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Ich war ein noch sehr junger Arzt, als ich mich in der alten Hafenstadt S. an der Ostsee niederließ. Was jeder Anfänger in meiner Lage durchmachen muß, durfte auch ich erwarten. Ein gewisses Mißtrauen in einen so jugendlichen ärztlichen Beistand, ein Zuwarten auf einen günstigen Fall, der eine Bürgschaft für meine Befähigung gäbe, hielt meine neuen Mitbürger eine Weile ab, sich in ernsten Lagen an mich zu wenden. Ich war darauf vorbereitet und in meinen Lebensverhältnissen von Hause aus günstig genug gestellt, um mir anfangs an einer unentgeltlichen Armenpraxis genügen zu lassen. Schon nach Jahresfrist aber wollte mir das Glück so wohl, daß das Publikum plötzlich aufmerksam auf mich wurde und die älteren Collegen der Stadt einen gefährlichen Nebenbuhler in mir erkennen wollten. Ein benachbarter Gutsbesitzer litt an einer schweren Gemüthsstörung. Die Familie hatte ihn nach der Stadt gebracht und, einer ärztlichen Entscheidung harrend, mit ihm in dem Hause, wo ich mich eingemiethet, Wohnung genommen. Der Fall interessirte mich, und ich besuchte die Familie, anfangs nur als Hausgenosse, bald aber als ernstlicher Berather. Der Zustand des Kranken, der von den älteren Aerzten schon als unheilbar erklärt wurde, erschien mir nämlich keineswegs als völlig verloren, und so geschah es, daß die Familie, je mehr man ihr die Hoffnung benehmen wollte, sich vertrauensvoll zu mir wendete, der ich noch Trost und eine Aussicht auf Besserung geben konnte. Der Kranke ward meiner Behandlung allein überlassen, und ich muß bekennen, es war mehr durch eine Gunst des Glückes, als durch meine Kunst, daß der Kranke wirklich völlig wieder hergestellt wurde. Trotzdem erfüllte mich ein frohes Bewußtsein, und die Dankbarkeit der mir bereits befreundeten Familie gab mir eine schöne Genugthuung. Das Aufsehen dieses Ereignisses war nicht gering. Die ganze Geschichte, durch irgend eine gar zu bereite Hand fast novellistisch eingekleidet, stand bald in der Zeitung zu lesen. So wenig mich dieß freute, da es mir von anderen Aerzten den Vorwurf der Charlatanerie zuzog, so ließ sich die Heilung des Herrn von F. doch nicht läugnen, und die Seinen thaten Alles, meinen Ruhm auszubreiten. Ich war fortan ein vielbegehrter Arzt, mein Ruf und meine Stellung in der Stadt gesichert, ich hatte Tag und Nacht, drinnen und draußen auf dem Lande zu thun.
Eines Tages erhielt ich einen Brief aus einer etwa fünfzehn Meilen entfernten Stadt, der mich ebenfalls zu einem Geisteskranken rief, und zwar ausdrücklich auf Grund jenes in der Zeitung geschilderten Falles. Allein die Art und Weise, wie ich mich auf dem Schlosse Gothenwiek einführen sollte, erschien mir so abenteuerlich, daß ich die Sache für eine Mystifikation ansah, für einen Streich, den mir irgend Jemand spielen wollte. Ich warf den Brief bei Seite, antwortete nicht, sprach auch in der Gesellschaft nicht davon. Das war im Frühjahr. Im Spätherbst aber erschien ein zweiter Brief, von einer anderen, wie mir schien, weiblichen Hand, worin der Ruf auf das Dringendste wiederholt wurde. Dieser zweite Brief, der aus einem schwer bedrängten Herzen zu kommen schien, bewegte mich sehr. Ich verglich ihn mit dem ersten, dessen Schriftzüge, fest und charakteristisch, eine männliche Hand verriethen. Eine Namensunterschrift aber fehlte beiden, dagegen war das Abenteuerliche, zu dem man die Behutsamkeit meines Auftretens zu steigern wünschte, beiden Briefen gemeinsam. Ich war befremdet, doch mein Mißtrauen legte sich etwas, zumal durch den rührenden Ton der neueren Zuschrift.
An demselben Tage noch brachte ich in dem mir am meisten befreundeten Hause das Gespräch auf die Universitätsstadt G. und ihre Umgegend, und erfuhr, daß es in der That ein Dünendorf und Schloß Gothenwiek gebe, ein paar Meilen von jener Stadt, an einer Bucht der Ostsee gelegen. Man wußte, daß es einem Freiherrn von T. gehöre, hatte von seiner Verarmung und Zerrüttung häuslicher Verhältnisse, schon von alter Zeit her, gehört. Die Angaben darüber lauteten verschieden und unbestimmt, immerhin aber deuteten sie auf traurige Zustände. Von einer geistigen Krankheit des Besitzers wußte man nichts.
Nun kurz, ich beschloß den Besuch zu machen, und ich läugne gar nicht, daß neben meinem Pflichtgefühl auch etwas von jugendlichem Drange zum Abenteuerlichen mich zu dem Entschlusse brachte. Durfte ich neue Erfahrung dabei erwarten, so malte meine Ahnung mir auch so etwas wie ein Erlebniß aus. Ich entgegnete unter der mir angegebenen Adresse poste restante und meldete mich auf einen bestimmten Tag an. Inzwischen ordnete ich meine laufenden Geschäfte und meine Vertretung in der Stadt. Nach acht Tagen, da ich bereit war zur Abreise, erhielt ich einen dritten Brief, und zwar von der Hand des ersten Schreibers, der mir das genaue Innehalten der vorgeschriebenen Weise nochmals dringend ans Herz legte.
So fuhr ich denn auf der Post, auf damals noch keineswegs bequemen Landwegen nach einem etwa zehn Meilen entfernten kleinen Städtchen. Dort nahm ich einen Miethswagen, ein unglückseliges Gefährt, und gelangte durch tiefe Sandwege unter dem aufgespannten Regenschirme bis zum Strande der See. Hier, in einem armen Fischerdorfe, sollte ich ein Boot nehmen und mich nach Gothenwiek rudern lassen. Einige rüstige Leute fand ich wohl, die mich an Ort und Stelle zu bringen versprachen, allein es war keine freundliche Aussicht, sich bei strömendem Regen und scharfem Winde den hochgehenden Wellen zu vertrauen, zumal da ich, nicht an der Küste geboren, auch keineswegs seegewohnt war. Dazu hatten wir Mitte October, der Herbst war früh eingetreten. Im Lande flog bereits das gelbe Laub von den Bäumen, hier am öden Strande sauste der Wind über kahle Dünen, selten um einen krüppelhaften Kiefernbusch streifend.
Eine Stunde lang wartete ich, um einen heftigeren Regenguß vorübergehen zu lassen. Dann bestiegen wir das Boot. Meine vier kräftigen Fischer hatten mächtig zu arbeiten. Bald tanzte das Boot auf dem Kamm einer Welle, bald schoß es in einen Abgrund, um von hochaufgebäumtem Schaume übergossen und in die Höhe geschleudert zu werden. Mochte der Regen auch aufgehört haben, die salzige Flut, die uns wild brausend umgab, sendete Güsse von allen Seiten über uns her. Schwarzgrün war das Meer, der Himmel grau, der schwindende Strand kahl, dürftig, unerfreulich. Wo werden wir landen? dachte ich. Auf meine Frage, ob das Ufer bei Gothenwiek ähnlich sei, nickte einer meiner Ruderer zur Bejahung. An eine Unterhaltung war nicht zu denken. Die starken Burschen hatten alle Kraft und Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit zu richten. Sie sahen mich wohl ab und zu mit ihren großen wasserblauen Augen verwundert an, aber zu einer Frage über meinen Zweck ließ es ihr Phlegma nicht kommen. Der Fremde, so mochten sie denken, gab sich dem Elemente hin, gegen dessen Gefahren sie abgestumpft waren, er hatte guten Lohn versprochen, sie hofften ihn an das Ziel zu bringen, das Andere war nicht ihre Sache.
Aber verrechnet hatten sie sich dennoch, denn zu hoch ging die See, als daß sie mich nach zwei Stunden schon, wie sie gemeint, ans Land setzen konnten. Es vergingen vier, und bei der Schwierigkeit, in so heftiger Brandung zu landen, auch fünf Stunden. Die letzte war in der That gefahrvoll genug und ließ mich vergessen, den Strand, vor welchem wir uns mühten und umhergeschleudert wurden, näher ins Auge zu fassen. Endlich nach harter Arbeit und Anstrengung war unser Fahrzeug aus der Gefahr, von der Brandung umgeschlagen zu werden, und bald sprang ich auf den Ufersand, noch verfolgt von der letzten mir hastig nachschießenden Schaumwelle. Meine Ruderer zogen das Boot ans Land und empfingen ihren Lohn. Sie schienen zufrieden. Ich fragte, ob sie sogleich wieder heimkehrten? Sie verneinten es. wollten die Gelegenheit benutzen, im Dorfe vorzusprechen. Ich sah kein Dorf ringsumher, und hätte mich gern den Leuten angeschlossen, die einen tiefen Sandweg zwischen den Dünen hinauf zu waten begannen. Einer von ihnen sah sich um, sie schienen jetzt von mir zu sprechen. Schon war ich willens ihnen zu folgen. Aber jener letzte Brief an mich schrieb mir vor, ich sollte mich gedulden, da man mich bestimmt abholen werde. Und ich geduldete mich.
Da stand ich an einem fremden, ungastlichen Strande, zwischen dessen Sandhügeln die Männer, die mich ausgesetzt, verschwunden waren. Hohe Dünen, mit Strandhafer bewachsen, deckten den Blick ins Land zu. Ueber sie her kamen Schaaren von Krähen geflogen, erfüllten die Luft mit Geschrei, und senkten sich zum niederen Ufer, um den Möven ihren Raub streitig zu machen oder auf dem Sande nach einem Auswurf des Meeres zu suchen. Denn höher und höher ging die Brandung, sprang in weißem Gischt sich aufbäumend um die mächtigen Steine, die wie ein schwarzer Riesenarm vom Land in die See griffen, oder leckte, breiter sich ausgießend über den flachen Sand, zu den Dünen hinauf. Von der Flut vertrieben erstieg ich eine Dünenanhöhe. Welch ein Anblick! Wie ein im Hochgang erstarrtes Wellenmeer lag diese Dünenwelt um mich her. Gebirg und Thal von weißem Ufersande hoben sich, senkten sich, hier von dürrem Sandgras bekrönt, dort von kriechendem Kiefergebüsch umdunkelt, das sich mit zu Tage liegenden Wurzeln in den Sand klammerte, dort gepeitscht von Weidenruthen, die ihre wenigen gelben Blätter dem jagenden Winde preisgaben. Ein Labyrinth, worin ich keine menschliche Spur erblickte und in das ich meinen Fuß nicht zu setzen wagte! Was beginnen? Fast eine Stunde schritt ich auf dem Kamm einer Düne umher, auf der einen Seite die tobende See, auf der anderen die starren Tiefen und Hohen des Sandes, darüber der graue Herbsthimmel und fröstelnder Wind. Endlich war in dieser unwirthlichen melancholischen Umgebung meine Geduld erschöpft. Durchnäßt von Seewasser, frierend, ohne den Anblick eines menschlichen Wesens zu erlangen, das mich hier erwartete, beschloß ich, mir jenen Weg zu suchen, den meine Fischer genommen hatten. Es war wider die Anordnung meines Briefes, allein es begann bereits zu dunkeln, und äußere Umgebung wie innerer Mißmuth fingen an, mich meine Abenteuerfahrt bereuen zu lassen.
So kroch ich den Sandweg, der sich zwischen Dünenbergen immer hinauf zögerte, entlang. Mit Reisegepäck war ich nicht eben beladen. Einen kleinen ledernen Mantelsack, wie er damals im Gebrauch war, trug ich unter dem Arme, den Mantel selbst um die Schultern. Je höher ich kam, desto dichter wurde das Nadelholzgestrüpp, bis es sich zu einem Kiefernwalde gestaltete. Auf festerem Boden schritt ich hier fort. Die schmale Waldstrecke lichtete sich bald und ich sah unter mir ein weites wellenförmiges Flachland, erkannte rechts ein ärmliches Dorf, links hinter Bäumen ein paar Giebel, die vielleicht dem Schlosse angehörten. Mehr aber nahm die Umgebung meine Aufmerksamkeit in Anspruch.
Ich stand vor einer niederen Bretterumzäumung, welche kleine, von Menschenhand gebildete Sandhügel in Menge umschloß. Es war ein Begräbnißplatz, eine öde, kummervolle Stätte. Der unfruchtbare Sand spottete jeder Bemühung, den Hügeln Reiz und Schmuck zu geben. Graue Flechten wucherten statt des Rasens, spärliches Laubholz, ein wenig Birkengesträuch stand umher, nur eine einzelne mächtige Kiefer schickte aus ihrer Krone melancholisch tiefe Klagetöne herab. Wenn mir jemals ein Kirchhof den Eindruck trostloser, hoffnungsloser, erstorbener Einöde gemacht, so war es dieser. Allein nicht lange sollte ich ihn einsam sehen.
Denn kaum hatte ich mich der Umzäunung genähert, als ich den Weg vom Dorfe her einen Leichenzug heraufkommen sah. Vier junge Fischer trugen auf ihren Schultern den Sarg. Ihnen folgte der Geistliche, ein weißhäuptiger Greis, dem der ansteigende Sandweg recht beschwerlich zu werden schien. Darauf Männer und Frauen, junge und alte, das halbe Fischerdorf. Auch meine vier Ruderer erkannte ich in dem Zuge. Als er die Stätte betrat, verbarg ich mich hinter einem Kieferngebüsch, denn jetzt, wo mir der Anblick von Menschen wieder zu Theil ward, wenn auch unter trüben Verhältnissen, kam mir die Vorschrift meines Briefes noch einmal in den Sinn, meine Gegenwart nicht zu verrathen. So hörte und sah ich die Beerdigung mit an. Der alte Geistliche, nachdem er sich von der Anstrengung des Weges erholt hatte, hielt die Leichenrede. Ich entnahm daraus, daß die Hülle, die man dem Dünensande vertraute, einem jungen Burschen von zwanzig Jahren gehörte, der den Tod in den Wellen gefunden hatte. Der geistliche Herr besprach es wie nichts Ungewöhnliches. Es war eine Rede, dürftig und trocken, wie die Vegetation dieser Dünen; Gedanken und Tröstungen, wie sie nur die Vertrautheit mit dem Tode, der Starrsinn des Daseins hervorrufen konnte. Mich schauerte, denn trotz einer gewissen Kindlichkeit, die gläubig aus den lebensarmen Greisenworten hervorsah, meinte ich doch, daß eine solche Grabrede die Gemüther eher in tiefste Schwermuth versenken, als mit Trost erfüllen könne. Ich beobachtete die Umstehenden. Die Frauen weinten. Die bärtigen Männergesichter sahen finster oder gelassen drein, die jungen mit trotziger Gleichgültigkeit oder nichtssagendem Phlegma. Ich kannte dieses Geschlecht noch nicht, und diese Natur war mir damals noch neu. Ich habe beides in einem langen Leben kennen gelernt. Ich erfuhr, wie die Scene sich wandelt, wenn ein erster Sonnenblick des Frühlings, wenn der Sommertag über diese Einöde geht, wie es auch hier noch blüht und zu Licht und Farben kommt und welch ein Gemüth unter der apathischen Außenseite dieser Menschen verborgen ist. Schwer und zögernd, wie die Haideblume aus dem starren Waldboden, will es zu Tage, denn es ist gewöhnt an die rauhere Seite seines Lebens. Sie beherrscht das Dasein. Diese Natur hat dieses Geschlecht gebildet, es gehört zu ihr, es kennt und will nichts Anderes.
Während man den Sarg in die Grube ließ und Aller Aufmerksamkeit sich auf diese Handlung richtete, benutzte ich den Moment, mein Versteck unbemerkt zu verlassen, um den Heimkehrenden auf dem Wege nach dem Dorfe wo möglich zuvorzukommen. Denn es wäre wohl der am wenigsten günstige Augenblick gewesen, hier Erkundigungen über mein Reiseziel anzuknüpfen. Es gelang mir, am Waldesrande die Landstraße zu gewinnen. Ein Laubgehölz, der Park des Schlosses, war bald erreicht. Ein Graben trennte es von der Landstraße. Ich übersprang ihn, um auf weniger sandigem Wege fortzuschreiten. Kaum aber hatte ich ein paar Schritte gethan, als Jemand hastigen Laufes durch das Gebüsch kam. Eine junge Dame stand vor mir, athemlos, halb erschreckt, stutzend, mich mit prüfenden Blicken betrachtend. Ich wollte etwas zu meiner Entschuldigung sagen, aber schnell gefaßt kam sie mir zuvor mit der Frage: »Sind Sie der Arzt aus S.?«
Ich langte aus der Brusttasche die Einladungsschreiben zu meiner Beglaubigung hervor.
»Sie haben den Boten, der Sie empfangen sollte, nicht am Strande gefunden?« fuhr sie fort. »Er war am Platze, aber da Sie nicht zu kommen schienen, ging er heim, um seinen jüngsten Bruder mit zu begraben. Ich hatte keinen anderen Vertrauensmann zu schicken und so sehen Sie mich selbst auf dem Wege, am Strande nachzusehen, ob Sie gekommen. Sie müssen verzeihen! Sie werden, wenn Sie uns kennen lernen, noch über Vieles hinweg sehen müssen!«
Sie sprach dieß rasch, hastig, wie in fieberhafter Erregung. Ein lebhaftes Roth war auf ihre blassen Wangen getreten. Die dunklen Augen in dem Gesicht, darin sich ein tiefes inneres Leiden aussprach, blickten scheu und unstät. »Unser Haus ist ungastlich,« sprach sie rasch weiter, »ich kann Sie nicht darin empfangen. Gehen Sie in das des Pfarrers, sagen Sie der Pfarrerin, ich schickte Sie. Dort, der Kirche gegenüber, liegt das Haus. Zögern Sie nicht, Herr Doctor, dort kommen schon die Leute vom Kirchhof zurück – ich wünsche nicht, daß Sie gesehen werden. Noch vor Nacht sollen Sie von mir hören!« – Flüchtigen Schrittes eilte sie davon. Aber während ich noch der seltsamen Erscheinung nachblickte, blieb das Mädchen plötzlich stehen, als hätte es etwas vergessen. »Ach, mein Herr,« sagte sie mit bewegter Stimme, »ich danke Ihnen, daß Sie gekommen! Ich danke Ihnen, mehr als ich aussprechen kann!«
Sie verschwand zwischen den Bäumen, ich aber machte mich auf den Weg nach dem Pfarrhause. Es unterschied sich nur wenig von den niedrigen Fischerhütten, die es umgaben. Mit Stroh gedeckt, von Moos bewachsen, grau, ärmlich, mit kleinen Fenstern, mit einem Hofe, wo einige Ackergeräthschaften zu erblicken waren, und einem Stückchen Garten, der mit Cultur und Geschmack nichts zu thun hatte. Ich trat ohne weiteres in die Thür, und fragte eine alte Bäuerin nach der Frau Pfarrerin. Die Angeredete war es selbst, und maß mich mit befremdeten Augen. Auf meine Angabe, daß ich der Arzt sei, und das Fräulein mich zu ihr schicke, öffnete sie das Wohnzimmer für mich, und hieß mich in einem Tone willkommen, aus dem ich ein gewisses bedauerndes Mißtrauen las, als werde ich hier nicht viel ausrichten und sei eigentlich recht überflüssig. Indessen schien sie ein Gespräch über meinen Zweck möglichst vermeiden zu wollen, hieß mich ablegen und den Vater (so nannte sie ihren Gatten) abwarten.
Die Wärme des niedrigen, bereits geheizten Zimmerchens machte mir, der ich durchnäßt und vom Wind durchfröstelt war, einen gar behaglichen Eindruck und ich schlug den Platz am Ofen nicht aus, noch auch den warmen Thee, der, für den geistlichen Herrn bereit gehalten, auch mir zu Gute kam. Das Mütterchen that nicht gerade viel, mich zu unterhalten, wurde aber gesprächiger, als ich die Rede auf ihre eigenen Verhältnisse brachte. Sie war des Plattdeutschen gewohnt, und hatte die Geläufigkeit im Hochdeutschen verloren oder nie besessen. Wie sie in ihrer Rede immer wieder in die Ausdrucksweise ihrer Umgebung von Fischern und Landleuten fiel, so auch zeigte ihre Tracht, daß sie sich im Laufe der Zeit ganz den Verhältnissen des Dünendorfes anbequemt hatte. Ich erfuhr, daß sie seit bald fünfzig Jahren mit ihrem Gatten hier lebe. Der Sohn sei ebenfalls Pfarrer, die Töchter an jüngere Amtsbrüder verheirathet, aber so weit drinnen im Lande, wohl zehn und fünfzehn Meilen weit, daß es in diesem Leben schwer sein werde, sie noch wiederzusehen. Denn der geistliche Herr, der Vater, sei schon recht schwach, und seit seinem siebzigsten Jahre werde ihm die Ausübung seines Berufes sehr sauer. Besonders Leichenreden, wozu er den sandigen Weg auf den »Berg« hinauf müsse, griffen ihn immer sehr an. Sie sei auch heute ängstlich wo er bliebe, die Leute kämen ja schon alle vom Kirchhofe zurück.
Endlich kam denn auch der geistliche Herr, aber so erschöpft und von einem bösen Husten geplagt, daß er von meiner Vorstellung nur wenig Notiz nehmen konnte. Während das Mütterchen ihm aus dem schwarzen Amtsgewand und in den Schlafrock half, hieß er mich in ähnlicher Weise willkommen wie seine Gattin, nur daß seine Art mir noch ablehnender schien. Dann zu ihr gewandt sagte er: »Mutter, der Harald ist auch da. Er wollte seinen armen Jonas Matthessen doch mit zu Grabe tragen.«
Der alte Herr ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder. Ich hoffte jetzt ein Gespräch über den Zweck meiner Reise zu Wege zu bringen, aber die Pfarrerin faßte meinen Arm und flüsterte: »Er darf jetzt nicht reden, er braucht Erholung. Ich zeige Ihnen unterdessen das Gastzimmer, ein wenig warm wird es wohl schon geworden sein, ich habe gleich heizen lassen.« Sie zündete ein Talglicht an, winkte mir, und ich, angesichts des Hustens, in den der geistliche Herr wieder verfiel, folgte ihr. Sie leuchtete mir über der Hausflur nach einem engen Hinterzimmer, dessen Ofen dermaßen rauchte, daß auch ich in einen Husten verfiel und vor allen Dingen das Fenster aufriß. Ein Bett, ein wackelnder Tisch und zwei wurmstichige, von Motten durchnagte Polsterstühle machten die Bequemlichkeit des Gastzimmers aus. Doch entschuldigte sich das Mütterchen über diese Aermlichkeit. Sie habe den Töchtern Alles, was sie an Mobiliar entbehren gekonnt, zur Ausstattung mitgegeben, und sie selbst und der Vater bedürften eben wenig. Ein Gast komme gar selten in das Haus, und darum sei es nicht darauf eingerichtet. Ich bat sie, einen Augenblick zu warten, und packte aus meinem Mantelsack die kleine Reiseapotheke, die ich für alle Fälle mitgebracht hatte. Ein Linderungsmittel für den Husten des alten Herrn empfing sie mit großem Danke und verabschiedete sich mit der Vertröstung, daß die Abendsuppe bald bereit sein werde.
So war ich denn in meinem Gastzimmer allein und darin nicht viel weiter in meiner Expedition, als da ich einsam auf den Dünen gestanden, harrend der Dinge, die mich erwarteten. Der Rauch nahm allgemach den Weg durch das Fenster, ich zündete eine Cigarre an, und begann die fünf Schritte, welche das Zimmer gewahrte, auf und nieder zu lustwandeln. Lustig war mir dabei nicht zu Muthe. An einen gewissen Luxus des Lebens, an geschmackvolle, sogar von künstlerischem Verständniß geordnete Umgebung von Jugend auf gewöhnt, erschien meinem Culturbedürfniß die Aermlichkeit, bei der ich zu Gaste war, nichts weniger als anmuthig. Ein sehr vernehmliches Grunzen und Quieken führte mich zu der Entdeckung, daß ein Schweinekoben, der sich auch einem andern Organ als dem des Gehörs deutlich verkündete, hart an meinem Fenster angesiedelt war, während ein tiefes Brummen die Nachbarschaft des nur durch eine dünne Lehmwand von mir geschiedenen Kuhstalles unzweifelhaft machte. Durfte ich mir somit den Besitzstand meiner Gastfreunde im Ganzen beruhigend darstellen, so dachte ich doch mit Sehnsucht an meine eigene Wohnung in der Stadt. Ich schloß das Fenster und starrte in die lange Schnuppe des Talglichtes, um die der Dampf sich in blauen Ringen zog.
