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Zweites Buch
Der feurige Busch

Stille im Herzen. Die Winde haben sich gelegt. Die Luft ist reglos ...

Christof war ruhig: in ihm war Frieden. Er empfand etwas wie Stolz, so weit gelangt zu sein. Und doch war er im Innersten darüber betrübt. Er wunderte sich über die Stille. Seine Leidenschaften waren eingeschlafen; er war aufrichtig überzeugt, daß sie nicht wieder erwachen würden.

Seine große, etwas brutale Kraft dämmerte gegenstandslos, tatenlos dahin. In seinem Innern verbarg sich eine uneingestandene Leere, ein ständiges »Wozu«; vielleicht auch das Bewußtsein von einem Glück, das er zu ergreifen versäumt hatte. Es gab nicht mehr genug zu kämpfen, weder mit sich, noch mit anderen. Er brauchte sich nicht mehr so sehr anzustrengen, selbst beim Arbeiten nicht; er stand am Ziel seiner Wegstrecke; er genoß die Früchte seiner früheren Mühen; allzu leicht schöpfte er aus dem musikalischen Bronnen, den er erschlossen hatte. Und während das natürlich rückständige Publikum seine früheren Werke entdeckte und bewunderte, begann er, sich von ihnen zu lösen, ohne daß er noch wußte, ob er vorwärtsschreite. Er empfand beim Schaffen ein Glück voller Gleichmaß. Die Kunst war zu diesem Zeitpunkt seines Lebens nur noch ein schönes Instrument für ihn, das er virtuos handhabte. Er fühlte mit Beschämung, daß er dilettantisch werde.

Ibsen sagt: »Um sich in der Kunst zu behaupten, ist noch anderes nötig als ein natürliches Talent: Leidenschaften, Schmerzen, die das Leben erfüllen und ihm einen Sinn geben. Sonst schafft man nicht, sondern schreibt Bücher.«

Christof schrieb Bücher. Er war es nicht gewöhnt. Seine Bücher waren schön. Er hätte sie sich weniger schön, dafür aber lebendiger gewünscht. Dieser ruhende Athlet, der nicht wußte, was er mit seinen Muskeln anfangen sollte, sah gähnend wie ein Raubtier, das sich langweilt, Jahre um Jahre ruhiger Arbeit vor sich. Und da er sich aus seinem alten germanischen Optimismus heraus gern einredete, daß alles so am besten sei, wie es ist, meinte er, das sei unzweifelhaft das Ziel, dem niemand ausweichen könne. Er gab sich der Hoffnung hin, allen Qualen entronnen und Herr seiner selbst geworden zu sein. Das wollte zwar nicht viel heißen ... Aber, du lieber Gott! – Schließlich beherrscht man das, was man hat; man ist, was man sein kann ... Er glaubte, im Hafen zu sein.

 

Die beiden Freunde wohnten nicht zusammen. Als Jacqueline fortgegangen war, hatte Christof gemeint, Olivier würde wieder mit ihm zusammenziehen. Aber Olivier konnte das nicht. Obgleich er das Bedürfnis hatte, sich Christof anzuschließen, fühlte er, wie unmöglich es ihm sei, die frühere Lebensweise wieder aufzunehmen. Nach den mit Jacqueline verbrachten Jahren wäre es ihm unerträglich, ja ruchlos erschienen, die Vertraulichkeiten des täglichen Lebens mit einem anderen zu teilen – mochte dieser andere ihn auch tausendmal mehr lieben, und hätte er selbst ihn mehr geliebt als Jacqueline. So etwas läßt sich freilich nicht erklären.

Christof begriff das nur schwer. Er kam immer wieder darauf zurück, wunderte sich, war gekränkt, war empört. – Dann aber sprach sein Instinkt, der seinem Verstand überlegen war. Plötzlich redete er nicht mehr darüber und gab zu, daß Olivier recht habe.

Aber sie sahen sich täglich. Und niemals waren sie inniger miteinander verbunden gewesen, auch damals nicht, als sie noch unter demselben Dach lebten. Vielleicht tauschten sie in ihren Unterhaltungen nicht die geheimsten Gedanken aus.

Sie brauchten das nicht. Der Austausch ergab sich, auch ohne Worte, ganz von selbst, dank der Liebe, die sie zueinander im Herzen trugen.

Sie redeten wenig, der eine war in seine Kunst vertieft, der andere in seine Erinnerungen. Oliviers Leid besänftigte sich. Aber er rat nichts dazu, er fühlte sich fast wohl darin. Lange Zeit hindurch war es ihm sein einziger Lebensinhalt. Er liebte sein Kind; aber sein Kind – ein schreiendes Geschöpfchen – konnte keinen großen Platz in seinem Leben einnehmen. Manche Männer sind mehr Liebhaber als Väter. Man braucht darüber nicht ungehalten zu sein. Die Natur ist nicht gleichartig, und es wäre widersinnig, allen Menschen dieselben Herzensgesetze aufzwingen zu wollen. Niemand hat das Recht, seine Pflichten dem Herzen zum Opfer zu bringen. Wenigstens muß man dem Herzen, das bei aller Pflichterfüllung nicht glücklich ist, dieses Recht zugestehen. Olivier liebte in seinem Kind vielleicht am meisten die, von deren Fleisch und Blut es stammte.

Bisher hatte er wenig auf die Leiden anderer Rücksicht genommen. Er war ein Intellektueller, der allzusehr in sich verschlossen lebte. Das geschah nicht aus Egoismus, sondern aus krankhafter Gewohnheit, zu träumen. Jacqueline hatte die Leere um ihn her noch erweitert; ihre Liebe hatte zwischen Olivier und den anderen Menschen einen Bannkreis gezogen, der noch bestehen blieb, als die Liebe längst nicht mehr war. Und dann war er dem Temperament nach ein kleiner Aristokrat. Von Kindheit an hatte er, trotz seines liebebedürftigen Herzens, sich aus einem Feingefühl des Körpers und der Seele von der Menge fern gehalten. Die Atmosphäre und die Gedanken dieser Leute widerten ihn an. Das alles aber ward anders infolge einer alltäglichen Tatsache, deren Zeuge er soeben geworden war.

 

Er hatte eine sehr bescheidene Wohnung in dem oberen Montrouge gemietet, nicht weit von Christof und Cécile. Das Stadtviertel war volkstümlich, das Haus von kleinen Rentnern, Angestellten und ein paar haushälterisch lebenden Arbeitern bewohnt. Zu jeder anderen Zeit hätte er unter der Umgebung, in der er sich als Fremder fühlte, gelitten; gegenwärtig aber lag ihm wenig daran; hier oder dort, er fühlte sich überall fremd. Er wußte kaum, wen er zu Nachbarn hatte und wollte es auch gar nicht wissen. Wenn er von der Arbeit zurückkehrte (er hatte eine Stelle in einem Verlagshaus angenommen), schloß er sich mit seinen Erinnerungen ein und ging nur aus, um sein Kind und Christof zu besuchen. Seine Wohnung war ihm kein Heim: es war die Dunkelkammer, in der sich die Bilder der Vergangenheit entwickelten; je schwärzer und kahler sie war, um so deutlicher tauchten die inneren Bilder auf. Kaum, daß er die Gestalten bemerkte, denen er auf der Treppe begegnete. Doch ihm selbst unbewußt, prägten sich ihm einige Gesichter ein. Es beruht auf der geistigen Anlage mancher Menschen, daß sie die Dinge erst ganz deutlich sehen, wenn sie schon vorüber sind. Dann aber entschwindet ihnen nichts mehr, die kleinsten Einzelheiten haften wie eingemeißelt. So war Olivier. In ihm lebten die Lebendigen schattenhaft. Durch irgend eine heftige Erregung traten sie an die Oberfläche seines Bewußtseins, und er war erstaunt, wenn er sie wiedererkannte, ohne sie recht gekannt zu haben. Doch wenn er, um sie zu halten, manchmal die Hände nach ihnen ausstreckte, dann war es zu spät ...

Eines Tages, als er ausging, sah er vor der Haustüre einen Haufen Menschen, die um die schwadronierende Hausverwalterin herumstanden. Er war so wenig neugierig, daß er weiter gegangen wäre, ohne nach dem Grunde zu fragen, aber die Hausverwalterin, die ihre Zuhörerschaft gern vermehrt gesehen hätte, hielt ihn an und fragte ihn, ob er nicht wisse, was den armen Roussels zugestoßen sei. Olivier wußte nicht einmal, wer »die armen Roussels« waren, und er hörte mit höflicher Gleichgültigkeit zu. Als er erfuhr, daß eine Arbeiterfamilie, Vater, Mutter und fünf Kinder, sich soeben in seinem Hause vor lauter Elend das Leben genommen hatte, blieb er wie die anderen stehen, starrte die Hausmauer an und hörte der Schwätzerin zu, die nicht müde wurde, ihre Geschichte immer wieder zu erzählen. Je mehr sie sprach, desto mehr Erinnerungen tauchten in ihm auf, und er wußte, daß er jene Leute gesehen hatte. Er stellte einige Fragen ... Ja, er erinnerte sich ihrer wieder. Der Mann (er hörte seinen pfeifenden Atem auf der Treppe), war ein Bäckergeselle; seine Haut war fahl, sein Blut durch die Ofenhitze aufgesogen, das Gesicht eingefallen und schlecht rasiert. Er hatte zu Anfang des Winters eine Lungenentzündung gehabt, und die war noch nicht genügend ausgeheilt, als er seine Arbeit wieder aufgenommen hatte. Dann hatte er einen Rückfall gehabt. Drei Wochen war er kraftlos und ohne Arbeit gewesen. Seine Frau, die aus einer Schwangerschaft in die andere geriet und von Rheumatismus ganz steif war, arbeitete sich bei einigen Aufwartestellen ab und versäumte viel Zeit mit Laufereien, um ein paar kärgliche städtische Unterstützungen zu erlangen, die ihr nur höchst spärlich zuflossen. Zwischendurch wurden die Kinder geboren, immer wieder eins: sie waren elf, sieben, drei Jahre alt – zwei andere, die in den Jahren dazwischen gestorben waren, nicht gerechnet – und am Ende kamen gar Zwillinge, die gerade diesen Augenblick gewählt hatten, um ins Leben zu treten. Sie waren im vergangenen Monat geboren.

Am Tage der Geburt, so erzählte eine Nachbarin, hätte die älteste der fünf, die kleine elfjährige Justine – das arme Wurm! – schluchzend gefragt, wie sie es nur anstellen solle, alle beide auf einmal zu tragen.

