster saß, sah ich, wie der Doktor zurückkam, er grüßte hinauf zu mir aus seinem Wagen und gleich darauf klingelte er. Dann hörte ich einen ziemlich erregten Wortwechsel zwischen ihm und Rika und als ich auf den Flur trat, rief er mir gleich entgegen :
»Ist es wahr, daß Fräulein Bümi Schlieden abgereist ist? Aber das ist ja gar nicht möglich,« entgegnete er ungeduldig auf meine bejahende Antwort, »das ist ja Fahnenflucht.«
»Sie sind ja zuerst flüchtig geworden,« meinte ich etwas ärgerlich.
»So? Und weiter haben Sie keine Begrüßung für mich?«
Ich streckte ihm beide Hände hin.
»Doch! Ich danke Ihnen aus Herzensgrund! Sie sind furchtbar gut mit mir gewesen, ich verdiene gar nicht, daß Sie sich so doll um mich bemüht haben, – ich habe nur an Bümi gedacht, und wie traurig sie abreiste, sie ist so gut und hat extra die weite Reise hierher gemacht, um mir zu helfen.«
»Ja, – und nun grübeln Sie über diesen Fall nach und die eigenen Angelegenheiten vergessen Sie. – Was sagen Sie zu Fräulein von Dörrberg?«
»Ich habe gleich hingeschrieben und Frau Käfermann ist so böse auf mich, sie wollte mich durchaus nicht fortlassen.«
»Kunststück,« murmelte der Doktor.
Haus Hammer im Mai.
Das ist ein Grünen und Blühen um mich her – nicht zu sagen. Wie gut hat's der liebe Gott mit mir gemacht!
Aus der geschmacklosen rot und blauen Käfervilla durfte ich in dieses weiße, grünumsponnene Häuschen fliegen, oder, wie der Oberamtmann Lienau sagt, – »aus dem häßlichen Käfer ist ein lichter Schmetterling geworden.«
»Naturgeschichte schwach,« pflegt dann Fräulein von Dörrberg zu sagen.
Dieser »Witz« wiederholt sich zweimal wöchentlich, wenn Oberamtmann Lienau zum Ekartéspielen komm, und jedesmal wird so herzlich darüber gelacht.
Ach, mein liebes, liebes Hammerhäuschen!
Wie kann man nur etwas so lieb haben, was man so kurze Zeit erst kennt!
Stundenlang könnte ich davor sitzen – auf der Bank am Waldessaum und nach dem Hause hinübersehen, wie es so weiß und schmuck aus den alten Bäumen herauslugt. Die blitzblanke Haustür mit den Messingbeschlägen, zwei große Fenster rechts und links von ihr und dann oben das liebe Giebelchen mit den zwei kleinen, weiß-behangenen Fenstern, – wirklich wie zwei Augen sehn sie aus, über die die wilden Weinranken wie lange Wimpern fallen, – aber wenn die Fensterlein geöffnet werden, und die alte Magd das Weinlaub in die Höhe schiebt, damit auch ja die liebe Sonne hineinleuchten kann, dann lachen die zwei Augen so lieb und gemütlich und strahlend, daß ich mich nicht satt dran sehen kann. Sie haben aber auch Ursache zum Lachen: wo gibt's noch sonst solche Berge, solche Wälder und Felder, solche weiße, schöne Landstraßen, solch' einen Vorgarten mit tausend verschiedenen Blumen und solch' mächtigen Obstgarten, der jetzt in lichter Blüte steht!
Da oben ist mein Reich; es ist so geräumig, so hell und luftig und erinnert mich ganz und gar an mein Zimmerchen in Schwarzhausen. – Damals war ich noch das glückselige Kerlchen, damals hatte ich noch alles und schätzte nicht das Einzelne, aber jetzt?
Ich möchte dem lieben Fräulein von Dörrberg die Hände unter die Füße legen, wenn sie es verlangte – aus lauter Dankbarkeit –, aber sie verlangt es nicht.
Als ich vor einem Vierteljahr ankam, da waren die Laubbäume noch kahl, und das Hammerhäuschen schmiegte sich ganz ängstlich an die Tannen, als fröre es und suchte Schutz.
Und doch war's so warm drinnen, – hier wird nicht mit dem Heizen gespart, das Holz liegt hochaufgestapelt im »Verschlag«. Über der Haustür hing eine mächtige Guirlande aus großen Eichenblättern, die Fräulein von Dörrberg im Sommer sammelt und »präpariert«, damit sie sich das ganze Jahr über halten, und als Blumen dienten dicke Büsche von Heidekraut. Auf rotem Papier stand in mächtigen Buchstaben :
Das hatte der alte Knecht, der Karl, verbrochen und Fräulein von Dörrberg sagte: »Das Herz und die Nieren sind die Hauptsache, – die Orthographie bammelt nur so drumrum.«
Der alte Karl hatte mich auch vom Bahnhof abgeholt in einer ehrwürdigen, alten Kutsche, so groß wie die Arche Noah, und er selbst konnte auch für Vater Noah gelten mit seinem grauen Krauskopf und Riesenbart. – Der große Hund Tyras guckte als Vertreter der Zoologie ernsthaft vom Bock herunter, (um mich anzubellen, war er viel zu würdig) und als ich in die lavendelduftenden Polster der Kalesche versank, der Karl mir vertraulich zunickte, da überkam mich solch ein süßer Friede mit einem Male, als führe unsichtbar das Täubchen mit dem Ölzweig neben mir.
Unterwegs entdeckte ich in zwei mächtigen Seitentaschen aus Tuch, die in der Kutsche neben dem Sitze angebracht waren, verschiedene kleine Päckchen, die sehr appetitlich rochen, eine Rotweinflasche bewachte das Stilleben.
Ich hatte großen Hunger und wickelte so ein Päckchen aus, das mir eine braunknusprige Semmel mit Schinken zeigte, und gerade als ich es seufzend wieder einpacken wollte, hörte ich die freundliche Stimme meines Rosselenkers zu mir hereinrufen:
»Hornaffe, dämlicher! Nä, du schnappst doch heute noch über!«
Ich starrte ihn erschrocken an, und er fuhr fort: »Das gnedige Freilein hat mich doch nu noch extraich uffgetragen, Ihne die Bredchen un das Fläschchen anzebieten, ech vernagelter Quatschengliemes hab's reineweg und beabeh verschwitzt. Ech Hornaffe!«
Ich biß schon längst vergnügt in die Semmel und nachdem ich Karl vergebens gebeten hatte, mitzutun, hielt ich mich auch an die übrigen Brötchen und vertilgte sie bis aus die letzte Krume.
Karl schaute ab und zu schmunzelnd auf mich hin, und als ich fertig war, zeigte er mit dem Peitschenstiel auf die Flasche Rotwein.
»Wo hingegen es nie gegen meine Natur is, »sowas« anzunehmen,« meinte er diplomatisch. »Bei sonne Demberadur gann mer nich satt Warmes im Leibe haben.«
»Prrrr, öh Hanne,« rief er gleich darauf das Handpferd an, die Arche Noah blieb gemütlich am Wege stehen, und ich konnte die Flasche entkorken. Karls altes, gutes Gesicht strahlte, als der Rotwein in das Glas gluckerte. Ich mußte zuerst einen ordentlichen Schluck nehmen »vor de Aufregung«, wie Karl meinte, dann trank er das Glas aus »uffn Wohle vons Freilein.«
Hierauf schenkte ich frisch ein und mußte »uffn friedliches Läben in 'n Hammerheischen« trinken, den Rest bekam immer Karl, bis ich schließlich lachend dankte, aus der Arche sprang, mich zu ihm auf den Bock setzte und ihm die Zügel energisch aus der Hand nahm.
Einen allerletzten Schluck mußte ich noch an einem Kreuzweg nehmen, damit mir »in den neien Läbensabschnitt niemand nischt anhaben gennte,« wie Karl geheimnisvoll sagte, – er nippte aber immer gemütlich weiter, und als ich ihn etwas vorwurfsvoll ansah, meinte er: »'s wär ä Jammer ums Stöffchen, wenn's »kahmigt« würde.«
Ach, wie glücklich war ich, wieder mein liebes »Dhiringsch« zu hören, – – war ich auch ziemlich weit von Schwarzhausen entfernt, so hörte ich doch die heimatlichen Laute unverfälscht, ich atmete tief auf, und eine grenzenlose Dankbarkeit zog in mein Herz. –
Nach zwei Stunden hielten wir vor dem Hammerhäuschen, das ganz abseits von dem großen Marktflecken liegt. Aber bis vor das Haus begleitete uns eine Herde Jungen, die unermüdlich Rad schlugen und sich dann um die Pfennige balgten, die ich hinauswarf.