Da wurde mit starker Hand an die Thüre gepocht und sofort trat ein Mann in der üblichen Fischertracht ein. Er trug ein Hemd von starkem blauwollenen Stoffe, am Kragen von einem Halstuch lose umschlungen. Dazu hohe, bis an die Lenden reichende Wasserstiefeln, und über den Kopf eine Lederkappe, von welcher ein breites Fallblatt bis auf die Schultern gleich einem Kragen herabhing und nur das Gesicht frei ließ, das wie aus einer Kapuze hervorsah. »Verzeihen Sie, Herr Doctor,« begann der Fremde mit einer jugendlich klangvollen Stimme, die mich gleich wohlthuend berührte – »verzeihen Sie die wunderliche Aufnahme, die Sie hier finden. Ich komme, mich Ihnen als den Bruder des jungen Mädchens vorzustellen, das, wie ich höre, Sie in das Pfarrhaus gewiesen.«
»Nun, endlich!« rief ich im Tone der Ungeduld, indem ich mich erhob. Der Andere trat näher an das Licht und schob die braune Lederkappe vom Kopfe. Ich sah ihn jetzt erst näher an und empfand die ganze Macht, mit der eine schöne menschliche Erscheinung Unmuth und Mißstimmung im Augenblicke zu verbannen im Stande ist. Vor mir stand eine wahrhaft prachtvolle Jünglingsgestalt, die selbst durch die rohe Fischerkleidung nicht beeinträchtigt wurde. Ein blühendes aber höchst charaktervolles Antlitz, am Kinn von dem ersten goldfarbigen Anfluge eines Bartes umkräuselt, während über der hohen Stirn sich dunkelblondes Haar in tausend Ringeln verschlang, sah mir aus tiefblauen Augen ernst und durchdringend entgegen. Die Aehnlichkeit mit dem jungen Mädchen, das mir im Park begegnet, war unverkennbar, nur daß die Natur den Bruder mit einem weitaus größeren Maß von äußerer Vollendung ausgestattet hatte. Wenn mich der Zug eines tiefen Leidens in dem Antlitz der Schwester bewegte und rührte, so forderte ein Zug dämonischer Kraft, die sich energisch beherrschte, in dem Gesicht des Jünglings mein Interesse in hohem Grade heraus.
»Mein Name ist Harald,« begann er von neuem. »Seien Sie mir willkommen!« Er reichte mir die Hand, in die ich gern einschlug.
»Sie können denken,« sagte ich, indem ich ihn Platz zu nehmen bat – »Sie können denken, daß ich mit einiger Ungeduld auf eine Mittheilung über den geheimnißvollen Patienten warte, zu welchem ich gerufen werde. Es wäre mir erwünscht, wenn ich ihn heute noch sehen könnte, denn mein Besuch kann nicht von langer Dauer sein.«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Sie werden ihn in den nächsten Tagen wohl noch nicht zu Gesicht bekommen,« entgegnete er.
»Aber, mein Herr,« rief ich mit schwer verhehltem Mißmuth, »ich kann hier durchaus nicht warten, bis der hohe Kranke mich vor sich lassen will. Ich habe in meinem Wohnort eine größere Anzahl von Patienten zurückgelassen« – das durfte ich ohne Ruhmredigkeit sagen – »die meine Hülfe nicht minder brauchen, als der Eine, der sich in Geheimniß hüllt, oder von Geheimniß umgeben wird, und von dem noch nicht einmal feststeht, ob er wirklich krank ist!«
Harald ließ sich durch den etwas heftigen Ton meiner Rede nicht herausfordern. »Ich an Ihrer Stelle wäre gar nicht gekommen,« sagte er ruhig.
»Das ist eigen!« gab ich zurück. »Sie nehmen meine Hülfe in Anspruch und verdenken mir gleichsam, daß ich komme sie zu leisten. Zwei dieser Briefe sind doch sicherlich von Ihrer Hand« – fuhr ich fort, indem ich die Schriftstücke vor ihm entfaltete – »es sind männliche Federzüge!«
»Sie irren, Herr Doctor. Die Briefe sind von der Hand einer Frau – einer Dame, die uns nahe verbunden ist. Sie lebt in der Stadt. Dieser mittlere rührt von meiner Schwester. Ich selbst habe niemals an Sie geschrieben. Ich habe nichts mit dieser Angelegenheit zu thun.«
»Nichts? Und sind doch der Erste, der mich aufsucht? Sie stellten sich mir als den Bruder der jungen Dame vor, nun – so sind Sie doch wohl der Sohn des Freiherrn?«
Der Jüngling schlug die Augen nieder, seine Brauen zogen sich zusammen, und mit gekniffenen Lippen und bitterem Tone sagte er: »Ja! Doch ich wohne nicht im Hause des Freiherrn, ich gelte nichts darin.«
Eine solche Andeutung berechtigte mich zu allerlei Vermuthungen über die Familie des Freiherrn, die auf seltsame Verhältnisse hinausgingen. Zugleich aber merkte ich wohl, daß ich durch freiwillige Mittheilungen von dem jungen Manne nicht viel darüber zu erwarten hätte. Denn auch er war ein Sohn dieser nordischen Natur, verschlossen, unzugänglich, Freude und Schmerz in verschwiegener Tiefe bergend, bei reiner und gutmüthiger Sinnesart eher stolz ablehnend als entgegenkommend. Vertrauen und Mittheilung wollten erworben, erkämpft werden. Ich mußte, wenn ich nicht zudringlich scheinen und mir jede Eröffnung verscherzen wollte, schon warten oder auf einem Umwege zum Ziel zu kommen suchen.
»Ich bin hier in wunderlicher Lage,« begann ich nach einer Pause halb lachend. »Die mich hergerufen, verbergen sich vor mir, und der mir meine Herreise fast verargt, sucht mich zuerst auf! Nun, das ist freundlich von Ihnen, und ich heiße die Gesellschaft willkommen. Mein Eintritt in diese Gegend war sonderbar genug. Ich wohnte beim ersten Schritt einem Begräbniß bei. Es war, wie ich hörte, ein Jüngling von kaum zwanzig Jahren, den man begrub.«
Harald sah mich mit einem tief schmerzlichen Blicke, ja es schien mit schwer bekämpftem Ingrimm an. »Er war mein Freund von Kindheit auf, den wir heut zu Grabe getragen,« sagte er nach kurzer Pause. »Unter den Fischerkindern des Dorfes wuchs ich auf. Jonas war von meinem Alter, wir gehörten zusammen. Mit ihm, seinen älteren Brüdern, seinem Vater, fuhr ich zum Fischen aus in die See, theilte ihr Leben in Sturm und Gefahren, und war unter ihnen ein glücklicher Knabe. Ich wurde nach der Stadt geholt, die Schulen zu besuchen. Heimlich, gegen den Befehl derer, die mir zu gebieten hatten, war ich doch viel hier im Dorfe und blieb mit Jonas eng verbunden. Er war nur ein Fischerjunge, aber er war besser als Tausende, die sich etwas dünken und vor den Leuten etwas gelten. Wir machten bis vor wenigen Tagen große Pläne für das Leben. Wir wollten weit hinaus übers Meer – das fernste Ufer war uns das liebste, denn uns beiden war's hier zu eng, wir sträubten uns, ein Leben länger in armseligem Groll und thatlosem Haß elend zu vergeuden. Er freilich hätte ruhig leben können, doch was mich anging, war auch sein. Nun ist es aus mit allen Plänen. Er hat seinen Tod in den Wellen gefunden, auf die meine Zukunftsträume ihn in die Weite lockten!«
»Waren Sie bei seinem Tode gegenwärtig?« fragte ich.
»Wär' ich's gewesen,« rief Harald, »so beklagten wir ihn jetzt nicht, oder ich kehrte selbst nicht lebendig aus den Wellen heim! Er starb, als er mit seinen Brüdern zur Arbeit des Tages, zum Fischen ausfuhr. Der Wind schlug um, die Brandung ging hoch, er ertrank im Angesicht des Strandes. Man brachte mir die Nachricht nach der Stadt.« Harald stützte den Kopf auf den Arm, und sah mit wildstarrenden Augen in das Licht.
»Wie erträgt die Familie das Unglück?« fragte ich, um das Gespräch doch nicht ausgehen zu lassen.
Harald zuckte die Achseln. »Man klagt hier zu Lande nicht viel. Die Brüder hatten den Jungen wohl lieb, aber sie fuhren Tags darauf doch zur gewohnten Arbeit aus. Die Mutter weint still vor sich hin am Herde und ist um den Alten beschäftigt. Denn der alte Matthessen liegt darnieder. Er hat sich bei dem Versuch, den Jonas zu retten, den Fuß verletzt und scheint sehr krank zu sein.«
Ich erhob mich rasch. »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« rief ich. »Kommen Sie, gehen wir nach dem Fischerhause! Ich bin dann doch nicht zwecklos hier, kann in meinem Berufe auftreten!«
»Man wird Sie nicht willkommen heißen,« entgegnete Harald. »Diese Leute wollen nichts vom Arzte wissen, sie haben ein Vorurtheil gegen seine Behandlung und begnügen sich mit Hausmitteln.«
»Die nur im besten Falle ausreichen!« fiel ich ein, begierig etwas zu thun zu bekommen. »Suchen wir das Vorurtheil der Leute zu brechen. Sie sind befreundet mit der Fischerfamilie, gelten vermuthlich etwas bei ihr. Also führen Sie mich als einen guten Freund ein, dem man sich vertrauen könne. Das bischen Vertrauen dürfen auch Sie mir schenken, junger Mann« – ich legte bei diesen Worten meine Hand auf Haralds Schulter – »haben Sie mir doch bereits einen Einblick in Ihr Inneres gestattet, wie man ihn sonst nur einem Nahestehenden gewährt. Sie sollen noch erfahren, daß Sie sich an einen dankbaren und wohlverstehenden Hörer gewendet. Nun aber zum alten Matthessen!«
Harald sah mich prüfend mit großen Augen an. Es ging etwas wie ein innerliches Aufathmen durch sein Wesen. »Sie haben recht,« sagte er kurz. »Kommen Sie!«
Ich ergriff meine Reiseapotheke und folgte ihm. Der Wind hatte die Wolken verjagt, es war sternenklar. Man hörte das dumpfe Brausen der See. Wir gingen einen langen Weg, zwischen Fischerhütten, bis zu einem entfernten Hause auf den Dünen, hart am Walde, von wo man die unendliche dunkle Meeresfläche überblickte.
Wir traten in ein niedriges, nur vom Herdfeuer erhelltes Zimmer, in dessen Halbdunkel einige Männergestalten saßen. Die alte Fischerfrau rührte am Herde etwas zusammen, an der Wand wurde ein Bett sichtbar, worin der Kranke lag. Harald führte mich in verabredeter Weise ein. Ich suchte mein Plattdeutsch zusammen, das mir bei meiner Armenpraxis in der Seestadt, und besonders in den Hafenquartieren, ziemlich geläufig geworden war. Das schien gleich, und dazu in Haralds Gesellschaft, eine vertrauliche Seite zu wecken. Ich setzte mich an des Kranken Bett und verlangte Licht, um seine Wunde zu untersuchen. Einer der Männer zündete einen Kienspahn an, die Mutter aber wehrte ihm, und brachte ein Talglicht, mit dem sie mir leuchtete.
Der Kranke war ein noch kräftiger Mann in der Mitte der fünfziger Jahre, seine Wunde nicht erheblich, aber durch falsche Behandlung verschlimmert. Ein Wundfieber und der innerlich fressende Schmerz um den Verlust des Sohnes machten ihn nur augenblicklich kränker. Ich legte einen Verband an, traf die sonst nöthigen Anordnungen und ließ mich darauf in ein Gespräch mit der Familie ein, wobei die drei Männer aus dem Dämmer des Zimmers näher rückten. Sie waren wie Harald gekleidet, jugendliche Kerngestalten, breit und hoch, älter als Harald. Ich erfuhr, daß Peter Matthessen sieben Söhne gehabt. Schon zwei hatten früher das Schicksal des armen Jonas erlitten, einer war verheirathet und hatte sein eigenes Haus, die drei gegenwärtigen lebten daheim und draußen dem allgemeinen Berufe des Fischerdorfes, verbunden mit etwas Ackerbau, denn Peter Matthessen war in seinem Gemeinwesen ein wohlhabender Mann. Harald schien hier wie zur Familie zu gehören, man nannte ihn vertraulich Du.
Unter unserm Gespräch, welches den verunglückten jüngsten Bruder nur leichthin berührte, war der Alte sanft eingeschlafen. Wir verließen das Haus, begleitet von dem jetzt jüngsten seiner Söhne, Hans Matthessen, der es sich nicht nehmen lassen wollte, meinen »Pflasterkasten,« wie er ihn nannte, zu tragen.
Als wir wieder in das Wohnzimmer des Pfarrhauses traten, flog eine weibliche Gestalt vom Lehnstuhl auf und schlang mit leidenschaftlichem Ungestüm die Arme um Haralds Nacken. Es war die junge Dame, die mir im Park begegnete.
»Endlich hab' ich dich einmal wieder!« rief sie mit von Thränen erstickter Stimme. »O Harald, du bist treu und gut! Könnt' ich dir deinen Verlust ersetzen! Könnt' ich dir doppelt sein, was dein armer Jonas dir war!«
»Du bist mir jetzt Alles, meine Malvina!« sagte er leise, indem er die Schwester fest an die Brust schloß.
Ich merkte, daß die Geschwister sich nach dem Tode des verunglückten Freundes noch nicht gesprochen hatten und wendete meine Augen ab und zum Fenster hinaus. Und doch war es ein schöner Anblick, die zarte Mädchengestalt an der Brust des schönen Jünglings, vor dessen rauher Fischerkleidung ihre weißen Arme nicht zurückschreckten. Sie war nicht klein, doch überragte er sie um eines Hauptes Höhe. Malvina's schmerzliche Bewegung war fieberhaft, die grenzenlose Liebe für den Bruder machte sie den Verlust desselben verzehnfacht durchleben, und die angeborene Leidenschaftlichkeit ihres Wesens gab dem Ausdruck des Schmerzes bei ihr größere Heftigkeit als bei Harald.
»Fasse dich, Malvina! Wir vergessen –«! Erwies auf mich. Und zu mir gewandt begann Malvina, indem sie sich zu beherrschen suchte:
»Verzeihung, Herr Doctor! Sie sehen zwei Geschwister, die selten das Glück genießen, einander zu sehen und zu sprechen. – Ich habe Ihnen einen sonderbaren Empfang bereitet,« fuhr sie nach kurzer Pause fort. »Aber unsere Lage ist so angethan, daß ich die gewohnte und geziemende Form nicht innehalten durfte, wenn Ihr Empfang nicht noch unangenehmer werden sollte. Der Tod unseres Jonas Matthessen hat plötzlich auch die Vorsichtsmaßregeln gekreuzt, die wir für Ihren Eintritt bei uns genommen. Wir müssen nun eine andere Einrichtung treffen, und – ich bitte sehr um Ihre Geduld und Nachsicht!«
Sie sah mich mit so flehentlicher und rührender Miene an, daß ich auf Alles, was sie anordnen würde, einzugehen beschloß.
»Sie sollen hier nicht bleiben,« sprach sie weiter, »weder das Haus des Freiherrn, noch das des Pfarrers, ist ein geeigneter Aufenthalt für Sie. Sie fahren noch diesen Abend mit dem Bruder nach der Stadt – Harald, Du bringst den Herrn Doctor in das Haus unserer Freundin –«
»Das ist wahr!« rief Harald lebhaft dazwischen.
»Sie werden eine edle Frau kennen lernen, und von ihr besser erfahren, als wir Ihnen mittheilen dürfen, wozu dieß geheimnißvolle Wesen um uns her, das Ihnen bis jetzt unverständlich und verkehrt erscheinen muß.«
Ich war mit dem Vorschlage einverstanden. Mußte ich doch auf diese Weise dem Zweck meiner Reise näher kommen. Mein Mißmuth über die Verzögerung war bereits einem lebhaften Interesse gewichen, denn Harald und Malvina zogen mich in hohem Grade an. Schon wollten wir aufbrechen, als die Frau Pfarrerin Einspruch that und sich ausbat, ihre Abendsuppe, die auf dem Tische dampfte, nicht außer Acht zu lassen. Während wir uns zu dem bescheidenen Mahle setzten, wurde Hans Matthessen abgeschickt, einen Leiterwagen für uns bereit zu halten, und daheim auf uns zu warten. Malvina nahm bei uns Platz, ohne etwas zu genießen. Der geistliche Herr hatte sich bereits zur Ruhe begeben, und das Mütterchen schien nicht unzufrieden, daß sie mich los werden sollte.
Ich betrachtete das junge Mädchen, das schöne blasse Antlitz, in dem sich nicht allein tiefe Seelenkämpfe, sondern leider auch, wie ich vermuthete, ein körperliches Leiden aussprach. Neben Harald, bei dem Alles groß und prachtvoll angelegt war, erschien die Aehnlichkeit weniger ins Auge fallend. Malvina's Augen waren dunkler, ihr üppiges Haar brauner. Sie besaß alle Formen der guten Gesellschaft, ohne formell zu sein. Sie war von Anfang an offener gegen mich als ihr Bruder, und aus ihren Augen sprach ein so hülfeflehendes Vertrauen, daß mein Betragen sich danach zu einer entgegenkommenden Herzlichkeit gestaltete. Als wir uns nach Verlauf einer Stunde erhoben, war zwischen uns Dreien ein stillschweigendes inneres Bündniß geschlossen, ohne daß noch viel gesprochen worden wäre, was sonst eine Freundschaft anzubahnen pflegt.
Ich ließ ehe wir aufbrachen die Geschwister noch einige Zeit allein, da, wie ich aus dem Gespräch entnommen, Malvina dem Bruder noch mancherlei unter vier Augen mitzutheilen hatte. Der Frau Pfarrerin versprach ich, für ihren Gatten ein Heilmittel aus der Stadtapotheke durch den heimkehrenden Hans Matthessen zu senden. Wir verabschiedeten uns. Malvina reichte mir die Hand und sprach von baldigem Wiedersehen.
Es war gegen zehn Uhr, tiefe Nacht und tiefe Stille im Dorfe, als wir den Weg nach Peter Matthessens Hause einschlugen. Harald wechselte drinnen die Fischertracht gegen seine städtische Kleidung um. Ich gab einem der Brüder Matthessen meinen Pflasterkasten bis zur Rückkehr in Verwahrung. Dann bestiegen wir den Leiterwagen, mit dem Hans bereits auf uns wartete.
Während wir durch die kühle Herbstnacht hinfuhren, wurde nicht gar viel zwischen mir und Harald gesprochen, höchstens allgemeine Dinge über das Leben und Treiben der Strandbewohner, worüber mir Hans mehr Auskunft gab, als mein schweigender Nachbar. Denn auf Harald lastete noch schwer der Eindruck des letzten Ganges, auf dem er seinen Jugendfreund begleitet hatte.
Gegen Mitternacht hatten wir die Stadt erreicht und hielten vor einem alten Hause, dessen schmaler, dunkler Giebel sich kenntlich vom Nachthimmel abhob. Eine alte Frau öffnete und wurde von Harald bedeutet, schnell das Zimmer neben dem seinigen für einen Gast in Stand zu setzen, da er den Herrn Doctor mitbringe. Auf die Nachricht, daß das Fräulein noch auf sei und ihn erwarte, bat Harald mich, ihm zu folgen, und mich sogleich mit der Dame bekannt machen zu lassen. Wir stiegen die Treppe des in uralt patrizischer Weise gebauten und eingerichteten Hauses hinauf, ein alter Hausdiener leuchtete voran und öffnete die Thür des Zimmers. Eine kleine alte Dame stand von ihrem Buche auf, sah uns mit klugen Augen entgegen und sagte bei meinem Anblick: »Das ist gewiß Doctor Hartmann aus S.!«
Harald küßte ihr respectvoll die Hand und bestätigte ihre Vermuthung, indem er mich vorstellte. Sie hieß mich sehr willkommen und lobte unsern Entschluß. »Es ist ein eigenes Zusammentreffen ungünstiger Umstände,« sagte sie, »das mir die günstigere Wendung Ihres Besuches bringt. Ich war es, die zuerst und zuletzt an Sie schrieb; ich war es, die Sie im Hause unseres Peter Matthessen erwarten wollte, um Ihnen die nöthige Aufklärung über unsere Lage zu geben. Nun, das verspare ich bis morgen früh, wo Geschäfte uns frischer finden werden, als in dieser späten Stunde.«
Ein Nachtimbiß, den sie bot, wurde abgelehnt, dagegen war mir ein Glas Glühwein nach der kühlen Fahrt willkommen. Das Gespräch berührte vorerst meinen wunderlichen Eintritt in Gothenwiek, und ging auf die Familie Matthessen über, deren Verlust sie tief zu empfinden schien. Mich interessirte das Verhältniß, das zwischen Harald und der kleinen, klug, geistvoll und ebenso gütig blickenden Dame waltete. Als sie uns verabschiedete und wir uns in unsern Zimmern befanden, sagte Harald von ihr: »Sie ist mir wie eine Mutter! Alles, was man sonst seiner eigenen Familie verdankt, das verdanke ich ihr von frühester Kindheit auf, ihr, der Fremden, die nichts dafür verlangt als freundliche Gesinnung. Sie werden sie näher kennen lernen. Gute Nacht!«
Ehe ich zu den nächsten Ereignissen übergehe, muß ich einige Notizen über die Herrin des Hauses, das mich gastlich aufgenommen hatte, einschalten. Fräulein Virginia Jessenius war die Tochter eines einst berühmten Professors, der als Rector der Universität gestorben, von mütterlicher Seite eines wohlhabenden Rathsherrn der Stadt. Sie hatte eine männliche Erziehung erhalten und galt für eine Gelehrte. Da sie unvermählt blieb, bewohnte sie nach dem Tode der Ihrigen das väterliche Haus allein. Platz hatte sie darin genug für sich und ein paar alte Diener. Es dünkte sie unmöglich, die reichsstädtisch patrizische Tradition des Familienhauses zu brechen und fremde Miether darin aufzunehmen. Sie hatte überhaupt ihre Sonderbarkeiten, folgte in Mode und Tracht allein ihrem Gutdünken, lehnte das Gesellschaftsleben der Stadt ab, und machte, ohne daß man sie näher kannte, durch rückhaltlose Offenheit ihres Urtheils viel von sich reden. Ihr Umgang bestand vorwiegend aus ein paar alten Professoren, im Ganzen nur aus gelehrten oder höchstgebildeten Leuten, von denen sie sehr geschätzt wurde.
Als ich am Morgen in das mit Porträts von Rathsherren und würdigen gelehrten Perrückenhäuptern geschmückte Wohnzimmer trat, wohin das Fräulein mich hatte zum Frühstück einladen lassen, fand ich Virginia meiner harrend allein. Harald war bereits ins Colleg gegangen. Ich erfuhr jetzt erst, und zwar zu meiner Ueberraschung, daß er an der Universität seine Studien mache, denn einen »Studenten« hätte ich in Harald nicht gesucht.