Olivier sah sofort das Bild des kleinen Mädchens wieder vor sich: – die mächtige Stirn, das glanzlose, glatt zurückgestrichene Haar, die grauen, unruhigen, vorstehenden Augen. Wenn man sie traf, trug sie immer etwas: Vorräte oder das kleinste Schwesterchen, oder sie hielt wohl auch den siebenjährigen Bruder an der Hand, einen Jungen mit feinem, kränklichem Gesichtchen, der ein Auge verloren hatte. Wenn sie auf der Treppe einander streiften, sagte Olivier mit seiner zerstreuten Höflichkeit: »Verzeihung, Fräulein.« Sie sagte nichts, sie ging steif vorbei und wich kaum aus. Aber diese scheinbare Höflichkeit bereitete ihr ein heimliches Vergnügen. Am vergangenen Tage hatte er sie abends gegen sechs Uhr beim Heruntergehen zum letzten Male getroffen. Sie trug einen Eimer Holzkohlen hinauf. Ihm war das nicht aufgefallen, höchstens, daß die Last recht schwer zu sein schien. Aber dergleichen ist den Kindern des Volkes selbstverständlich. Olivier hatte, wie gewöhnlich, ohne hinzusehen, gegrüßt. Einige Stufen tiefer hob er mechanisch den Kopf und sah, wie das kleine, zusammengeschrumpfte Gesichtchen sich über den Treppenabsatz beugte und ihm nachschaute. Sie hatte sich sofort abgewandt und war weiter die Treppe hinaufgestiegen. Wußte sie, wohin dieser Weg sie führte? – Olivier zweifelte nicht daran, und er war ganz beherrscht von dem Gedanken an dieses Kind, das in seinem allzu schweren Eimer den Tod trug wie eine Befreiung, – denn für diese unglücklichen Kleinen heißt ja: nicht mehr sein, soviel wie: nicht mehr leiden! Er vermochte nicht, seinen Weg fortzusetzen. Er ging in sein Zimmer zurück. Dort aber fühlte er jene Toten neben sich ... Nur wenige Wände trennten ihn von ihnen ... Und er mußte daran denken, daß er Seite an Seite mit solchen Ängsten gelebt hatte!

Er ging zu Christof. Sein Herz war beklommen; er gestand sich, daß es widernatürlich sei, sich in so eitle Liebesschmerzen zu verlieren, wie er es getan hatte, wenn so viele Wesen tausendmal grausamere Leiden durchmachen und man sie retten könnte. Seine Ergriffenheit war tief und übertrug sich schnell. Christof, der allen Eindrücken leicht zugänglich war, wurde auch erschüttert. Als er Oliviers Erzählung hörte, zerriß er die Seite, die er gerade geschrieben hatte und schalt sich einen Egoisten, der sich mit kindlichen Spielen abgebe. Gleich darauf aber suchte er die zerrissenen Stücke wieder zusammen. Seine Musik galt ihm zu viel und sein Instinkt sagte ihm, daß ein Kunstwerk weniger nicht einen Glücklichen mehr bedeute. Solche Tragödien des Elends waren ihm nichts Neues: von Kindheit an war er gewohnt, am Rande solcher Abgründe zu schreiten und nicht hinabzustürzen. Er dachte sogar streng über den Selbstmord, besonders in diesem Augenblick seines Lebens, in dem er sich in der Fülle seiner Kraft fühlte und nicht fassen wollte, daß man um irgend eines Leides willen dem Kampf entsagen könne. Was ist natürlicher als Leid und Kampf? Sie sind das Rückgrat des Universums.

Auch Olivier hatte ähnliche Prüfungen erduldet; niemals aber hatte er vermocht, sich oder andere dadurch innerlich zu bereichern. Solches Elend, in dem das Leben seiner teuren Antoinette sich aufgerieben hatte, flößte ihm Entsetzen ein. Nachdem er sich durch seine Heirat mit Jacqueline von Reichtum und Liebe hatte verweichlichen lassen, hatte er schleunigst die Erinnerung an die trüben Jahre von sich geschoben, in denen seine Schwester und er sich abarbeiten mußten, um täglich ihr Lebensrecht an den folgenden Tag neu zu erringen, ohne daß sie wußten, ob es ihnen gelingen würde. Jetzt, nachdem er sich nicht mehr hinter seinen jugendlichen Egoismus verschanzen konnte, tauchten jene Bilder wieder auf. Anstatt den Anblick des Leides zu fliehen, machte er sich auf die Suche danach. Er brauchte nicht allzu weit zu gehen, um es zu finden. In seiner Geistesverfassung mußte es ihm überall begegnen. Es erfüllte die Welt. Welch eine Welt, welch ein Krankenhaus! ... O Todesschmerzen! Schmerzen des verwundeten, zuckenden Fleisches, das noch lebend verwest. Schweigende Qualen der Herzen, die der Kummer verzehrt. Ungeliebte Kinder, arme hoffnungslose Mädchen, verführte oder verratene Frauen –, in ihren Freundschaften, ihrer Liebe und ihrer Überzeugung enttäuschte Männer – die ganze jammervolle Schar Unglücklicher, die das Leben zertritt und dann vergißt ... Am schrecklichsten waren nicht Elend und Krankheit; am schrecklichsten war die Grausamkeit der Menschen gegeneinander. Kaum hatte Olivier die Falltür gehoben, die die menschliche Hölle verschloß, so stieg ihm das Geschrei all der Unterdrückten entgegen, der armen Ausgebeuteten, der verfolgten Völker: des niedergemetzelten Armeniens, des zerstückelten Polens, des gemarterten Rußlands, des europäischer Beutegier ausgelieferten Afrikas, all der Elenden des Menschengeschlechts. Er glaubte, ersticken zu müssen; er hörte es fortwährend, es war ihm unmöglich, es nicht zu hören; er konnte sich nicht vorstellen, daß es Leute gäbe, die an anderes dachten. Unaufhörlich sprach er darüber zu Christof, der dadurch gestört wurde und sagte:

»Schweig doch, laß mich arbeiten!«

Und da dieser sein Gleichgewicht nur schwer wiederfinden konnte, wurde er böse und fluchte:

»Zum Teufel! Mein Tag ist verloren. Das hast du ja gut gemacht!«

Olivier entschuldigte sich.

»Mein Junge,« sagte Christof, »man muß nicht immer in den Abgrund schauen, sonst kann man nicht mehr leben.«

»Man muß denen die Hand reichen, die im Abgrund sind.«

»Allerdings, aber wie? – Sollen wir uns auch hineinstürzen? Denn das willst du! Du hast einen Hang, im Leben nur das Traurige zu sehen. Gott segne dich! Sicherlich kommt dieser Pessimismus aus gütigem Herzen, aber er ist niederdrückend. Willst du Glück verbreiten, so sei vor allen Dingen selber glücklich.«

»Glücklich! Wie kann man es übers Herz bringen, glücklich zu sein, wenn man so viel Leid sieht? Glück kann nur im Lindern des Leides bestehen und im Bekämpfen des Bösen.«

»Ausgezeichnet! Aber ich kann den Unglücklichen nicht dadurch helfen, daß ich mich aufs Geratewohl herumschlage. Ein schlechter Kämpfer mehr will nicht viel bedeuten. Durch meine Kunst aber kann ich trösten, kann Kraft und Freude verbreiten. Weißt du, wieviel Elende durch die Schönheit eines Gedankens, durch ein beflügeltes Lied in ihrem Leid schon aufgerichtet worden sind? Schuster, bleib bei deinem Leisten! Ihr in Frankreich seid alle gutherzige Faselhänse; ihr seid immer die ersten, um gegen alle Ungerechtigkeiten zu manifestieren, ob sie nun in Spanien oder in Rußland herrschen, – ohne daß ihr recht wißt, um was es sich eigentlich handelt. Ich liebe euch deswegen. Aber meint ihr, daß ihr dadurch die Dinge vorwärts bringt? Ihr geratet nur in Händel, aber das Ergebnis ist gleich Null, – wenn es nicht zufälligerweise noch schlimmer abläuft ... Und dann: Eure Kunst war niemals krankhafter als in solcher Zeit, in der eure Künstler sich anmaßen, im allgemeinen Weltgetriebe mitzutun. Sonderbar, wieviel dilettantische und gewitzte Meisterchen sich als Apostel gebärden! Sie täten besser daran, ihrem Volk einen weniger gepantschten Wein einzuschenken. – Meine erste Pflicht ist, das, was ich mache, gut zu machen, und euch eine gesunde Musik zu fabrizieren, die euch das Blut reinigt und euch mit Sonne erfüllt.«

 

Will man Sonne bei anderen verbreiten, so muß man sie in sich selber tragen. Daran fehlte es Olivier. Er war, wie die Besten von heute, nicht stark genug, Kraft aus sich ganz allein auszustrahlen. Er hätte dies nur mit anderen zusammen vermocht. Doch mit wem sollte er sich zusammentun? Da er freigeistig und dabei frommen Herzens war, wurde er von allen politischen und religiösen Parteien zurückgestoßen. Sie wetteiferten alle untereinander an Unduldsamkeit und Engherzigkeit. Sobald sie zur Macht gelangt waren, mißbrauchten sie sie. Olivier fühlte sich nur zu den Schwachen und Unterdrückten hingezogen. Mit Christof war er darin wenigstens einer Meinung, daß es nötig sei, bevor man die fernliegenden Ungerechtigkeiten bekämpfte, zunächst an die Beseitigung der naheliegenden zu gehen, die einen umgeben, und für die man mehr oder weniger verantwortlich ist. Allzu viele Leute begnügen sich damit, gegen das von Andern begangene Böse Verwahrung einzulegen, aber sie denken nicht an das, was sie selbst verursachen.

Olivier beschäftigte sich zunächst mit der Armenfürsorge. Seine Freundin, Frau Arnaud, nahm an einem Wohltätigkeitswerk teil. Olivier verschaffte sich gleichfalls Zutritt. In der ersten Zeit aber erlebte er mehr als eine Enttäuschung. Entweder waren die Armen, um die er sich zu kümmern hatte, nicht alle der Teilnahme wert, oder aber sie erwiderten seine Teilnahme schlecht, mißtrauten ihm und blieben verschlossen. Überhaupt fällt es einem Intellektuellen schwer, in der ganz schlichten Barmherzigkeit Genüge zu finden: sie beträuft nur einen so unendlich kleinen Bezirk im Lande des Elends! Ihr Tun ist fast immer zusammenhanglos, fragmentarisch; es ist, als ließe sie sich vom Zufall treiben und verbände die Wunden gerade nur da, wo sie sie entdeckt; sie ist im allgemeinen zu bescheiden und hat zu wenig Zeit, bis zu den Wurzeln des Übels vorzudringen. Aber gerade diese aufzusuchen, konnte Oliviers Geist sich nicht enthalten.

Er machte sich daran, der Frage des sozialen Elends auf den Grund zu gehen. An Führern fehlte es ihm nicht. Die soziale Frage war in jener Zeit eine Gesellschaftsfrage geworden. Man sprach darüber in den Salons, im Theater, in den Romanen. Jeder behauptete, etwas davon zu verstehen. Ein Teil der Jugend verausgabte darin seine beste Kraft.