Karl zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das »Wilkomen!« an der Haustüre und sagte: »Das war ich,« dann beschrieb seine Hand einen großen Bogen, um die Windungen der Guirlanden anzudeuten, wobei er bemerkte: »Das war sie.«
»Sie« trat in diesem Augenblicke aus der Haustür, so zierlich, so uralt, wie mir schien, so weißlockig und hübsch, schritt wiegend an die Kutsche, prüfte die mächtige Tasche und rief fröhlich: »Brav, brav, leer ist sie!« Dann schritt sie um den Wagen herum, griff in die andere leere Tasche und fragte mit erstaunten Augen, »wo, – wo ist der Wein?«
»Da 'nein,« sagte Karl seelenruhig und zeigte auf seinen Magen, »und dahier is 's Gefäß.«
Er hob die leere Flasche hoch, und ich schämte mich furchtbar.
»Ich hab' mitgetrunken,« sagte ich kleinlaut.
Sie hörte gar nicht auf mich, ging mit großen Schritten auf Karl zu, faßte einen seiner Livreeknöpfe und sagte laut und energisch: »Du bist ein Süffel, Karl, schäm' dich!«
»Ein ganz gemeiner, elender Süffel,« bestätigte Karl, »aber gnedig Freilein, wenn das wieder verkommen tun täte, da soll mich doch gleich – – –«
Er schwankte von dannen, und wir hörten nicht mehr, welche Strafen er selbst auf sich herabbeschwor.
Und nun stellte sich Fräulein von Dörrberg vor mich hin, sah mich stramm an und ich sie auch.
Dann küßte sie mich ohne weiteres.
»Willkommen im Hammerhänschen Dörrberg,« rief sie in so herzlichem Ton und so gute Augen hatte sie – daß ich beide Arme um ihren Hals legte.
»Ach, seien Sie nicht böse, – ich hab' auch gesüffelt,« setzte ich hinzu.
Sie lachte fröhlich.
»Das solltest du auch, kleines Mädchen!«
Auf der Schwelle des Hammerhäuschens stand eine alte Frau, oh hier ist alles alt, weißhaarig und gemütlich, – ich glaub', ich bin weit und breit die einzig Junge.
»Das ist Tante Nipp,« sagte Fräulein von Dörrberg vorstellend, »meine gute, alte Nippen, die seit tausend Jahren bei mir ist und sich nach abertausend Jahren mit mir begraben lassen will.«
Und die beiden sahen sich an und lachten zusammen, es sah zu nett aus.
Wir drei stiegen nun die weißgescheuerte Treppe ins Giebelstübchen hinauf, und da hing wieder eine Guirlande und wieder ein riesiges »Willkommen,« diesmal aber in gutem, richtigem Deutsch. Und mein Stübchen selbst so warm, so sonnig, so weißgedeckt der Tisch mit einem Strauß darauf von Spätastern, die Fräulein von Dörrberg in ihrem Zimmer zieht.
»Noch 'mal willkommen, kleines Mädchen,« sagte Fräulein von Dörrberg, und diesmal küßte mich auch Tante Nipp.
»Sie' bloß mal, Nippen, was sie für Augen hat, so ehrlich und klar und blau wie unser Waldbach und dumm scheint sie auch nicht zu sein, – die nicht,« lachte Fräulein von Dörrberg; sie tat, als sei ich gar nicht im Zimmer.
»Nun mach dich zurecht, kleines Mädchen, Felicitas heißt du, gelt? Das ist ein lieber, hübscher Name, und ich hoffe, du wirst recht glücklich hier sein. Wir sind alle glücklich, gelt, Nippen? Und da ist auch noch ein anderes Willkommen an dich eingetroffen, wohl vom Bruder, oder von der Mutter, oder von dem netten Doktor Schirmer, der dich uns so warm ans Herz legte? Ist er dein Schatz?«
»Ach Gott, nein!« stammelte ich und ich wurde glühend rot, was doch sehr dumm von mir war.
»Ach Gott, nein, sagen sie alle,« bemerkte Fräulein von Dörrberg trocken, »das hab' ich früher auch gesagt.«
Tante Nipp nickte bedächtig zustimmend, und ich sah auf die mächtige, flache Kiste, die den Stempel Berlin trug, Fritz von Rumohr hatte die Adresse geschrieben.
Fräulein von Dörrberg hatte mir fürsorglich schon Hammer, Zange und Stemmeisen hingelegt, – wir knieten schließlich alle drei vor der umfangreichen Sendung und mühten uns redlich ab, ihren Inhalt ans Licht zu befördern. Endlich hob sich der Deckel. Zuoberst lag lauter Seidenpapier, Tannengrün war dazwischen gelegt, dann wieder Seidenpapier und dann – – – –
Ganz still blieb ich auf den Knien liegen, die Hände gefaltet, die beiden alten Dämchen waren aufgestanden und hatten das Bild aufrecht gegen den Schrank gelehnt.
Ja, ein Bild war es, im kostbaren und doch schlichten, breiten Ebenholzrahmen, ein lebensgroßes Bild in Kreide gezeichnet: – – mein Väterchen!
Wie es mich anschaute, so lebenswahr, so treu, so gut, nie, nie vergesse ich diesen Augenblick, und niemals vergesse ich Fritz von Rumohr diese Liebestat!
»Das hat ein Künstler gezeichnet,« sagte Fräulein von Dörrberg zu Tante Nipp, »ich verstehe mich auf die Sache,« und dann gingen beide ganz sacht zur Tür hinaus, als wüßten sie, daß ich meinem Väterchen nun so viel, so viel zu sagen hätte. – – –
Wohl erst nach einer Stunde kam ich zu den beiden Altchen zurück. Es war auch ein liebes Bild, wie sie beide am Kaffeetisch saßen, und strickten – hier ist's einem, als ob es immerwährend Sonntag wäre – nicht etwa, daß ich nichts zu tun hätte, oh nein, aber jeder Tag beginnt mit Sonntagsstille und endet mit Sonntagsfreude; so kommt es mir vor, sag' ich aber so etwas, dann lachen sie beide.
»Du bist unser Sonntagskind,« haben sie mir geantwortet.
Damals, als ich ihnen von meinem Väterchen, von meiner Familie und Fritz von Rumohr erzählte, hörten sie ganz andächtig zu und nickten so lieb und verständnisvoll, wenn ich vor Tränen nicht weiter sprechen konnte, ja, die gute Tante Nipp legte mir bei traurigen Stellen in meiner Erzählung jedesmal noch ein Stück Kuchen auf den Teller, so daß ich am Schluß vor einem richtigen Berge saß.
»Und nun mußt du schreiben,« erklärte Fräulein von Dörrberg, »die prächtige Tat dieses Herrn von Rumohr verlangt auch einen prächtigen Dankesbrief. Bist du gut mit der Feder bewandert, kleines Mädchen? Ein kalter Brief, ein formloses Hinsudeln der Gedanken hat schon oft schweres Unheil angerichtet.«
»Sie ist eine Meisterin im Briefschreiben,« flüsterte mir Tante Nipp zu und deutete auf Fräulein von Dörrberg, »und wenn Sie nicht Bescheid wissen, – sie diktiert Ihnen gern alles.«
Ich schauderte etwas und dachte an die Briefe, die Tante Emerenzia mir diktiert hatte in jener vergangenen greulichen Zeit auf Schloß Amalienlust.
»Ich schreibe sie am liebsten allein,« sagte ich etwas zaghaft, und Fräulein von Dörrberg, die mit ihren scharfen Ohren wohl unsere Verhandlung gehört hatte, nickte lebhaft, aber doch recht spöttisch zu meinen Worten.
»Nur zu, nur zu, Dummheit muß 'neinfallen. Aber nippen,« fuhr sie gleich darauf fort, – »wie kommst du dazu, dieses Kücken »Sie« zu nennen, hast du das jemals von mir gehört, solch kleinen, dummen, unvernünftigen Lebewesen gegenüber?«
Tante Nipp sah ganz bestürzt aus und murmelte etwas wie: »Die Welt verlangt es doch heutzutage.«
Aber da wurde Fräulein von Dörrberg ganz kriegerisch.