Fräulein Jessenius wußte mir während des Frühmahles durch Unterhaltung vortrefflich Gesellschaft zu leisten. Wir kamen gleich auf die Verhältnisse der Universität, worin sie durchaus Bescheid wußte, sie konnte sogar über einige Professoren der medicinischen Facultät Auskunft geben, welche kennen zu lernen mir erwünscht war. Ich lernte in Virginia eine Frau von ungewöhnlichem Geiste und Schärfe des Verstandes kennen. Ihr Urtheil war treffend, ihre Ansichten männlich, und doch brauchte man nie zu vergessen, daß man mit einer Frau sprach. Sie drängte sich mit ihrem Wissen und Verstehen nicht vor, und bewahrte in Betragen und Ausdruck durchaus weibliche Formen. Nach diesem vorbereitenden Gespräch begann sie: »Nun aber zu unseren Geschäften! Wollen Sie rauchen, so thun Sie sich keinen Zwang an. Meine alten Freunde üben dies Laster alle bei mir, und das alte Gelehrtenhaus ist von Urväterzeiten her an Dampf gewöhnt. Harald freilich theilt die allgemeine Unsitte nicht.«
Sie sagte die letzten Worte mit einer gewissen Genugthuung, präsentirte mir dabei aber doch ein altmodisches Kästchen mit sehr guten Cigarren. »Also,« fuhr sie fort, »ich sagte Ihnen gestern Abend schon, daß ich selbst Sie bei Peter Matthessen erwarten wollte. Denn ohne dem Hause des Freiherrn verwandt zu sein, nehme ich lebhaften Antheil an ihm – vorwiegend an seinen Kindern. Leider trägt mir diese Theilnahme seine erbitterte Abneigung ein, wir sehen uns niemals und – ich muß es vermeiden, ihm zu begegnen. Da trat nun der Unglücksfall mit dem guten Jonas ein. Der Freiherr hatte die Absicht blicken lassen, den alten Matthessen zu besuchen, was, beiläufig gesagt, auch ein außerordentliches Ereigniß gewesen wäre. Einer Begegnung mit ihm mochte ich, bei der Bedenklichkeit seines Zustandes, weder mich, noch die leidtragende Familie, noch meinen Harald, noch auch ihn selbst aussetzen. So blieb ich zurück – ich höre, daß ich dennoch hätte kommen können, denn der Freiherr hat das Haus Peter Matthessens nicht betreten.«
»Worin besteht denn aber nun der Zustand des Freiherrn?« warf ich dazwischen.
»Darin, daß er sich selbst zu Zeiten für wahnsinnig hält, aber von dem Augenblick an, wo sich auch seine Umgebungen davon zu überzeugen glauben, mit einer Klarheit und furchtbar berechnenden Bosheit den Peiniger spielt, die empörend ist. Dann ist er nicht geisteskrank, versichere ich Sie, wenigstens nicht geistesschwach, denn dann weiß er, was er sagt und thut. Wie es eigentlich mit ihm bestellt ist, das wünschen wir eben von einem kundigen Arzte untersucht. Die dem Freiherrn am nächsten stehen, schwanken zwischen beiden Annahmen. Nun, so viel aber steht fest, daß es kaum erträglich ist, in seiner Nähe zu leben. Am bittersten hat darunter meine arme Malvina zu leiden!«
»Arme Malvina!« rief es auch in meinem Innern. Auf meine Frage, warum man meinen Beistand mit so viel Geheimniß und Vorsicht hinzögere, fuhr das Fräulein fort: »Der Widerwillen, den man auf dem Lande hier herum häufig gegen den Arzt fühlt, ist bei dem Freiherrn bis zu einer Art Haß gesteigert. Er kann von keinem Arzte hören, ohne in erbitterte Wuth zu gerathen, durch die dann der Tochter böse Tage bereitet werden. Daß er seit einiger Zeit körperlich leidend ist, verschweigt er sich nicht. Wirklich sprach er einmal davon, einen Arzt um Rath zu fragen. Unglücklicherweise nahm Malvina den Gedanken auf, und sofort schlug er um und sagte der Tochter die abscheulichsten Anschläge gegen ihn auf den Kopf zu. Da lasen wir in der Zeitung von der außerordentlichen Kur, die Ihnen, Herr Doctor, gelungen war. Wir beschloßen, trotz der Ungunst unserer Lage, uns an Sie zu wenden. Sie sollten unter einer fremden Firma eingeschmuggelt werden, etwa als ein Landwirth, welcher Lust hat, sich in dieser Gegend anzukaufen, Güter besichtigt und so auch bei dem Freiherrn vorspricht. So hofften wir, könnten Sie seinen Zustand kennen lernen. Vielleicht ist der Plan, wenn Sie sonst darauf eingehen, auch noch festzuhalten. Nur leider war in den letzten Tagen, und am wenigsten gestern, auch so nicht zu dem Freiherrn vorzudringen. Der Unfall in der Familie Matthessen hat alte Erinnerungen in ihm wach gerufen, die seine Stimmung zu sehr beherrschen.«
Ich entgegnete dem Fräulein, daß ich unter Umständen auf den Plan eingehen wolle, mich unter fremdem Namen bei dem Freiherrn einzuführen, nur daß ich zugleich erklärte, die ganz außerordentliche Vorsicht nicht für nöthig zu halten und den Respect vor der Stimmung nicht zu theilen, zumal meine Zeit beschränkt sei. »Ohne indiscret sein zu wollen,« fuhr ich fort, »muß ich bitten, mir einige Auskunft über die Familie zu geben. Es gehört zu den Vorbedingungen meiner Behandlung des Freiherrn. Aus Haralds Andeutungen entnahm ich, daß er nicht zum Besten mit seinem Vater stehe.«
»In der That,« sagte das Fräulein, »es besteht unter ihnen kein Verhältniß, wie es sich zwischen Vater und Sohn gebührt. Die erste und früheste Schuld, und darum die Hauptschuld, muß ich dem Freiherrn zuschieben. Harald ist für immer aus der Nähe, aus dem Besitzthum seines Vaters verbannt und aus keinem anderen Grunde, als ... Doch,« unterbrach sie sich hier mit einem Seufzer, »ich sehe schon, ich muß weiter ausholen und nach der Schnur erzählen, wenn ich Ihnen so unselige Verhältnisse aufklären soll. Sie werden mir indeß gestatten, daß ich nur Hauptsachen berühre, nur Eröffnungen mache, die Ihnen für die Behandlung Ihres Patienten von Werth sein können.«
»Also, lieber Doctor,« fuhr das Fräulein fort, »ich kenne den Freiherrn seit seiner Jugend. Es ist möglich, daß er ein Unrecht erlitten, welches noch heute tiefe Schatten in sein Gemüth wirft, aber es steht fest, daß er selbst mehr Unrecht gethan hat. Er war eine wilde, abenteuerliche Natur. Zu früh selbständig geworden, heirathete er eine sehr schöne Frau, eine Schwedin – wir standen dazumal in unserem Lande noch unter schwedischer Regierung – eine Frau, die ihm nichts mitbrachte als ihre Schönheit und einen ihm verwandten Leichtsinn. Die Ruhe behagte ihm nicht, er verließ seine Gattin, um den Fahnen des corsischen Eroberers zu folgen. In der Zwischenzeit gebar die junge Frau Zwillinge – Malvina und Harald – die der Freiherr nicht als seine Kinder anerkennen wollte. Er kam zurück, verstieß die Frau und ging wieder nach Spanien zu den Adlern Bonaparte's. Die Frau starb, die Kinder waren eltern- und hülflos. Des Knaben nahm sich der alte Fischer Peter Matthessen an, in seinem Hause wuchs Harald bis zum achten Lebensjahre auf. Das Mädchen wurde mein Pflegling. Der Freiherr war verschollen. Er hatte die Schlachten des Vaterlandes gegen den fremden Eroberer nicht auf seines Volkes Seite mitgefochten, er hatte zum Feinde gestanden. Als dieser gestürzt war, ließ der Freiherr seine Güter verkaufen und schweifte durch die Welt, bald auf eigene Faust, bald in englischem Kriegsdienst in Indien. Man erwartete seine Heimkehr nicht mehr. Da erschien er nach achtjähriger Abwesenheit dennoch wieder. Von all seinem großen Besitz war ihm der dürftigste Rest geblieben, das Haus und das Gut in Gothenwiek – und auch das durfte er kaum noch sein nennen. Er nahm Wohnung in dieser Einsamkeit, die er in früherer Zeit kaum gekannt und als seine ›Sandgrube‹ nur verlacht hatte. Ein finsterer Geist war über den Heimkehrenden gekommen. Verarmt, zerfahren, innerlich haltlos, schob er fremder Schuld sein Schicksal zu, lebte nur noch in bitterer Verachtung der Welt, und einem Haß, der sich durch sich selbst nährte und steigerte. Peter Matthessen war es zuerst in seiner Umgebung, der sich den unauslöschlichsten Ingrimm des Herrn zuzog, denn er führte ihm den Knaben Harald entgegen, vertrat mit Kühnheit dessen Rechte, und führte dem Vater seine Pflichten für den Sohn vor das Gewissen. Ich übergehe Scenen, die nur für den Betheiligten eine Bedeutung haben können. Aber ihr Eindruck war bleibend für den jungen Harald. Der Unbekannte, den er nie gesehen, den er jetzt Vater nennen sollte, stieß ihn mit Verachtung, mit Ausbrüchen der Wuth von sich – das verletzte, tief erschütterte Gemüth des Kindes konnte von diesem Augenblicke an nichts mehr von Zuneigung gegen diesen Mann empfinden. Peter Matthessen, der verständig genug einsah, daß sein Pflegling eine Erziehung beanspruchen könne, ähnlich der seiner Zwillingsschwester, vor Allem, daß Harald dem Gesichtskreise des Freiherrn entrückt werden müsse, kam mit dem Knaben zu mir um sich Rath zu erholen. Nun kurz – ich behielt auch Harald bei mir, und in diesem Hause wurden die Geschwister erzogen. Bis zu ihrem siebzehnten Jahre waren beide mein, und ich freute mich ihrer, obgleich, wie Sie denken können, Haralds Erziehung nicht leicht war. Doch zum Glück standen mir tüchtige Männer zur Seite, und Harald ist, trotz gewaltiger Schroffheit seines Charakters – nein, ich will Ihnen sein Lob nicht so volltönig singen, wie es mir durch das Herz geht! Sie könnten sagen: was weiß eine alte Jungfer davon, wie es in einem Jünglinge aussieht, der sein volles Recht an das Leben in sich fühlt und beansprucht? Doctor, lächeln Sie nicht! Ich will, um meine Unparteilichkeit gegen ihn zu beweisen, gleich eine seiner Schwächen preisgeben. Wenn ich Horaz und Virgil mit ihm lesen wollte, nannte er diese Laureaten langweilig, und wenn ich mit Cicero komme, nennt er diesen Heros des Forums einen unausstehlichen Pedanten! Und das wagt er mir ins Gesicht zu sagen, mir, der Tochter eines gelehrten Philologen, der Freundin von klassischen Philologen und selbst einer halben Philologin!«
Virginia Jessenius sprach dies mit so würdevollem Humor, daß ich ein Lächeln nicht unterdrückte, noch zu verbergen brauchte. »Harald ist nun einmal eine romantische Natur,« fuhr sie fort. »Seine Phantasie lebt mit den Seekönigen des alten Gudrunliedes, und leider locken sie sein Herz mehr in die Weite, als mir lieb ist! – Doch, Doctor, ich muß zu meiner Erzählung zurück, denn Sie haben ein Recht zu fragen, weßhalb Haralds Schwester nicht mehr in meinem Hause ist. Also – Sie wissen, daß ich beide Kinder bis zu ihrem siebzehnten Jahre bei mir hatte. Es war eine glückliche Zeit, auch für mich. Die Geschwister liebten einander auf das Innigste, und Malvina vorzüglich hing an dem Bruder mit wahrhaft abgöttischer Hingabe. Malvina's ganzes Wesen drängt nach einem Aufgehen in liebevollen Pflichten, es ist gleichsam ihr Bedürfniß, um die Liebe der Ihrigen durch Thätigkeit immer neu zu ringen, sich dafür zu opfern. So tauchte in dem Gemüth des jungen Mädchens die Theilnahme für den einsamen Vater auf, den sie niemals gesehen, der sich unväterlich gegen sie benahm, für den sie kaum existirt hatte. Seine Verlassenheit von Allem, was ihn lieben könnte, flößte ihr tiefes Mitleid ein, und immer näher drängte sich ihr der Entschluß, ihn aufzusuchen, bei ihm zu wohnen, ihn zu pflegen, durch entsagenden Opfermuth sein Herz zu gewinnen. Die Tage, da dieser Plan sich vorbereitete, kündeten für uns die ersten heftigeren Gemüthsstürme, sie waren die ersten, wo Bruder und Schwester in ihrer Neigung, in ihrem charaktergemäßen Denken und Wollen auseinander gingen. Und ich selbst war nicht ganz auf Malvina's Seite, denn ich ahnte ein trübes Verhängniß für ihr Leben. Dennoch wollte und konnte ich sie nicht hindern. Ihr Entschluß stand endlich fest. Sie schrieb an den Freiherrn, schüttete ihr ganzes überströmendes Gemüth vor ihm aus, bot sich ihm als Pflegerin an, und bat um Aufnahme in sein Haus. Die Entgegnung des Freiherrn war tief verletzend, sie stachelte Harald zur Empörung, ja zur Vergeltungslust an, sie wirkte auch erschütternd auf Malvina. Allein, da der Freiherr ihr sein Haus nicht gerade verschloß, schöpfte sie doch einen Tropfen von Hoffnung auch aus diesem Briefe und – um es kurz zu machen – sie siedelte bald darauf in das freudlose Haus nach Gothenwiek über, das Herz voll beglückender Aussichten, wie sie nur ein schwärmerisch ausschweifendes Mädchenherz hegen kann. Mit wie schwerem Herzen ich aber mein liebes Mädchen entließ, mag ich nicht aussprechen. Haralds Unmuth, Verdruß, Zorn war so groß, daß es bei seiner leidenschaftlich aufbrausenden Gemüthsart sogar zu einem Conflict mit der Schwester kam, der mich tief betrübte. Nun, er währte nicht lange, die Liebe glich Alles wieder aus. Seit drei Jahren lebt Malvina in dem Herrenhause zu Gothenwiek. Es war eine Zeit der schwersten Entsagung, es gehörte die Sündhaftigkeit eines großen Charakters oder die Unerschütterlichkeit weiblichen Pflichtgefühls dazu, diese Demüthigungen, diese nichtachtende Behandlung, diese Peinigungen rückhaltloser Willkür zu ertragen. Denn nichts hat das Mädchen erreicht, was ihre Phantasie und ihr Gemüth ihr als erreichbar darstellten, und doch hat ihre aufopfernde Treue es an nichts fehlen lassen, das Herz des Freiherrn zu gewinnen. Ich selbst habe während dieser Zeit Malvina nur selten gesehen, aber nicht verfehlt, sie mit jeder Lockung in mein Haus zurück zu rufen. Oefter gelingt es dem Bruder, zu ihr zu dringen. Sie betrachtete es als eine Hauptaufgabe ihres Lebens, den Freiherrn für Harald günstig zu stimmen. Durch ihre Vermittelung kam es zu einigen Begegnungen zwischen Beiden. Allein die finstere und ablehnende Gemüthsart des Mannes traf hart zusammen mit der Schroffheit und dem zornigen Selbstbewußtsein des Jünglings. Anstatt der Versöhnung gab es Scenen wilder Aufwallung. Immer tiefer wurde die Abneigung, der Widerwille, der unsühnbare Gegensatz Beider. Das Verbot des Freiherrn, seine Schwelle, ja sogar Gothenwiek jemals wieder zu betreten, wußte Harald, um die Schwester zu sehen, oft zu umgehen. Die Verkappung einer Fischerkleidung findet er bei der Familie Matthessen stets für sich bereit. – – Nun, lieber Doctor,« fuhr das Fräulein nach kurzer Pause fort, »Sie werden sich hiernach nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß meine arme Malvina, in solcher Weise zurückgestoßen, selbst ihre eigene Liebe für den Freiherrn nicht hat wahren können. Aber das Gefühl der Pflicht ist noch mächtig in ihr, und sie klagt sich an, daß sie nichts weiter mehr darzubringen habe. Und zwar jetzt, in der trübsten Zeit, wo die Symptome der Geisteskrankheit, wo das Haus, dem sie nöthig geworden, sie, wie sie sagt, zu ganzer Hingabe an den Vater herausfordern.«
Das Fräulein schwieg, und ich, von meinen Gedanken hingenommen, fand nicht gleich ein Wort der Entgegnung. Nach einer Weile begann ich – eigentlich nur, um die Erzählerin noch weiter auszuholen, denn ich merkte wohl, daß noch allerlei Geheimnißvolles im Hinterhalte geblieben war, was ich vielleicht brauchen konnte: »War es denn dem Pfarrer in Gothenwiek nicht möglich, auf seinen Gutsherrn zu wirken?«
»Ach, liebster Doctor!« rief das Fräulein rasch mit einer abweisenden Bewegung. »Anfangs dachte Malvina dergleichen auch wohl, allein es ist dadurch nur noch schlimmer geworden, denn der alte Herr hat nur gelernt mit Bauern und Fischern zu verkehren, und weiß nichts von geistlicher Diplomatik, die er bei einem Versuche auf den Gutsherrn zu wirken, für sich nöthig gehabt hätte. Als dieser vor acht Jahren in Gothenwiek einsiedelte, kannte der Pfarrer ihn gar nicht, das Herrenhaus hatte ein paar Menschenalter lang leer gestanden. In seinem Dünendorfe war er alt und bequem geworden, kümmerte sich nicht um die Welt, und die Hinfälligkeit der Jahre machte ihn Allem abwendig, was außer der Schnur seines Tagewerks lag. Zudem aber fühlte er sich verletzt durch den Gutsherrn, der sich niemals in der Kirche blicken ließ. Jetzt läßt er und die Frau Pfarrerin die Dinge gehen, wie sie gehen wollen. Sie geben ihr Haus zwar wohl zu einem Stelldichein für Harald und Malvina her, die sie liebgewonnen haben, andere Hülfe ist von ihnen nicht mehr zu verlangen.« –
Nach einer Weile kam Harald nach Hause. Ich durchwanderte mit ihm die Stadt, welche manches Sehenswerthe bot, einige naturwissenschaftliche Sammlungen, worin mein junger Führer vortrefflich zu Hause war, und machte dann einige Besuche bei Professoren der Universität, wo wir wohl aufgenommen wurden. Zu Tische erwartete uns unsere liebenswürdige Philologin, und der Tag verging unter mancherlei Anregung. Gegen Abend fuhr ich mit Harald nach Gothenwiek, wie verabredet war, um Peter Matthessen, meinen vorläufigen Patienten zu besuchen. Obgleich es bei unserer Ankunft im Dünendorfe dunkel geworden war, ließen wir, um kein Aufsehen zu erregen, den Wagen einige hundert Schritte davon im Walde.
Ich fand schon etwas frohere Gesichter als gestern. Der Vater Matthessen fühlte sich sehr erleichtert, und sprach davon, am folgenden Tage aufzustehen, was ich jedoch verbot. Die schnelle Besserung des Kranken trug mir sichtlich die Zuneigung der Familie ein, und Hans setzte den Pflasterkasten mit großer Behutsamkeit und Respect vor mich hin. Leider ging meine Hoffnung, Malvina wiederzusehen, nicht in Erfüllung. Sie hatte bereits sagen lassen, daß sie nicht kommen könne, zugleich mit der Bitte, ich möge mit dem Bruder zu Nacht nach der Stadt zurückkehren.
Dieß geschah denn auch nach einer guten Stunde. Die Fahrt wiederholte sich am folgenden und am dritten Tage, wo mir Peter Matthessen am Stocke bereits durch das Zimmer entgegen geschritten kam. Ich gestehe aber, daß mich die immer getäuschte Erwartung, bei diesen Gelegenheiten Malvina zu sehen, etwas zu verstimmen anfing. Harald verließ in der Fischerkleidung sowohl am ersten, wie am zweiten Tage das Haus und hatte Gespräche mit der Schwester – ich weiß nicht wo – brachte mir sogar Grüße von ihr zurück, die mich sehr freuten, ich selbst aber mußte ihren Anblick entbehren.
Trotz dieses Zuwartens in der Stadt rechne ich jene ersten Tage im Hause des alten Fräuleins doch nicht zu den verlornen, und denke gern daran zurück. Virginia Jessenius hatte immer ein wackeres Gespräch, war unterrichtet auf vielen Gebieten, ohne jede Spur von vordringlicher Bildungsbeflissenheit. Ein Zug von Humor belebte ihre Unterhaltung besonders anziehend. Sie neckte gern und mochte eine neckende Erwiderung leiden. Wenn sie eine heitere Miene dadurch in Haralds ernstes Gesicht, eine Entgegnung auf seine Lippen lockte, leuchteten ihre Augen.
Harald lernte ich in diesen Tagen bald näher kennen. Wenn uns Virginia Abends entließ, saßen wir noch die halbe Nacht im Gespräch in meinem Zimmer. Er gewann Zutrauen zu mir, und da er nach dem Verluste seines Freundes eines männlichen Verkehrs, der Theilnahme und Mittheilung bedurfte, so fielen bald einige Rechte des Verstorbenen an mich. Ich hatte zwar sechs Jahre vor Harald voraus, war aber immer noch jung und jugendlichen Gemüthes genug, und zudem hatte er von dem Augenblicke unserer ersten Begegnung an mein Herz so sehr gewonnen, daß ich ihm von freien Stücken entgegen kam. Immer mehr fühlte ich mich angezogen von der großartig angelegten Natur Haralds, die sich nicht allein in seiner prachtvollen äußeren Gestalt, sondern in seinem ganzen Wesen aussprach. Ich war nicht so blind, alle Pläne und Träumereien, die zum Theil noch unreifen Ansichten des kaum zwanzigjährigen Jünglings gut zu heißen, aber überraschen mußte mich eine innere Selbstständigkeit und ausdrucksvolle Kraft bei so jungen Jahren. Frühe Erfahrung und Erkenntniß innerer Gegensätze, ihr Kampf und leidenschaftliches Ringen hatten seinem Charakter ein ernstes Gepräge gegeben. Die gewöhnlichen Freuden und dürftigen Leidenschaften der Jugend schienen ihm fern zu liegen. Er war Student, ohne das Treiben seiner akademischen Genossen zu theilen. Er schien förmlich zu leiden unter dem Drucke enger und kleiner Verhältnisse, unter der, wenn auch immer liebevollen Abhängigkeit einer Frau. Seine Pläne, seine Phantasie dehnte sich ins Ungeheuere, er hätte ins Gewaltige handeln und streben mögen, und verschmähte die tobsüchtige Thorheit, in welcher andere Jünglinge für ihre ähnlichen Triebe einen kleinen Ersatz finden. Er hatte unter den Studirenden keinen Freund. Alles was in ihm lebte und strebte, hatte er in die Seele des jungen Fischersohnes ausgeschüttet, und die gläubige Hinnahme des sonst tief unter ihm stehenden Jonas Matthessen machte ihm den treuen, schlichten und gefügigen Burschen zum Ideal. So wandelte Harald wie ein Fremder einsam unter der gleichaltrigen Jugend. Er konnte überschwenglich lieben, aber konnte auch überschwenglich hassen, und wie ein dunkles, Verderben drohendes Gewölk stand die letztere Regung stets am Horizont selbst seiner reinsten Stimmung. Es konnte mich nicht befremden, daß Harald zu irgend einem Studium oder einer Lebensstellung, die ihn an die Scholle fesselte, ihn in engem Kreise festhielt, ihm nicht unbedingte Freiheit versprach, gar keinen Beruf fühlte. Weit mußte sein Ausblick sein, groß sein Wirkungskreis, seine Arbeit, das Ziel mußte mit Gefahren, mit Einsetzung der ganzen Persönlichkeit errungen werden. Die Naturwissenschaften versprachen ihm eine derartige Befriedigung. Weit übers Meer sollte ihn künftig die Forschung tragen. Aber nicht nach dem Süden, nicht nach Westen, nicht nach Amerika, nein, der Norden, die gewaltige Polarnatur zog ihn an. Norwegen, die Faröer-Inseln, vor Allem Island, wo die Eiswelt mit Vulkanen im Kampfe liegt, und die alten Götter der germanischen Heidenmythe ihr letztes Asyl gefunden, das war das Land seiner poetischen Träume und seiner Hoffnungen. Wahrlich, als er mir mit funkelnden Augen, kundig der alten Sagenwelt, kühn und in fortreißendem Ausdruck seinen Eroberungszug in das geheimnißvolle Reich des höchsten Nordens vorzeichnete, da erschien er mir wie einer jener blonden Seekönige der Vorzeit, die ihre Kriegsflotten in den Kampf führen, und ich begriff die Begeisterung und unbedingte Willfährigkeit, zu der der Fischersohn sich durch ihn hatte fortreißen lassen!
Der war nun gestorben, und Harald zog sich stumm in sich zurück bei dem Gedanken, daß er nun des treuen Begleiters für seine künftigen Fahrten entbehren sollte. In mir durfte er ihn nicht hoffen, das sah er wohl, fühlte sich aber schon froh berührt dadurch, daß ich nicht nur einverstanden, sondern auch fähig war durch mein Wissen oder Interesse ihm Fingerzeige zu geben, bestimmtere Grenzen in seine Pläne zu bringen. Ich fand bei ihm bereits gute Vorkenntnisse; an Handbüchern, Karten, geeignetem Material für diese Studien war kein Mangel, und so vergingen uns die Stunden in immer reger Unterhaltung.