 

Jede neue Generation braucht einen schönen Wahn. Auch die selbstsüchtigsten jungen Leute besitzen einen Überfluß an Lebenskraft, ein Kapital an Energie, das ihnen vorgestreckt worden ist, und das nicht nutzlos liegen will; sie versuchen es in einer Tätigkeit oder (wenn sie vorsichtiger sind) in einer Theorie zu verausgaben: in der Luftschiffahrt oder der Revolution, im Muskelsport oder im Ideensport. Wenn man jung ist, hat man das Bedürfnis, sich einzubilden, man arbeite an einer großen Menschheitsbewegung mit, man schaffe die Welt neu. Wie schön, Fühlung mit allen Winden des Weltalls zu haben. Man ist so frei und so leicht! Man hat sich noch nicht mit Familienbanden belastet, man hat nichts, man wagt nicht viel. Man hat gut großherzig sein, wenn man auf das, woran einem noch nichts liegt, verzichten kann. Und dann ist es so gut, zu lieben und zu hassen, zu glauben, man könne die Erde mit Träumen und Geschrei umformen. Junge Leute sind wie Hunde, die auf der Lauer liegen: sie zittern und bellen in den Wind. Eine Ungerechtigkeit, die am andern Ende der Welt begangen wurde, macht sie rasend.

Gebell in der Nacht! Aus der Tiefe der Wälder antworten sie einander unaufhörlich von einem Hof zum andern. Die Nacht ist unruhig. Es ist nicht leicht, in solcher Zeit zu schlafen. Der Wind peitscht den Widerhall so vieler Ungerechtigkeiten durch die Luft. Zahllos sind die Ungerechtigkeiten: will man einer abhelfen, so läuft man Gefahr, andere zu verursachen. Was ist Ungerechtigkeit? – Für den einen ist es der schmachvolle Frieden, das zerstückelte Vaterland, für den andern der Krieg; für diesen die zertrümmerte Vergangenheit, der verbannte Fürst; für jenen die beraubte Kirche; für den Dritten ist es die abgesperrte Zukunft, die gefährdete Freiheit. Für das Volk ist es die Ungleichheit und für die Elite ist es die Gleichheit. Soviel verschiedene Ungerechtigkeiten gibt es, daß jede Zeit sich die ihre wählt, – die, die sie bekämpft und die, die sie begünstigt.

Gegenwärtig waren die hauptsächlichen Anstrengungen der Welt gegen die sozialen Ungerechtigkeiten gewandt – und unbewußt auf dem besten Wege dazu, neue zu begehen. Gewiß, diese Ungerechtigkeiten waren groß und in die Augen springend, seit die Arbeiterklasse an Zahl und Macht gewachsen und eines der nötigsten Räder in der Staatsmaschine geworden war. Trotz allen Wortgepränges ihrer Tribunen und ihrer Fürsprecher war jedoch die Lage dieser Klasse nicht schlimmer, sondern besser als je in der Vergangenheit. Und der Wandel hatte sich nicht dadurch vollzogen, daß sie mehr litt, sondern daß sie stärker geworden war, stärker gerade durch die Kraft des feindlichen Kapitals, durch die unabwendbare ökonomische und industrielle Entwickelung, die die Arbeiter zu Armeen zusammengeschlossen hatte, die nun zum Kampfe bereit waren. Das Maschinenzeitalter hatte ihnen die Waffen in die Hand gegeben, hatte aus jedem Werkführer einen Meister gemacht, der dem Licht, dem Blitz, der Bewegung, der Weltenergie befahl. Dieser ungeheuren Masse elementarer Kräfte, die einige Führer erst kürzlich zu organisieren versucht hatten, entstieg eine sengende Glut, entströmten elektrische Wellen, die allmählich den Körper der menschlichen Gesellschaft durchliefen.

Das intelligente Bürgertum wurde aufgewühlt durch die Sache dieses Volkes; doch nicht durch die Gerechtigkeit oder durch die Neuheit oder durch die Größe ihrer Ideen (wenn es sich das auch gern einredete), sondern durch die Lebenskraft dieser Sache. Ihre Gerechtigkeit? Tausend andere gerechte Ansprüche wurden in der Welt verletzt, ohne daß die Welt sich darüber aufregte. Ihre Ideen? Bruchstücke der Wahrheit, die hier und da aufgesammelt und auf Kosten der anderen Klassen den Vorteilen und dem Zuschnitt einer einzigen Klasse angepaßt waren. Sinnlose Credo, wie es jegliches Credo ist: Gottesgnadentum der Könige, Unfehlbarkeit der Päpste, allgemeines Stimmrecht, Gleichheit der Menschen, – alles gleicherweise sinnlos, wenn man nur den Vernunftwert in Betracht zieht und nicht die Kraft, die dieses Credo belebt. Was liegt daran, daß es minderwertig ist? Ideen erobern die Welt nicht als Ideen, sondern als Kräfte. Sie ergreifen die Menschen nicht durch ihren verstandesmäßigen Gehalt, sondern durch die lebendige Ausstrahlung, die in gewissen Augenblicken in der Geschichte von ihnen ausgeht. Sie sind wie aufsteigender Rauch: selbst abgestumpfte Geruchsnerven werden davon berührt. Die erhabenste Idee bleibt ohne Wirkung bis zu dem Tage, wo sie ansteckend wird: dies aber nicht durch ihren eigenen Wert, sondern durch den der menschlichen Gruppen, die ihr erst Blut und Gestalt geben. Dann kommt unversehens die vertrocknete Pflanze, die Rose von Jericho zum Aufblühen, wächst und erfüllt die Lüfte mit ihrem durchdringenden Duft. – So war es auch mit den Gedanken, die den Hirnen bürgerlicher Träumer entsprossen waren und unter deren flammender Fahne die Arbeiterklasse gegen die bürgerliche Festung anstürmte. Solange sie in den Büchern der Bürger blieben, waren sie wie tot, waren Museumsstücke, verhüllte Mumien in Glasschränken, die niemand anschaute. Sobald aber das Volk sich ihrer bemächtigte, waren sie volkstümlich geworden. Das Volk hatte sie mit fieberhafter Wirklichkeit erfüllt, sie zwar entstellt, aber doch belebt. Denn es blies seinen abstrakten Vernunftgründen seine phantastischen Hoffnungen ein, gleich einem glühenden Wüstenwind. Sie übertrugen sich von einem auf den andern. Man wurde davon angesteckt, ohne zu wissen, durch wen, noch wie sie übertragen worden waren. Auf die Personen kam es dabei nicht an. Die geistige Epidemie breitete sich immer weiter aus, und es konnte geschehen, daß beschränkte Menschen sie auf hervorragende übertrugen. Jeder war unbewußt ihr Träger.

Zu allen Zeiten und in allen Ländern findet man solche Erscheinungen geistiger Ansteckung, selbst in aristokratischen Staaten, in denen sich Kasten zu erhalten suchen, die untereinander abgeschlossen leben. Nirgends aber sind sie niederschmetternder als in Demokratien, die keine heilsamen Schranken zwischen der Elite und dem großen Haufen bewahren. Jene ist ebenfalls sofort verseucht, was sie auch tun möge. Trotz ihres Stolzes und ihrer Klugheit kann sie der Ansteckung nicht entgehen, denn sie ist weit schwächer, als sie meint. Die Klugheit ist ein Eiland, das von den menschlichen Meereswogen benagt, zerbröckelt und überflutet wird. Es taucht erst wieder empor, wenn die Flut zurücktritt. – Man bewundert den Opfermut der französischen Privilegierten, die in der Nacht des vierten August Verzicht auf ihre Rechte leisteten. Das Bewundernswerteste dabei ist sicher, daß sie nicht anders zu handeln vermochten. Ich stelle mir vor, daß eine ganze Anzahl von ihnen, als sie in ihr Haus zurückgekehrt waren, sich sagten: »Was habe ich getan? Ich war berauscht!« O wundervoller Rausch! Gelobt sei der Wein und die Rebe, die ihn verursacht. Die Privilegierten des alten Frankreich hatten die Reben nicht gepflanzt, deren Blut sie berauschte. Der Wein war gekeltert; man brauchte ihn nur zu trinken. Wer ihn trank, wurde davon betäubt. Selbst die, die nicht tranken, erfaßte der Taumel, nur weil sie im Vorübergehen den Duft aus dem Fasse eingesogen hatten. Weinlese der Revolution ... Von dem »Neunundachtziger« ist heute nichts mehr übrig als einige abgestandene Flaschen in den Familienkellern; aber die Kinder unserer Kindeskinder werden noch wissen, daß ihren Urgroßvätern der Kopf davon wirbelte.

Der Wein, der den jungen Bürgern aus Oliviers Generation zu Kopfe stieg, war herber, doch nicht weniger stark. Sie opferten ihre Gesellschaftsklasse dem neuen Gott – dem deo ignoto: dem Volke.

 

Gewiß, sie waren nicht alle gleichermaßen aufrichtig. Viele sahen darin nur eine Gelegenheit, sich aus ihrer Gesellschaftsschicht hervorzutun, indem sie taten, als verachteten sie sie. Für die meisten war es ein geistiger Zeitvertreib, ein oratorisches Mitgerissenwerden, das sie nicht ganz ernst nahmen. Es macht Vergnügen, zu glauben, daß man an eine Sache glaubt, daß man sich für sie schlägt, oder sich doch für sie schlagen wird, zum mindesten, daß man sich für sie schlagen könnte. Es ist sogar nicht übel, sich einzubilden, daß man dabei etwas aufs Spiel setzt. Theater der Gefühle! Diese Erregung ist recht unschuldig, wenn man sich ihr harmlos hingibt, ohne irgendwelche Berechnung in sie zu mengen. Andere aber, Gewitztere, lassen sich nur mit gutem Vorbedacht in das Spiel ein: die Volksbewegung ist ihnen ein Mittel, um emporzukommen. Sie machen es wie die normannischen Piraten, die die Flut wahrnahmen, um ihre Barke weit von der Küste ab ins Land zu treiben; sie rechneten darauf, bis tief in die großen Flußmündungen vorzudringen und sich in den eroberten Städten festzusetzen, während das Meer zurücktrat. Dann ist der Durchgang schmal und die Flut launisch, drum muß man geschickt sein. Aber zwei oder drei Generationen Demagogie hatten eine Rasse von Freibeutern großgezogen, für die das Handwerk keine Geheimnisse mehr hatte. Sie fuhren kühn durch und hatten nicht einmal einen Blick übrig für die, die unterwegs kenterten.