»Die Welt bekommt das von mir, was ich für gut befinde, und ich finde, »die gute, alte Zeit« war wirklich eine »gute, alte Zeit«, in der die Jungen Respekt vor den Alten hatten, in der die Kinder zu ihren Eltern »Sie« sagten und nur redeten, wenn sie gefragt wurden. Wenn damals ein siebenjähriger Bursch sich lümmelhaft betrug, bekam er eine gepfefferte Horbel und zog mit dieser ab, kam nach 'ner Stunde wieder und küßte den Eltern die Hand und bat um Verzeihung. Aus diesen Jungens sind die Kämpfer von 1866 und 1870 geworden. Heutzutage wird nicht mehr gehauen, denn das Ehrgefühl ist so zart, daß schon der ehrlich angeranzte Schuljunge zum Revolver greift. Laßt euch mal von Herrn Rektor Menschel erzählen, wie sie's in der Gewerbeschule treiben, die Bürschchen, die eine Maulschelle nur noch vom Hörensagen kennen, und ihr werdet sehen, wie weit wir schon mit unsrer vielgepriesenen Humanität gekommen sind. Ich nenne eben alle Menschen »du«, die mir in irgend einer Weise untertan sind, mag's ihnen nun passen oder nicht, und ich warte mit dem »Sie«, bis sie verständig geworden sind, was bei den Männern ungefähr im fünfzigsten Jahre, bei den Frauen schon im dreißigsten einzutreten pflegt. Die Nippen habe ich schon seit dreißig Jahren »Sie« nennen wollen, die hat's aber nicht erlaubt.«
»Das fehlte auch noch,« lachte Tante Nipp, »in diesem Falle bleib' ich gern unverständig, bis ich sterbe.«
Nach dem Kaffee durfte ich wieder in mein Stübchen wandern und den Dankesbrief schreiben.
Ich hatte mir nach der Rede von Fräulein von Dörrberg fest vorgenommen, einen gut stilisierten, langen, ausführlichen Brief an Fritz von Rumohr zu schreiben, aber als ich nun wieder vor Väterchens Bild stand, kam das unsagbar große Glücksgefühl über diesen Besitz so gewaltig über mich, daß ich einen Briefbogen aus der Mappe riß und mit fliegender Feder drauf schrieb.
Lieber, furchtbar lieber Fritz von Rumohr!
Du bist der gütigste Mensch auf der ganzen Welt, ich danke Dir aus tiefstem Herzensgrund ganz doll.
Dein glückseliges Kerlchen.
Ich kniete nieder vor dem Bilde, streichelte und küßte es, sprach mit ihm und erzählte ihm alles aus den vergangenen Wochen. Dann räumte ich sorgfältig das umherliegende Stroh und die Kistennägel fort, und bei diesem Kramen entdeckte ich noch einen kleinen Brief:
Mein liebes Kerlchen!
Du sollst nicht einsam in der Fremde ankommen, Deines Väterchens Bild soll Dich begrüßen und Dir Dein neues Heim lieb und traut machen. Bist Du nun froh, kleines Kerlchen?
Dein Fritz von Rumohr.
Ein Weilchen saß ich noch träumend da, bis Fräulein von Dörrberg und Tante Nipp wieder erschienen, hinter ihnen tauchte Karl mit einer Stehleiter auf, und nun suchten wir einen schönen Platz für das liebste Geschenk, das es für mich auf Erden gab.
Nach kaum fünf Minuten hing das Bild über dem zierlichen Schreibtisch, welcher in der Fensterecke stand, und als ich strahlend und doch unter Tränen zu ihm hinaufblickte, da war's mir, als lächelte Väterchens Mund mir zu.
Gelt, Väterchen, du bist froh, daß dein Kerlchen geborgen ist?
Dann sah Fräulein von Dörrberg meinen Brief an Fritz offen auf dem Tisch liegen.
»Ist das alles?« fragte sie mißbilligend angesichts der vier Zeilen.
»Ich wußte nichts mehr.«
Sie machte sich weiter kein Gewissen daraus, den Brief durchzulesen, nicht nur einmal, nein, immer wieder überflog sie die Worte, dann, als sie sich wieder zu mir wandte, standen ihre Augen voll Wasser.
»Kleines Kerlchen,« sagte sie bewegt, »wer so danken kann, ist ein Glückskind.«
*
Brief von Bümi an Kerlchen.
Geliebtes Lüttes!
Weißt Du, daß es eine Qual ist, jetzt einen Brief an Dich schreiben zu müssen?
Weißt Du, daß ich viel lieber Dich jetzt totküßte, weil ich nicht weiß, was ich mit all der Glückseligkeit anfangen soll?
Lieber Kerl, alter Kerl, goldiges Kerlchen, der Doktor Schirmer gehört mir! Mir, Deiner Bümi, dem unbedeutsamsten Mädchen in ganz Schleswig-Holstein und den angrenzenden Ländern. Seine Braut bin ich, seine »angebetete, süße, schöne, liebe, gute Bümi« (eigene Worte dieses vortrefflichen Mannes), und in weniger als einem Vierteljahr werde ich Bümi Schirmer heißen. Ob die Engel im Himmel nicht ihre Freude an dieser Namenzusammenstellung haben?
Heute oder morgen bekommst Du die Verlobungsanzeige. Leider hat die »Olsch« hinter meinem Rücken mit dem »Jüngschen« im Komplott gesteckt und meinen dummen Taufnamen drucken lassen, sodaß natürlich kein Mensch weiß, wer »Carla Schlieden« ist und die Eltern in den Verdacht kommen, noch ein heimliches Kindlein bekommen zu haben, welches nun die ältere Schwester »auf den Backofen« setzt, wie der Volksmund sagt.
Aber was will ich machen?
Die Olsch ist aus Rand und Band, seit ihr der Himmel drei Schwiegersöhne geschickt hat – einer immer netter als der andere – und die, Gott sei's geklagt, auf Seiten ihrer Schwiegermutter stehen.
Die Olsch macht sämtliche Schwiegermutterwitze der »Fliegenden Blätter« zu schanden, so zärtlich und gut ist sie mit den drei Habichten, die ihr die Küchelchen rauben wollen und zum Teil schon geraubt haben.
Alle Ermahnungen, die Munke und ich mündlich, und Luttewete schriftlich vom Stapel lassen, helfen immer nur für eine Weile, die Olsch gelobt Besserung, schlägt aber gleich wieder über den Strang.
Am gestrigen Verlobungsmahl nahm auch Dein liebes Muttchen teil. Sie kommt sonst nicht viel aus ihrer Klause heraus, aber ich bat und flehte herzbeweglich, und den Ausschlag gab die Anwesenheit meines Schatzes, der auf drei Tage die weite Reise riskiert hatte; ein junger Kollege vertritt ihn in Hilskehmen.
Während der Tafel saß mein Franz neben Deiner Muusch und erzählte ihr unentwegt von Dir, Du hättest ihre strahlenden Augen sehen sollen!
Das versöhnte mich einigermaßen mit dem Umstand, daß Franz mich gänzlich rechts liegen ließ, und wenn er mich nicht ab und zu unter dem Tisch getreten hätte, hätte ich gar nicht gewußt, daß ich einen Bräutigam habe.
Und weißt Du, wie wir uns verlobt haben?
Ich schlenderte im Park umher und suchte nach den ersten Veilchen, dabei war mir aber gar nicht »lenzhaft« zu Mute. Das Herz tat mir elend weh.
Von Luttewete war vor einer Weile ein strahlender Brief gekommen, Helsa hatte noch einige begeisterte Worte darunter geschrieben, Munke und ihr Verlobter saßen kosend und küssend auf der Veranda, – alles das mit anzuhören und anzusehen, ging über meine Kraft. Deshalb suchte ich Veilchen.
Und an der entlegensten Stelle im Park stand plötzlich jemand neben mir, sagte: »Guten Tag, Fräulein Schlieden« und schüttelte mir beinahe den Arm aus der Kugel.
Dann zog er die Uhr heraus, setzte eine sehr grimmige Miene auf und rief: »Ich habe nicht viel Zeit und muß Sie noch vieles fragen. Warum sind Sie schnöde von Hilskehmen abgereist?«
»Weil – weil – weil –«
»Warum haben Sie nicht wenigstens meine Rückkehr abgewartet?«
»Weil – weil – weil –«
»Da sehen Sie, was Sie für überzeugende Gründe anzuführen haben! Und unter Ihrer dummen Ausreißerlaune müssen nun meine Patienten leiden!«
»Vielleicht erholen sie sich um so eher, je länger Sie fortbleiben,« wagte ich zu scherzen, aber er machte ein ganz böses Gesicht.
»Wie gesagt, ich hab nicht viel Zeit,« sagte er. »Ich hab mir eingebildet, Sie hätten mich gern und als Sie fort waren, schien mir Hilskehmen ein noch größeres Jammerloch als bisher. Hier bin ich nun, haben Sie mich lieb, oder haben Sie mich nicht lieb?«
Ob ich überhaupt etwas geantwortet habe, weiß ich nicht, meine schönen Veilchen fielen alle aus die Erde. Wir brauchten eine gute Stunde, um sie aufzusammeln, und als der Strauß fertig war, waren wir verlobt und über die Maßen glücklich.