Virginia Jessenius war ganz meiner Ansicht, daß man den jungen Adler gewähren lassen müsse, der eben zu hohem Fluge geboren war. »Mag er,« sagte sie, »künftig reisen so viel er will, ich kann und will ihn nicht zurückhalten. An Mitteln wird es ihm nicht fehlen, er und seine Schwester sind meine Erben. Noch aber gibt es hier – – ach, Doctor!« so brach sie ihre Rede plötzlich ab, »ich habe Ihrem Besuche bereits viel zu danken! Sie sind unserm Harald in kurzer Zeit sehr werth geworden, von Ihrem Einfluß auf ihn dürfte ich viel erwarten. Er scheint innerlich neu aufzuleben. Die Trennung von Ihnen wird ihm bitter, mir bedauerlich sein! Warum können Sie nicht bei uns leben, warum uns nur einen kurzen Besuch schenken!«
Ja, dieser »kurze Besuch« ging mir auch bereits im Kopfe herum. Ich war nun sechs Tage von meinem Wohnort entfernt, und hatte meinen eigentlichen Patienten, den Freiherrn, noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Allein freundschaftliche Bande hatten mich unterdessen an Harald, Malvina und deren zweite Mutter geknüpft, und ich sah voraus, daß ich schon um dieser drei Menschen willen meinen Aufenthalt verlängern würde. Dazu erfüllte mich die Ungeduld, Malvina auch innerlich näher zu treten, vor Allem wieder zu sehen, denn sie war mir seit jenem ersten Abend im Pfarrhause nicht sichtbar geworden.
Als wir am Abend des sechsten Tages, wie gewöhnlich, nach Gothenwiek fuhren, erklärte ich, daß ich mich morgen bestimmt bei dem Freiherrn einführen wolle, er möge nun in noch so toller Laune sein, und bat Harald, seine Schwester davon zu benachrichtigen. Er versprach es, legte die Fischerkleidung an und begab sich nach dem Herrenhause.
Peter Matthessen war bereits auf den Beinen, mein ärztliches Geschäft bei ihm bald zu Ende. Ich verließ das Haus, um mich ein wenig zu ergehen. Denn es war ein lauer Abend, die Luft klar, der Mond stand hell über der beruhigten, glatten Meeresfläche. Ich stieg von den Dünen hinunter zum Strande, an welchem die Wellen sich nur leise kräuselten. Höchstens hüpften sie plätschernd auf, um jene dunkle Reihe von großen Steinen, die sich wie eine Mole in die See hineinstreckte. Wunderbar fühlte ich mich angezogen durch dieses Ineinanderschwimmen von Höhe und Tiefe, und betrat die ersten Steine, die heute trocken zu Tage lagen. Immer mehr fortgelockt von dem Spiegelbild der Unendlichkeit, das sich bei jedem neuen Schritt mir feierlicher aufthat, hatte ich bald die Hälfte der Steinreihe hinter mir. Ich beschloß, mich bis zu ihrem letzten Vorsprung zu wagen, denn das Meer schien hier ziemlich flach.
Nur drei Steine fehlten mir noch bis zur Spitze, die sich etwas über die andern erhob. Ich athmete auf, sog den kräftigen Seewind erquickt ein, und wollte eben meinen Fuß weiter setzen, als sich auf dem äußersten der Steine etwas zu bewegen begann. Ich stutzte. Saß da ein Mensch? War es ein Seegeschöpf, das ich aus seiner Ruhe aufstörte? Die Gegenwart von etwas unheimlich Fremdem, Unerwartetem, machte sich, ich gestehe es, geltend bei mir. Aber ich hatte nicht lange Zeit zu überlegen. Denn eine große menschliche Gestalt erhob sich vor mir, wie aus dem Wasser auftauchend. Ich unterschied nur die Umrisse, die sich an dem hellen Hintergrunde von Luft und See dunkel abzeichneten und einen Mann im langen Mantel erkennen ließen.
»Wer ist da?« fragte er mit gebieterischer, des Wohlklangs entbehrender Stimme.
Wie eine Gewißheit schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich den Freiherrn, meinen künftigen Patienten, vor mir hatte. Hier zwischen Luft und Wasser, nur die Fläche eines Steines unter den Füßen, einem Wahnsinnigen gegenüber, das war immer eine Lage, welche Besonnenheit und ein rasches Gefaßtsein auf Alles beanspruchte.
»Wer ist da?« wiederholte er in noch heftigerem Tone.
»Ein Fremder,« entgegnete ich, »der hier einen Spaziergang macht.«
»Ein Fremder?« fragte er verwundert. »Seltsame Art, Spaziergänge zu machen!«
»Bei der ich aber doch in unerwarteter Weise Gesellschaft finde!« gab ich zurück.
Der Mann schwieg einen Augenblick. Dann aber rief er mit gesteigerter Heftigkeit: »Wollen Sie hier ewig stehen und mir den Weg versperren? Betrachten Sie Ihren Spaziergang als vollendet, und schreiten Sie zum Ufer zurück!«
»Ich konnte nicht wissen, mein Herr,« sagte ich so höflich als möglich, »daß ich hier jemand in seiner Einsamkeit stören würde, und bitte um Entschuldigung.« Während ich den Rückweg zum Strande nahm, blieb die Gestalt unbeweglich stehen. Ich erblickte sie wie eine Bildsäule auf einem Sockel, als ich, den Uferstrand wieder unter den Füßen, mich nach ihr umsah. Und jetzt erst bewegte sie sich und kam über die Steine dahergeschritten.
»Warten!« so tönte es mir rauh entgegen, obwohl ich gar nicht Miene machte, davonzugehen. »Ein Fremder kommt nicht ohne Zweck in diese Gegend,« fuhr der Mann fort, als er mich erreicht hatte. »Also wer sind Sie? Was suchen Sie hier?«
Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich in diesem Augenblicke eine Abneigung gegen den Plan des alten Fräuleins fühlte, mich unter der Firma eines Güterkäufers einzuführen und zog es vor, mit einiger Vorsicht eine bestimmte Erklärung hinzuhalten. »Mein Herr,« entgegnete ich ruhig, »Sie fragen in einem auffallenden Tone. Ich könnte ja wohl dieselbe Frage an Sie richten, der Sie mir gleich fremd sind und meinen Weg ebenso kreuzen, wie ich zufällig den Ihrigen.«
»Sie wollen ausweichen,« rief er, »aber ich weiß genug! Sie müssen der Arzt sein, der den Peter Matthessen wieder auf die Beine gebracht hat.«
»Ich habe keinen Grund es zu läugnen. Mein Name ist Doctor Hartmann.«
»Sie wohnen nicht in der benachbarten Stadt. Wie ging es zu, daß Sie aus Ihrem entfernten Wohnorte S. in dieses einsame Dorf kamen?«
Das war auffallend. Der Mann zeigte sich über meine Person unterrichtet. Jetzt galt es denn doch Ausflüchte zu machen, für die sich glücklicherweise ein tatsächlicher Anhalt fand. Ich war in der benachbarten Stadt von einem meiner Collegen wirklich bei einem ungewöhnlichen Krankheitsfalle zu Rathe gezogen worden und gab dies als den Grund meiner Reise in diese Gegend an. Ich erfand schnell irgend eine Begegnung mit einem der Brüder Matthessen, der nach einem Arzte suchte. Der Unglücksfall in der Familie habe mich interessirt, und so, schloß ich, ließ ich mir, als ein Anfänger, die Gelegenheit nicht entgehen, auch hier Erfahrung zu sammeln.
Mein finsterer Begleiter schien die Fabel nicht unglaublich zu finden. Ich hatte Namen aus der Stadt genannt, die er wahrscheinlich kannte, darauf ließen wenigstens die Interjectionen schließen, womit er seine Aufmerksamkeit zu erkennen gab. Wir waren während dem zu der Düne hinaufgestiegen, gingen eine Weile schweigend auf der Landstraße neben einander her – das heißt, nicht auf der kürzeren, die am Hause Peter Matthessens vorbei führte – und hatten das Dorf beinahe erreicht.
»Sie haben eine glückliche und schnelle Kur an dem alten Fischer gemacht,« begann der Mann plötzlich.
»Es war eine von den leichten Kuren,« entgegnete ich, »die viel mehr Dank und Achtung einbringen, als manche schwierige, bei der man alle Hebel der Wissenschaft, alle Kraft der Persönlichkeit einsetzte, und die endlich doch an unberechenbaren Umständen scheiterte.«
»Aber Sie haben doch sonst schon Glück und Erfolg gehabt?« warf er ein.
Ich war überrascht. »Was meinen Sie?« fragte ich.
»Ich will in meinem Hause mit Ihnen darüber sprechen – wenn Sie sonst dies Eulennest ein Haus nennen wollen. Kommen Sie, Doctor!«
Wir standen an der Schwelle, ich folgte ihm. So war es denn wirklich der Freiherr, zu dem mir der Zugang mit so viel Umständlichkeit gebahnt wurde, und mit dem ich nun so ohne alle Umstände in das Haus spazierte. Ein Licht brannte auf der Hausflur. Er ging mir auf einer ziemlich schadhaften, schiefhängenden hölzernen Treppe voran, einen Gang entlang und öffnete ein Zimmer, das von einer düstern Arbeitslampe nur wenig erhellt wurde. Dennoch erkannte ich an den Wänden geschwärzte alte Gemälde, Jagdstücke, Hirschgeweihe, Flinten und anderes Jagdgeräth, dazu altmodisches Mobiliar, Schreibpult, Bücherschrank, Lehnstühle mit zerrissenem Lederüberzug. Der Freiherr schraubte die Lampe höher, sah mir ins Gesicht, und unsere neugierig forschenden Blicke begegneten einander. Wir schienen gleichmäßig überrascht. »Noch so jung?« rief er, indem er mich mit einer Handbewegung Platz nehmen hieß und sich abwendete, um an seinem Schreibpult nach irgend etwas zu kramen. Mir aber hatte ein schneller Blick eins von jenen Gesichtern gezeigt, das man nicht vergißt, wenn man es einmal gesehen. Scharf geschnittene Züge, eine Adlernase, über den dunkeln Augen noch tief schwarze, dichte Brauen, während Bart und Haar zum Theil ganz weiß, zum Theil grau und schwarz gemischt, den Kopf umgaben. Es war ein einst vielleicht schönes, jetzt finsteres Gesicht, darin sich nichts von Wohlwollen, nichts aussprach, was Vertrauen erwecken konnte, in dem mir aber der Ausdruck eines vielleicht gewaltsam bekämpften körperlichen Leidens nicht entging.
Der Freiherr fand endlich in einer Schublade ein Zeitungsblatt, legte es vor mich hin, und setzte sich mir gegenüber mit den Worten: »Erzählen Sie mir die Sache ausführlich!«
Mit Verwunderung erkannte ich jenen Zeitungsartikel, der meine erste gelungene Kur behandelte, und dem ich schon so manches verdankte. Ich beherrschte mich und begann so unbefangen als möglich die Geschichte zu erzählen. Anfangs sah ich die Augen des Freiherrn scharf, wie aus einem Hinterhalte lauernd, auf mich geheftet. Bald aber veränderte sich ihr Ausdruck und nahm den der gespanntesten und theilnehmendsten Aufmerksamkeit an. Endlich glaubte ich eine gewisse Enttäuschung an ihm wahrzunehmen. Und als ich ausgeredet, sagte er wie für sich selbst: »Das ist freilich anders. Ganz anders!«
Er schwieg eine Weile. Ich hatte auf dem Tische bereits bei meiner ersten Umschau eine mir verdächtig aussehende Art von Arzneiflasche nebst einem Glase entdeckt. »Was ist das?« fragte ich jetzt plötzlich, indem ich dreist zugriff, um den Inhalt durch den Geruch zu prüfen. Der Freiherr fuhr auf: »Nichts für Sie! – ein Mittel –«
»Brauchen Sie es selbst?« fragte ich rasch.
»Zuweilen –«
»Wer hat es gemacht?«
»Ich selbst.«
»Es besteht aus – –« ich nannte einige Kräuter und Bestandtheile, die ich aus dem Geruche erkannte – »und was ist sonst noch dabei?«
Der Freiherr, halb zornig, halb aus der Fassung gebracht durch mein rasches Drauflosfragen, nannte dennoch die übrigen Bestandtheile des wunderlichen Gebräues.
»Wozu diese Quacksalberei, Herr Baron?« sagte ich. »Es ist einer von den unzweckmäßig zusammengesetzten Tränken, die im besten Falle nichts schaden, unter schlimmen Umständen aber sehr verderblich wirken können. Ein einfaches Mittel würde Ihnen bessere Dienste thun.«
Er sah mich mißtrauisch an. Ich aber war einmal im Zuge, und nahm durch Kreuz- und Querfragen ein Verhör über seinen Zustand mit ihm vor. Anfangs schien er über meine Dreistigkeit höchst verwundert, antwortete barsch, abweisend, wollte keine Leiden irgend einer Art eingestehen, endlich aber ging er darauf ein und gab jede Auskunft. Ich lernte seinen Zustand kennen, der bei einem zerrütteten Körper durch unsinnige Behandlung in der That ungewöhnlich und bedauerlich war. Allein gerade über das, was ich hier untersuchen sollte, kam ich noch zu keinem Resultate, denn bis jetzt konnte ich noch nichts von einer geistigen Störung an dem Freiherrn finden.
»Wenn Sie mir gestatten,« begann ich, nachdem ich mich fürs Erste genügend über ihn unterrichtet hatte – »wenn Sie mir gestatten, lasse ich Ihnen in der Stadtapotheke eine Arznei nach meinem Recept machen und sende Sie Ihnen morgen mit dem Frühesten.«
Er schwankte einen Augenblick und betrachtete mich mißtrauisch. Dann sagte er schnell, indem er mir Feder und Papier reichte: »Schreiben Sie das Recept gleich hier.«
Ich schrieb. Kaum war ich fertig, als er mir das Blatt hastig entriß und es durchlas. Ich erkannte, daß der Selbstarzt einige Kenntniß über Medicamente besaß und Recepte zu lesen verstand. »Ich werde es selbst besorgen lassen,« sagte er, indem er das Papier auf sein Arbeitspult warf. »Werden Sie morgen den alten Fischer wieder besuchen?«
Ich bejahte.
»Dann – sprechen Sie vielleicht auch bei mir wieder vor?
Ich erklärte mich bereit, und verabschiedete mich. So wenig höflich der Freiherr sich bisher gezeigt, jetzt ergriff er die Lampe, um mir selbst die Treppe hinab zu leuchten. Nachdem ich mich überzeugt, daß er zurückgegangen und die Thür seines Zimmers hinter sich geschlossen, blieb ich auf der Treppe stehen – wie gern hätte ich Malvina einen Augenblick gesehen und gesprochen! Während ich noch stand, sah ich zwei Gestalten auf das Haus zukommen, und wenige Augenblicke darauf sah ich in Malvina's liebes Angesicht. Ein alter Diener ging neben ihr.
Ein Schreck durchzuckte das junge Mädchen, als sie meiner ansichtig wurde. Sie war kaum eines Wortes mächtig. Ich aber ergriff in der Freude des Wiedersehens ihre Hand, erklärte ihr mit fliegenden Worten, was vorgegangen, wie ich ein Gespräch mit dem Freiherrn gehabt und von ihm eingeladen sei, morgen wieder zu kommen. Ich hörte sie laut aufathmen. »Gott sei Dank!« sagte sie mit leiser Stimme. »Vielleicht wird nun doch noch Alles gut! Aber noch begreife ich kaum, daß so leicht gegangen, was so unglaublich schwierig erschien. Also morgen, Herr Doctor? Und ohne fremden Namen, als Arzt? – Dann gute Nacht für heute!« fuhr sie fort, nachdem ich ihre Fragen bejaht hatte. »Man sucht Sie bereits. Grüßen Sie unsere geliebte mütterliche Freundin! Leben Sie wohl!«
Sie eilte vorüber und verschwand im Hause. Der alte Diener aber trat mir näher, und erbot sich, mich zum Hause Matthessen zu begleiten, da ich den Weg im Dunkeln nicht finden würde. Als wir die Dorfstraße erreicht hatten, begann der Alte: »Herr Doctor, weil Sie nun doch in unser Haus gekommen sind, und wiederkommen werden, so sollte der junge Herr Harald nicht mehr mit Ihnen herausfahren. Sie dürfen gar nicht mit ihm gesehen werden, sonst kriegt der Herr gleich Verdacht. Er hat zwar Verdacht auf Jeden, aber am meisten auf den Herrn Harald, und wer mit ihm –«
»Aber was fürchtet er denn von dem jungen Mann?« fragte ich.
»Ja, man sollte es kaum glauben, so unrecht ist es!« entgegnete der Alte. »Er meint, der Herr Harald – stehe ihm nach dem Leben! Und sogar von dem Fräulein glaubt er's. Wenn Sie also zu uns kommen, so thun Sie nur gar nicht artig mit dem Fräulein. Sie müssen kaum Acht auf sie geben, daß er nicht merkt, Sie hätten sie schon früher gesehen.«
»Sagt einmal ehrlich, lieber Mann,« so fragte ich, »ist jemals irgend etwas vorgekommen, hat der junge Harald jemals etwas gethan oder gesagt, was einen so bösen Verdacht des Freiherrn erklären könnte?«
»Nichts, gar nichts, das ich wüßte, Herr Doctor! Ich kenne den Freiherrn nun schon lange, und er hat vom ersten Tage an nur Böses von dem Sohne gedacht oder gesprochen. Von den Leuten im Dorfe aber kann ihm nichts Schlechtes über ihn zu Ohren gekommen sein, denn hier hält man mehr von dem jungen Herrn, als von dem alten.«
Nach solchen Mittheilungen mußte ich denn doch an eine Art von Wahnsinn, wenigstens an gefährliche fixe Ideen bei dem Freiherrn glauben. »Ich höre,« begann ich wieder, »der Freiherr hält sich selbst zu Zeiten für wahnsinnig?«
»Ja, Herr Doctor, das ist freilich schon zweimal vorgekommen. Er sagte so, und geberdete sich wie unsinnig. Aber, wenn ich offen gestehen soll, mir kam es vor, als wollte er uns nur prüfen, was wir dabei thun würden. Denn als wir beim erstenmal Miene machten, ihn als Kranken zu behandeln, da gab es eine Wirthschaft! Wir sollten Alle gegen ihn verschworen sein, das Fräulein, meine Frau, der Knecht – mehr sind wir nicht im Hause – wir wollten ihn mit Tränken vergiften, wie er sagte, ihn auf jede Weise aus der Welt schaffen, damit der Harald nur recht bald sein Erbe würde. Und deßhalb, meinte er, sei auch das Fräulein ins Haus gekommen! Na, um die Erbschaft –! Er weiß selbst nicht, was er noch zu vererben hat! Als er sich das zweitemal wahnsinnig stellte, da meinten wir klüger zu sein, wenn wir thäten, als merkten wir gar nichts. Aber da ging's erst recht los, und ich will nicht aussprechen, was für Worte er gegen uns brauchte. Freilich, Herr Doctor, manchmal – ja manchmal, glaub' ich, möchte er wirklich verrückt werden! Und ein Wunder wär's nicht, wie er's zeitlebens getrieben hat. Er kann das Leben in diesem armen und stillen Hause nicht aushalten, er möchte am liebsten wieder ins Tolle und in die Welt. Aber er hat nichts mehr, er hat alles durchgebracht und ist körperlich zu sehr herunter, als daß er weg könnte. So kann er nichts weiter, als die Wenigen quälen, die er um sich hat.«
»Und was treibt er denn nun den Tag über?« fragte ich weiter.
»Aus dem Hause geht er selten, früher wohl auf die Jagd, jetzt auch nicht mehr. Er sitzt in seinem Zimmer eingeschlossen und liest immer dieselben paar Bücher, oder er schreibt.«
»Was schreibt er wohl?«
»Ja, ich sollte fast meinen, er schreibt sein Leben auf. Es ist mir nur einmal gelungen, während er aus war und vergessen hatte zuzuschließen, einen Blick in den großen Stoß beschriebener Papiere zu werfen. Da stand von seinen weiten Reisen, von Indien und allerlei. Nu, erlebt hat er wohl genug, denn er trieb es von Jugend auf so, daß er was erleben mußte.«
»Und Ihr wart in seiner Jugend um ihn? Könntet selbst davon erzählen?«
»Nein, ich nicht. Ich hab' immer hier so zu sagen als Kastellan in dem Herrenhause gesessen – früher war's nur ein Jagdschloß, aber es kam selten Jemand her. Erst vor zehn Jahren, als der Herr hier wohnen kam, lernte ich ihn kennen. Aber einer hat ihn gekannt, ein jüngerer Bruder des Peter Matthessen, der war sein Reitknecht schon dazumal, als der Herr noch drinnen in der Stadt bei der gelehrten Schule studierte. Er ging auch mit in den Krieg und kam nach dem Frieden verlumpt und verbettelt hier an. Der Peter Matthessen nahm ihn wieder auf, aber er konnte es nicht lange aushalten, und ging in Dienst nach der Stadt. Nachher hat er schlechte Streiche gemacht. Sie setzten ihn fest, und er ist bald gestorben.«
Unter solchem Gespräch kamen wir bei dem Fischerhause an, wo Harald und die Familie Matthessen meiner schon mit Besorgniß harrten. Ich will nun nicht die Ueberraschung schildern, die mein unerwartetes Vordringen in die Höhle des Löwen hervorbrachte, sowohl hier, wie in der Stadt bei meiner würdigen Gastfreundin, sondern ich gehe sogleich zu meinem zweiten Besuche bei dem Freiherrn über.
Es galt immer noch vorsichtig nach allen Seiten hin zu sein. Vor Allem durfte der Freiherr nicht erfahren, daß ich im Hause des Fräuleins Jessenius wohnte, in der er eine seiner ärgsten Feindinnen vermuthete. Ich fuhr also am folgenden Tage ebenfalls erst gegen Abend, und zwar allein nach Gothenwiek, gleich als hätten mir Geschäfte in der Stadt nicht gestattet, früher zu kommen. Nachdem ich, um ganz in der scheinbaren Ordnung zu verfahren, zuerst bei Peter Matthessen eine Minute abgestiegen, fuhr ich direct nach dem Herrenhause. Der alte Diener flüsterte mir zu, als er den Wagen öffnete, daß der Herr schon nach mir gefragt habe. – »Hat er die Medicin genommen?« fragte ich.
»Ja, der Knecht mußte gestern Abend noch zur Stadt und das Recept machen lassen. Der Herr hat aber zuerst dem Hunde davon eingegeben, und ihn zu Nacht auf dem Zimmer behalten. Heut früh ließ er ihn alle seine Kunststücke machen, und als er sah, daß das Thier ganz munter war, nahm er selbst von der Arznei.«
Das war in der That die größte Beleidigung, die man einem Arzte anthun konnte, und ein solcher Verdacht brachte mir das Blut nicht wenig in Wallung. Sagte ich mir gleich, daß ich es mit einem nicht ganz Zurechnungsfähigen zu thun hätte, so beschloß ich doch fortan nicht viel Umstände mit meinem Patienten zu machen.
Der Freiherr empfing mich wie Einer, der mit ärgerlicher Ungeduld lange gewartet hat. »Was soll das heißen?« fuhr er mich an. »Warum so spät? Ich bin nicht gewohnt, mich hinhalten zu lassen!«
»Fühlen Sie sich so krank?« entgegnete ich. »Gestern wollten Sie es nicht wahr haben, und so ließ ich ernstere Geschäfte vorgehen. Was haben Sie denn da für eine Krankenlectüre?« Ich griff nach dem Buche, das aufgeschlagen auf dem Tische lag. »Was, Shakespeare? Und noch dazu Timon von Athen? Da sind Sie an den rechten Helden gekommen! Sie finden hoffentlich Timons Menschenverachtung höchst knabenhaft und abgeschmackt?« .