Solch Gesindel findet man in allen Parteien; Gottlob ist keine Partei dafür verantwortlich. Aber der Widerwille, den solche Abenteurer den Aufrichtigen und Überzeugungstreuen einflößen, hat manche dazu gebracht, an ihrer Gesellschaftsklasse zu verzweifeln. Olivier kannte reiche und gebildete junge Leute, die den Niedergang des Bürgertums und ihre eigene Nutzlosigkeit recht deutlich empfanden. Er hatte die größte Neigung, mit ihnen Freundschaft zu schließen. Nachdem sie zuerst an eine Erneuerung des Volkes durch Auserlesene geglaubt hatten, nachdem sie Volkshochschulen gegründet und für diese verschwenderisch viel Zeit und Geld verausgabt hatten, mußten sie die Niederlage ihres Strebens einsehen; ihre Hoffnungen waren zu hochgeschraubt gewesen, ihre Enttäuschung war dementsprechend. Das Volk war ihrem Rufe nicht gefolgt oder hatte sich ihnen wieder entzogen. Kam es, so verstand es alles falsch und nahm von der Kultur des Bürgertums nur die Laster und Lächerlichkeiten an. Schließlich hatte sich mehr als ein räudiges Schaf in die Reihen der bürgerlichen Apostel eingeschlichen und sie in schlechten Ruf gebracht, indem es gleichzeitig Volk und Bürger ausbeutete. Da glaubten die Leute in bester Überzeugung, das Bürgertum sei mit einem Fluch beladen, es könne das Volk nur vergiften, und das Volk müsse sich um jeden Preis befreien und seinen Weg allein finden. Es blieb ihnen also keine andere Möglichkeit der Betätigung, als eine Bewegung vorauszusagen oder vorauszusehen, die ohne und gegen sie zustande kam. Die einen fanden eine gewisse Freude daran, Verzicht zu leisten, menschlich tief und selbstlos Anteil zu nehmen, eine Freude, die an sich selbst und am Opfer Genüge findet. Liebe, die sich hingibt! Die Jugend ist so reich an eigenen Hilfsquellen, daß sie keinerlei Entschädigung braucht; sie fürchtet nicht, sich zu verausgaben, sie kann alles entbehren, außer: zu lieben. – Andere befriedigten in dieser Bewegung ihren Verstand, die unabweisbare Logik: sie opferten sich nicht für Menschen auf, sondern für Ideen. Das waren die Unerschrockensten. Sie empfanden eine stolze Freude, wenn sie durch Vernunftschlüsse den notwendigen Untergang ihrer Klasse bewiesen. Es wäre ihnen peinlicher gewesen, wenn man ihre Voraussagen für unerfüllbar hingestellt hätte, als wenn sie unter der Last zermalmt worden wären. In ihrem geistigen Rausch schrieen sie den Außenstehenden zu:

»Nur fester! Schlagt noch fester zu, daß nichts von uns übrig bleibt!«

Sie hatten sich zu Theoretikern der Gewalt gemacht.

Der Gewalt der anderen. Denn, wie es meistens der Fall ist, waren diese Apostel der brutalen Gewalt fast immer feine und schwächliche Leute. So manche von ihnen waren Beamte, fleißige, gewissenhafte und willige Beamte eben des Staates, von dessen Zerstörung sie redeten. Mit ihrer theoretischen Gewalttätigkeit nahmen sie Rache an ihrer eigenen Schwäche, ihrer Verbitterung und der Enge ihres Lebens. Vor allem aber bildeten sie Anzeichen der Gewitter, die rings um sie grollten. Theoretiker gleichen den Meteorologen: sie zeigen in wissenschaftlichen Ausdrücken nicht das Wetter an, das kommen wird, sondern das Wetter, das ist. Sie sind die Wetterfahne, die zeigt, woher der Wind weht. Wenn sie sich drehen, glauben sie beinahe, sie hätten den Wind gedreht.

Der Wind hatte sich gedreht.

Ideen werden in einer Demokratie schnell abgenutzt; um so schneller, je rascher sie sich verbreitet haben. Wieviele Republikaner in Frankreich sind in weniger als fünfzig Jahren der Republik, des allgemeinen Stimmrechtes und so vieler anderer Freiheiten, die einst im Rausch erobert wurden, überdrüssig geworden! Nach dem Fetischkultus der Menge, nach dem scheinheiligen Optimismus, der an die heilige Majorität glaubte und von ihr den menschlichen Fortschritt erwartete, wehte der Geist der Gewalttätigkeit. Die Unfähigkeit der Majorität, sich selbst zu regieren, ihre Bestechlichkeit, ihre Schlappheit, ihre niedrige und furchtsame Abneigung gegen jede Überlegenheit, ihre drückende Feigheit entfachte die Empörung; die kraftvollen Minoritäten – sämtliche Minoritäten – beriefen sich auf die Gewalt. Es kam zu einer sonderbaren, indessen verhängnisvollen Annäherung zwischen den Royalisten der » Action Française« und den Syndikalisten der C. G. T. Balzac sagt irgendwo von Menschen seiner Zeit: »Sie sind Aristokraten aus Neigung, die aber widerwillig Republikaner werden, nur, um unter Ihresgleichen recht viele ihnen Unterlegene zu finden.« – Ein bescheidenes Vergnügen. Man muß die unter einem Stehenden dazu zwingen, sich als solche zu bekennen. Und dazu gibt es kein besseres Mittel als eine Autorität, die die Vorherrschaft der Elite – gleichviel ob sie aus Arbeitern oder Bürgern besteht – der sie niederdrückenden Masse aufzwingt. Junge Intellektuelle, hochmütige kleine Bürger wurden Royalisten aus gekränkter Eitelkeit oder aus Haß gegen die demokratische Gleichheit. Und die selbstlosen Theoretiker, die Philosophen der Gewalttätigkeit hoben sich als gute Wetterfahnen über sie empor, – Oriflammen des Sturmes.

Dann war da noch der Haufe der nach einer Eingebung fahndenden Literaten – derer, die zu schreiben verstehen, aber nicht recht wissen, was sie schreiben sollen; die – gleich den Griechen von Aulis – wegen der Windstille ruhig liegen müssen und ungeduldig auf eine gute Bö lauern, (woher sie auch immer komme), die ihre Segel schwelle. Berühmte Leute waren darunter; solche, die durch die Dreyfus-Affäre unversehens ihrer eigentlichen Betätigung entrissen und in Volksversammlungen geschleudert worden waren. Ein Beispiel, das nur allzu oft befolgt wurde, dem Wunsch des Führers entsprechend. Jetzt mischte sich eine Unmenge von Literaten in die Politik und maßte sich an, die Staatsangelegenheiten zu meistern. Alles diente ihnen zum Vorwande, um Verbände zu gründen, Manifeste zu erlassen, das Kapitol zu retten. Nach den Intellektuellen der Vorhut kamen die Intellektuellen der Nachhut an die Reihe: die einen waren nicht mehr wert als die anderen. Jede der beiden Parteien hielt die andere für intellektuell und sich selbst für intelligent. Die das Glück hatten, ein paar Tropfen vom Blut des Volkes in den Adern zu haben, prahlten damit; sie tauchten ihre Federn in dies Blut, sie schrieben damit. – Alle gehörten noch zum Bürgertum; sie waren Mißvergnügte und suchten die Führerschaft wieder zu gewinnen, die das Bürgertum durch seine Selbstsucht unwiderruflich verloren hatte. In den seltensten Fällen freilich hielt der apostolische Eifer dieser Apostel lange Zeit vor. Zu Anfang brachte ihnen die Sache Erfolge, die sie höchstwahrscheinlich nicht ihrer Rednergabe verdankten. Ihre Eitelkeit fühlte sich dadurch geschmeichelt. Später trieben sie das einmal Begonnene mit weniger Erfolg weiter, dabei immer in heimlicher Furcht, sich ein wenig lächerlich zu machen. Mit der Zeit überwog dieses Gefühl, um so mehr, als sie ihrer Rolle überdrüssig wurden, die ihnen bei ihrem vornehmen Geschmack und ihrer Zweifelsucht zu spielen schwer fiel. Sie hätten gern den Rückzug angetreten und warteten nun, daß ihnen ein günstiger Wind (und ebenso ihre Gefolgschaft) das gestatte. Denn sie waren die Gefangenen beider. Diese neuzeitlichen Voltaires und Joseph de Maistres verbargen unter dem Draufgängertum ihrer Reden und Schriften eine furchtsame Unsicherheit, die das Gelände abtastete, die Angst hatte, sich vor den jungen Leuten bloßzustellen, sich um ihren Beifall bemühte und jünger als sie zu sein versuchte. Als literarische Revolutionäre oder Gegenrevolutionäre begnügten sie sich, Schritt zu halten mit der literarischen Mode, die sie selbst mitbegründet hatten.

 

Der sonderbarste Typus, dem Olivier in dieser kleinen bürgerlichen Vorhut der Revolution begegnete, war der Revolutionär aus Schüchternheit. Das Musterexemplar, das er zur Hand hatte, hieß Pierre Canet. Er stammte aus dem reichen Bürgertum, aus einer konservativen, allen neuen Ideen sich hermetisch verschließenden Familie: Beamte, die sich dadurch ausgezeichnet hatten, daß sie sich mit der Regierung schlecht stellten oder sich den Abschied geben ließen; Großbürger aus dem Marais-Stadtviertel, die mit der Kirche kokettierten und wenig, aber vernünftig dachten. Pierre Canet hatte sich aus Langerweile mit einer Frau aus adliger Familie verheiratet, die nicht weniger vernünftig und auch nicht mehr dachte als die seine. Diese frömmelnde, enge und rückständige Welt, die unaufhörlich ihren Groll und ihre Erbitterung wiederkäute, hatte ihn schließlich zur Verzweiflung gebracht, um so mehr, als seine Frau häßlich war und ihn tödlich langweilte. Er war von mittelmäßiger Intelligenz, recht aufnahmefähigen Geistes und hatte ein gewisses freiheitliches Streben, ohne recht zu wissen, wohin das eigentlich führen sollte. In seiner Umgebung hatte er allerdings nicht lernen können, was Freiheit war. Er wußte nur, daß sie dort nicht war, und er bildete sich ein, er brauchte nur von dort fortzukommen, damit er sie fände. Aber allein zu gehen, war er nicht fähig. Gleich nach den ersten selbständigen Schritten war er glücklich, sich Schulfreunden anschließen zu können, von denen einige voller syndikalistischer Ideen steckten. In diesen Kreisen fühlte er sich noch heimatloser als in seinen früheren; aber das wollte er nicht zugeben; irgendwo mußte er doch leben, und Leute seiner Richtung (das heißt: ganz ohne Richtung) konnte er nicht finden. Dabei ist, weiß Gott, dieser Menschenschlag in Frankreich häufig genug. Aber sie schämen sich voreinander; sie verstecken sich oder übertünchen sich mit einer der politischen Modefarben, vielleicht sogar mit mehreren. Im übrigen litt er auch unter der Beeinflussung durch seine Freunde. Wie es meistens der Fall ist, hatte er sich ganz besonders an den angeschlossen, der ihm am unähnlichsten war. Dieser Franzose, der in seinem Wesen durch und durch französischer Bürger und Provinzler war, hatte sich zum treuen Gefährten eines jungen jüdischen Doktors, Manasse Heimann, gemacht, eines russischen Flüchtlings, der, wie viele seiner Landsleute, die doppelte Gabe besaß, sich unter anderen sofort wie zu Hause einzurichten und sich in jeder Revolution so wohl zu fühlen, daß man sich fragen konnte, was ihm dabei mehr Spaß mache: das äußere Drum und Dran oder die Sache selbst. Seine Versuche und die der anderen dienten ihm zur Unterhaltung. Trotz aufrichtiger revolutionärer Gesinnung führte ihn die Gewohnheit wissenschaftlichen Denkens dazu, die Revolutionäre und sich selbst als eine Art Geisteskranke anzusehen. Er beobachtete diese Geisteskrankheit bei den anderen und bei sich, pflegte sie aber dabei sorgfältig. Da er überaus dilettantisch und von höchst unbeständiger Gesinnung war, suchte er die gegensätzlichsten Kreise auf. Er verkehrte intim mit Männern, die am Ruder saßen, ja sogar mit Polizeibeamten; er stöberte überall herum, getrieben von jener krankhaften und gefahrvollen Neugierde, die so vielen russischen Revolutionären den Anschein verleiht, als spielten sie ein doppeltes Spiel, und die manchmal den Schein zur Wirklichkeit werden läßt. Das ist kein Verrat, sondern Wankelmut, im übrigen ohne selbstsüchtigen Zweck. Wie vielen Tatmenschen ist die Betätigung nur ein Theaterspiel, für das sie das Talent guter Schauspieler mitbringen, die bei aller Anständigkeit doch immer bereit sind, die Rollen zu wechseln! Seiner Rolle als Revolutionär war Manasse so treu, wie er es überhaupt sein konnte; in ihr verkörperte er die Gestalt, die am besten zu seiner angeborenen anarchischen Art paßte und die ihm das Vergnügen verschaffte, die Gesetze der Länder, durch die er kam, untergraben zu können. Immerhin spielte er nur eine Rolle. Man wußte niemals, wieviel Einbildung und wieviel Wirklichkeit seinem Geschwätz zugrunde lag; und er wußte es schließlich selbst nicht recht.