Franz bleibt nicht in Hilskehmen, – wir haben gehört, daß der alte Arzt in S. sich von der Praxis zurückziehen will, dort wollen wir uns niederlassen. Denke Dir doch, in einem Ort mit Luttewete; die Eltern sind glückselig, daß sie alle drei Töchter in Schleswig-Holstein behalten, und wenn ich diesen Fall bedenke, muß ich selbst sagen, die Olsch und das Jüngschen haben mehr Glück als Verstand.
Munke und ich wollen nun an einem Tage Hochzeit geben, denk' mal diesen Aufstand in Buchenwalde; wir haben vorläufig den sechsundzwanzigsten August, Papas Geburtstag, in Erwägung gezogen. Die Feier soll im engsten Familienkreise vor sich gehen, darin sind wir alle einig, denn wir wollen ein sehr geliebtes Persönchen im schlichten, schwarzen Trauerkleidchen unter uns haben, – nicht wahr, mein alter, geliebter Kerl, Du kommst?
Ganz Buchenwalde stiftet Dir seine Ersparnisse, damit Du auch nicht einen vernünftigen Grund hast, abzusagen, und Dein Fräulein von Dörrberg muß nach Deiner Schilderung ein Engel sein, sie wird nichts dagegen haben, wenn wieder ein paar »Ehen im Himmel geschlossen werden«.
Leb wohl, mein Kerlchen!
Deine überselige Bümi.
*
Aus Kerlchens Tagebuch.
Ich lebe mich mehr und mehr ein, mir ist's überhaupt, als sei ich immer im Hammerhaus gewesen. –
Und merkwürdig, hier, wo ich die Einsamkeit gar nicht so über die Maßen spüre, wie in Hilskehmen, hier schreiben mir meine Leute viel mehr, so daß ich beinahe täglich dem alten Postboten ein Briefchen oder eine Karte abnehme.
Karten empfange ich natürlich nicht so gern, besonders aus dem Grunde, weil der alte Hansjörg, so heißt der Landbriefträger, mir sie schon von weitem vorliest.
Da werde ich öfters von ihm schon mit: »Mein lieber, alter Kerl,« begrüßt, denn Bümi gebraucht mit Vorliebe Karten und ebenso diese Anrede. Bin ich nun nicht fix genug bei der Hand, so liest er mir auch noch den Rest vor und bemerkt auf mein mißbilligendes Stirnrunzeln: »Freilein, was verstehn Sie von dem Kaiserlichen Dienst und der Dienstordnung. Eche basse äbend alleweile uff, ob nischt Unrechts in sonne Karte steht, un ob ich se beferdern derf.«
Böse kann ihm eben niemand sein, er ist so ein guter, alter Postfritze und ganz mit dem Hammerhäuschen verwachsen, und so lachte ich auch neulich nur, als die Drucksache mit Bümis Verlobungsanzeige ankam, die er mir mit den Worten überreichte: »Meinen scheensten Glickwunsch! Mechte das Gusinchen den Richt'gen erwischt haben!«
»Müssen Sie denn die Drucksachen auch nachsehen?« fragte ich.
»Ne, das dhu ich aus burer Deilnahme.«
Gestern hatten wir das erste »Kränzchen« bei uns im Hammerhause.
»Kränzchen« ist ein komischer Ausdruck für die alten, sonderbaren Herren und Damen, die sich jeden Donnerstag Abend zusammenfinden, um Ekarté zu spielen, oder zu plaudern, oder – sich zu zanken.
Oft kamen sie gestern so hart aneinander, daß ich glaubte: »Jetzt kriegen sie sich beim Kopf,« im letzten, kritischen Augenblicke zupften sie aber immer wieder zurück, und alles verlief unblutig.
Fräulein von Dörrberg behauptet heute, sie hätten sich alle vor mir geniert, denn sonst ginge es nicht so friedlich her; ja, das sehr cholerische Fräulein von Dewitz hätte schon mal der Oberförsterin Baumbach ihren nassen Gummischuh um die Ohren gehauen, das sei allerdings der schwerste Fall in dem seit vierzig Jahren bestehenden Kränzchen gewesen und hätte es beinahe gesprengt, aber eben nur beinahe, und seitdem sei nie wieder jemand tätlich geworden. Ich amüsierte mich köstlich von meinem Platz am Samowar aus und schien auch alles zur Zufriedenheit der Herrschaften auszuführen.
Aber die Umstände, ehe alle saßen, dieser Wortschwall von Komplimenten, den sie losließen! Ich war froh, daß Bümi nicht dabei war, wir wären sicher laut los geprustet; so allein konnte ich mich noch notdürftig beherrschen.
Ich wurde erst sehr feierlich vorgestellt und machte einen tiefen Knicks nach dem andern; mein Handkuß wurde sehr gnädig aufgenommen. Das alte Fräulein von Dewitz ist der verkörperte Gothaer Almanach, sie schrie mich sofort an: »Schlieden? Schlieden? Natürlich! Bekanntes Geschlecht! Welche Linie? Mit den Schliedens-Wartenegg war ich sehr liiert, außerordentlich reiner Stammbaum! Ein Schlieden-Wartenegg wurde sogar Begründer eines fürstlichen Hauses, zwei Linien zweigten sich ab, die eine stand zuletzt nur noch auf vier Augen, zwei Fräulein von Schliedens, mit der einen, Hermine, war ich in Pension, sie hatte dann eine unglückselige Liebesgeschichte durchzumachen und wurde außerdem zum Krüppel.«
»Es war nicht so schlimm,« warf ich ein, »Großtante Herminchen lahmte nur ein bißchen.«
Sie sahen mich alle sehr erstaunt an, Fräulein von Dewitz sogar entschieden mißbilligend, auch Fräulein von Dörrberg schüttelte den Kopf.
»Dann war noch eine Emerenzia von Schlieden da,« fuhr die erstere fort, »eine echte Aristokratin, am Hofe von S. wohl gelitten, – mir außerdem sehr sympathisch.«
»Mir nicht!« fuhr ich auf, »oh und niemand kann sie leiden in unserer Familie.«
Ein wahrhaft vernichtender Blick traf mich von Fräulein von Dewitz, und Fräulein von Dörrberg rückte unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her.
»Lassen Sie sich nicht stören, liebe Dewitz,« rief sie über den Tisch, »reiten Sie Ihr Steckenpferdchen nur weiter, – es muß Ihnen ja doch Freude machen, daß das adlige Blut der Schlieden-Wartenegg so munter in der kleinen Felicitas kreist.«
»Aber ich bin ja gar nicht adlig,« begehrte ich auf, und war nun ganz in meinem rechten Fahrwasser. »Mit uns steht das so: »Vor vielen, vielen Jahren waren drei Brüder von Schlieden-Wartenegg. Der eine war ein großer Hitzkopf, der stach seinen Bruder im Zweikampf tot, ging weit fort, legte seinen Adel ab, nannte sich zuerst »Schliede« und wurde Schuhmacher. Der älteste Sohn aber wurde Töpfer. Dieser Töpfer hatte sieben Söhne. Von diesen sieben wurden drei sehr tapfere Soldaten und die andern vier wurden gelehrte Bücherwürmer. Von den Töpfern stamme ich ab, und von den Gelehrten alle die Juristen-Schliedens, die jetzt umherwimmeln. Wir alle waren aber immer ganz gut Freund auch mit den hochadligen Vettern v. Schlieden-Wartenegg – unser Fürst nannte sie die »dumme-reiche« und uns die »gescheite-arme« Linie.«
»Mich dünkt, es muß noch eine »naseweise« Linie geben, von der du abstammst,« rief Fräulein von Dörrberg, ärgerlich lachend, während Fräulein von Dewitz wie vernichtet in ihren Sessel sank. Vor Zorn über mich nahm sie einen glühendheißen Teeschluck und verbrannte sich elend die Lippen. Den ganzen Abend mußte die Coldcream draufstreichen, weshalb ihre Sprache und ihr Lächeln sehr fettig wurden.
»Es ist heute nicht so gemütlich wie sonst,« sagte Tante Nipp draußen in der Küche zu mir, als wir feine Butterbrötchen zurecht machten, »weiß der Himmel, woran es liegt; ich meine, ich hätte unserer Mine alles genau gesagt, wie sie drinnen decken soll; meine Augen werden schon ein bißchen schwach, und wenn nicht alles ganz genau auf derselben Stelle liegt wie seit fünfundzwanzig Jahren, dann verdirbt es gleich den Herrschaften die Laune. Mine hat aber einen Schatz drunten im Flecken, und deshalb sind ihre fünf Sinne nicht beisammen.«
Mine machte ein unglaublich dummes Gesicht und griente.
»Mine, wie hat sich nur jemand in Sie verlieben können?« fragte Tante Nipp kopfschüttelnd.