Der Freiherr, nicht wenig befremdet über meinen Ton, noch mehr aber über mein Urtheil, schien im ersten Augenblicke nicht zu wissen, was er sagen sollte, und sah mich starr an. Ich nahm ungenirt Platz, und ging in leichtem Tone auf sein Befinden und die ihm verschriebene Arznei ein. Er gab mürrisch und kurz Auskunft, und lenkte das Gespräch noch einmal auf Timon von Athen. Er bezeichnete dieses Stück als die Krone von Shakespeare's Dichtungen, und des Helden Schicksal, seine Verbitterung, galten ihm für groß und erhaben. Ich sah, wo er hinaus wollte. Es war nur der Vergleich mit seiner eignen Situation, die ihm für Timons Geschick Theilnahme erregte. Ich fing daher an nicht schlecht über den völlig unhellenischen Anglogriechen herzuziehen, der vollkommen kindisch in jedem Schmeichler einen Freund sieht, ohne Unterscheidung für die schlechtesten Burschen offne Tafel hält, an sie sein Vermögen verschleudert. Wenn er, nachdem er es durchgebracht, von diesem Gelichter Hülfe und Freundesdienste erwarte, könne man ihn nur auslachen. Und wenn Timon dann in die Wälder gehe, um sich von Wurzeln zu nähren und Flüche gegen die Menschheit zu schleudern, werde jeder Vernünftige die Achseln über ihn zucken und sagen, dem Dummkopf sei Recht geschehen! So ketzerte ich zum zornigen Erstaunen meines Patienten fort, und vergriff mich sogar an der Person Hamlets, auf den er die Rede brachte. Denn es konnte mir nicht entgehen, daß es auch hier nur die Verbitterung war, die ihn interessirte, und daß er dem Dänenprinzen den verstellten Wahnsinn entlehnt hatte, um, wie jener, eine Schuld oder verbrecherische Pläne an den Tag zu bringen. Bei dem letzten Punkte verweilte ich hauptsächlich, um ihm zu beweisen, daß Hamlets erheuchelter Wahnsinn eine Nichtswürdigkeit sei, ein Verbrechen, wodurch er ebensoviel Unglück anrichte, als er erlitten habe. Der Freiherr vertheidigte seine Ansichten mit Zorn, mit Worten und Geberden der Wuth, er tobte förmlich. Ich suchte ihn zu überschreien, blieb ihm nichts schuldig, suchte ihn durch Seitenhiebe in die Enge zu treiben, lachte, verspottete ihn – kurz es war eine Unterhaltung, die sich anhören mußte, als wollten einander zwei Rasende ans Leben. Und ich gestehe, daß ich wirklich dies als Resultat meiner Probe, wenigstens von seiner Seite, erwartete. Allein ich täuschte mich, der Freiherr zeigte keine Spur eines wirklichen Wahnsinns. Er war es sogar, welcher aus aller Wuth und Heftigkeit doch zuerst wieder einlenkte. Immer mehr schienen ihn meine Gründe und Wendungen zu überraschen, vielleicht entwaffnete ihn zugleich das Erstaunen, daß es Jemand wagte, ihm ohne Scheu, seine Autorität nicht anerkennend, schlagfertig und keck zu begegnen. Er gab sich nicht überwunden, aber er zog sich mit still grollender Verwunderung zurück, und endlich sprachen wir wieder ziemlich gefaßt und ruhig.
Das Resultat meiner Untersuchung wäre nun in so weit ein günstiges zu nennen gewesen, als ich den Patienten nicht für wirklich geisteskrank zu erklären brauchte – wenn nur sonst der Einblick in den Charakter dieses Mannes erfreulicher gewesen wäre! Gelang es auch ihm körperliche Erleichterung zu verschaffen, so war doch seine Gemüthsart so angethan, daß ein günstiges Verhältniß für diejenigen, die mich hergerufen, nicht mehr zu erwarten stand. Ich sah einen herrischen, unduldsamen, vom tiefsten Egoismus erfüllten Charakter, zerfahren, unstät, unzufrieden, voll von Vorurtheilen, krankhaften Grillen, gehässigem Mißtrauen. Wie der alte Kastellan ihn richtig erkannt, empörte ihn die Hinfälligkeit seiner Gesundheit, die Beschränktheit seiner Vermögensumstände. Er sah sich gebunden, in Jahren, wo der Drang nach wilder Freiheit noch mächtig in ihm war – denn er zählte höchstens achtundvierzig Lebensjahre. Die Ursachen seiner Lage schob er fremder Schuld zu, eigene Schuld nicht anerkennend, und maßlos, dabei unmännlich, erging er sich nun in Regungen und Handlungen kleinlicher Tyrannei und Willkür. Bei seinem Spiel mit dem Wahnsinn war ihm, wie ich merkte, die Besorgniß gekommen, wirklich wahnsinnig zu werden, und er hielt sein eingebildet erlittenes Unrecht wohl geeignet, eine solche Wirkung hervorzurufen, besonders wenn körperliche Schmerzen hinzukamen, ihn zu beeinträchtigen. Kurz, ich lernte einen Mann kennen, dessen Lage zwar beklagenswerth war, dem sich aber kaum eine schätzenswerthe Seite abgewinnen ließ, und der nur noch da zu sein schien, seine Umgebungen zur Verzweiflung zu bringen.
Ein immer tieferes Mitleid aber erfüllte mich mit dem Mädchen, welches alle Gaben eines edlen und großen Herzens, alle Freuden der Jugend, ja die Jugend selbst einsetzte, um ein Herz zu gewinnen, das ihr nichts zu bieten hatte. Das Ziel, welches Malvina sich gesteckt, war nicht zu erreichen, wie mir schien, sie brachte sich zwecklos zum Opfer, und es dünkte mich eine Pflicht, sie diesen Verhältnissen zu entreißen. Ich hoffte, der Freiherr würde mich einladen, den Abend in seinem Hause zu verbringen, und um den Preis, Malvina zu sprechen, würde ich die Einladung gern angenommen haben. Da sie aber nicht erfolgte, so sehr ich den Besuch schon verlängert hatte, beschloß ich, es auf andere Weise zu probiren. War es mir doch nicht entgangen, daß der Freiherr noch allerlei auf dem Herzen und ein gewisses Vertrauen zu mir gefaßt hatte. Ich erhob mich schnell, indem ich nach der Uhr sah. »Meine Zeit ist um, Herr Baron,« begann ich. »Wünschen Sie meinen ärztlichen Rath noch über irgend etwas, so bitte ich, mir jetzt Mittheilungen zu machen, denn schon morgen kehre ich nach meinem Wohnorte zurück.«
»Schon morgen?« rief er überrascht. »Und kommen Sie so bald nicht wieder in diese Gegend?«
»Ich glaube nicht.«
Er ging unschlüssig hin und her. Dann blieb er vor mir stehen, und fragte mich mit sichtlicher Ueberwindung und mit nicht eben gewinnendem Tone: »Doctor, haben Sie nicht Zeit, ein paar Tage bei mir in dieser verwünschten Spelunke zuzubringen?«
Ich machte Umstände. Er wurde ärgerlich. »Ich glaub's,« fuhr er heraus – »da Sie von mir kein großes Honorar zu erwarten haben, und der Vortheil doch einmal die Welt und so auch Euch bewegt, so können Sie einen Patienten wie mich nicht brauchen!«
Diese Unverschämtheit war mir sehr willkommen. Ich erklärte ihm, daß ich mich einzurichten suchen würde und ein paar Tage für ihn zu erübrigen hoffte, allein unter der Bedingung, daß ich nicht als Arzt, sondern als ein freundschaftlicher Besuch in sein Haus zöge. »Sie zahlen mir mit Grobheiten,« fuhr ich lachend fort, »und solche Münze hat eine gewisse Anziehung für mich. Ihnen aber ist eine Portion Grobheit zur Entgegnung die beste Medizin, wie ich bereits gemerkt habe. Sie fühlen sich schon etwas wohler. Also wollen wir uns ein paar Tage lang möglichst viel Nichtswürdigkeiten ins Gesicht sagen, und ich wünsche nur, daß Ihnen ein so ausgiebiges Arsenal lustiger Waffen zu Gebote stehen möge, als ich mitzubringen verspreche.«
Er sah mich stutzend und fragend an, ob es wohl Ernst sei. »Also morgen früh,« so schloß ich, »komme ich und will mir Ihre Gegend einmal bei Tage betrachten.«
»Gut, gut!« rief er. »Ist zwar nichts dran zu sehen, aber – kommen Sie nur.«
Ich ging, in der Hoffnung, noch etwas Angenehmerem zu begegnen, als dem finstern Herrn des Hauses. Der aber begleitete mich hinunter zum Wagen, ließ über den Knecht im Fluge ein Zornwetter ergehen und rief mir ein »Auf Wiedersehn!« nach, welches eher wie eine Drohung, mir den Hals zu brechen, als wie ein höflicher Wunsch klang.
Trotzdem frohlockte ich, und während ich durch die kalte Herbstnacht fuhr, erwärmte mich die Aussicht, nun bald mit Malvina in denselben Mauern zu athmen. Denn obgleich ich nur zweimal ganz flüchtig mit Haralds Schwester gesprochen, war doch das Interesse für sie der einzige Grund geworden, der mich noch in das Haus des Freiherrn zog. Ihm war kaum zu helfen, ich hatte für ihn eigentlich nur Mißachtung und Widerwillen, wiewol die beste Absicht, ihn körperlich, wenn nicht herzustellen, doch zum Besseren zu fördern, ihn zu ertragen und, um Malvina's und der Freunde willen, sein gehässiges Wesen abzudämpfen. Die medicinische Kur, die ich mit ihm vornahm, ist nicht Sache dieser Blätter, da ich auf ihnen nicht einen interessanten Fall, wie es vielleicht anfangs aussah, sondern meine Erlebnisse in Gothenwiek und in einem mir bald so innig verbundenen Kreise geliebter Menschen zu erzählen denke.
Virginia Jessenius, die meiner Rückkehr diesmal mit Spannung entgegengesehen, war hoch erfreut über meinen Erfolg und die Mittheilungen, die ich ihr über den Zustand des Freiherrn machen konnte. Aber freilich – mit meiner Uebersiedelung nach Gothenwiek war der Abschied von ihrem Hause verbunden, der uns nicht mehr so leicht fiel. War auch die Aussicht auf ein gelegentliches Wiedersehen nicht ausgeschlossen, so fühlten wir doch jetzt erst, wie nah wir einander getreten waren und mochten uns ungern fortan räumlich getrennt sehen. Vorwiegend empfand Harald die Trennung bitter. Er hatte mich so in sein Herz geschlossen, daß er gar zu gern mit nach meinem Wohnorte gezogen wäre, – ein Plan, den wir ihm jedoch mit den triftigsten Gründen auszureden wußten.
Als ich am andern Morgen den Wagen bestieg, wurden alle Wagenkasten und Taschen voll Packete gesteckt, die man der Wirthschaft in Gothenwiek zugedacht hatte. Der Kutscher bekam Aufträge an Peter Matthessen, durch den Alles an den Kastellan zu vermitteln war. Ich merkte, daß der Kutscher ein Vertrauensmann war, der wol häufig dergleichen Lieferungen unter der Hand überzuführen hatte. Harald ließ es sich nicht nehmen, mich wenigstens bis an die Waldesgrenze zu begleiten. Hier schieden wir, und ich sah ihn zu Fuß den Rückweg nach der Stadt nehmen.
Bald erreichte ich das Schloß oder Herrenhaus von Gothenwiek und da ich es jetzt zum erstenmal bei Tageslicht erblickte, kann ich dies graue Gemäuer jetzt erst mit ein paar Worten beschreiben. Es war in der That ein altes Eulennest. In der Mitte der Hauptbau und älteste Theil, finster aus dem Boden steigend, nur zweistöckig, fünf Fenster breit, die klein und eng sich in die graue Wand zu verkriechen schienen; mit hohem, schadhaftem Ziegeldach, rechts und links in einen spitzen Giebel auslaufend. Von den Fenstern des oberen Geschosses hatte man durch einen Durchhau des Waldes und einen Dünenausschnitt den Blick auf die See, der jedoch durch nachschießendes Gehölz ziemlich verwachsen war. Rechts und links von dem Mittelhause waren in späterer Zeit niedrige, einstöckige Flügel angebaut worden, die ebenfalls in kleine Giebel ausliefen. Der jetzige Haupteingang war vom Hofe aus. Das frühere mit einem Hirschgeweih gekrönte Portal hatte man vernagelt. Alles sah im höchsten Grade verkommen, düster und armselig aus, die Romantik eines verfallenen alten Jagdschlosses wurde vernichtet von dem finstern Ernst, daß menschliche Bewohner auf diese Mauern für ein schwer beladenes Dasein angewiesen waren. Ja, auch unter diesem Dache wurde geliebt, gehaßt, bargen sich wilde Leidenschaften und tiefe Schmerzen, wie überall, wo der Mensch sich angesiedelt, ob er sich ein neues Haus gründet, ob er unter einem verlassenen Dache ein Asyl findet. Und doch, mit so frohem Herzen, wie ich heute hier einzog, war wol lange Niemand über diese Schwelle geschritten!
Es waren noch ein paar Stunden bis Mittag. Diese mußte ich denn wol mit meinem Wirth allein zubringen. Er zeigte mir mein Zimmer, das von dem seinigen nur durch den Hausflur getrennt wurde. Ich erkannte das freundliche Walten weiblicher Hände, die Sorge, durch bescheidenen Schmuck und Ordnung des alten Hausraths dem Raume ein wohnliches Aussehen zu geben. Der Freiherr fühlte sich heute leidend, so wenig er es zugeben wollte. Ich schalt ihn, daß er mir manches über seinen Zustand verhehlt hatte, und bekam zur Antwort, daß er nicht verpflichtet sei, mir »jeden Quark« mitzutheilen.
»Zur Strafe dafür,« entgegnete ich, »sollen Sie mir den Quark einnehmen, den ich Ihnen verschreiben werde.« Ich setzte mich an sein Schreibpult und nahm Feder und Papier. Schon aber fuhr der Freiherr zu und riß mir ein dickes Manuscript unter den Händen weg. »Nun, nun!« sagte ich lachend, »nur keine Furcht, daß ich Ihnen über Ihre Schriften komme! Obgleich ich eigentlich nicht dulden sollte, daß Sie so viel arbeiten!«
»Nicht dulden?« rief er, indem er die Papiere auf den Tisch warf. »Seht mir den neuen Hausgenossen! Noch keine halbe Stunde ist er hier, und fängt schon an mich zu tyrannisiren.« Er sprach dies nicht gerade heftig oder unwillig, mehr vor sich hin murrend. Ich konnte es für einen Scherz annehmen.
»Ich habe auch wirklich die Absicht, Sie zu tyrannisiren, Baron,« sagte ich während des Schreibens. »Man hat nichts von dem Verkehr mit Menschen, wenn man ihnen nicht ordentlich zu Leibe geht. Die Menschen sind im Ganzen nur da, um einander zu incommodiren und es ist am besten, man gesteht die Absicht gleich ein, damit sich der Andere darnach richten kann. Da – dies Rezept schicken Sie gleich nach der Stadt. Ich werde Ihnen das Pülverchen selbst einrühren, damit Sie nicht denken, ich wolle Sie vergiften.«
»Herr, wie kommen Sie darauf?« rief er überrascht.
»Nun, Sie sind einmal mißtrauisch gegen die Menschen, also auch gegen die Aerzte.«
»Der Schuft von Kastellan hat mich bei Ihnen angegeben! Ja, es ist wahr, ich habe von dem letzten Mittel, das Sie mir verschrieben, den Hund zuerst kosten lassen, ich wollte sicher sein.«
»Wenn Ihr Hypochonder darin consequent verfährt, dann machen Sie sich das Leben sehr umständlich, Herr Baron! Dann können Sie überhaupt keinen Bissen ohne Furcht genießen. Lassen Sie von Allem erst den Hund kosten? Dem dürfte leicht einmal etwas schlecht bekommen oder widerstrebend sein, was Ihnen sehr zuträglich ist. Ihr Mißtrauen schiene dann gerechtfertigt, und was Sie in solcher Verwirrung etwa thäten, wäre abscheulich. Wenn man es nicht auf die Rechnung eines Tollen setzte!«
Der Freiherr ging mit finster gesenkten Augen auf und ab. Dann blieb er stehen und sagte: »Ja, ja – eines Tollen! Doctor sagen Sie es ehrlich – bin ich nicht auf dem Wege, wahnsinnig zu werden?«
»Warum nicht gar!« rief ich. »Wenn Sie guten Willen und Selbstbeherrschung zusammennehmen, kann ein solcher Gedanke bei Ihnen nicht aufkommen. Auch über krankhafte Stimmungen soll man Herr werden.«
»Doctor, Sie reden wie der Blinde von der Farbe! Sie scheinen mir von den Leuten zu sein, die fortwährend Grundsätze und gute Lehren im Munde führen, die auf den gegebenen Fall nicht passen.« Ich ließ ihn eine Weile poltern und grollen, und blätterte in einem englischen Buche. Es behandelte die britische Verwaltung in Indien. Als er eine Pause machte, brachte ich, ohne weiter auf seine Reden einzugehen, die Rede auf das Buch. Der Freiherr hemmte seine Schritte, und gab auf meine Fragen genügende Auskunft, und so gelang es mir, ihn bei Indien festzuhalten, bis wir zu Tische gerufen wurden.
Malvina erwartete uns. Der Freiherr wollte sich zu Tische setzen, ohne von ihr Notiz zu nehmen, ich aber ersuchte ihn, mich seiner Fräulein Tochter vorzustellen, was er dann rasch und kalt durch bloße Nennung meines Namens that. Während des Essens wagte Malvina kaum mich anzusehen, ich aber suchte sie absichtlich in das Gespräch zu ziehen und ihr die Aufmerksamkeit zu erweisen, die ein Gast der Tochter des Hauses schuldig ist. Der Freiherr schien zu fühlen, daß er vor einem Fremden in seinem Benehmen gegen Malvina den Anstand denn doch zu wahren habe, und ließ sich weniger gehen. Ich brachte das Gespräch auf Gegenden und Städte, die ich besucht, und von denen ich wußte, daß mein Wirth sie kannte, sprach und machte ihn reden, so daß unser Tafeln der Unterhaltung nicht entbehrte.
Als wir uns erhoben, sagte ich: »Jetzt, Herr Baron, folgen Sie meinem Rathe und ruhen Sie ein wenig auf Ihrem Zimmer. Inzwischen ist Ihr Fräulein Tochter so gütig, mir auf einem Spaziergange die Gegend zu zeigen.«
Der Freiherr sah mich und die junge Dame verstimmt an. Malvina schien durch meinen Vorschlag überrascht. Sie erröthete leise, und sagte zum Freiherrn gewendet: »Wenn Sie inzwischen nicht des Herrn Doctor oder – meiner bedürfen?«
»Was, bedürfen!« rief er in rauhem Tone. »Ich brauche Niemand! Geht, geht!« Er wollte das Zimmer verlassen, blieb aber an der Thür noch einmal stehen und sagte: »Doctor, die Dame hat Ihnen nicht viel Gutes von mir zu erzählen, und Sie ihr eben so wenig und ich weiß, es wird nicht schlecht über mich hergehen –«
»Glauben Sie mir,« unterbrach ich ihn lachend, »daß das Fräulein und ich amüsantere Unterhaltung suchen und finden werden, denn draußen scheint die Sonne, und junge Leute wollen auch einmal vergnügt reden.«
»Nun denn, viel Vergnügen!« brummte er und verließ uns.
So war ich endlich mit Malvina allein. Sie sah mich mit einem Blick unaussprechlichen Dankes an, und sagte, indem ein heller Glanz über ihre Züge flog: »Welche Macht üben Sie über den Freiherrn aus? Ich begreife kaum, was ich sehe und höre.«
»Reden wir wirklich von anderen Dingen,« sagte ich, und, leiser fortfahrend: »Sprechen wir von Virginia Jessenius und Harald!«
Malvina lächelte beglückt und folgte meiner Aufforderung zum Spaziergange. Wir schritten durch die verwilderten Gänge des Gehölzes, welches das Haus umgab. Das gelbe Laub raschelte unter unsern Füßen, aber durch die fast kahlen Zweige fiel der milde Sonnenschein. Es war einer jener glücklichen Tage, wo der Spätherbst auch von dieser nördlichen Gegend noch mit einem freundlichen Blick Abschied nimmt. Aus dem Gehölz traten wir auf die Dünen hinaus, und blaugrün, wundervoll durchtanzt von silbernen Schaumwellen, lag die See vor uns. Hoch oben im hellen Blau sonnten sich weiße Seeadler, während über den Wellen Schaaren von Möven ihr schimmerndes Gefieder auf und nieder bewegten. Die Luft war herb, frisch, durchsichtig, es ging eine ätherklare Herbststimmung durch die Natur.
Während wir am Strande hinschritten, sprachen wir bisher nur von dem alten Fräulein und Harald. »Wie soll es werden?« sagte Malvina, mit einem wehmüthigen Blick über die weite See. »Ich denke so oft, wie ich's ertragen werde, wenn Harald drüben über der unabsehbaren Fläche ist! Er wird bald Abschied nehmen – und er soll es, soll seine Weltfahrt machen, ich werde es ihm nicht zeigen, wie schwer ich's trage. Wir sind da zum Entbehren und zum Dulden.«
»Wir haben auch ein Recht an das Leben,« wendete ich ein, »wir sollen das Glück, welches das Leben uns freundlich bietet, nicht von der Hand weisen.«
»Ich dachte auch schon zuweilen so,« erwiderte sie. »Wenn mir der Tag recht eindringlich sagte, wie nutzlos ich hier sei, dann empfand ich eine gewisse Bitterkeit, die Entbehrung wurde mir schwer und ich sehnte mich nach Freude. Aber immer wußte mich die strenge Mahnung, in meiner Pflicht nicht zu wanken, wieder zur Ruhe zu bringen.«
»Zur Ruhe? Nein. Sie zwingen sich zu einer eingebildeten Pflicht, und im Kampfe mit ihr reiben Sie sich auf.«
»O nein – nein, nein! Und wenn es wäre – was läge daran, wenn ein Leben sich aufriebe, das ja doch überflüssig in der Welt ist?«
»Ueberflüssig!« rief ich mit Eifer. »Ueberflüssig ist Niemand oder – Jeder! Der aber kann es nicht sein, der geliebt wird, wie Sie von Ihrer mütterlichen Freundin, von Ihrem Bruder, von – von – kurz von Jedem, der Sie erkannt hat. Und wer geliebt wird, hat Pflichten, edle, beglückende Pflichten, deren Ausübung ihn erheben soll. Es ist ein falscher Opfermuth, sich hinzuwerfen für einen Wahn, für eine Pflicht, die nicht anerkannt wird. In das Haus, das Sie erzogen hat, dahinein gehören Sie, dort haben Sie die Pflicht, ein edles und schönes Leben dankbar zu schmücken!«
Ich fühlte, daß ich zu weit gegangen, als ich eine Thräne über Malvina's Wangen rinnen sah. Bestürzt ergriff ich ihre Hand und bat sie um Verzeihung.
»Sie stehen den Meinigen so nahe,« sagte sie, »daß Sie so sprechen dürfen, und Sie haben Recht. Ja, ich gestehe es sogar ein, daß dieser Conflict von Pflichten mich viel beschäftigt, und meine Wahl mit Sehnsucht in die Nähe der Freundin und des Bruders strebt. Aber eben weil es die leichtere ist, weil ich dort nur Glück, Freude, Genuß für mich weiß, eben darum sage ich mir, daß es nicht die richtige Wahl ist.«
»Verzeihen Sie, wenn ich diese Ascetik fast unnatürlich finde. Hat sie Ihnen schon etwas genützt?«
»Unnatürlich?« rief Malvina mit großen Augen. »Gehört die Tochter nicht in das Haus des Vaters? Oder wenn –« Sie stockte, sie hatte innerlich etwas zu bekämpfen. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort: »Der Freund Virginia's und Haralds weiß um unsere Geheimnisse, ich will keine Scheu vor ihm haben. Er weiß, daß der Freiherr uns, seine Kinder, haßt, weil er die Mutter gehaßt, weil er an ihr gezweifelt hat. Ich habe sie nie gekannt, aber ihr Name ist mir heilig! Sie wähnen mich vielleicht nur weich, thränenreich, sanft schwärmerisch und sentimental – o, ich gestehe es, daß leidenschaftliche Regungen auch mich wild und tobend erfaßt haben! Als ich meine Liebe mit Füßen getreten sah, ergriff mich ein Abscheu, und das schauderhafte Gefühl des Hasses, der sich bei meinem Bruder festgesetzt hat, ging auch mir durch die Seele. Furchtbar mußte ich dagegen ankämpfen, aber mit Gewalt besiegte ich die verderbliche Regung. Dort in der Stadt, bei der Freundin, wären mir die Tage leicht und glücklich hingeflossen, ich wäre ein Kind geblieben, vielleicht zufrieden, vielleicht verwöhnt und anspruchsvoll – hier hat sich mein Leben durch Enttäuschung, Schmerz und Kämpfe früh vertieft und ihm einen Werth gegeben, den nur ich ganz erkennen kann. Ich weiß, was ich über mich selbst vermag – und wenn ein heller Lichtblick, wie Sie ihn mir von drüben bringen, mich eine Stunde schwach und zaghaft macht, so weiß ich doch, die Kraft kehrt mir wieder und die Zukunft sieht mich gerüstet. Nun tadeln Sie mich länger, wenn Sie können!«
Malvina's Augen blickten groß und tief, der Ton ihrer Stimme war sicher und klar, ihre Gestalt schien sich zu heben. Ich war so überrascht und ergriffen, daß ich noch einmal ihre Hand faßte und ausrief: »Malvina, Sie können in meinen Augen nichts Tadelnswerthes thun! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Lassen Sie auch uns beide Freunde werden!«
Auch sie sah mich überrascht an, erröthete leise und sagte: »Daß wir es schon sind, beweist Ihnen mein Vertrauen.«
Wir hatten uns der Stelle des Strandes genähert, wo die Boote, auf den Sand gezogen, in langer Reihe standen und die Fischer ihre Netze zum Trocknen aufzuhängen pflegten. Nur ein paar Fischer wurden zwischen den Booten sichtbar. Da setzte sich einer derselben in Bewegung und kam auf uns zu. Malvina stieß einen leisen Freudenruf aus, flog ihm entgegen, und ich erkannte Harald's schlanke Gestalt. Wie sehr mich das Wiedersehen freute, konnte ich doch nicht umhin, ihn zu tadeln, daß er sein Versprechen nicht gehalten, diese Gegend während meiner Anwesenheit zu meiden.