Als intelligenter und mokanter, mit dem psychologischen Scharfblick seiner Doppelrasse begabter Mensch verstand er es wundervoll, in den Schwächen der anderen wie in den eigenen zu lesen und geschickt mit ihnen zu spielen: so hatte es ihm auch keinerlei Mühe gemacht, Canet zu beherrschen. Es machte ihm Spaß, diesen Sancho Pansa in Donquichotterien zu verstricken. Er verfügte ohne Umstände über ihn, über seinen Willen, seine Zeit und sein Geld – nicht etwa für sich selbst (er hatte keine Bedürfnisse, und man wußte nicht, wie und wovon er lebte), sondern für die kompromittierendsten Parteimanifeste. Canet ließ sich mitschleppen. Er versuchte sich einzureden, daß er wie Manasse dachte. Er wußte sehr wohl, daß das Gegenteil der Fall war. Alle diese Ideen machten ihn kopfscheu. Sie waren seinem gesunden Menschenverstand entgegen. Auch liebte er das Volk nicht, und überdies war er nicht tapfer. Dieser dicke Bursche, der groß, breit, feist und kurzatmig war, ein glattrasiertes Puppengesicht hatte, leutselig, pomphaft und kindlich redete, der einen Brustkasten besaß wie der farnesische Herkules und beim Boxen und Prügeln ansehnliche Kräfte entwickelte, war der denkbar schüchternste Mensch. Setzte er auch seinen Stolz darein, unter den Seinen als ein Umstürzler zu gelten, so zitterte er heimlich vor der Kühnheit seiner Freunde. Allerdings war dieser kleine Schauer ganz angenehm, so lange es sich nur um ein Spiel handelte. Aber das Spiel wurde gefährlich. Diese Kerle wurden ja richtige Eisenfresser; ihre Ansprüche wuchsen immer mehr. Canets gründlicher Egoismus wurde dadurch beunruhigt, ebenso sein eingewurzeltes Gefühl für das Eigentumsrecht, sein bürgerlicher Kleinmut. Er wagte nicht zu fragen: »Wohin führt ihr mich?« Aber er fluchte insgeheim gegen die Unverfrorenheit von Leuten, die nichts lieber mögen, als sich den Hals zu brechen, und die sich nicht darum kümmern, ob sie nicht gleichzeitig den Hals der anderen ebenfalls in Gefahr bringen. – Wer konnte ihn zwingen, ihnen zu folgen? Stand es nicht in seinem Belieben, sie im Stich zu lassen? Doch der Mut fehlte ihm. Vor dem Alleinbleiben hatte er Angst wie ein Kind, das auf dem Weg zurückbleibt und zu weinen anfängt. Es ging ihm wie so vielen Menschen, die keinerlei Meinung haben, es sei denn, daß sie gegen alle übertriebenen Meinungen sind. Aber um unabhängig zu sein, muß man allein bleiben. Und wie viele sind dazu fähig? Wie viele selbst unter den Schärfstblickenden sind kühn genug, sich frei zu machen von der Sklaverei gewisser Vorurteile, gewisser Forderungen, die auf allen Menschen derselben Generation lasten? Das hieße, eine Mauer zwischen sich und den anderen aufrichten; auf der einen Seite ist die Freiheit in der Wüste, auf der anderen sind die Menschen. Da besinnen sie sich nicht lange: sie wählen lieber die Menschen, die Herde. Die riecht zwar schlecht, aber sie hält warm. Dann reden sie sich Gedanken ein, die sie nicht denken. Das fällt ihnen nicht schwer: sie verstehen ja so wenig, was sie denken! ... »Erkenne dich selbst!« ... Wie aber sollen sie das, sie, die kaum ein »Selbst« haben! In jedem Massenglauben, sei er religiös oder sozial, sind die wahrhaft Gläubigen selten, weil die wahrhaften Menschen selten sind. Glauben heißt heldenhaft stark sein; dies Feuer hat stets nur in einigen wenigen menschlichen Fackeln gebrannt. Auch diese flackern oft. Die Apostel, die Propheten und Jesus haben gezweifelt. Die Seele der anderen ist nur ein Widerschein – außer in gewissen Zeiten seelischer Dürre, in denen ein paar Funken aus einer großen Fackel fallen und die ganze Ebene in Brand stecken; dann aber erlischt die Feuersbrunst, und man sieht nur noch die Glut unter der Asche. Kaum ein paar hundert Christen glauben wahrhaftig an Christus. Die anderen glauben, daß sie glauben, oder vielmehr sie wollen glauben. –

So war es auch mit vielen dieser Revolutionäre. Der gute Canet wollte glauben, daß er einer sei: also glaubte er es. Und er erschrak vor seiner eigenen Kühnheit.

Alle diese Bürger beriefen sich auf ganz verschiedene Prinzipien: die einen trieb ihr Herz, die andern ihre Vernunft; andere wieder ihr Interesse; diese schlossen sich in ihrer Denkart dem Evangelium an, andere Henri Bergson, noch andere Karl Marx, Proudhon, Joseph de Maistre, Nietzsche oder Sorel. Es waren unter ihnen Revolutionäre aus Mode, aus Snobismus, andere wieder aus Schüchternheit. Manche waren es aus Haß, manche aus Liebe; diese aus Betätigungsdrang, aus heldenhaftem Feuereifer; jene aus knechtischer Gesinnung, aus Herdentrieb. Alle aber wurden, ohne daß sie es wußten, vom Wind getrieben. Das waren die Staubwirbel, die man auf den großen weißen Straßen in weiter Ferne aufsteigen sieht und die den nahenden Gewittersturm ankündigen.

 

Olivier und Christof sahen den Wind kommen. Beide hatten gute Augen; aber jeder sah auf seine Weise. Olivier, dessen klarer Blick ungewollt die geheimsten Gedanken der Menschen durchdrang, sah mit Betrübnis ihre Mittelmäßigkeit, aber er spürte auch die verborgene Kraft, die sie emportrug: vor allem wurde er sich der Tragik an den Dingen mehr bewußt. Christof war eher für das Komische an ihnen empfänglich. Die Menschen interessierten ihn, aber nicht die Ideen. Für sie hatte er nur eine verächtliche Gleichgültigkeit. Über soziale Utopien machte er sich lustig. Aus Widerspruchsgeist und aus instinktiver Reaktion gegen die schwächliche Humanitätsduselei, die an der Tagesordnung war, gab er sich selbstsüchtiger, als er war; als Mensch, der sich selbst alles verdankt, als robuster Emporkömmling, der stolz auf seine Kraft und seinen Willen ist, war er nur zu sehr geneigt, die als Nichtstuer anzusehen, die seine Kraft nicht besaßen. Als Armer und Alleinstehender hatte er sich durchgekämpft; mochten die anderen es nur ebenso machen! Was redete man soviel von der sozialen Frage! Was war das für eine Frage! Das Elend? »Das kenne ich,« sagte er. »Mein Vater, meine Mutter und ich haben es durchgemacht. Da heißt es nur: herauszukommen!«

»Alle können es nicht,« sagte Olivier, »die Kranken z. B., die Pechvögel.«

»So helfe man ihnen doch einfach! Aber zwischen dem Helfen und dem Lobpreisen, wie man es heutzutage tut, ist ein großer Unterschied. Früher berief man sich auf das abscheuliche Recht des Stärkeren. Aber, bei Gott, ich weiß nicht, ob das Recht des Schwächeren nicht noch abscheulicher ist: es schwächt das Denken heutzutage, es tyrannisiert und beutet die Starken aus. Beinahe scheint es ein Verdienst, kränklich, arm, unintelligent und heruntergekommen zu sein, und ein Laster, wenn man stark und gesund ist, wenn man Glück im Kampf hat, ein Aristokrat des Geistes und des Blutes ist. Und das Lächerliche daran ist, daß die Starken es in erster Linie glauben ... Ein hübscher Lustspielstoff, Freund Olivier!«

»Ich will lieber, daß die anderen über mich lachen, als daß ich die anderen zum Weinen bringe,« meinte dieser.

»Guter Junge!« sagte Christof. »Wer, zum Kuckuck, denkt denn anders? Wenn ich einen Buckligen sehe, tut mir mein Rücken weh ... Wir selber spielen in dem Lustspiel mit; schreiben werden wir es nicht.«

Er ließ sich durch die Träume von sozialer Gerechtigkeit nicht fangen. Sein derber, gesunder Menschenverstand, der im Volk wurzelte, sagte ihm, daß alles bleiben würde, wie es war.

»Was für ein Zetergeschrei würdest du erheben, wenn man dir das in bezug auf die Kunst sagte!« bemerkte Olivier.

»Vielleicht. Jedenfalls kenne ich mich nur in der Kunst aus. Und du ebenso. Zu Leuten, die von dem reden, was sie nicht verstehen, habe ich kein Vertrauen.«

Zu solchen hatte Olivier allerdings ebensowenig Vertrauen. Die beiden Freunde trieben ihr Mißtrauen sogar ein bißchen weit: sie hatten sich stets von der Politik fern gehalten. Olivier gestand, wenn auch etwas beschämt, daß er sich nicht erinnere, jemals von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht zu haben. Seit zehn Jahren hatte er nicht einmal seine Wählerkarte vom Rathaus abgeholt.