»Hä hä hä, – ech weiß au nich, t's kam so uff'n Sturz.«
Als wir wieder hineinkamen, gewährte der dicht besetzte runde Tisch äußerlich einen sehr gemütlichen Anblick, aber ich sah doch, daß alle ziemlich mißmutige Gesichter aufgesetzt hatten. Fräulein von Dörrberg sah ratlos von einem zum andern, und ich guckte sie mir nun auch alle genauer an. Da war der Oberamtmann Lienau mit einem Eisenfressergesicht, er rauchte eine lange Pfeife, die keinen rechten Zug zu haben schien, weshalb er sich, da er noch außerdem beim Ekarté verlor, in eine regelrechte Wut hinein-»sog«, ohne daß die Pfeife ein Einsehen gehabt hätte. In der einen Sofaecke saß der Oberförster. Der wäre sonst der eifrigste Kartenspieler von allen, sagte mir Tante Nipp, aber heute sei ihm schon am frühen Morgen die alte Milchfrau über den Weg gelaufen, und da er sehr abergläubisch sei, rühre er keine Karte an.
Aber auch er zog ein überaus grimmiges Gesicht, spitzte den Mund, als ob er pfeifen wollte, und – schwapp, flog ein feiner Strahl über alle Köpfe hinweg in den in der gegenüberliegenden Ecke stehenden Spucknapf.
Ich hatte meinen Kopf schnell geduckt, denn ich ahnte, was kam; unser Johann hatte früher auch »Priemchen« gekaut und war von Dorette immer streng mit den Worten zurückgewiesen worden: »Gieh wack wenn de spitze willst!« Die andern Kränzchenmitglieder waren aber unvorbereitet, und so traf sie der Sprühregen mit anerkennenswerter Unparteilichkeit. Sie machten alle ärgerliche und empörte Gesichter, sagten aber nichts, denn Tante Nipp raunte mir zu :
»So geht es nun auch seit fünfundzwanzig Jahren.«
Ich guckte sie sehr ungläubig an, denn daß man sich »sowas« gefallen lassen kann, besonders wenn man so streitbar ist, wie Fräulein von Dewitz, das geht über meinen Horizont.
Ich beobachtete von nun an scharf den Oberförster und als er wieder das grimmige Gesicht zog, raste ich in die Ecke, hob den Napf auf und stellte ihn dicht neben den Oberförster hin.
»Ach, verzeihen Sie,« sagte ich, »ich hab' vorhin nicht aufgepaßt. Es muß ja furchtbar schwer gehen, so durch die ganze Stube zu spucken, ich hab's früher auch probiert, aber ich traf nur immer auf den Tisch, an dem mein Bruder Erich arbeitete. – Nun soll der Napf aber stets neben Ihnen stehn.«
Der Oberförster sah erst mich, dann den Spucknapf und dann die Versammlung der Reihe nach an, es zuckte wie aufsteigendes Gewitter in seinem Gesicht. Aber der Amtmann Lienau schlug ihm derb auf das Knie und rief:
»Nun sieh' dir mal die Wetterhexe an! So 'ne kleene Erziehersche! Tut, als ob uns die Höschen noch hinten zugeknöpft würden! Hä hä hä! Oberförster, sie hat dir 'n Rüffel gegeben!«
Aber ehe der Grimbart noch ernstlich bös werden konnte, hatte ich ihm freundlich die Pfeife aus der Hand genommen und sagte mit Kennermiene: »Die brennt ja greulich! darf ich? Ja?«
Ich lief in die Küche, – mit meinem scharfen Federmesser schnitt ich den ganzen zerkauten oberen Knopf ab, säbelte weiter bis zum nächsten Knopf, den ich sauber abrundete, leerte den Pfeifenkopf, reinigte ihn nach allen Regeln der Kunst, blies durch das Rohr, goß es aus und kam mit der tadellos sauberen Pfeife wieder. Drinnen stopfte ich sie aus Oberförsters Tabaksbeutel, schätzte den Inhalt sofort richtig auf »Tenderings Grobschnitt 1 Mk.«, faltete rasch einen Fidibus und ehe es sich der alte Herr versah, kniete ich schon vor ihm und zündete das Pfeifchen an. Fünf bis sechs lange Züge tat der Oberamtmann, klopfte mir sehr zärtlich auf den Kopf und rief dann dröhnend über den ganzen Tisch:
»Alte, ich laß mich von dir scheiden und heirate rasch diesen kleinen, netten Tabaksbruder, oh, oh, oh, – so gut hat mir's noch nie geschmeckt.«
Der Oberförster aber machte wieder sein grimmiges Gesicht, sammelte Vorrat, – und – beförderte ihn gehorsam in den ihm von mir angewiesenen Platz, – Tante Nipp behauptete nachher, er hätte ganz furchtsam in meine vorwurfsvoll auf ihn gerichteten Augen gesehen. Die kleine, alte Frau Oberförster sah mich dankbar an, sie machte einen etwas geknechteten Eindruck und saß auf ihrem Stuhl, als hätte ihr Fräulein von Dörrberg nur den vierten Teil davon als Sitzgelegenheit erlaubt.
Ich schob ihr ein Fußbänkchen unter die sehr kurzen Beinchen, legte ein weiches Kissen in den Rücken, wie ich es so oft bei meinem Muusch getan hatte, und sie strich mir liebevoll über den Kopf.
Bei meinem Knien auf dem Teppich konnte ich auch noch etliche Knäule, Stricknadeln und Taschentücher in die Höhe befördern, und es tat mir so ein klein bißchen inwendig gut, als Fräulein von Dewitz, der ich die Sticknadeln immer frisch einfädelte, plötzlich ausrief:
»Liebe Dörrberg, dieses kleine Mädchen hat uns sehr gefehlt, es ist eine vorzügliche Acquisition!«
Heute Morgen erzählte mir Tante Nipp noch eine ganze Menge von dem Ekartékränzchen.
Eigentlich gehören noch der Pfarrer Beck, Rektor Menschel und Dr. Sauerkrug dazu; die beiden letzten haben aber nicht viel Zeit, und der Pfarrer verabscheut das Kartenspiel. Ist Pfarrer Beck da, dann werden keine Spieltische aufgeschlagen. Er soll ein sehr streitbarer Herr sein, sowohl im Leben wie auf der Kanzel.
Von Fräulein von Dörrberg bekam ich abends noch einen gehörigen Rüffel, daß ich zu sehr »aufgemuckt« hätte.
»Sanftmut ist die Zierde eines Weibes und schändet auch den Jüngling nicht,« sagte sie ermahnend, und ich kannte den Spruch in seinem ersten Teil schon von meinem Väterchen her. Den Schlußsatz aber hätte er ebenso greulich gefunden wie ich, – er liebte sanfte Jünglinge gar nicht.
Wir haben hier einen »Sanften« und sie loben ihn alle bis in die Unendlichkeit, aber ich bin fest überzeugt, wenn ich immer mit ihm zusammen sein müßte, würde ich mich zu einer Xantippe auswachsen, so sehr bringt mich seine Sanftmut in Wut.
Es ist der junge Lehrer, Herr Sträubchen, der dem Rektor unterstellt ist, und dem die Kinder alle auf der Nase herumtanzen. Mit »Sanftmut« will er sie alle regieren, aber das geht natürlich nicht, dazu sind die Thüringer Buben und Mädel nicht geschaffen, die müssen angelappt werden und Keile kriegen.
Wir haben schon ein paar Mal zugehört, wenn Herr Sträubchen unterrichtete, neulich erst wieder hatte Fräulein von Dörrberg Speck- und Zwiebelkuchen gebacken, den wir eigenhändig in die Schule trugen, um ihn in der Pause zu verteilen.
Das appetitlichste Stück hatten wir natürlich für Herrn Sträubchen aufbewahrt, und es sah zu komisch aus, wie er immer nach dem Korbe schielte, von wo aus der warme Duft ihm in die Nase stieg, die, von Natur schon recht stark entwickelt, immer länger zu werden schien. Mit den Jungens aber war überhaupt nichts anzufangen, seit sie wußten, daß wir etwas im Korbe mitgebracht hatten, was nachher ihnen gehören sollte; sie stritten sich schon während des Unterrichts leise, aber angelegentlich, was es wohl sein könntet »Kräppel« oder »Zibbelkuchen«.
Wenn die Unterhaltung zum tosenden Lärm anwuchs, dann klappte Herr Sträubchen sanft in seine riesengroßen Hände und sagte freundlich : »Aber Kinder, nun seid hübsch aufmerksam! Hört ihr? Hübsch aufmerksam sein!«
Er hätte ebenso gut stillschweigen können, denn es hörte doch niemand auf ihn.
Endlich war die Stunde aus, die Herr Sträubchen sehr gewissenhaft und sehr unangebracht immer noch drei Minuten länger hält, weil ja auch immer drei Minuten vergehen, ehe er beginnen kann, wie er in seiner entsetzlichen Philisterhaftigkeit sagt.