»Ei was!« rief er heiter, »nur jetzt nicht schelten! Ich hielt es nicht aus. Und jetzt hab ich mir in den Kopf gesetzt, Euch beide in die See zu rudern. Will man uns auf diesem Boden keine gemeinsame Stunde gönnen, so kommt, auf den Wellen ist Freiheit, da dürfen wir einig sein!«
Ich wollte eigentlich Einspruch thun, da der kurze Tag sich schon zu neigen begann, und ich von der Kühle für Malvina fürchtete. Aber in des jungen Mädchens Augen sah ich die Lust nach der Seefahrt glänzen, und Harald bat so dringend, daß ich einwilligte. Eine wollene Decke, die ich für Malvina zur Bedingung machte, wurde von Hans Matthessen rasch herbeigeschafft, und so bestiegen wir das Boot, Hans als Vierter mit uns.
Es war eine schöne Fahrt. Die Sonne senkte sich in's Meer, warf einen letzten Strahlenschein auf Malvina und Harald, und ließ unser Boot eine Minute lang wie auf flüssigem Golde auf und nieder tanzen. Dann versank sie in der Flut, Luft und Wellen verschwammen wie in einer Glorie von matten Farbentönen, das Ufer schien zu schwinden und wir in unendlichen Aether hinaus zu treiben. Nie hatte ich die Geschwister so heiter gesehen. Harald, in der frischen Kraftbewegung des Ruderns, schien in seinem Elemente zu sein, und Malvina, deren welliges Haar der Seewind losmachte, war beglückt und freute sich in abenteuerlicher Lust, wenn eine Welle uns hob und wie einen Ball der folgenden zuwarf. Schossen wir dann von dem Abhang einer höheren Woge einmal um so tiefer hinab, um im Moment darauf zum schaumgekrönten Gipfel der nächsten empor geschleudert zu werden, und jauchzte Harald dann auf, wie der Sturmvogel hoch in Lüften, dann schreckte Malvina leise zusammen, drückte sich näher an mich, und duldete, daß ich meinen Arm um ihren Leib schlang, um sie zu halten. Der Bruder schien es zu beobachten.
»Was meint ihr,« rief er plötzlich, »wenn ich euch nun gleich entführte? Weit hinaus über's Meer, nach Norden, immer nach Norden! Seeland bleibt hinter uns, bald auch Norwegens Felsenbrandung, und hoch oben im freien Wogenreich schwimmen wir fort zum Eiland, wo die Vulkane dampfen unter der Eisrinde! Da bauen wir eine neue Welt und Haus und Hof, und ihr haltet mir den Herd bereit, wenn ich von meinen Zügen heimkehre. Menschen gibt's auch da, und Leben und frohe, gesunde Thätigkeit – ha, das sollte ein Dasein werden! Wer geht freiwillig mit, ehe ich Gewalt brauche? Hans Matthessen, dich frag ich zuerst.«
»Geht nicht!« entgegnete Hans gutmüthig lachend. »Ich muß morgen vor Tage hinaus auf den Störfang. Da ist nicht abzukommen.«
»Aber du, Malvina?«
Malvina schüttelte leise den Kopf. »Laß mich nur hier am Strande, es gibt auch daheim noch für mich zu thun.«
»Und endlich du, weiser Doctor?«
»Auch ich muß ersuchen, mein theurer Seevagabund, mich wieder an die sandige Küste der Heimat zu setzen, da es hier auch für mich mehr zu thun gibt, als in Island, wo nach deiner Annahme eine völlig dauerhafte Gesundheit herrscht. Da wäre ich überflüssig. Also das Boot gewendet, und zwar unverzüglich, denn es wird kalt, und ich als Arzt darf nicht zugeben, daß unsere Dame sich während so phantastischer Pläne erkälte.«
»Ich konnt' es denken,« sagte Harald. »Der Sand und die Scholle, auf der ihr euch quält und müht, ist euch Allen lieber als das Glück der Freiheit. Der Eine muß zum kümmerlichen Störfang, die Andere zu Pflichten, die ihr niemand dankt, der Dritte zu krankhaftem Gelichter, das ihm selbst die gesunden Tage schwermacht.«
»Und jeder von uns hat Recht,« entgegnete Malvina. »Wir gönnen dem Meeresfalken seinen Flug, aber wir können ihm nicht folgen, da uns seine Schwingen fehlen. Und muß es denn Island sein, wo wir ihm den Herd bereit halten, wenn er heimkehrt von seinen Wanderzügen? Können wir nicht auch in der alten Heimat liebevoll seiner – –«
Malvina brach ab, als habe sie sich auf einem innerlichen Vorgange ertappt, über den sie selbst erschreckte. Ich aber glaubte sie verstanden zu haben und drückte leise ihre Hand. Sie entzog sie mir rasch, und bat mit Hast, man möge die Segel dem Strande entgegen wenden. Es war längst geschehn. Wir sahen den Mond über die Dünen heraufkommen, und segelten durch den blendend beweglichen Lichtstreifen, den er über das Meer warf. Ich weiß nicht, wie es zuging, wir sprachen nichts Trübes, die Geschwister waren froher, als ich sie bisher noch gesehen, und ich hatte Grund in glücklicher Stimmung zu sein – und doch, es lag eine gewisse Schwermuth auf unsrer abendlichen Fahrt, wie der Schleier herbstlicher Dämmerung, in den die Natur sich hüllte.
Wir landeten. Noch einmal nahm ich von Harald Abschied, der mich heut stürmisch an seine Brust drückte und die Schwester zärtlich umarmte. Dann ging er mit Hans von uns, während ich mit Malvina den Weg zum Hause einschlug. Ich hatte ein Wort, eine ernste Bitte an sie fast auf den Lippen, und doch – was ich sagen wollte, blieb ungesprochen. – –
Ich erzähle nichts von dem finster unliebenswürdigen Empfange des Freiherrn. Er hatte auf mich gewartet, das erregte sein Mißtrauen, seine Galle, wir hatten einen ziemlich lauten Wortwechsel. Endlich lachte ich ihm ärgerlich in's Gesicht und erklärte, ich würde ihn zur Strafe für seine langweilige Laune heut Abend allein lassen.
Ich ging in mein Zimmer, wo ich einen Brief für mich fand. Er war von der Hand meines Collegen, dem ich meine Praxis inzwischen übergeben hatte. Er rief mich schleunigst in meinen Wohnort zurück. Die Gründe waren dringend, ich mußte spätestens morgen früh abreisen. In der That – ich konnte äußerlich von Gothenwiek abkommen. Der Freiherr, in seiner Art unheilbar, war kein Patient, um den es lohnte Zeit und Mühe aufzuwenden, allein – innerlich war ich um so mehr gebunden. Ich liebte Malvina und hoffte ihr Herz und ihre Hand einst zu besitzen. Während ich noch das Zimmer durchmaß, überlegend, was ich in der Eile für meine Hoffnungen thun sollte, trat der alte Kastellan ein und meldete mir leise, Peter Matthessen habe mir etwas mitzutheilen. Da aber der alte Fischer nicht in das Haus des Freiherrn kommen dürfe, so lasse er mich bitten, ihn zu besuchen.
Eine Mittheilung von Peter Matthessen? Ich war überzeugt, daß dies nichts Unwichtiges sein konnte. Und da ich nur noch die heutigen Abendstunden hatte, nahm ich rasch den Mantel und schritt durch das Dorf.
Peter Matthessen saß, als ich in den Wohnraum des Fischerhauses trat, am Herd und starrte in die Flamme, bei der seine Frau, wie gewöhnlich, etwas zu kochen hatte. Auch die drei Söhne befanden sich, wie immer um die Abendstunde, bei den Alten. Ich wurde mit herzlichem Handschlag begrüßt. Als ich erklärte, daß ich Abschied zu nehmen käme, hörte ich von Allen ein O! des Erstaunens und Bedauerns.
»Aber der Herr Doctor wird wiederkommen?« fragte Peter Matthessen, indem er mich prüfend ansah.
»Recht bald,« entgegnete ich, »so bald als möglich.«
»Dann ist's gut,« sagte er, indem er mich zu einem Platze am Herde einlud. Wie verabredet, verschwanden in den nächsten Minuten die Brüder nacheinander aus dem Zimmer und endlich auch die Mutter. Der alte Fischer setzte durch eine Kohle sein kurzes Pfeifchen wieder in Gang und begann – langsam, wichtig und mit phlegmatischer Bedächtigkeit: »Herr Doctor, Sie haben drinnen von dem Fräulein Jessenius wol schon dies und das gehört, was Sie wissen sollten, aber Alles wissen Sie doch noch nicht. Nun ist's aber doch Zeit, daß Sie's von Grund aus erfahren. Besonders was es um unser Fräulein Malvina auf sich hat. Das ist die Hauptsache.«
Er machte eine Pause, ich aber war betreten über die Wendung, mit der er das Gespräch einleitete. »Warum ist das die Hauptsache für mich, Peter Matthessen?« fragte ich.
Der Alte sah mich durchdringend an. In seinem verwitterten, gutmüthigen Gesicht glaubte ich einen Zug von Verschmitztheit zu erblicken, der, wenn er wirklich da war, doch schnell einem Ausdruck strengen Ernstes wich. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und drohte mir damit. »Wenn's nicht die Hauptsache wäre,« sagte er, »so wäre es schlecht, Herr! Es ist aber, wie ich gesagt – das Fräulein Malvina bleibt die Hauptsache, und darum werden Sie wiederkommen – nicht so, Herr Doctor?«
»Ja, Peter Matthessen!« sagte ich und mußte die Augen vor seinem Blicke niederschlagen. – »Nun aber, was dann?«
»Dann muß ich reden!« entgegnete er und starrte in's Feuer, als ob er von da aus seine Erinnerungen sammle. – »Ja, das ist nu all lang her,« fuhr er fort, »bald dreißig Jahr, da war unser Freiherr drinnen auf der gelehrten Schule und sollt das Studiren lernen. Und mein Bruder Andres Matthessen, der dazumal auch schon nicht viel taugte, so ein junges Blut er war, der diente bei ihm als Reitknecht. Geld ließen sie drauf gehn, daß es eine Art hatte, denn der junge Freiherr gehörte dazumal zu den reichsten Herren und die schönsten Güter in Schwedisch-Pommern waren noch sein. Und ein stattlicher Herr war er auch und gefiel den Frauensleuten nur gar zu gut. Mit dem gelehrten Studiren hat er sich wol nicht viel befaßt, aber sonst trieb er's Leben in's Große, und die Stadt hatte immer was über seine Streiche zu reden. Nu, viel Gutes war's niemals! Da lebte nu dazumal noch der Herr Professor Jessenius, dem unser junger Herr so zu sagen in die Aufsicht gegeben war. Ja du mein Herrgott – der Herr Professor wußte wol in Büchern Bescheid, aber wie er so ein wildes freiherrliches Kraut anfassen sollt', davon hatt' er keine Wissenschaft! Aber eine Tochter hatt' er, die setzte sich's in den Kopf, den jungen Herrn, der im Haus viel aus- und einging, in Ordnung zu bringen. Na, klein war sie denn freilich man sehr, aber klug wie selten Eine, und hatte mehr gelernt, als ein Dutzend Studenten zusammen. Und weil sie jung war und hübsch genug, so dauert's nicht lang und mein Freiherr und das Fräulein Virginia waren Brautleute.«
Der alte Fischer machte eine Pause und starrte wieder in die Flammen. Ich aber sagte, in Wahrheit überrascht: »Das hätt' ich nicht erwartet!«
»Es kommt noch besser!« meinte Peter Matthessen. »Ja, Brautleute waren sie nu, aber das tolle Leben hörte darum nicht auf. Dem Fräulein gelang es aber nicht recht mit ihm, und dem Professor ward es doch gar zu ärgerlich mit dem Gered' über die Wirthschaft, die sein künftiger Eidam in der Stadt trieb. Er las ihm den Text, und weil die Braut ihm auch viel den Text las, so wurde es dem jungen Herrn mit dem Textlesen zu viel, und er kam immer seltner in's Haus. Ja, es hieß, er hätt' es grad zum Possen nur noch ärger getrieben. Nun hatten wir dazumal viel schwedische Herrschaften im Land. Unser Freiherr hielt gute Freundschaft mit einem jungen schwedischen Herrn, der einen vornehmen Namen hatte und dem Freiherrn an Reichthum nicht nachstand. Er studirte auch, und war, wie es hieß, auf die Medicin aus. Ich hab' ihn ein paar mal gesehn und werd' es nicht vergessen, wie er aussah. Sie kennen unsern Harald – so ungefähr war sein Aussehn. – Also, die zwei hielten gute Freundschaft und weil der schwedische Herr gar so viel erzählt von seiner Heimat, so macht sich unser Freiherr mit ihm auf, und sie reisen zusammen nach Stockholm. Mein Bruder Andres mußte auch mit. Das dauert und dauert, sie bleiben in Schweden den ganzen Sommer, da kriegen wir zu erfahren, daß der Freiherr sich drüben noch einmal verlobt hat. Es war schon richtig, und das Fräulein Jessenius hatte das Nachsehen. Sie ist nicht schlecht dabei gefahren! Aber es war auch wieder kein gut Ding um die neue Brautschaft. Denn es hieß, die fremde Dame sei schon so gut wie des Schweden Braut gewesen, und der Freiherr hätt' sie ihm weggekapert. Na, die Freundschaft zwischen beiden hörte denn auch bald auf. – – Also, es vergehn keine sechs Monat, so heirathet unser Herr die schwedische Dame und weil sie auch gern war, wo es lustig herging, so reisten sie nach Paris und blieben da zu wohnen. Mein Bruder Andres wieder mit, weil er anstellig war und nichtsnutzig und überall zu brauchen. So führt' denn nu unsre junge Herrschaft ein ganz ausbündiges Leben in dem Paris da, und dacht' nicht, daß der Reichthum auch mal alle werden könnt', Kinder aber hatten sie die drei ersten Jahr keine. Derweil brauchte unser Freiherr mal wieder Abwechselung, und weil der Napoleon dazumal grad in der Welt 'rumwirthschaftete, so schlug er sich zu ihm und zog überall mit, wie ein richtiger Franzose, und ließ die junge Frau in Paris sitzen. Dasmal aber blieb mein Bruder Andres zurück. Nu, wer kann sagen, wie es zuging, mit einemmal ist der schwedische Herr auch in Paris, und sieht seine vormalige Braut wieder, und weil der Freiherr sich gar nicht mehr viel aus ihr machte, und im Krieg ist, da haben die Zwei sich dann wieder versöhnt. Aber es nahm doch ein schlechtes Ende, denn was schlecht angesponnen war, konnte nicht gut dauern. Der Schwed' wollte sie entführen und mit sich in sein Vaterland nehmen, aber – weiß Gott, wie das so kam, sie verzürnten sich, und eines Tags, heidi, ist mein Schwed im Aerger auf und davon, und sie weiß nicht, wo er geblieben ist. – Das war denn just um Ostern, ich wußt von alldem gar nichts, und wie ich vom Fischen heimkomme, lauft mir meine Frau entgegen, der Andres wär wieder da, und eine Amme müßt gleich geschafft werden. Ich frag denn nu wie und wo, und da kam's heraus. Die junge Frau hat's in Paris allein nicht ausgehalten, und ist hier eingetroffen, und sollt nu grad in die Wochen kommen. Die französische Kammerfrau wußt sich keinen Rath in der Fremde, und so hatten sie den Andres abgeschickt. Nu, meine Frau, die dazumal unsern Jonas an der Brust hatte, macht sich denn selbst auf, und kam grade zurecht. Die gnädige Frau brachte Zwillinge zur Welt, den Harald und das Fräulein Malvina, lag aber selbst sehr schlecht darnieder. – Jetzt dauert's aber nur ein paar Wochen, so ist aller Teufel auf Einmal los. Erst kommt der Schwed' an, gleich drauf der Freiherr in voller Wuth, und macht einen Lärm, und will die Frau todtstechen und die Kinder dazu. Den Schweden aber schoß er wirklich todt, denn sie hatten sich auf Pistolen gefordert. Die gnädige Frau überstand das nicht, und starb gleich hinterher. Der Andres aber und die französische Kammerfrau wurden beid' aus dem Dienst gejagt. Der Freiherr bleibt nicht lang, läßt durch fremde Hand all sein Gut zu Gelde machen und ist wieder weg. Jetzt, was mit den Kindern anfangen? Mit ihm war nicht drüber zu reden. Also saß meine Frau da mit den zwei Würmchen, und weil sie sich gar keinen Rath wußte, brachte sie sie mit heraus zu uns. Na, drei Gören auf einmal in unserm Hause – denn der Jonas war auch noch kein Jahr alt – das war denn nu viel für uns, und mir war's nicht recht, aber meine Frau redete mir gut zu – und sie hatte doch das Meiste damit zu thun. Dauert nicht lang, so tritt einmal das kleine Fräulein Jessenius aus der Stadt bei uns ein, und erklärt, sie wolle die Kinder halten als wären's ihre eignen, und sie sollten ihr ganz allein gehören, aber wir möchten sie nur die ersten zwei Jahr bei uns behalten. Sie gab Kostgeld, mehr als nöthig, und kam immer die Woche ein paarmal heraus und hatt' ihre Freud' an den Kindern. Nach zwei Jahren holt sie sich das kleine Ding, die Malvina, auch richtig ab, aber über den Harald wurden wir eins, daß er noch bei mir bleiben sollt'. – – Das währte also ein Jahrer sieben oder acht, da kommt ganz unverhofft unser Freiherr wieder und quartiert sich gar bei uns in Gothenwiek ein. Er hatte Alles durchgebracht und erinnerte sich, daß hier noch ein altes Haus stand, das übrig geblieben war von all dem großen Besitz. Es war die letzte Zuflucht, sonst wäre er hier nicht eingezogen. Na und auch das – er bildet sich ein, es gehör' ihm noch, es gehört ihm aber nichts mehr. Der frühere Bevollmächtigte seiner Geschäfte spiegelt ihm vor, es sei noch ein kleines unangreifbares Kapital da, von dem er die Zinsen schickt und von dem allein der Freiherr lebt. Es ist aber nichts damit. Das Fräulein Jessenius giebt heimlich das Geld her, ihr gehört auch das Haus, und der Freiherr soll nicht wissen, daß sie nicht nur die Kinder, sondern auch ihn ganz und gar erhält. Ja, ja, das ist eine Person, wie der Herrgott sie sich zu seiner besondern Freud' geschaffen hat, so unansehnlich wie sie aussieht!«
Peter Matthessen schwieg, zündete seine Pfeife wieder an, und ich, unter der Wucht seiner Mittheilungen, saß ihm ebenfalls schweigend gegenüber. Nach einer Weile fing der alte Fischer wieder an: »Einmal, weil ich den Harald noch bei mir hatte, dacht' ich, ich müßt' doch versuchen, Vater und Sohn zusammen zu bringen. Na, Sie wissen vielleicht, daß ich damit nichts Gutes angerichtet. Jetzt freilich thät ich es nicht mehr, denn ich weiß, wenn der Freiherr den Harald ansieht, dann glaubt er das Gesicht und die Gestalt seines Todfeindes zu sehn. Vielleicht rührt sich auch das Gewissen, und er denkt an den Schweden, den er selbst durch eine Kugel aus der Welt geschafft. Und jetzt, Herr Doctor, hab' ich noch von dem Fräulein Malvina zu reden. Was von dem Harald gilt, das gilt auch von ihr, denn sie sind Zwillingsgeschwister. Es ist unnütz, daß sie sich hier plagt, und eine Schmach und Schande, wie sie leben muß. Der verdient sich einen Gotteslohn, wer sie da aus der wackligen Kajüte herausholt. Vermögen hat sie keins, und die Gesündeste ist sie auch nicht, aber sie kann noch wieder aufkommen, wenn man ihr zeigt, daß ein junges Blut auch seine Freud' am Leben hat. Also Herr Doctor, wenn Sie's ehrlich meinen, wie ich mir's nicht anders denke –«
»Ich mein' es ehrlich, Peter Matthessen!« unterbrach ich ihn, indem ich dankbar seine Hand schüttelte und mich erhob. »Morgen muß ich weg, aber bald komme ich wieder, und wenn Malvina dann will –«
»Ei, sie wär' nicht gescheidt, wenn sie nicht wollte! Aber wenn sie wirklich Umstände machte, nu so – so würd' ich, Peter Matthessen, mal mit ihr reden!«
»Aber nicht eher, alter Freund, als bis ich selbst es gethan!«
Ich verabschiedete mich und schritt in die sternhelle Nacht hinaus, aufgeregt, mit glühendem Gesicht und klopfender Brust. Wie seltsam! Ein alter Fischer war der Vertraute meines verschwiegensten Wunsches geworden, er hatte ihn mir aus dem Herzen gelesen! Mein Plan stand von nun an fest. Malvina lebte hier einem Wahne, sie opferte sich für ein Unmögliches, sie mußte gerettet, mußte so bald als möglich diesen Umgebungen enthoben werden.
Rasch trat ich in das Zimmer des Freiherrn, der mit großen Schritten auf und nieder stampfte, und mich erschreckt und wüthend anfuhr, daß ich ungemeldet zu ihm gedrungen. Ich wußte nun schon, wie ich ihn zu behandeln hatte, und so warf ich, gleichgültig gegen sein Auffahren, den Mantel ab und sagte: »Herr Baron, sind Sie diesen Augenblick vernünftig genug, um ein ernstes Gespräch zu führen, oder wünschen Sie sich durch angenommene Verrücktheit unmöglich zu machen?«
»Hol' Sie der Teufel mit Ihren Unverschämtheiten!« schrie er. »Kommen Sie nur in mein Haus, um meinen Zorn zu erregen? Mit Gästen solcher Art werde ich keine Umstände machen.«
»Ich auch nicht,« sagte ich, indem ich mich setzte. »Dieser Ton ist zwischen uns verabredet, und wir finden uns ja wol beide ganz behaglich dabei. Leider ist es schneller vorbei als ich voraussetzte. Ich muß morgen schon abreisen.« Damit zog ich den empfangenen Brief aus der Tasche und las ihm das Nöthigste daraus vor.
Er blieb plötzlich stehen, sah mich an und sagte mit ganz verändertem Ausdruck: »Sie wollen abreisen? Morgen schon?«
»Ich muß. Mein Beruf verlangt mich zurück, und Sie werden selbst einsehen, daß ich hier nicht so lange verweilen kann, bis Sie völlig genesen sind. Thun Sie doch selbst Alles, um Ihren Zustand zu verschlimmern, die nützliche Hülfe nutzlos zu machen. Gestehen Sie einmal selbst, glauben Sie sich einer Kur, einer Pflege unbedingt fügen zu können?«
Er schüttelte den Kopf.