»Warum soll ich bei einer Komödie mittun, die ich als zwecklos erkenne? Wählen? Wen wählen? Ich ziehe keinen der Kandidaten vor, die mir alle gleichermaßen unbekannt sind, und von denen ich mit gutem Grund erwarten kann, daß sie, sobald sie gewählt sind, ihr Glaubensbekenntnis verraten werden. Soll ich sie kontrollieren, ihnen ihre Pflicht vorhalten? Mein Leben würde dabei zwecklos verstreichen. Ich habe dazu weder Zeit, noch die Kraft, noch die rechnerischen Mittel, weder den Mangel an Gewissen, noch ein Herz, das gegen den Ekel vor dem öffentlichen Kampfe gewappnet ist. Da ist es besser, sich ganz fern zu halten. Ich lasse das Unglück über mich ergehen; doch ich unterschreibe es wenigstens nicht.«

Aber trotz seines außerordentlichen Scharfblicks bewahrte dieser Mann, der die regelmäßige politische Betätigung verabscheute, die phantastische Hoffnung auf eine Revolution. Er wußte, sie war phantastisch, aber er wies sie nicht von sich. Sie entsprang einem gewissen Rassenmystizismus. Man gehört nicht ungestraft dem größten zerstörenden und aufbauenden Volk des Okzidentes an, dem Volk, das niederreißt, um aufzubauen, und aufbaut, um niederzureißen, das mit den Gedanken und dem Leben spielt, immer wieder tabula rasa macht, um das Spiel besser und von neuem zu beginnen, und das als Einsatz sein Blut vergießt.

Christof trug dieses ererbte Messiastum nicht in sich. Er war zu germanisch, um dem Gedanken einer Revolution rechten Geschmack abzugewinnen. Er meinte, man ändere die Welt nicht. Wozu die Theorien, all die Worte, all der zwecklose Lärm!

»Ich brauche mir nicht mit einer Revolution oder mit langem Gerede über Revolution meine Kraft zu beweisen,« sagte er. »Vor allem habe ich nicht nötig, wie diese wackeren jungen Leute, den Staat umzuwälzen, um dann wieder einen König oder einen Volksausschuß zu meiner Verteidigung einzusetzen. Ein sonderbarer Kraftbeweis! Ich kann mich selbst verteidigen. Ich bin kein Anarchist, ich liebe eine notwendige Ordnung und ich verehre die Gesetze, die das Weltall regieren. Zwischen ihnen und mir aber brauche ich keinen Vermittler. Mein Wille versteht zu befehlen, und er versteht auch, sich unterzuordnen. Ihr, die ihr beständig eure Klassiker im Munde führt, denkt an euren Corneille: »Ich allein und damit genug.«

Eure Sehnsucht nach einem Meister bemäntelt eure Schwäche. Die Kraft gleicht dem Licht: wer sie leugnet, ist blind. Seid stark, ruhevoll, ohne Theorien, ohne Leidenschaftlichkeit, so werden sich die Seelen der Schwachen euch zukehren wie die Pflanzen dem Licht.«

Aber obgleich er so sehr beteuerte, daß er mit politischen Erörterungen keine Zeit zu verlieren habe, stand er ihnen doch weniger fern, als es den Anschein haben wollte. Er litt als Künstler unter den sozialen Mißständen. Da es ihm augenblicklich an starken Leidenschaften fehlte, geschah es ihm, daß er um sich schaute und sich fragte, für wen er eigentlich schreibe. Dann sah er die traurige Zuhörerschaft, die die zeitgenössische Kunst hatte. Diese matte Auslese, diese dilettantischen Bürger. Und er dachte: Wie kann einem etwas daran liegen, für solche Leute zu arbeiten?

Gewiß, es fehlte unter ihnen nicht an feinen, gebildeten Köpfen, die für das Handwerk Sinn hatten und nicht unfähig waren, die Neuheiten oder (was dasselbe ist) den Archaismus überfeiner Empfindungen zu genießen. Aber sie waren übersättigt, allzu intellektuell und zu wenig lebendig, um an die Wirklichkeit der Kunst zu glauben; nur das Spiel sagte ihnen etwas, das Spiel der Klänge, oder das Spiel der Gedanken. Die meisten wurden durch andere gesellschaftliche Interessen abgelenkt, waren gewöhnt, sich in vielen Betätigungen zu zersplittern, von denen keine einzige »notwendig« war. Es war ihnen beinahe unmöglich, unter die Rinde der Kunst zu dringen, ihren verborgenen Herzschlag zu fühlen; die Kunst bedeutete ihnen nicht Fleisch und Blut: sie war für sie Literatur. Ihre Kritiker erhoben ihre eigene Ohnmacht, aus dem Dilettantismus herauszukommen, zur Theorie, die überdies noch unduldsam war. Wenn einige von ihnen zufälligerweise so aufnahmefähig waren, daß die Stimme der Kunst bei ihnen Widerhall fand, so hatten sie nicht die Kraft, sie zu ertragen und wurden durch sie verwirrt und nervenkrank für ihr ganzes Leben. Es gab nur Kranke oder Tote. Was hatte die Kunst in diesem Hospital zu schaffen? Und doch konnte man in der modernen Gesellschaft diese Krüppel nicht entbehren. Denn sie besaßen das Geld und die Presse. Sie allein konnten dem Künstler den Lebensunterhalt sichern. Es galt also, die Erniedrigung auf sich zu nehmen: eine intime und schmerzvolle Kunst, eine Musik, in die man das Geheimnis seines Innenlebens gelegt hatte, in gesellschaftlichen Vorstellungen und Abendunterhaltungen einem Publikum von Snobs und übersättigten Intellektuellen als Vergnügen, als Zeitvertreib für die Langeweile oder als neuen Langeweiler darzubieten.

Christof suchte nach der rechten Zuhörerschaft, die an die Erregungen der Kunst wie an die des Lebens glaubt und sie mit jungfräulicher Seele empfindet. Dunkel wurde er von dem neuen gelobten Lande angezogen, vom Volke.

Seine Kindheitserinnerungen an Gottfried und die schlichten Seelen, die ihm das tiefe Leben der Kunst offenbart, oder die mit ihm das geheiligte Brot der Musik geteilt hatten, ließen ihn dem Glauben zuneigen, daß seine wahren Freunde in dieser Richtung zu suchen seien. Gleich vielen anderen großherzigen und kindlichen jungen Leuten hing sein Herz an großen Plänen für eine volkstümliche Kunst, an Volkskonzerten und Volkstheatern; Pläne, die näher auszuführen ihm einige Verlegenheit bereitet hätte. Er erwartete von einer Revolution die Möglichkeit neuen künstlerischen Lebens und behauptete, darin läge für ihn das einzige Interesse an der sozialen Bewegung. Aber er täuschte sich selbst; er war allzu lebendig, als daß ihn das Schauspiel des lebendigen Kampfes, der damals ausgefochten wurde, nicht angezogen, angesogen hätte.

Am wenigsten interessierten ihn in diesem Schauspiel die bürgerlichen Theoretiker. Die Früchte dieser Bäume sind nur zu oft verdorrt, aller Lebenssaft ist in Ideen erstarrt. Zwischen diesen Ideen machte Christof keinen Unterschied. Nicht einmal seine eigenen Gedanken galten ihm mehr etwas, wenn er sah, daß sie sich systematisch formten. Mit gutmütiger Verachtung hielt er sich sowohl die Theoretiker der Kraft wie die der Schwäche vom Leibe. In jeder Komödie ist die undankbarste Rolle die des Raisonneurs. Das Publikum zieht ihm nicht nur die sympathischen, sondern auch die unsympathischen Personen vor. In dieser Beziehung war Christof Publikum. Die Raisonneure der sozialen Frage waren ihm langweilig. Aber es machte ihm Spaß, die anderen zu beobachten, die Kindlichen, die Gutgläubigen, die da glaubten und die da glauben wollten, die sich ausbeuten ließen, und die danach trachteten, ausgebeutet zu werden; sogar die wackeren Freibeuter sah er gern, die ihrem räuberischen Beruf nachgehen, und die Schafe, die dazu da sind, geschoren zu werden. Brave und ein wenig lächerliche Leute, wie den schwerfälligen Canet, behandelte er mit teilnehmender Nachsicht. Ihre Mittelmäßigkeit stieß ihn nicht so sehr ab, wie es Olivier geschah. Er betrachtete sie alle mit freundlicher und etwas spöttischer Anteilnahme; er meinte, daß er in dem Stück, das sie aufführten, nicht mitspiele, und er merkte nicht, daß er nach und nach doch hineingezogen wurde. Er glaubte nur ein Zuschauer zu sein, der den Wind vorbeistreichen sieht; schon aber hatte ihn der Wind erfaßt und riß ihn in seinem Wirbel mit fort.

 

Das soziale Stück bestand in einem Doppelspiel. Das von den Intellektuellen gespielte war die Komödie in der Komödie: das Volk hörte dem nur wenig zu. Das richtige Stück war sein eigenes. Ihm zu folgen war nicht leicht. Für das Volk selbst war es nicht gerade einfach, sich darin wiederzufinden. Es gab allzuviel Unvorhergesehenes darin.

Das kam daher, weil in dem Stück zuviel gesprochen wurde und zu wenig Handlung war. Jeder Franzose, ob aus dem Bürgertum oder dem Volke, ist ein ebenso großer Worte- wie Brotvertilger. Nur essen nicht alle dasselbe Brot. Man hat eine Luxussprache für zarte Gaumen und eine nahrhaftere für ausgehungerte Mäuler. Sind auch die Worte dieselben, so sind sie doch nicht in gleicher Weise geknetet. Der Geschmack und der Duft, der Sinn ist verschieden.

Das erste Mal, als Olivier bei einer Volksversammlung von diesem Brot kostete, fand er keinen Geschmack daran; die Stücke blieben ihm in der Kehle stecken. Die Plattheit der Gedanken, die farblose und barbarische Schwerfälligkeit des Ausdruckes, die verschwommenen Allgemeinheiten, die kindliche Logik, diese ganze schlecht verrührte Mayonnaise von Abstraktionen und zusammenhanglosen Tatsachen widerte ihn an. Die sprachliche Unreinheit und Ungeschultheit wurde nicht durch Schwung und Derbheit einer volkstümlichen Ausdrucksweise aufgewogen. Die Sprache war eine journalistische Wörtersammlung, abgetragener Plunder, der aus dem Trödelladen der bürgerlichen Redeweise zusammengelesen war. Olivier wunderte sich vor allem über den Mangel an Schlichtheit. Er vergaß, daß die literarische Einfachheit nichts Natürliches, sondern etwas Erworbenes ist, daß sie die Eroberung einer Elite ist. Das Volk der Städte kann nicht einfach sein; es wird am liebsten immer nach gekünstelten Ausdrücken suchen. Es schien Olivier undenkbar, daß diese schwülstigen Phrasen irgendwelche Wirkung auf die Zuhörer ausüben könnten. Er fand keine Erklärung dafür. Man nennt fremde Sprachen die einer anderen Rasse, und man überlegt nicht, daß es in derselben Rasse beinahe ebenso viele Sprachen wie soziale Schichten gibt. Nur für einen kleinen auserwählten Kreis haben die Worte ihren überlieferten und Jahrhunderte alten Sinn; für die andern bedeuten sie nichts weiter als ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer Gruppe. Daher gleichen manche Worte, die für die Elite verbraucht sind und von ihr verachtet werden, einem leeren Hause, in dem nach dem Fortgang jener sich neue stürmische Energien und Leidenschaften eingenistet haben. Wenn man den Wirt kennen lernen will, muß man das Haus betreten. Christof tat das.