Als er glücklich fertig war, bemerkte ich: »Na, nu wird er kalt sein,« und stürzte auf den Kuchen los; Herr Sträubchen warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, und die Jungens kicherten.
Jetzt ging die Verteilung an.
Ich glaubte mit großer Bestimmtheit zu wissen, daß ich zweiundsechzig Stücke eingepackt hatte, – ausschließlich der zwei Riesenstücke für den Rektor und Herrn Sträubchen, welche extra gelegt worden waren. Als wir aber auspackten, waren nur einundsechzig da, und während wir uns nicht genug wundern konnten, lachte auf der hintersten Bank Heini Kühn so fettig, daß mir sofort ein schwarzer Verdacht aufstieg, denn Kühns Heini war vorhin an der Tafel gewesen, dabei war ihm beim Zahlenschreiben die Kreide heruntergefallen und er hatte lange in der Nähe des Korbes auf der Erde gesucht – –
Ich zog Herrn Sträubchen sofort beim Rockärmel hinter die Tafel und teilte ihm meine Bedenken mit, aber er sagte nur traurig :
»Wie können Sie nur so schlecht von meinen Kindern denken!«
»Es sind nicht Ihre,« begehrte ich auf, »es sind wildfremde, abscheuliche Rüpel, und sie spielen »Schubbjack« mit Ihnen.«
»Kinder müssen austoben,« war wieder seine Antwort, die mit einer Ruhe gegeben wurde, welche mich allemal kribbelig macht.
»Gut!« entgegnete ich, »Sie werden schon nochmal sehen, was Ihre Sanftmut anrichtet; jedenfalls bekommt Kühns Heini jetzt erst mal nichts; er kann warten, bis noch ein Stück aus dem Hammerhäuschen geholt worden ist. So ein Bengel!«
Wieder traf mich ein traurig bittender Blick des Schulmeisterleins.
Ich nahm den Korb, verteilte die Kuchenstücke und guckte dann den Heini Kühn scharf an; seine Augen hielten nicht stand, aber er lachte sorglos und reichlich frech, auch als ich ihm sagte, daß er sich bis zum andern Tage gedulden möchte, für ihn sei gerade heute kein Stück mit gebacken worden.
Dann kam die große Zehnuhrpause, und wir gingen alle zum Rektor Menschel in das eigentliche Schulhaus, wo seine freundliche Frau uns schon eine Tasse heißen Kaffee hingestellt hatte, auch einen Ingwerlikör, der bei keinem Speck- oder Zwiebelkuchen fehlen darf. Wir aßen alle mit großem Appetit, nur Herr Sträubchen dankte und erklärte mir auf mein energisches Drängen, daß er nicht essen könne, weil Kühns Heini auch ohne einen Bissen dasitze und doch ganz gewiß unschuldig an der ganzen Sache sei. Dafür wollte er, Herr Sträubchen, ihm auch seinen Kuchen lassen.
Na, ich sah ihn nicht schlecht an. Ich war wirklich wütend, und damit er es nicht etwa noch wahr machte, lief ich schnell in die Klasse zurück, um den Kuchen in Sicherheit zu bringen.
Die Kinder lärmten auf dem Schulhof, aber Kühns Heini sah ich nicht, – bis ich in die Klasse kam. Da stand das Lehrerpult, da stand unser Korb, da stand – Heini Kühn, wischte sich eben das letzte Speck- und Zwiebelkrümchen von seinem Naschmaul und sah ohne eine Spur von Reue in den leeren Korb.
Als er mich plötzlich vor sich stehen sah, sprang er mit einem kühnen Satz zum Fenster hinaus, ich setzte ihm aber nach; unten angelangt, fielen wir beide zur Erde, doch ich war rascher als er, und im Nu hatte ich ihn beim Rockkragen, schüttelte ihn erst tüchtig und verwamste ihn dann so recht nach Herzenslust.
Er schrie, er biß um sich, spuckte und kratzte, aber ich war in einer sehr kräftigen Wutverfassung und gab ihm seine wohlverdienten Prügel angesichts der sämtlichen Schüler, die in angemessener Entfernung zusahen und sich freuten, denn Heini hatte in dem ganzen Dorfe viel auf dem Kerbholz. Als ich endlich fertig war und den Attentäter los ließ, schoß dieser wie ein Pfeil durch die Menge der umstehenden Buben und Mädchen und nahm seinen Weg spornstreichs nach Hause.
Ich reckte und dehnte meine Glieder, welche durch die ungewohnte Anstrengung etwas aus der Ordnung gekommen waren, und da lehnte hinter mir im offenen Fenster der junge Lehrer und machte sein bekanntes, wehmütig-mißbilligendes Gesicht.
Schön mag ich wohl auch nicht ausgesehen haben mit meinen wilden, zerzausten Haaren, von denen gewiß einige in Heini Kühns Fäusten zurückgeblieben waren. Inzwischen hatten sich die Jungens geordnet und marschierten in die Klasse zurück, nicht ohne mich mit neugierigen, wohl auch schadenfrohen Blicken betrachtet zu haben.
» Das haben Sie nun von Ihrer bodenlosen Güte,« rief ich gereizt Herrn Sträubchen zu. »Den ersten Kuchen hat der Bengel schon hineingeleiert, nun hat er Ihren auch noch aufgefuttert.«
Herr Sträubchen blieb ungerührt.
»Das schmerzt mich lange nicht so,« erwiderte er mit einem rührend hilflosen Ausdruck im Gesicht, »als der Anblick, wie Sie den Jungen verprügelten.«
Ich hatte natürlich keine Antwort für so etwas Ungereimtes, ich sah ihn bloß mal an, und er wurde noch mehr verlegen. Dann wollte ich ohne Gruß und Abschiedswort fortrennen, aber da rief er mir nach:
»Haben Sie mir denn gar nichts zu sagen, Fräulein Felicitas? Ich bin doch im Recht, wenn ich als Lehrer Humanität predige?«
»Landgraf, werde hart!« rief ich ihn an, und da warf er verblüfft das Fenster zu. Hocherhobenen Hauptes schritt ich davon, und hinter mir her tönte seine Geige und ein Lied, aus schmetternden Jungenskehlen gesungen: »Mein Thüringen, mein Jugendland!«
Als ich nach Hanse kam, erhielt ich eine Moralpauke von Fräulein von Dörrberg. Sie fand meinen Hechtsatz durch das offene Schulstubenfenster un – un – unsagbar.
»Überhaupt schillerst du in verschiedenen Farben, mein kleines Chamäleon, schloß sie ihre Standrede, ich glaube, man kennt sich schwer in dir aus!«
»Hab' ich was sehr Böses getan?« fragte ich niedergeschlagen.
Da nahm sie mich auch schon in ihre Arme.
»Nippen, Nippen,« rief sie, – »ich glaube, der Kern ist gut.«
*
Heute begegnete mir ganz am Ende des Dorfes der Rektor Menschel und drohte mir schon von Weitem mit dem Finger.
Ich hab' den alten Herrn mit dem ehrwürdigen, weißen Bart so gern, er erinnert mich etwas an meinen alten Lehrer Johannsen, dessen Landsmann er ja auch war, und von welchem ich ihm immer viel erzählen mußte.
Rektor Menschel versteht mich auch außerordentlich gut, ich glaube, er möchte mich noch lieber als »zweiten Lehrer« haben, als Herrn Sträubchen, denn er behauptet, ich wäre ein pädagogisches Genie, und dieses Talent läge in Fräulein von Dörrbergs Hause nun brach.
»Fräulein Kerlchen, Fräulein Kerlchen, was machen Sie für Geschichten?« rief er mir zu.
»Ich?« fragte ich erstaunt.
»Jawohl Sie! Was haben Sie mit Herrn Sträubchen angefangen?«
Mein Gesicht mochte wohl immer erstaunter ausgesehen haben, er lachte laut auf.
»Wissen Sie, daß Sie ihm den Kopf verdreht haben, dem armen Kerl?«
»Na, vielleicht sitzt er nun wenigstens richtig,« gab ich etwas ärgerlich zur Antwort.
»Nein, leider nicht,« entgegnete der Rektor lachend, »zu der früheren Sanftmut ist jetzt eine hochgradige Zerstreutheit hinzugekommen, und die Nachsicht, welche er jetzt gegen den rüpelhaftesten unserer Buben, gegen Heini Kühn übt, ist entschieden bedenklich.
Am bedenklichsten ist mir aber der Umstand, daß er sich zur Aufsicht über den Schulhof just auf den Platz hinstellt, wo Sie damals den Heini verprügelten ; dort steht er wie eine Mauer und starrt in den Erdboden hinein in tiefsten Gedanken.«
»Und daran soll ich schuld sein?«
»Freilich, wer sonst? Verliebt ist der arme Kerl, und es ist wahrhaftig schade – – –«
Was so sehr schade war, erfuhr ich nicht, ich war längst auf und davon.