»Fühlen Sie nicht selbst, daß sich jede Hand, die Ihnen Hülfe bietet, vor Ihrer Begegnung zurückziehen muß?«
Er zuckte die Achseln und kniff die Lippen zusammen.
»Erkennen Sie nicht selbst,« fragte ich weiter, »daß ein Leben, welches sich Ihrer Pflege opfern will, zu Grunde gehen muß bei der Art und Weise, wie Sie Ihre Umgebungen behandeln?«
»Ah! dahin will's hinaus?« rief er, den Kopf zurückwerfend. »Ich verstehe!«
»Wenn Sie verstehen, Herr Freiherr – dann um so besser. Ich rede von Fräulein Malvina.«
»Und sie hat sich weidlich Luft gemacht über mich! Natürlich! Hahaha!«
»Sie täuschen sich – doch das bei Seite. Das Fräulein ist körperlich leidend, bedarf selbst der Pflege, vor Allem freundlicherer Umgebungen. Ich schlage als Arzt vor, daß Sie dem Fräulein gestatten, einige Zeit in der Stadt zuzubringen.«
»Das soll ich gestatten?« sagte er kalt. »Ich halte sie ja nicht! Sie folge ihrem Willen! Ich habe sie nicht zu mir gerufen. Ich zwinge Niemand, meine Nähe zu ertragen – Niemand, Niemand!«
»Sie wissen wohl, Herr Baron, daß Fräulein Malvina die Pflichten der Tochter sehr ernst nimmt und nicht von freien Stücken und für eigene Zwecke Ihr Haus verlassen wird. Es wird Ihre, des Vaters Sache sein, der jungen Dame das Anerbieten zu machen.«
Bei dem Freiherrn war ein Sturm im Anzuge, das merkte ich, doch nahm er sich zusammen und sagte, freilich immer noch mit scharfem Tone: »Sie wissen natürlich auch schon, bei wem das Mädchen in der Stadt wohnen wird?«
»Wie sollt' ich denn nicht?« entgegnete ich so unbefangen als möglich. »Ich höre ja, daß Fräulein Malvina eine Tante in der Stadt hat, bei der sie erzogen ist, daß bei dieser auch Ihr Herr Sohn wohnt. Sie werden mir eingestehen, daß Ihr Haus hier draußen das nicht zu leisten vermag, was jetzt Noth thut, eine liebevolle Pflege, Schonung und angenehme Eindrücke.«
Es entstand eine Pause, während welcher der Freiherr wie gewöhnlich mit großen Schritten das Zimmer durchmaß. Was in ihm vorging, ahnte ich wohl. Er schwankte, ob er mich als Eingeweihten in seine Familienverhältnisse ansprechen, ob er seinem Mißtrauen, Verdacht und aufsteigenden Zorn freien Lauf lassen sollte. Ich war verwundert, daß er Haltung genug bewahrte, um sich einigermaßen ruhig mir gegenüber zu setzen, mit den Worten: »Es ist gut, Doctor. Sie soll nach der Stadt. Ich werde ihr meinen Willen aussprechen. Ich glaube wohl, daß ihr der Aufenthalt hier nicht gut thut. Wem thäte er überhaupt gut! Sie ist sonst gewiß – eine recht achtungswerthe Person. Es wird mir lieb sein, wenn ich sie in besseren Verhältnissen weiß.«
Die letzten Worte kamen immer noch hastig und gezwungen genug heraus, doch wurde der Ton seiner Rede ein plötzlich veränderter, als er schwer aus der Brust athmend, halblaut fortfuhr: »Also morgen wollen Sie auch fort, Doctor! Bleiben können Sie nicht, das ist richtig. Und wenn Sie könnten, Sie würden keine Lust haben. Sie haben Ihren Zweck hier erreicht, und gehen nun. Sie sind um meinetwillen nicht gekommen und werden um meinetwillen nicht bleiben. Um meinetwillen allein bleibt Niemand hier!«
Ich bekenne, daß ich bei dieser Wendung zum erstenmal etwas von wirklichem Mitleid mit dem Freiherrn fühlte. Seine selbst verschuldete Einsamkeit lastete auf ihm, und sein verfinstertes, jedem Argwohn zugängliches Gemüth machte den Druck noch schwerer. Ich konnte ihm, wenn immer etwas sophistisch, versichern, daß ich nur um seinetwillen nach Gothenwiek gekommen sei. Nahm er das auch ungläubig auf, so schien ihm mein Versprechen eines baldigen erneuten Besuchs doch wohl zu thun. Wir kamen auf andere Dinge, und er rückte sogar mit der Mittheilung heraus, daß er angefangen habe, seine mancherlei Reisen und Wanderfahrten aufzuschreiben. Er ließ sich nicht lange nöthigen, etwas daraus vorzulesen und that es mit jenem allen Dilettanten eignen Eifer, jener fieberhaften Aufregung und jener Ausdauer, die jedem Zeitmaß spottet. Ich hörte die abenteuerlichsten Kriegsgeschichten, tollkühne Streifereien und Gefahren in Amerika, Asien, zu Land und See, und war mehr erschöpft vom Hören, als der Leser vom Vortragen, als die Mitternachtsstunde vom Dorfkirchthum schlug. Er machte dann doch ein Ende und begann auf die Unordnung des Hauses zu schelten, daß das Abendessen so lange hinausgeschoben sei. Daß Niemand sein Zimmer ungerufen betreten durfte, wollte er vergessen. Auf dem Hausflur fanden wir den alten Kastellan auf einem Stuhle eingeschlafen, der, um für jeden Ruf schnell bei der Hand zu sein, diesen Platz gewählt, und der Vorlesung zum Opfer gefallen war. In später Stunde gingen wir noch zu Tische. Malvina hatte lange auf uns warten müssen. Ich hörte nachher, daß diese willkürliche Unordnung, in der die Laune des Herrn sich an keine Stunde band, die eigentliche Ordnung des Hauses war. Dabei sollten die Betheiligten gesund bleiben!
Malvina kam nicht mehr zum Wort, und ich nur wenig, denn des Freiherrn Schleusen waren aufgezogen, er setzte seinen Vortrag in ununterbrochenem Strome fort. Zwei Uhr Morgens war vorüber als wir uns trennten.
Da ich es wohl aufgeben mußte, Malvina vor meiner Abreise noch allein zu sprechen, benutzte ich den Rest der Nacht zu einem Briefe an sie. Ich setzte ihr die Nothwendigkeit eines Aufenthalts in der Stadt für ihre Gesundheit auseinander, theilte ihr die Einwilligung des Freiherrn mit, sprach die Hoffnung eines Wiedersehens bei Virginia Jessenius aus, und wenn Malvina zwischen den Zeilen zu lesen verstand, so mußte sie aus meiner liebevollen Sorge mehr als nur die Stimme des Arztes erkennen.
Nach kurzer Zeit sah ich einen nebelgrauen unbehaglichen Morgen durch die Fenster dämmern. Der Kastellan erhielt meinen Brief zur Besorgung. Der Freiherr kam in der letzten Viertelstunde auch noch zum Vorschein. Er war verstimmt, verwacht, finster wie der Morgen draußen. Malvina sah ich nur in der Gegenwart des Hausherrn am Frühstückstisch. Ich kürzte den Abschied, sagte den Gastfreunden rasch Lebewohl und sprang in den Wagen.
An einem herbstlichen Regentage hatte ich meinen Wohnort verlassen, an einem noch graueren, durch Nebel und feuchte Schauer trat ich die Rückreise an. Es war wie ein Traum, daß inzwischen auch die Sonne geschienen und ein goldner Glanz diese Gegend gestreift habe. Nur acht Tage waren vergangen, und wie viel hatte ich erlebt! Wie viel nahm ich im Herzen mit zurück! – –
Vorerst fand ich in meinem Wohnorte genug und übergenug zu thun, und das war gut, um mir die schweifenden Gedanken zu bannen, die, ungeschreckt durch die kühle Nebelreise, gar zu gern den Weg zu theuren, geliebten Menschen einschlugen. Aber wenn der Tag dann alle Jugendkraft in Anspruch genommen, dann fand mich die späte Nacht noch über brieflichen Mittheilungen, die meine hauptsächliche Erholung ausmachten. Auch waren weder Virginia Jessenius, noch Harald karg mit Entgegnungen, es verging keine Woche ohne geschriebene Botschaften hin und her, und das Gefühl, den Freunden werth, ja nothwendig geworden zu sein, hob mich vor mir selbst. Von Malvina zwar erhielt ich keine Zeile, wohl aber wurde mir schon nach acht Tagen die Freudenkunde, daß sie im Hause Virginia's angelangt sei, um, wie Harald hinzufügte, nie wieder »in die Höhle Fafnirs, des Drachen« zurückgesendet zu werden. Mehr und mehr fühlte ich, wie meine Wünsche und Hoffnungen nach einer bestimmten Entscheidung hindrängten. Endlich, in den letzten Tagen des November, konnte ich mich auf kurze Zeit frei machen, meldete meinen Besuch bei Virginia Jessenius, um bald darauf abzureisen.
Es war in dieser nördlichen Gegend Winter geworden. Noch hatte der eigentliche Frost nicht begonnen, aber Schnee stöberte in großen Flocken und lag als weiche Decke über den Feldern. Ich fragte nach keiner Jahreszeit, in mir war hoffnungsvolle Blüthezeit. So kam ich bei den Freunden an, wurde als zum Hause gehörig empfangen, und fühlte selbst, daß ich hier zu Hause war. Was ich mit Sehnsucht erwartet, nahte sich einer unverhofft schnellen Erfüllung. In Malvina's Augen erkannte ich, daß ich sprechen dürfe, und sie wurde schon am nächsten Tage meine verlobte Braut.
O, wir vier nun so nahe und für immer Verbundenen waren sehr glücklich! Malvina erschien mir von Tag zu Tage mehr und zu ihrem Vortheil verändert. Der Druck kummervoller Jahre war von ihr genommen, ein feines Roth verschönte ihre Wangen, eine sanfte Liebenswürdigkeit leuchtete aus ihrem ganzen Wesen. In den lauten Jubel, dem wir drei Andern uns oft hingaben, schien ihre stille, glückliche Heiterkeit hinein wie ein besänftigender Strahl, der die gehobenen Wogen der Freude in ein edles Maß brachte. Ihr Kommen und Gehen, ihre Fügsamkeit, ihre freundliche Dienstfertigkeit erschienen wie die Anmuth selbst. Und jetzt, wo sie eigentlich zum erstenmal für das Leben aufblühte, trat die Aehnlichkeit ihrer ganzen äußeren Bildung mit der des Bruders recht auffallend hervor.
Wir beschloßen unsern Brautstand nicht über den Winter hin auszudehnen. Das Frühjahr sollte uns als Verbundene sehen. Unabhängig, wie ich war, machte ich den Plan und Vorschlag, dann mit meinem jungen Weibe für einige Zeit ein milderes Klima aufzusuchen, um ihre zarte Gesundheit dort zu befestigen. Italien, Sicilien wurden in Aussicht genommen, wir scheuten selbst vor einer Seefahrt nach Aegypten nicht zurück. Während solcher Unterredungen ging eine merkwürdige Umwandlung in Harald vor. Die unbändige Lust, nur überhaupt bald die Welt zu sehen, ließ ihn den hohen Norden vorerst Preis geben, und machte, daß seine Wünsche sich unserer Fahrt nach Süden anschloßen. Und waren denn nicht auch kühne Söhne des Nordens einst nach Süden gedrungen, hatten nicht Stämme der Normannen Sicilien erobert? War nicht die Zauberinsel mit dem dampfenden Aetna wie eine Verklärung des nordischen Eilands, wo die Geiser kochten und schäumten? War nicht ein andres Volk des germanischen Nordens bis nach Afrika gesegelt, um jenseits der mittelländischen Fluthen ein Vandalenreich zu stiften? – Es war nicht zu verkennen, was in Harald vorging, und als ich ihm versprach, ihn mitzunehmen, stürzte er mit so wilden Aeußerungen der Freude über mich, daß ich hätte Gewalt gegen den jungen Berserker brauchen mögen.
Noch merkwürdigere Dinge aber gingen in unsrer gütigen Mutter und tapferen Philologin Virginia Jessenius vor. Italien, das Land der klassischen Latinität stieg, gehoben von alten, kaum zugestandenen Wünschen, vor ihrer Seele auf. Die Villa des Mäcenas zu Tivoli, Virgils Grab, Cicero's und Horazens Landhäuser, das Forum Romanum, Pompeji, die ganze römische Geschichte, ein unendliches Gefolge, ging verlockend an ihr vorüber. Und plötzlich erklärte sie, sie werde ihre Bibliothek zuschließen und mit uns auf Abenteuer ausgehen. Groß war mein und meiner Braut Heiterkeit, als Eins nach dem Andern sich zu uns schlug, um den Römerzug über die Alpen mit uns anzutreten. So vergingen uns die Tage, die halben Nächte im Genuß der Gegenwart, in köstlichen Aussichten in die Zukunft. Ja, wir waren glückliche Menschen!
Allein bald tauchte ein dunkler Punkt in unserm freudeverklärten Verkehr auf, über den wir uns nicht recht vereinigen konnten. Gegen die Ansicht Malvina's, daß sie ihre letzte Mädchenzeit bei dem Freiherrn in Gothenwiek zubringen müsse, standen wir drei anderen zwar in geschlossener Linie abwehrend da, und meine Braut war geneigt sich uns zu fügen. Dagegen bestand sie darauf, den Vater persönlich um seine Einwilligung zu ihrer Verheirathung zu bitten, und auch bei mir war es keine Frage, daß ich der Form genügen und den Freiherrn um die Hand der Tochter angehen müsse. Zerrissen, verschoben und unvermittelt, wie die Verhältnisse immer lagen, der äußere Anstand mußte gewahrt werden. Hier aber hatten wir einen schweren Stand mit Harald, der durchaus nicht überstimmt, durchaus nicht als Nebenperson umgangen sein wollte, sondern mit leidenschaftlicher Heftigkeit sich geradezu gegen unsern Plan zur Wehr setzte. So jung Harald war, seine ganze Persönlichkeit war der Art, daß sich ihr Eintreten, wo es mit ganzer Wucht geschah, nicht ohne Weiteres ablehnen ließ. Das gekränkte Andenken seiner Mutter verbunden mit dem, was er aus Peter Matthessen's Munde über die Vergangenheit des Freiherrn erfahren, hatten in ihm einen Widerwillen erzeugt, einen düstern Groll, welcher zu stark war, als daß man ihm mit Vernunftgründen hätte begegnen können. Was aber für ihn selbst galt, das mußte auch für die Zwillingsschwester gelten. So war Harald unzufrieden gewesen mit Malvina's Leben in Gothenwiek, es hatte ihn im Innersten empört, und so widersetzte sich sein Stolz jetzt mit Hartnäckigkeit einer Annäherung, mit der man dem Freiherrn Rechte zugestand, während derselbe sich stets geweigert Pflichten zu erfüllen.
Unsere mütterliche Freundin ließ ich in einem Gespräche unter vier Augen frei erkennen, daß ich um das Geheimniß des Hauses wisse, daß ich sie selbst als das eigentliche Oberhaupt der Familie betrachte und mir an ihrer Einwilligung genügen lassen könne. Stimmte sie mit mir aber zugleich überein, daß wir den Freiherrn dabei nicht umgehen könnten, so ließen wir uns doch immer wieder durch Harald bestimmen, die Fahrt nach Gothenwiek wenigstens noch hinauszuschieben.
Wenn wir spät Abends den Damen gute Nacht gesagt hatten, dann redete Harald auf meinem Zimmer noch Stunden lang auf mich ein, die Fahrt nach Gothenwiek aufzugeben, und wollte keine einzige meiner Einwendungen gelten lassen. Sein ganzes Wesen kam in Aufregung, und ich glaubte aus den Wendungen seiner Rede, dem Klange seiner Stimme etwas wie Furcht vor irgend einer drohenden Gefahr zu erkennen. Als ich ihn darauf hin fragte, entgegnete er:
»Ja, es sagt mir eine Ahnung, daß ein furchtbares Verhängniß uns auf dieser Fahrt erwartet! Lache mich nicht aus, ich bin nicht schreckhaft, und will jeder Gefahr frei ins Auge sehen, aber es handelt sich um die Schwester und um dich! Ihr seid mir theurer als die Welt, und euch lasse ich der Gefahr nicht entgegen, die die Stimme in meiner Brust mir als unabwendbar verkündet. Ich darf euch die Verantwortung eures Schrittes nicht überlassen, ich muß euch zwingen, zurückzubleiben. Es ist nicht jener Beklagenswerthe, Bedauernswürdige, zu dem ihr geht, er ist es nicht, den ich fürchte – und ich wollte ihm begegnen, wenn er sich erlaubte, euch anders zu empfangen, als ihm geziemt! Daß ihr euch zu ihm drängt, daß ihr die Trennung, die das Geschick über uns und ihn ausgesprochen hat, nicht gelten lassen wollt, das ist's, was mich vor Unmuth aus mir selber treibt, denn ich fühl's im tiefsten Innern, daß die Vergeltung dafür über uns kommt. Von dem Unseligen, der von früh auf das Gefühl der Entwürdigung in uns geworfen und den Haß bis zum Uebermaß dafür in mir wach gerufen hat, von ihm werden wir uns los zu machen wissen. Aber er selbst wird noch einmal in unser Leben greifen, hohnlachend, vernichtend! Wir konnten ihn meiden – thun wir es nicht, so wird er Verderben bringend über uns triumphiren! Freund, ich bitte dich, ich weiß nicht, was für ein Geist über mich kommt, wenn ich mir diesen Mann als den Zerstörer eures Glücks denke! Eine Wuth, ein Rachegefühl ist's, das mich schon jetzt zu – Mordgedanken fortreißt! Ich kann mich bezwingen, lange bezwingen, wo man mir aber antastet, was ich liebe, da – ich weiß es – giebt's für mich keine Rücksicht, kein Gesetz, keine Besinnung! Doch, was red' ich von mir und was liegt an mir! Ihr seid es, du und Malvina, um die mich eine finstere Ahnung erfaßt, die mir die Sinne im Wirbel treibt. Schreibt meinetwegen an den Mann, wenn ihr euch doch mit ihm abfinden müßt, aber geht nicht selbst zu ihm!«
So ging es fort, immer von Neuem, mit leidenschaftlichem Erguß, so daß seine Bangigkeit vor dieser Fahrt anfing, sich mir mitzutheilen. Ich versprach Aufschub, Ueberlegung, und schickte ihn zu Bett. War ich dann allein, so kehrte mir die ruhige Betrachtung wieder, und ich wies die wunderlichen Ahnungen und phantastischen Stürme im Gemüth meines jungen Freundes in das Gebiet der Thorheiten zurück.
Eines Morgens, als wir uns um den Frühstückstisch sammelten, erklärte Malvina, sie möge die Fahrt nach Gothenwiek nicht länger verschieben. »Nicht wahr,« wendete sie sich zu mir, »du bist gütig und begleitest mich heut noch hinaus? Ich komme nicht zum letzten reinen Genuß meines Glückes, ehe dieser Schritt gethan ist. Haben wir die schwere Stunde hinter uns, dann wird kein Schatten eines Zwistens zwischen uns sein. Ich bin entschlossen, heut Nachmittag den Besuch zu machen.«
Mir war Malvina's entschiedenes Auftreten willkommen. Zugleich aber bemerkte ich, wie Haralds Augenbrauen zuckten und seine Faust sich heimlich ballte. Allein statt eines Widerspruchs, den ich erwartete, sagte er ruhig und fest: »Ich werde euch begleiten.«
Anders hatte ich es nicht erwartet, und ablehnen konnte ich ihn auch nicht, wenn ich nicht neuen nutzlosen Streit hervorrufen wollte, aber lieb war mir seine Begleitung dießmal freilich nicht. Er hatte einmal etwas in meine Seele geworfen, was sich jetzt gegen ihn selbst wendete. Wenn uns irgend eine Verwirrung auf dieser Fahrt bevorstand, so war es eben seine Leidenschaftlichkeit bei einer möglichen Begegnung mit dem Freiherrn, die mir Sorge machte. Doch ich suchte sie zu unterdrücken und gab mich der glücklichen Stimmung hin, mit der die Nähe des lieben Mädchens mich erfüllte.
Gleich nach Tische bestiegen wir den Wagen, gefolgt von den Segenswünschen der mütterlichen Freundin, bei der wir Abends wieder einzutreffen hofften. Der Weg nach Gothenwiek war bei dem weichen Schneewetter grundlos und hielt uns länger auf, als wir erwartet hatten. Oft lief der Wagen Gefahr in den Löchern der Landstraße umzustürzen. Wir hatten unsern Scherz darüber – suchte ich doch Alles hervor, was unsere gute Laune auf der Höhe halten konnte – und Malvina schmiegte sich an meine Seite, und legte den Kopf an meine Schulter, als fühlte sie sich so gesichert gegen alle Fährlichkeiten. Als wir um die vierte Nachmittagsstunde in Gothenwiek anlangten, war die Dämmerung schon herabgesunken.
Mir war es, als erblickte ich eine Gestalt vom Strande zu den Dünen heraufschreiten. Sie blieb stehen, so schien mir, und trat darauf in der Nähe von Peter Matthessens Hause in den Wald. Ich achtete nur wenig darauf. Ein Dorfbewohner mochte auch um diese Zeit noch am Strande zu thun haben.
Das Herdfeuer der Fischerfamilie blickte uns aus den kleinen Fenstern entgegen. Sollten wir am Hause unserer Freunde vorüber fahren? Malvina hatte zwar gewünscht, erst wenn wir vom Herrenhause zurückkämen, hier vorzusprechen, allein, daß es sich von selbst verstand, zuerst bei Peter Matthessen abzusteigen, gab uns der Kutscher zu erkennen, der ohne Weiteres vorfuhr und hielt. Und schon wurde der Wagenschlag von Hans und seinen Brüdern aufgerissen, und wir mit treuherzigem Willkommen empfangen. Wir traten ein und meine Freude, den alten Fischer wieder zu sehen, erhöht vom Gefühl meines Glücks, war so groß, daß ich ihm um den Hals fiel, während Malvina die Mutter Matthessen umarmte. Wir stellten uns als Brautleute vor, und die ganze Familie nahm den freudigsten Antheil. Wir durften den Platz am Herd nicht ablehnen, und während die Uebrigen um uns herum standen, begann Peter Matthessen mit einer gewissen Feierlichkeit:
»Na, nu also, da das denn nu so gekommen ist, wie wir Alle es gewünscht haben, so muß ich Ihnen sagen, Fräulein Malvina, daß Sie einen guten Mann kriegen, und Sie, Herr Doctor, kriegen eine rechtschaffene Frau. Denn das ist keine Kleinigkeit, was das Fräulein hier in dem Herrenhause ausgehalten hat und sich eines Mannes angenommen, der für alle Güt' und Sorge sie nur verschmäht und mißhandelt hat. Dafür hat sie sich einen Gotteslohn verdient, und einen braven Mann zu kriegen, das ist schon wie ein Handschlag, daß sie von nun an ein glückliches Leben führen wird. Und es ist schön, daß sie auch dabei noch an den Mann im Herrenhause denkt, der's nicht um sie verdient hat, und kommt Abschied zu nehmen von seiner Schwelle.«
»Von seiner Schwelle?« fuhr Harald plötzlich auf, der bis dahin finster und mit verschränkten Armen in das Herdfeuer gestarrt hatte. »Was darf jener Mann hier noch sein nennen? Schmachvoll ist es, ihm den Wahn zu lassen, als gehöre ihm das Dach, die Schwelle, die Scholle nur, auf die er tritt, ihm, der für all seine Bosheit noch von der Güte unserer zweiten Mutter erhalten wird! Wäre er ein achtungswerther Mann, man ließe ihm gern den Irrthum, hier auf seinem Eigen zu leben, allein er hat es nicht um uns verdient, daß von Schonung oder Rücksicht ferner noch die Rede sei. Er durfte uns nicht von seiner Schwelle verjagen, denn sie gehört ihm nicht! Malvina betritt seine Schwelle nicht, wenn sie in jenes Haus geht. Aber es ist ein Schritt zu dem bittersten Feinde ihres Lebens, der sich auf fremdem Besitz eingenistet hat, der selbst keine Annäherung will, ja dessen Versöhnung selbst, wenn er sie erheuchelte, zum Fluch werden müßte!«
In diesem Augenblick machte sich draußen vor dem Fenster ein Knistern und Rascheln vernehmlich, eine Scheibe wurde eingedrückt, und der Hund schlug mit gellendem Gekläff an. Er schien Jemand zu verfolgen, denn das Bellen verscholl bald in der Ferne. Die jungen Fischer gingen hinaus, zu sehen, was es gebe. Wir Andern aber schwiegen, Haralds Worte hatten uns peinlich berührt. Malvina's Augen waren feucht. Peter Matthessen hatte den Faden seiner Rede verloren, drehte an seiner Pfeife und brachte nur die abgerissenen Sätze hervor: »Wahr ist's. Aber wer die rechte Liebe hat, der macht viel gut. Wer hassen muß, dem kann man's auch nicht verdenken. Aber Mancher vermag viel.«
Ich mahnte zum Aufbruch. Wir verabschiedeten uns. Harald blieb bei den Fischersleuten. Malvina und ich fuhren nach dem Herrenhause.