 

Er war mit den Arbeitern durch einen Nachbarn, einen staatlichen Eisenbahnbeamten, zusammengeführt worden. Alcide Gautier war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, klein, vorzeitig gealtert, mit einem dünn behaarten, wie gerupft aussehenden Schädel, tiefliegenden Augen, ausgehöhlten Wangen, einer riesigen, dicken, gebogenen Nase, einem klugen Mund, mißgestalteten Ohren mit angewachsenen Ohrläppchen: kurz, den Zügen eines Degenerierten. Er gehörte nicht zum Volk, sondern zum Mittelstand und stammte aus einer guten Familie, die auf die Erziehung des einzigen Sohnes ihr ganzes kleines Vermögen verwandt hatte, die aber aus Mangel an weiteren Hilfskräften ihm nicht einmal erlauben konnte, sie zu vervollständigen. Er hatte sehr jung in einer staatlichen Verwaltung einen jener Posten erhalten, die dem armen Bürgertum als Hafen erscheinen, und die doch nur der Tod sind, – ein lebendiges Begrabensein. Als er einmal drin war, gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, herauszukommen. Er hatte den Fehler begangen – denn in der modernen Gesellschaft ist es einer –, eine Liebesheirat mit einer hübschen Arbeiterin einzugehen, deren im Grunde gewöhnliches Wesen sich sehr bald zeigte. Sie hatte ihm drei Kinder geschenkt. Alle diese Menschen wollten leben. Der Mann, der intelligent war und mit allen Kräften danach strebte, seine Bildung zu vervollständigen, war durch das Elend unfrei geworden. Er fühlte Kräfte in sich schlummern, die von der Schwere seines Daseins erstickt wurden; doch er wußte nichts mit seinem Leben anzufangen: er war niemals allein. Als Angestellter beim Rechnungsamt verbrachte er seine Tage mit mechanischen Obliegenheiten, in einem Raum, den er mit anderen Kollegen teilte, die gewöhnlich und geschwätzig waren; sie redeten Albernheiten und rächten sich an der Sinnlosigkeit ihres Daseins, indem sie über die Vorgesetzten herzogen; auch machten sie sich über ihn lustig wegen seiner geistigen Ziele, die er unklug genug ihnen verraten hatte. Kehrte er heim, so fand er eine unbehagliche und schlecht gelüftete Wohnung, eine keifende und gewöhnliche Frau, die ihn nicht verstand und ihn als Komödianten oder als Narren behandelte. Seine Kinder glichen der Mutter und ähnelten ihm in keiner Weise. War alles das gerecht? War es gerecht? Die vielen Enttäuschungen und Leiden, die fortwährenden Bedrängnisse, der Beruf, der ihn von morgens bis abends einspannte, die Unmöglichkeit, eine Stunde der Sammlung, eine Stunde des Schweigens zu finden, hatten ihn in einen Zustand neurasthenischer Erschöpfung und Gereiztheit gebracht. Um zu vergessen, hatte er seit kurzem, gleich vielen anderen, seine Zuflucht zum Trunke genommen; dadurch aber richtete er sich vollständig zugrunde.

Christof, der mit ihm bekannt geworden war, wurde von der Tragik seines Geschickes betroffen; er sah in ihm eine Halbnatur ohne ausreichende Kultur und ohne künstlerischen Geschmack, die für Großes geschaffen war und dennoch vom Mißgeschick erdrückt wurde. Gautier hatte sich sofort an Christof angeklammert, wie die ertrinkenden Schwächlinge es tun, wenn ihre Hand den Arm eines guten Schwimmers fühlt. Er empfand für Christof ein Gemisch von Zuneigung und Neid. Er schleppte ihn in Volksversammlungen und zeigte ihm ein paar Führer der syndikalistischen Partei, der er sich nur aus Groll gegen die Gesellschaft anschloß. Denn es war ein Aristokrat an ihm verloren gegangen. Er litt bitterlich darunter, daß er zum Volke zählte.

Christof, der sehr viel mehr vom Volk an sich hatte als er – um so mehr, als er nicht gezwungen war, ihm anzugehören –, fand an diesen Versammlungen Vergnügen. Die Reden machten ihm Spaß. Er teilte nicht Oliviers Widerwillen; den Lächerlichkeiten der Ausdrucksweise gegenüber war er weniger empfindlich. Ihm galt der eine Schwätzer so viel wie der andere. Er verachtete jede Art von Wortschwall. Wenn er sich aber auch keine Mühe gab, diese Rhetorik zu verstehen, so stand er doch unter dem lebhaften Eindruck der musikalischen Beziehung zwischen dem, der sprach, und denen, die zuhörten. Die Wirkungskraft des Sprechers verhundertfachte sich durch den Widerhall bei den Zuhörern. Zunächst achtete Christof nur auf den Redner, und er verspürte die Neugier, einige dieser Männer kennen zu lernen.

Den größten Einfluß auf die Menge übte Casimir Joussier aus, ein brünettes und blasses Männchen zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren, mit einem Gesicht wie ein Mongole, mager, schwächlich, mit stechenden und kalten Augen, spärlichem Haar und einem Spitzbart. Sein Einfluß ergab sich weniger aus seiner Mimik, die ausdruckslos und hastig war und selten mit dem, was er sprach, übereinstimmte; es lag ebensowenig an seiner Sprechart, denn seine Stimme war rauh, pfeifend und schnaufend; vielmehr verdankte er ihn seiner Persönlichkeit, seiner leidenschaftlichen Überzeugung und der Willenskraft, die von ihm ausging. Es war, als erlaube er nicht, daß man anders als er dächte; und da er gerade so dachte, wie seine Zuhörerschaft gern denken wollte, so wurde es ihnen nicht schwer, einander zu verstehen. Er wiederholte ihnen dreimal, viermal, zehnmal, was sie erwarteten. Er wurde nicht müde, mit wütender Hartnäckigkeit immer wieder auf denselben Nagel zu schlagen, und das ganze Publikum wurde von seinem Beispiel angesteckt und schlug, schlug darauf los, bis der Nagel im Fleische saß. Zu diesem persönlichen Eindruck kam seine Vertrauen erweckende Vergangenheit, der gute Ruf, der von zahlreichen Verurteilungen ausging, die er sich reichlich durch leidenschaftliche Artikel verdient hatte. Er strahlte eine unbezwingliche Energie aus; wer aber zu sehen verstand, erkannte, daß sich in seinem Innern ein großer Überdruß angesammelt hatte, Ekel nach so vielen Anstrengungen, und Zorn gegen sein Schicksal. Er gehörte zu jenen Menschen, die täglich mehr verausgaben, als ihr Leben ihnen einträgt; von Kindheit an rieb er sich in Arbeit und Elend auf. Er hatte sich in allen Berufen versucht, war Glaser, Bleiarbeiter, Drucker gewesen; seine Gesundheit war untergraben, die Schwindsucht zehrte an ihm. Sie war Schuld daran, daß er Anfälle bitterer Enttäuschung, stummer Verzweiflung an der Sache und an sich durchmachte; zu anderen Zeiten peitschte sie ihn auf. Er war ein Gemisch von berechneter und krankhafter Leidenschaftlichkeit, von Politik und Ungestüm. Er hatte sich, so gut es ging, gebildet; er besaß einige gute Kenntnisse aus der Wissenschaft, aus der Soziologie und aus seinen verschiedenen Berufen. In vielem anderen wußte er sehr schlecht Bescheid. Er fühlte sich aber in allem gleichermaßen sicher: er steckte voll Utopien und richtigen Vorstellungen, voll Unwissenheit und praktischem Sinn, voll von Vorurteilen, Erfahrungen und einem mißtrauischen Haß gegen die bürgerliche Gesellschaft. Das hinderte ihn nicht, Christof freundlich entgegenzukommen. Sein Stolz fühlte sich geschmeichelt, weil ein bekannter Künstler ihn aufsuchte. Er gehörte zum Geschlecht der Führer und war, was er auch tat, gegen einfache Arbeiter hochfahrend. Wenn er auch aus bester Überzeugung die vollkommene Gleichheit wünschte, so setzte er sie doch leichter sozial Höherstehenden als sozial Tieferstehenden gegenüber in die Tat um.

Christof begegnete noch anderen Führern der Arbeiterbewegung. Große Sympathien bestanden nicht zwischen ihnen. Vereinigte sie zwar – wenn auch unter Schwierigkeiten – der gemeinsame Kampf zu gemeinsamer Tat, so schuf er noch längst keine Einheit der Herzen. Ihre Beziehungen waren infolge der Klassenunterschiede tatsächlich ganz äußerlich und oberflächlich. Die alten Gegensätze waren nur vertagt und verdeckt, aber sie bestanden alle noch. Männer aus dem Norden und aus dem Süden standen sich da wieder gegenüber mit der ganzen eingewurzelten Verachtung, die sie für einander empfanden. Die Berufe neideten sich gegenseitig ihr Einkommen, und jeder betrachtete den anderen mit dem unverblümten Empfinden, der Überlegene zu sein. Der Hauptunterschied aber war – und wird es immer sein – der der Temperamente. Füchse und Wölfe und Hornvieh, Raub- und Nagetiere und Wiederkäuer, solche, die zum Fressen und solche, die zum Gefressenwerden geschaffen sind, sie alle witterten einander im Vorbeistreifen aus der Herde heraus, die der Zufall der Klasse und das gemeinsame Interesse gebildet hatte. Sie erkannten einander, und ihre Borsten sträubten sich.

Christof nahm ab und zu seine Mahlzeiten in einer kleinen Wirtschaft ein, die von einem früheren Kollegen Gautiers, Simon, einem Eisenbahnbeamten, der wegen Streikens entlassen worden war, geführt wurde. Das Lokal wurde von Syndikalisten besucht. Sie saßen zu fünf, sechs in einem Hinterraum, der auf einen engen und dunklen Innenhof ging, aus dem unaufhörlich der verliebte Gesang zweier eingesperrter Kanarienvögel zum Licht emporstieg. Joussier erschien mit seiner Geliebten, der schönen Berthe, einem robusten und koketten Mädchen mit blasser Haut, brennendrotem Haarschopf, immer unruhigen und lachenden Augen. Sie führte einen hübschen, geschniegelten Burschen im Schlepptau, einen gewitzten Poseur, den Mechaniker Leopold Graillot; er war der Ästhet der Gesellschaft. Er nannte sich Anarchist, doch obwohl er am heftigsten gegen das Bürgertum wetterte, hatte er die Seele des schlimmsten Kleinbürgers. Seit Jahren verschlang er täglich die erotischen und dekadenten Novellen in den literarischen Groschenblättern. Diese Lektüre hatte ihm das Hirn verschroben gemacht. Geistiges Raffinement in seinen Vorstellungen von Genuß vermengte sich bei ihm mit einem gänzlichen Mangel an körperlichem Zartgefühl, mit Gleichgültigkeit gegen Reinlichkeit und einer ziemlich plumpen Lebensführung. Es war ihm zum Bedürfnis geworden, dieses Schlückchen verfälschten Alkohols zu schlürfen, eines intellektuellen, aus dem Luxus gezogenen Alkohols, der die ungesunden Erregungen der ungesunden Reichen verursachte. Da er seinem Körper jene Genüsse nicht verschaffen konnte, so filtrierte er sie sich ins Gehirn. Man bekommt zwar einen schlechten Geschmack davon, man wird steif und dumm. Aber man tut's den Reichen gleich. Und man haßt sie.