Ich kann so etwas nicht mehr hören, – ich weiß, es war unartig von mir, ohne Abschiedswort von dem guten, alten Herrn fortzulaufen, – ich habe mir auch fest vorgenommen, das nächste Mal still zu halten, – – d. h. wenn er nicht wieder von solch greulichem Zeug anfängt.
*
Soll ich die verflossenen vierzehn Tage schildern, mein liebes Tagebuch?
Sie waren nicht schön, nein, gar nicht.
Aber du mußt doch ein wahrheitsgetreues Buch werden, und was sollen wohl meine vierundzwanzig Kinder denken, wenn sie dich einst lesen und ihr Kerlchen -Muusch auf Flunkereien ertappen?
Nein, das geht nicht! Also los!
Gleich nach der Begegnung mit dem Rektor fand ein Ekartékränzchen beim Pfarrer statt, d. h. es wurde keine Karte angerührt, sondern gleich nach dem Abendbrot setzte man sich zum Plaudern hin.
Ich war mit eingeladen und Lehrer Sträubchen auch, – leider – denn ich hätte viel lieber Briefe zu Hause geschrieben, und er blickte mich den ganzen Abend beinahe starr an. Wenn ich dann mal aufsah, wurden wir beide glühend rot, etwas so Dummes ist mir wirklich seit langer Zeit nicht vorgekommen.
Dem Oberamtmann Lienau schien die Sache riesigen Spaß zu machen, ab und zu rüttelte er Herrn Sträubchen aus seiner Versunkenheit auf, indem er ihm etwas zurief, z. B.: »Na, mein alter Bubenversohler, schauen Sie uns doch auch mal an, wir sind auch schöne Leute.« Dann erschrak Herr Sträubchen, und ich atmete für eine Weile auf.
Vielleicht gab das Wort »Bubenversohler«, das auf Herrn Sträubchen so gar nicht paßt, den Anlaß, denn mit einem Mal war das Gespräch: »Hauen oder nicht« im Gange, und da hieben denn nun zwei Parteien lustig aufeinander, auch die Gegner der Prügelstrafe. »Hie Welf hie Waiblingen«, tönte der Schlachtruf, »hie Prügel, hie weitestgehende Humanität!«
»Ach, so eine Ohrfeige zu rechter Zeit richtet oft Wunder an,« meinte der Oberamtmann.
»Grobe Lügenhaftigkeit und Roheit gegen Mensch und Tier wird nur durch Prügel und die Furcht vor diesen aus der Welt geschafft,« stand ihm der Oberförster bei, und der Rektor nickte bestätigend.
Aber sie wurden vom Pfarrer niedergeredet. Er redete vom Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts, vom Töten des Ehrgefühls, – es war eine lange, lange Predigt, und je näher sie dem Ende kam, desto hitziger wurde der Pfarrer, und Herr Sträubchen stand ihm so lebhaft bei, daß ich das zahme Magisterlein gar nicht wieder erkannte.
»Und wenn selbst zarte Jungfrauen sich nicht scheuen, zu dem rohen Mittel der körperlichen Züchtigung zu greifen,« schloß der Pfarrer seine Rede, und mein Herz schlug heftig vor Empörung, daß ich so vor all den Leuten angegriffen wurde, aber kein bißchen stand mir der Schulmeister bei, im Gegenteil, er nickte dem Pfarrer bestätigend zu.
Fräulein von Dörrberg mochte ahnen, was in mir vorging, sie stand plötzlich auf und behauptete, es sei Zeit, heimzugehen, – der Oberförster und der Oberamtmann folgten, aber noch auf dem Korridor gerieten sie mit dem Pfarrer hart aneinander, und da Herr Sträubchen in seiner Erregtheit mehr Bier getrunken hatte, als er vertragen konnte, wurde er auch sehr hitzig und verteidigte laut seine nachsichtige Schwäche gegen die Schüler, bis ihm Fräulein von Dewitz giftig zurief: »Na denn atchö und dann füllen Sie man weiter die Zuchthäuser mit Ihren humanitätsduseligen Prinzipien.«
Da warf er sich tiefgekränkt in seinen Pelerinenmantel und rannte dem Schulhause zu, meine zum Abschied ausgestreckte Hand sah er gar nicht. Draußen vor der Haustür beschlossen die erregten Teilnehmer des Kränzchens, zum allerletzten Male zusammen gewesen zu sein, da diese Auftritte denn doch »über die Hutschnur gingen«, – aber sie hatten diesen Entschluß schon so oft gefaßt, und immer wieder war er ihnen leid geworden, so ist denn das Kränzchen morgen wieder bei Fräulein von Dewitz, und alle haben freundlichst ihr Erscheinen in Aussicht gestellt. Aber während dieser achttägigen Pause passierte etwas Tolles.
Ich kam gerade mit einem leeren Korb von Heini Kühns Großmutter her, bei welcher der Junge erzogen wird.
Die alte Frau ist krank und siech, und Fräulein von Dörrberg tut viel Gutes an ihr, freudestrahlend hatte sie die stärkenden Sachen entgegengenommen, die ich aus dem Korbe hervorholte.
Ich wäre gern noch ein Weilchen bei ihr geblieben und hätte ihr etwas vorgelesen oder mit ihr geschwatzt, aber Herr Sträubchen saß bei ihr und machte so schrecklich frohe Augen, als ich kam, daß ich schnell wieder umdrehte, noch dazu, da Heini Kühn mir vom sicheren Standpunkt hinterm Ofen her eine lange Nase zog.
Diese Grimasse sah natürlich Herr Sträubchen nicht, wohl aber sah er, wie ich gegen Heini die Faust schüttelte, und fand gewiß, daß ich unverbesserlich sei.
Ich lief also rasch fort, es war schon dämmerig, und gleich hinter mir huschte Heini Kühn zur Tür hinaus, trotzdem ich ihn gebeten hatte, bei der Großmutter zu bleiben.
Ich war ungefähr noch zwanzig Schritte vom Hammerhäuschen entfernt, da war mir's, als käme blitzgeschwind etwas Dunkles geflogen, einen unerträglichen, qualvollen Schmerz fühlte ich, dann weiß ich gar nichts mehr viele Stunden lang.
Als ich wieder etwas denken konnte, da lag ich schon in meinem lieben Stübchen, und Tante Nipp saß an meinem Bett und Fräulein von Dörrberg schlief in der Sofaecke, denn die beiden Guten, Lieben hatten immer abwechselnd bei mir gewacht, weil ich dummes Ding so heftiges Fieber hatte.
Das große Loch in der Stirn ist noch nicht geheilt, aber zugeflickt bin ich schon mit einer »tadellosen, überwendlichen Naht aus Mäusegedärmen,« wie mir Dr. Sauerkrug sagte.
Natürlich werde ich Zeit meines Lebens eine elende Narbe behalten, da ist es doch gut, daß ich niemals schön war, so schadet ein bißchen Häßlichkeit mehr oder weniger gar nichts.
Außerdem tröstet mich Dr. Sauerkrug: »Nichts wird man sehen, gar nichts,« sagte er, »denn da fällt gerade so ein eigensinniges Löckchen über die Narbe; freilich müssen Sie ihr ganzes Leben lang ein solch geniales Ruschelköpfchen tragen.«
Nach und nach erfuhr ich nun auch, wie sich alles zugetragen hatte.
Kühns Heini hat in seinem rachsüchtigen Zorn den mächtigen Stein nach mir geschleudert, als er mich ohne Schutz glaubte, –wie schrecklich muß ihm jetzt zu Mute sein,– so bös hat er's doch sicher nicht machen wollen.
Oh, und wie haben mich nun während meiner Krankheit die andern Leutchen verwöhnt! Jeden Tag bekam ich irgend etwas Schönes geschickt, und als ich wieder sprechen und lachen durfte, da besuchte mich auch der alte Herr Rektor und rief immerfort:
»Kerlchen, Kerlchen, daß Sie so haben leiden müssen, ist ja nicht schön, aber Ihre Wunde hat ein großes Wunder bewirkt, ich hab durch sie einen schneidigen Lehrer bekommen, der uns allen, am meisten aber den Jungens imponiert.«
Und nun erzählte er mir, daß Herr Sträubchen an dem Unglückstage, von einer unerklärlichen Angst getrieben, hinter uns hergegangen sei, das heißt, hinter mir, denn den Heini habe er schon nicht mehr gesehen, der sei ihm aber, nachdem er den Stein geschleudert, auf seiner Flucht direkt in die Arme gelaufen und von ihm festgehalten worden. Und als er mich mit der blutenden, klaffenden Stirnwunde habe liegen sehen, da sei ein ehrlicher Manneszorn in ihm hochgekommen, der die Sanftmut vollständig unterjocht hätte. Kühns Heini wußte ein Lied davon zu singen, die Prügel wären nicht von schlechten Eltern gewesen. Und in der Schule wäre der Lehrer jetzt erst wirklich auch der Herr; kein Junge wagte sich zu rühren in seiner Gegenwart, völlig zum Fürchten hätte es ausgesehen, als er Tags darauf die Missetat in der Schule bekannt gemacht und auf die Schlechtigkeit hingewiesen hätte, die darin läge, empfangene Wohltaten mit schnödem Undank zu vergelten.