Der alte Kastellan freute sich unserer Ankunft und öffnete den sogenannten Speisesaal. Der Freiherr sei ausgegangen, sagte er, werde aber bald zurückkehren, da seine Spazierwege immer nur nach dem Strande gingen, und die Stunde, wo er nach Hause zu kommen pflege, eigentlich schon vorüber sei. Mir kam dabei jene Gestalt, die ich auf der Düne gesehen, zuerst wieder ins Gedächtniß, und indem ich sie mit dem zerbrochenen Fenster im Fischerhause in Verbindung brachte, durchflog mich eine unbehagliche Vermuthung.
So stand ich mit meiner Braut in dem kalten, unfreundlichen Raume, den man im Hause den Speisesaal nannte. Malvina's Blicke streiften die kahlen Wände, den unwohnlichen Hausrath, und, ihre Arme um meinen Hals schlingend, sagte sie: »Ihr hattet Recht! Ich könnte nicht wieder hier leben, ohne zu verzweifeln und zu Grunde zu gehen! O wie danke ich euch! Wie dank' ich dir, du Geliebter!«
Da hörten wir über uns starke Tritte. Der Freiherr mußte in seinem Zimmer sein. Gleich darauf trat der Kastellan ein, um es zu bestätigen. Wir seien gemeldet, der Freiherr werde gleich kommen. Noch einmal umarmte mich Malvina, sie fühlte, daß die nächsten Minuten nur Demüthigung und Schmerz bringen würden.
Der Freiherr trat ein. Sein Antlitz war noch verstörter als sonst, fast verzerrt, die Augen trotz ihrer lauernden Verstecktheit mit stechenden Blicken auf uns gerichtet.
»Herr Freiherr,« begann ich, »Sie sehen in uns ein paar glückliche Verlobte, die sich Ihnen zu präsentiren wünschen. Meine Braut hat Jahre lang Ihrem Hause angehört –«
»Meinem Hause?« unterbrach er mich. »Ich habe kein Haus, ich bin hier nur zu Gast. Sie war die Herrin.«
Ich erschrak über den heiseren, vor innerer Aufregung fast tonlosen Klang seiner Stimme, und zugleich entnahm ich seinen Worten die unglückliche Gewißheit, daß er am Fenster des Fischerhauses gelauscht habe. Es schien mir am besten, seine Wendung unberücksichtigt zu lassen.
»Es war dieses Haus, worin ich meine Braut zuerst sah,« fuhr ich fort, »und Ihre Gesellschaft, Herr Freiherr, in der ich Malvina kennen lernte. Es versteht sich von selbst, daß wir uns auch Ihren Glückwunsch holen wollen.«
»Daß hier nichts zu holen ist, wissen Sie!« rief er, »Ich aber weiß, daß Alles wieder ein abgekarteter Plan war. Nicht als Arzt sind Sie in dies Haus gekommen, sondern zum Stelldichein mit der Dirne da!«
Das ging mir zu weit. »Herr!« fuhr ich auf, »über mich mögen Sie denken wie Sie wollen, aber meine Braut werden Sie mit einem achtungsvolleren Namen nennen! Wehe Ihnen, wenn Sie ihre Ehre antasten!«
»Ehre? In diesem Hause Ehre? Hahaha!« lachte er. »Hier handelt sich's nur um Verrath, Ehrlosigkeit, Haß und Rache! Wollen Sie sie heirathen, was geht es mich an?«
Ich weiß nicht zu welcher gereizten Entgegnung ich mich hätte fortreißen lassen, wenn ich nicht Malvina's bebenden Arm gefühlt hätte, der sich in den meinigen legte und mich hinweg zu führen strebte. Und es galt, die Fassung zu erhalten, denn die Thür öffnete sich und – Harald trat ein.
»Recht so, da ist Der auch!« rief der Freiherr »und nun seid Ihr drei versammelt, um mich von dieser Schwelle zu jagen, aus diesen Mauern, die ich nur als ein geduldeter Bettler, als ein Feind in Ketten bewohne! O, man hat diese Nachricht mir mit raffinirter Bosheit aufgespart – aber sie findet mich gerüstet.«
»Ich komme nur um ein Unrecht einzugestehen,« sagte Harald mit Ruhe und so reiner Offenheit, daß ich erleichtert aufathmete. »Als jenes Fenster im Fischerhause klirrte,« fuhr er fort, »kam mir die Ueberzeugung, daß Sie uns draußen belauscht hatten. Ich habe ein unedles Wort gesprochen – Verzeihung kann ich nicht verlangen – genug, daß ich mich selbst anklage!«
»Ah! spielen wir Komödie?« höhnte der Freiherr. »Gut, ich weiß den Fortgang! Einen, der dir ähnlich sah, wußte meine Kugel zu treffen. Du kannst Rache haben, wenn deine Hand sicher ist. Hier wähle!« Mit diesen Worten zog er zwei Pistolen hervor und bot sie Harald entgegen.
Ein leiser Schrei entwand sich Malvina's Brust. Ich wollte zuspringen – schon aber hatte Harald dem Freiherrn beide Pistolen entrissen, und schleuderte sie durch das geschlossene Fenster, daß die Scheibensplitter klirrend umherflogen.
»Auch das nicht einmal?« schrie der Freiherr; »und dieses Antlitz soll ich ewig sehen?« Mit dem Wuthschrei eines wilden Thieres stürzte er, die geballte Faust schwingend, auf Harald los.
Ich sprang dazwischen. Der Faustschlag traf meine Schulter. Harald, dies erblickend, that einen Schritt gegen den Freiherrn, aber wie wild auch Zorn und Wuth ihn durchzuckten, er bezwang sich noch. Als Malvina Haralds aufsteigende Erregung sah, flog auch sie herbei, stellte sich vor den Freiherrn und streckte flehend und abwehrend dem Bruder die Arme entgegen. Der Freiherr aber packte das bebende Mädchen und warf es bei Seite. Malvina taumelte bis in die Mitte des Zimmers, wo sie zu Boden fiel. Während ich sie aufhob, die halb Ohnmächtige auf einen Stuhl niederließ, und um sie beschäftigt war, vernahm ich nur zur Hälfte den Sturm, der von des Freiherrn Munde tobte. Was ich aber hörte, waren entsetzliche Worte, Rufe des Zorns und Beschuldigungen. Lange hatte Harald standhaft an sich gehalten, obgleich die furchtbare Bewegung wie ein Krampf in ihm emporschwoll. Er mochte fühlen, daß sein Feind ihn herausfordern, ihn zwingen wollte zu Tätlichkeiten, die unter seiner Würde waren, und dies Gefühl legte einen Bann über die Aufregung seines ganzen Wesens, ließ selbst bei den abscheulichsten Beleidigungen des Gegners jedes unedle Wort auf seinen Lippen ersterben. Allein es kam der Moment, wo auch die gewaltsam erkämpfte Zurückhaltung zu Ende ging.
Denn mit einem Fluche stürzte sich der Freiherr noch einmal auf ihn, faßte ihn bei der Brust und schrie: »Du sollst, du mußt den Kampf mit mir bestehen! Wenn nicht mit Waffen, so wirst du ringen mit mir auf Leben und Tod, denn nur Vernichtung giebt es für uns Beide!«
Mit rascher Bewegung machte sich Harald von der Hand frei, die sich gegen seine Brust krallte, und schleuderte den Gegner von sich. »Hinweg von mir!« rief er. »Was hab' ich mit dir zu schaffen. Daß ich dich gehaßt, mit der heißesten Glut meiner Seele gehaßt habe, bekenn' ich, aber ich bereue es jetzt, denn ich hätte dich nur bemitleiden sollen. Zum Verbrechen an dir wirst du mich nicht zwingen, denn mir schaudert davor, mich vor mir selber und Allem, was menschlich in mir ist, zu erniedrigen. Wir haben nichts an einander zu rächen; das Bild der Frau, welche du gekränkt hast, drängt mich hinweg von dir!«
Harald schritt der Thüre entgegen. Plötzlich aber wendete er sich, und als er Malvina, bleich und von meinen Armen gestützt, einer Todten gleich, sitzen sah, eilte er auf uns zu, sank vor der Schwester nieder und barg sein glühendes Antlitz in ihren Händen.
Da vernahm ich eine hastige Bewegung im Zimmer. Ein Anrennen gegen den Tisch warf das Licht um. Es erlosch, und wir waren im Finstern.
Ich rief nach Licht, da ich meine Braut nicht verlassen konnte. Der Kastellan kam, zitternd und bebend, wagte kaum eine Frage über das, was vorgefallen, und zündete das Licht an. Wir sahen uns um – der Freiherr war nicht mehr im Zimmer. Ich befahl, der Kutscher solle sich zur Heimfahrt bereit machen. Allein wir sollten noch nicht fort kommen. Malvina erholte sich zwar, verfiel aber in ein krampfartiges Weinen, das ihren zarten Körper schüttelte, und als dies vorüber war, erschreckte mich ein fieberhafter Frost an ihr. Ich ließ einen erwärmenden Thee bereiten, und so verging eine halbe Stunde, ohne daß wir die Unglücksschwelle verlassen konnten. Auf Harald lastete das Entsetzliche der Situation, die wir durchlebt hatten, nicht minder schwer. Wortlos half er mir um Malvina, durchmaß in Hast und mit lautathmender Brust das Zimmer, und warf sich dann in einen Sessel am Tisch, den Kopf auf die Hand stützend. Endlich waren wir bereit zur Abfahrt. Ich hatte meine Braut schon am Arme, um sie zum Wagen zu führen.
Da stürzte Hans Matthessen herein, gefolgt von dem Kastellan und dessen Frau, mit der Nachricht, der Freiherr sei allein in die See hinaus gefahren. Er habe ein Boot am Strande gelöst, es mit aller Kraftanstrengung in die Brandung gezogen, und habe sich in dieser stürmischen Nacht den Wellen preisgegeben. Ein Dorfbewohner, der es, seinen Augen kaum trauend, beobachtet, sei nur eben mit der Nachricht gekommen.
Aufrecht und fest stand Harald plötzlich da. Er athmete auf, als hätte er aus einer tief beängstigenden innern Verwirrung mit einemmal einen Ausweg gefunden. »Fort! ihm nach!« rief er, und eilte auf die Thür zu.
Aber Malvina, der jetzt die Kraft wieder kehrte, flog auf ihn zu und hielt ihn mit beiden Armen fest. »Harald!« flehte sie, »Bleib bei uns! Nicht aufs Meer! In dieser Nacht nicht! Harald – um Gotteswillen, jetzt nicht in die stürmische See hinaus!«
»Laßt mich!« rief Harald. »Es ist ein Menschenleben in Gefahr! Gleichviel welches. Und ich hab' etwas zu sühnen!« Mit diesen Worten riß er sich los, und verschwand unsern Blicken.
Malvina war in Verzweiflung. Bald trieb sie mich, ihm zu folgen, ihn zu retten, bald klammerte sie sich an mich und beschwor mich, zu bleiben. Endlich half mein Zureden, und sie fügte sich darein, daß ich dem Bruder nacheilte, um am Strande einer möglichen Tollkühnheit vorzubeugen. Ich ließ sie in der Obhut der beiden alten Leute, und machte mich auf den Weg.
Von der Düne herab erkannte ich am Strande bereits lebhafte Bewegung. Brennende Kienspähne, die man als Fackeln angezündet, wirrten durcheinander, und zeigten die männlichen Bewohner des Dorfes theils versammelt, theils auf dem Wege nach den Booten. Aber sie waren, wie ich, zu spät gekommen. Schon hatte auch Harald sich eines Bootes bemächtigt, und ruderte in die See hinaus. Noch sah ich ihn, noch rief ich ihm nach – dann verschwand er meinen Augen. Da ergriff mich eine Angst um ihn, zugleich aber der Entschluß, nicht müßig zuzusehen. »Wer hat Muth, ihnen nachzusetzen?« rief ich – »Wer kommt mit mir?«
Die drei Brüder Matthessen waren schon bei einem Boote, ich sprang zu ihnen hinein. Die ganze Fischerjugend rüstete sich, auch ältere Männer wollten nicht zurück bleiben. Eine Flotte von Booten folgte dem unsrigen. Immer ferner schwand der Fackelschein am Strande, die Schneeflocken rieselten auf uns nieder, und der Wellenschaum peitschte in eiskalten Güssen unsere Stirn. Durch das Geräusch der Wellen vernahmen wir den dumpfen Ton der Ruder von den benachbarten Booten, deren keins wir mehr in der Dunkelheit erkannten. Mit der Zeit aber gewöhnte sich das Auge an den scheinbar lichtleeren Raum und lernte unterscheiden. Nicht weit von uns schwankte etwas Dunkles auf den Wellen. Bald erkannten wir ein Boot, aber es war keins von unserer kleinen Flotte, denn man antwortete unserem Rufen nicht. Wir arbeiteten näher. Es entfloh uns nicht, es schien von den Wellen nur getrieben zu werden. Endlich hatten wir es erreicht, erfaßten es – aber ach! es war leer.
Ich schauderte. War es des Freiherrn, war es Haralds Boot? O welch ein Schrecken, wenn wir zu dir, arme Malvina, heimkehren mußten, ohne die sichere Kunde! Oder gar – ich wagte den Gedanken nicht auszudenken! Doch wir wollten nicht ermüden im Suchen und Forschen.
Die Stunden vergingen, schärfer wehte der Nachtwind, wir kreuzten hin und her, wir hatten die übrigen Boote längst aus den Augen verloren, unser Rufen war vergeblich. Unsere Kraft begann sich zu erschöpfen. Wir schwiegen und fuhren fruchtlos umherspähend über die Wellen.
Lange Zeit verging. Da vernahmen wir den Zuruf aus einem Boote ganz in der Nähe. Man hatte uns erkannt. »Wie steht's? Was bringt Ihr?« riefen wir hinüber.
»Wir haben ihn!« klang die Antwort.
»Wen habt Ihr?«
»Den Freiherrn! Er ist todt.«
Wir waren mit den Freunden Bord an Bord gekommen. Sie hatten die Leiche des Freiherrn bei sich. Ich wagte kaum weiter zu fragen.
»Die Anderen haben wir wieder verloren, sagte einer der Fischer. Sie sind dem Harald nach.«
»Haben sie ihn gefunden? Gesehn?«
»Ja, wir kamen dazu, wir und die Andern, wie des Haralds Boot mit dem des Freiherrn zusammen stieß. Der Freiherr sprang ins Wasser, wie er's sah. Der Harald gleich ihm nach, um ihn zu retten. Wir waren bald da, aber in der Finsterniß sahen wir nicht den Einen und nicht den Andern. Eine halbe Stunde währte es, da kriegen wir was zu fassen. Der Harald ist's nicht. Möglich, daß die Andern ihn bringen. Man kann in dem Wetter nicht sicher beisammen halten.«
Die Möglichkeit, den Freund lebend zu sehen, war noch da, und doch kämpfte ich mit einer namenlosen Bangniß. Alle meine Gesellen erklärten, daß es nutzlos sei, weiter umher zu kreuzen. Entweder die übrigen Boote brachten den Gesuchten ans Land, oder – – die braven Burschen sprachen nichts weiter.
So wendeten wir uns wieder dem Strande zu, dessen Fackeln wie hüpfende Punkte uns leuchteten. Je näher wir kamen, desto mehr Boote sammelten sich. Man rief einander zu, man fragte, wir glaubten frohlockend die Nachricht zu hören, Harald sey lebend unter den Genossen. Endlich landeten wir. Furchtbare Enttäuschung! Man brachte zwei leere Boote mit zurück. Die Leiche des Freiherrn hatte man gefunden – wo war Harald?
Da standen wir, heimgekehrt von der nächtlichen Fahrt wieder am Strande, und blickten noch einmal über die grauenvolle schwarze Fläche des Meeres, hoffnungslos, von unbeschreiblichem Schmerz erfaßt!
Ich gebe es auf, die folgende Nacht zu schildern. Genug, ich trat den Weg zum Herrenhause an, hinter mir her die Träger mit der Leiche des Freiherrn. Wir fuhren nicht nach der Stadt zurück. Ich hatte am Lager meiner Braut zu wachen. Ein Bote mußte an Virginia Jessenius gesendet werden – es war ihr nicht zu ersparen. Die mütterliche Freundin erschien am Morgen darauf. Sie zeigte sich trotz ihres Schmerzes äußerlich gefaßt, und nahm als Herrin zum erstenmal auf diesem Besitzthum die Zügel des Hauses in die Hand. Wir mußten uns auf einen längeren Aufenthalt bereiten, denn Malvina lag im Fieber.
Gegen Mittag ließ mich Peter Matthessen hinaus rufen. Er brachte die Nachricht, daß bei einem zwei Meilen entfernten Dünendorfe die Wellen heute früh den Leichnam eines jungen Mannes ans Land gespült hätten. Ich ließ unverzüglich anspannen, um dahin zu fahren. Der alte Fischer setzte sich zu mir in den Wagen. Nicht zwei Monate war es her, seit er seinen jüngsten Sohn leblos in seine Hütte getragen, und wir wußten wen wir heute heimbringen würden.
Es war, wie wir vermuthet. In einem Fischerhause fanden wir die entseelte Hülle unseres Harald. Ich versäumte keinen Belebungsversuch, obgleich ich ihn als vergeblich voraussah. Der Tod spottete meiner Kunst. Es war auch mir ein furchtbarer Schlag, diesen Jüngling in der Blüthe seiner Lebenskraft dahingerafft zu sehen. Ueber Peter Matthessens Wange rann eine Thräne und die fremden Fischer standen traurig um das neue Opfer des todbringenden Elementes herum. Abends kehrten wir mit Haralds Leiche nach Gothenwiek zurück. Sie wurde im Saale neben der des Freiherrn niedergesetzt. Ich konnte die Mahnung, die Harald noch gestern so dringend ausgesprochen, die Mahnung, nicht nach Gothenwiek zu fahren, nicht aus den Gedanken bekommen. Er war dem Verhängniß, das sein Gemüth dunkel ahnend voraussah, anheim gefallen – ach, und es stand noch ein anderes Leben auf dem Spiele!
Wir zitterten auch um Malvina. Sie war sehr krank. Niemand hatte ihr gesagt, was vorgefallen, in den lichten Momenten ihres Fiebers aber sprach sie aus, was geschehen, als könnte es nicht anders sein.
Einige Tage darauf bewegte sich ein Leichenzug nach dem Begräbnißplatze. Des Freiherrn und Haralds Sarge wurden von den Fischern getragen. Dem alten Pfarrer hatte ich den Wagen geschickt, um ihm den Weg zu ersparen. Groß war die Trauer des ganzen Dorfes, denn Alt und Jung hatten Harald sehr geliebt. Die Familie Matthessen beklagte ihn als einen der Ihrigen. Und so stand ich wieder, wie am Tage, da ich diesen Strand zuerst betreten, auf dem Dünenkirchhofe, um heute selbst zwei Hingeschiedene zu bestatten, und dachte der Erlebnisse, die sich in eine so kurze Spanne Zeit zusammengedrängt hatten. Was sich im Leben so bitter gehaßt, hier lag es in Frieden unter dem Sande beisammen, und auch was eng verbunden gewesen, Harald und sein Freund Jonas, hier fand es sich früher, als die schönen Lebenshoffnungen der Jugend es erwartet. Als der Pfarrer den letzten Segen gesprochen, ward es still. Ein melancholisches Rauschen kam herab aus der Krone der alten Kiefer. Sie hatte solcher Dinge viel gesehen und summte immer wieder ihr tiefes altes Klagelied.
Was in den nächsten vier Wochen um mich her vorging, weiß ich nicht. Ich lebte Tag und Nacht, unterstützt von Virginia, am Krankenlager meiner Braut. Die Krankheit, deren erste Spuren ich bei Malvina schon früher erkannt hatte, kam mit entsetzlicher Schnelle zum Ausbruch. Wir konnten nicht daran denken, das bequemere Haus der Freundin aufzusuchen, und mußten uns unter den Schauern eines frühen Winters draußen einrichten. Doch waren bei der Nähe der Stadt Hilfsquellen bald zu erreichen, und das bis dahin öde Haus zu Gothenwiek hatte seit Menschenaltern nicht so viel geschäftiges Treiben erlebt, als in diesen Tagen des Schreckens und der Trübsal.
Wenn ich jemals mein Können und Wissen, meine Kraft und Ausdauer zusammenfaßte, so war es hier für das geliebte Leben Malvina's. Und doch, ich sah meine Anstrengungen scheitern, ich rief andere Aerzte aus der Stadt zu Hülfe, ich sah sie die Achseln zucken, und endlich kniete ich wie zerbrochen an Leib und Seele am Todesbette meiner Braut.
Ich vermag keine Schilderung der nächstfolgenden Tage zu geben. Wir begruben auch diese theuren Reste unter der alten Kiefer, an der Seite Haralds. Noch lange nachdem der erste Schmerz sich leidenschaftlich Bahn gebrochen, lag es auf mir wie ein dumpfer Bann, der mich und meine Gedanken festhielt an der Stätte, wo ich Alles begraben, was ich geliebt hatte. Ein finsterer entsetzlicher Groll mit dem Geschick, daß so viel Schönes und Herrliches zu Grunde gehen mußte, erfüllte mich, und flößte mir Widerwillen gegen das Leben selbst ein. Nur allmälig wollte diese krankhafte Stimmung sich überwinden lassen. Wohlmeinende Freunde riethen mir eine längere Reise anzutreten, allein ich fand Trost und Ruhe, wo ich sie von da ab immer fand, in strenger Arbeit und Erfüllung jeder ernsten Lebenspflicht.
Fünfzig Jahre sind seit diesen Ereignissen vergangen. Ich habe Trübes und Frohes erlebt, ich habe auch gelernt wieder glücklich zu fühlen, und doch stehen die Gestalten jener Zeit als geliebte Schatten immer an meinem Lebenswege und werden mich bis zum letzten Augenblicke begleiten. Ich füge nur noch wenig hinzu.
Virginia Jessenius blieb mir eine mütterliche Freundin, und der kleine Dünenfriedhof zu Gothenwiek war der Ort, wo unsere Gedanken sich vereinigten. Ein schöner Denkstein, umgeben von Birken und Weiden, bezeichnet die Stätte, wo der Sand unsere Lieben deckt. Virginia nahm jeden Sommer auf einige Zeit Wohnung in Gothenwiek, und zwar richtete sie sich in einem der Fischerhäuschen ein. Als sie starb, machte sie aus ihrem nicht unbeträchtlichen Vermögen Stipendien für arme Studirende der Philologie.
Ihr noch viele Sommer wiederholter Aufenthalt in Gothenwiek veranlaßte manche Familien zur Nachfolge, und so wurde aus dem einsamen Dünendorfe mit der Zeit ein kleiner Badeort. Da das alte, längst baufällige Herrenhaus eines Tages zum Theil zusammensank, wurde es auf den Abbruch verkauft, und an seiner Stelle steht ein hübsches Wohnhaus, das der wackere Hans Matthessen für seine Sommergäste erbaut hat. An schönen blauen Tagen sieht man hier weit über die See, oder sucht Erquickung und neues Leben in den schimmernden Wellen. So hat die Cultur angefangen auch diese Einsamkeit zu erobern. Manche Besucher wissen auch von den kummervollen Ereignissen, die hier einst gespielt haben, und gehen hierauf zum Friedhofe, um auf dem Denksteine die Namen Harald und Malvina zu lesen. Und die alte Kiefer steht noch heute, hebt ihre Krone hoch über alle Bäume des Waldes, und schaut hinaus über Dünen und Meer, und läßt immer noch ihr melancholisches Rauschen ertönen. Es klingt wie ein Klagelied, und doch wächst ihre Krone von Jahr zu Jahr, und neues Leben sproßt unendlich um sie her.