»Ja, ja, der Landgraf ist wirklich hart geworden, liebes Kerlchen,« schloß der alte Rektor, als er mir zum Abschiede die Hand gab, »und Sie sind dran schuld, Sie haben ihn erzogen.«
Mich hatte das ganze Gespräch aber doch recht mitgenommen, denn ich durfte wohl schon lachen und sprechen, aber doch noch nicht denken, und das hatte ich scharf getan, – hatte angestrengt drüber nachgedacht, weshalb so plötzlich aus dem sanften ein hauendes Magisterlein geworden war.
Und als ich der Wahrheit recht, recht nahe gekommen war, wie ich bestimmt glaubte, da tat mein Kopf furchtbar weh, und ich fing bitterlich an zu weinen, denn – denn – denn – nicht ein bißchen hab ich ihn gern, den Herrn Sträubchen, weder in sanftem, noch in energischem Zustande.
Fräulein von Dörrberg schalt, als sie mich weinen sah, auf den Rektor, der viel zu lange bei mir geblieben sei, und mich nervös gemacht hätte, – du liebe Zeit – Nerven! Die hab ich doch nie gehabt.
Aber ich ließ mich wieder geduldig ins Bett packen. Große Menschen zu erziehen greift wirklich sehr an, nun hat die Wunde auch mich erzogen und aus dem herumwirbelnden Kerlchen ein ganz stilles und geduldiges gemacht. Ach, und die lieben Briefe, die aus Anlaß meiner Verwundung eingelaufen sind! Fräulein von Dörrberg hat in der ersten Angst ganz verzweifelt nach Buchenwalde geschrieben, – ein Glück, daß sie es dort vor Muusch verborgen gehalten haben, bis ich einigermaßen wieder auf Deck war, es hätte ja ihr Tod sein können. Auch an Erich ist berichtet worden, der arme Junge, wie mag er sich erschreckt haben!
*
Brief von Fritz von Rumohr an Kerlchen.
Liebes Kerlchen! Von Erich höre ich, daß Du einen Unfall erlitten hast.
Näheres weiß er selbst nicht, und ich bitte Dich dringend um ganz genaue Nachricht.
Meine Sorge um Dich ist um so größer, als ich mich selbst gar nicht wohl fühle und tief in geschäftlichen Sorgen stecke.
Das Leben spielt mir hart mit, aber ich verliere nicht den Mut.
Gott befohlen!
Dein
Fritz von Rumohr.
*
Brief von Bümi an Kerlchen.
Mein Geliebtes!
Was machst du für Geschichten? Mein Schatz und ich sind außer uns, daß Du unter Räuber und Banditen geraten bist. Wer hätte aber auch geglaubt, daß die Thüringer Leute bei kleinen Meinungsverschiedenheiten gleich mit Steinen werfen? Sobald Du gesund bist, mußt Du nach hier abreisen und darfst nie mehr in das Hammerhaus zurückkehren, das fehlte noch, daß wir unser Herzenskerlchen so mir nichts, dir nichts totschlagen ließen. –
Ganz Buchenwalde ist in Aufregung, jeder fragt nach Dir, am tollsten treibt es Dein Chrisli, der jeden Tag dreimal angesockt kommt, um sich nach »seinem« Kerlchen zu erkundigen, so als ob Du ihm von Gottes und Rechts wegen ganz allein gehörtest.
Kannst Du schon wieder schreiben, dann gib uns bald Nachricht, wir verzappeln uns beinahe. Ich denke mir, Du siehst jetzt rasend interessant aus mit Deinem blassen Gesicht, den dunkeln Locken und dem Renommierschmiß; nun wir werden Dich ja sehen, bald, bald!
Luttewete ist so abscheulich, bei unserer Hochzeit fehlen zu wollen, sie stichelt und näht kleinwinziges Puppenzeug, – – überhaupt fürchte ich jeden Tag, daß ein Telegramm aus S. die beiden als übergeschnappt meldet.
Ich bin fest überzeugt, daß mein Franz und ich niemals eine so honigsüße, zuckerglasierte Schokoladenehe führen werden, wir sind mehr für Hausmannskost. –
Augenblicklich suchen wir nach einem Brautführer für Dich, denn Fritz von Rumohr hat uns kurz und bündig abgesagt. Habt Ihr Euch gezankt, oder was hat der Jüngling sonst für tiefe Gründe?
So sei also Du wenigstens vernünftig und melde Dich bis zum 26. August bei uns gesund, selbstredend schon ein paar Tage vorher. Laß Dich also bitte, bis dahin nicht ganz totschlagen und komm fidel in die Arme
Deiner Bümi.
*
Brief vom Schlachter Krone an Fräulein von Dörrberg.
Geehrtes Fräulein wollen entschuldigen, daß ich mich in Zuvorkommenheit und Sorge gütigst nach einem kleinen Fräulein Felicitas Schlieden, genannt Kerlchen erkundige, was mich seit Kindesbeinen an ihren geehrten Freund nennt.
Geehrtes Fräulein von Dörrberg können sich nicht denken, was meine Frau und ich jetzt rumrennen in großer Angst um das Kerlchen, denn es sind schwarze Gerüchte bis hierher gedrungen, daß es halbtot wäre mit einer schweren Wunde, wo man sich nun den Kopf zerbricht, wie sie sich so was zuziehen konnte.
Und halte ich es nun nicht länger aus und muß die Wahrheit wissen und Ihnen auch dabei etwas vermahnen, denn ich bin ein alter Mann in meiner Sorgfalt um das Kerlchen, daß Sie doch ein ander Mal besser Acht geben möchten.
Indem ich unserm geliebten Kerlchen noch beste Gesundheit wünsche, rufe ich ihm zu:
»Gehe niemals in der Fremde,
In die Heimat wohnt das Glück!«
und verbleibe in großer Fürsorge bis auf bessere Nachricht mit ergebenster Hochachtung
Krone
Schlachtermeister.
*
Brief von Fräulein von Dörrberg an Herrn Schlachter Krone!
Lieber Meister!
Ihr Brief hat mir sehr gefallen, und ich danke Ihnen dafür.
Sie haben auch ganz recht, wenn Sie mich ermahnen, besser auf das Kerlchen aufzupassen, es ist wert, daß man es wie ein rechtes Kleinod behütet.
Und da es ein »armes Mädel« ist, so ist es ihm von Nutzen, daß es in der Welt treue Freunde besitzt, wie Sie einer sind, und zu welcher Sorte ich mich auch rechne. Sollte also irgend mal Not am Mann sein, dann wollen wir beide uns verbünden. Das Kerlchen schaut schon wieder mit lachenden Augen um sich, die Wunde, die ihm ein schlechter, roher Bube beigebracht, ist am Vernarben, aber das Kerlchen muß sich noch etwas ruhig halten, damit es nachher auch wieder völlig gesund ist. Denn wir brauchen unsern Sonnenschein notwendig.
Hier sind zwar keine Kinder zu erziehen, aber uns Alte hat sie wahrhaftig herausgezogen aus jahrzehntelangen Wunderlichkeiten, und die Jungen bessern sich auch aus Liebe zu diesem eigenartigen Persönchen.
Kerlchen hat mir viel von ihrem Freund, dem Herrn Schlachter Krone, erzählt, hoffentlich geht Ihr Geschäft jetzt wieder, wie es gehen soll, damit so ein braver, fleißiger Meister, wie Sie es sind, ohne Sorge in die Zukunft sehen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Fräulein von Dörrberg.
Hammerhaus.
*
Packetadresse.
Anbei eine Wurstkiste.
Fräulein von Dörrberg – Hammerhaus.
Absender :
Krone, Schlachtermeister, Schwarzhausen.
Besondere Mitteilungen : Brief erhalten. Geneigten Dank! Geschäft fängt wieder flott an, mein geehrter Neffe Bär, gleichfalls Freund und Tanzstundenherr von Kerlchen, ist mit seinem Vermögen eingetreten. Anbei acht Paar Schlenkerwürstchen, eine Blutwurst, eine Knoblauchwurst zur gütigen Benutzung. Nicht kochen, nur zehn Minuten ziehn lassen, nach Verzehrung rasch Mund ausspülen, weil stark riecht mit ergebensten Gruß
Schlachter Krone.