Christof konnte ihn nicht leiden. Er mochte lieber einen Elektrotechniker Sebastian Coquard, der neben Joussier der angesehenste Redner war. Er belastete sich nicht mit Theorien. Er wußte nicht immer, wohin ihn sein Weg führte. Aber er ging ihn geradeaus. Er war ein echter Franzose, ein derber, fideler Kerl in den Vierzigern, mit einem großen, rotbackigen Gesicht, einem runden Kopf mit roten Borsten, wallendem Bart und dem Nacken und der Stimme eines Stiers. Er war wie Joussier ein ausgezeichneter Arbeiter, aber scherzte und trank gern. Der kränkliche Joussier sah mit neidischen Augen auf diese schamlose Gesundheit. Und eine geheime Feindschaft wuchs zwischen ihnen, obwohl sie Freunde waren.

Die Besitzerin der kleinen Wirtschaft, Aurelie, war eine brave Frau von fünfundvierzig Jahren. Sie mußte einmal schön gewesen sein und war es noch, trotz den Spuren schwerer Arbeit. Sie saß mit einer Handarbeit neben ihnen, hörte ihnen mit freundlichem Lächeln zu und bewegte, während sie sprachen, die Lippen, gelegentlich ließ sie ein Wort in die Unterhaltung einfließen und begleitete, während sie ihre Arbeit fortsetzte, den Rhythmus ihrer Worte mit kleinen Kopfbewegungen. Sie hatte eine verheiratete Tochter und zwei Kinder von sieben und zehn Jahren, ein Mädchen und einen Knaben, die ihre Schularbeiten an einer Ecke des schmierigen Tisches machten, wobei sie allerlei Brocken der Unterhaltung aufschnappten, die nicht für sie bestimmt waren.

Olivier versuchte zwei oder drei Mal, Christof zu begleiten. Aber er fühlte sich unter diesen Leuten nicht wohl. Wenn diese Arbeiter nicht eine bestimmte Arbeitsstunde innehalten mußten, wenn sie nicht durch eine gellende Fabrikpfeife gerufen wurden, so gingen sie unglaublich verschwenderisch mit ihrer Zeit um, sei es nach der Arbeit oder in den Feierstunden, beim Bummeln oder bei Arbeitslosigkeit. Christof, der sich in einer jener Perioden müßiger Freiheit befand, in der der Geist ein Werk beendet hat und darauf wartet, daß ein neues sich gestaltet, hatte eben soviel Zeit wie sie; er blieb gern bei ihnen sitzen, rauchte, trank und schwatzte, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Olivier aber fühlte sich in seinen bürgerlichen Instinkten, in seinen überlieferten Gewohnheiten geistiger Zucht, regelmäßiger Arbeit und gewissenhaft eingeteilter Zeit verletzt; er mochte nicht auf diese Weise soviele Stunden verlieren. Außerdem verstand er sich nicht aufs Trinken oder Schwatzen. Dazu kam noch ein körperliches Widerstreben, die geheime Abneigung, die die Leiber verschiedener Menschengattungen voneinander zurückhält, die Feindseligkeit der Sinne, die sich der Gemeinschaft der Seelen widersetzt, das Blut, das sich gegen das Herz auflehnt. War Olivier mit Christof allein, so sprach er tiefbewegt von der Pflicht, sich mit dem Volke zu verbrüdern; war er aber mit Leuten aus dem Volke zusammen, so wußte er trotz guten Willens nichts mit ihnen anzufangen. Christof dagegen, der sich über Oliviers Ideen lustig machte, konnte sich ohne weiteres mit dem ersten besten Arbeiter anfreunden, den er auf der Straße traf. Olivier empfand aufrichtigen Kummer, daß er diesen Menschen so fern stand. Er versuchte, ihnen gleich zu sein, wie sie zu denken, wie sie zu sprechen. Er konnte es nicht, seine Stimme war dumpf, verschleiert, klang nicht wie die ihre. Wenn er versuchte, gewisse Ausdrücke von ihnen anzunehmen, blieben ihm die Worte im Halse stecken oder klangen falsch. Er beobachtete sich selbst, er war befangen, er machte sie befangen. Und er wußte das genau. Er wußte, daß er für sie ein verdächtiger Fremder war, daß niemand Zuneigung zu ihm empfand, und daß bei seinem Fortgehen jeder »Uff!« sagte. Er fing manchmal harte und eisige Blicke auf, jene feindseligen Blicke, mit denen die im Elend verbitterten Arbeiter oft die Bürger ansehen. Christof bekam vielleicht auch seinen Teil davon ab, aber er merkte es nicht.

Die einzigen, die sich von der ganzen Gesellschaft gern an Olivier angeschlossen hätten, waren Aureliens Kinder. Denen bedeutete der Bürger weit eher Anlaß zur Anziehung als zum Haß. Für den kleinen Jungen war die bürgerliche Gedankenwelt ein Zaubergarten; er war klug genug, um sie lieben, doch nicht klug genug, um sie verstehen zu können; das sehr hübsche Mädchen, das Olivier einmal zu Frau Arnaud mitgenommen hatte, war vom Luxus wie hypnotisiert. Sie war stumm vor Entzücken, wenn sie sich in schöne Sessel setzen, schöne Kleider berühren, mit schönen Damen zusammen sein konnte; der Trieb einer kleinen Dirne war in ihr, die sich aus dem Volk heraus, in das Paradies des Reichtums und der bürgerlichen Bequemlichkeit sehnt. Olivier fand durchaus keinen Geschmack daran, derartige Anlagen zu pflegen. Und die kindliche Huldigung, die damit seiner Gesellschaftsklasse erwiesen wurde, tröstete ihn nicht über die dumpfe Abneigung seiner anderen Gefährten. Er litt unter ihrer Feindseligkeit. Er wünschte so brennend, sie zu verstehen! Und er verstand sie in der Tat, vielleicht nur allzu gut; er beobachtete sie zu scharf, und das reizte sie. Er tat es nicht aus zudringlicher Neugierde, sondern aus der Gewohnheit, die Seelen zu analysieren, und aus dem Bedürfnis zu lieben.

Sehr bald durchschaute er das verborgene Drama im Leben Joussiers: die Krankheit, die ihn unterhöhlte, und das grausame Spiel seiner Geliebten. Sie liebte ihn, sie war stolz auf ihn, aber sie war zu lebensvoll. Er wußte, daß sie ihm entglitt, daß sie ihm entgleiten würde, und er wurde von Eifersucht verzehrt. Ihr machte das Spaß, sie reizte die Männer, sie umgarnte sie mit ihren Blicken, mit ihrer sinnlichen Atmosphäre; sie war eine tolle Männerjägerin. Vielleicht betrog sie Joussier mit Graillot. Vielleicht machte es ihr nur Spaß, ihn in dem Glauben zu lassen. Jedenfalls: wenn sie es heute noch nicht tat, so konnte sie es morgen tun. Joussier wagte es nicht, ihr zu verbieten, den zu lieben, der ihr gefiel; predigte er nicht das Recht auf Freiheit für die Frau wie für den Mann? Eines Tages, als er sie beschimpfte, erinnerte sie ihn daran mit übermütig frechem Necken. Ein aufreibender Kampf tobte in ihm zwischen seinen freien Theorien und seinen ungestümen Trieben. Dem Herzen nach war er noch ein Mann der alten Zeit, despotisch und eifersüchtig; dem Verstand nach ein Mann der Zukunft, ein Utopist. Sie aber war die Frau von gestern und von morgen, das Weib aus allen Zeiten. – Und Olivier, der Zeuge dieses geheimen Zweikampfes war, dessen rasende Heftigkeit er aus eigener Erfahrung kannte, sah Joussiers Schwachheit und war von Mitleid für ihn erfüllt. Joussier aber ahnte, daß Olivier in ihm las; und er war ihm nichts weniger als dankbar dafür.

Noch jemand folgte mit nachsichtigem Blick diesem Spiel von Liebe und Haß. Es war die Wirtin Aurelie. Ohne daß man es merkte, beobachtete sie alles. Sie kannte das Leben. Diese brave Frau, die gesund, ruhig und häuslich war, hatte eine ziemlich leichtsinnige Jugend hinter sich. Sie war Blumenarbeiterin gewesen. Sie hatte einen Liebhaber aus dem Bürgertum gehabt, sie hatte auch noch andere gehabt. Dann hatte sie sich mit einem Arbeiter verheiratet und war eine gute Familienmutter geworden. Aber sie verstand alles, alle Torheiten des Herzens, Joussiers Eifersucht ebenso gut wie das junge Blut, das sich's wohl sein lassen will. Mit wenigen gutgemeinten Worten versuchte sie, die beiden Menschen wieder miteinander zu versöhnen.

Man müsse nachsichtig sein; es lohne nicht der Mühe, sich um ein so Geringes die Laune zu verderben ...

Sie wunderte sich jedoch nicht, daß alles, was sie sagte, nichts nützte.

So war es nun einmal. Man machte sich eben immer Sorgen ... Sie besaß die schöne Sorglosigkeit des Volkes, an der das Unglück abzugleiten scheint. Sie hatte auch ihr Teil zu tragen gehabt. Vor drei Monaten hatte sie einen Knaben von fünfzehn Jahren verloren, an dem sie sehr gehangen hatte. Das war ein großer Kummer gewesen: jetzt aber lachte sie wieder und war voller Tatkraft. Sie sagte: »Wenn man sich immer gehen lassen wollte, würde einem das Leben verleidet werden.«

Und so dachte sie nicht mehr daran. Das war keine Selbstsucht. Sie konnte nicht anders; ihre Lebenskraft war zu stark, die Gegenwart nahm sie ganz in Anspruch; es war ihr unmöglich, sich bei der Vergangenheit aufzuhalten. Sie fand sich mit dem ab, was war, und hätte sich mit allem abgefunden, was noch gekommen wäre. Wäre die Revolution ausgebrochen und hätte alles drunter und drüber geworfen, sie hätte es immer wieder verstanden, auf die Beine zu kommen; sie hätte ihren Platz ausgefüllt, wohin immer man sie gestellt hätte. Im Grunde setzte sie in die Revolution nur ein mäßiges Vertrauen. Sie glaubte überhaupt an wenig Dinge. Selbstverständlich ließ sie sich in Augenblicken der Ratlosigkeit die Karten legen und versäumte niemals, vor einem Leichenzug das Kreuz zu schlagen. Trotz ihrer großen inneren Freiheit und Duldsamkeit besaß sie den Skeptizismus des Pariser Volkes, diesen gesunden Skeptizismus, der so fröhlich wie er atmet, auch zweifelt. Obgleich sie die Frau eines Revolutionärs war, hatte sie nichtsdestoweniger für die Ideen ihres Mannes und die seiner Partei – auch für die der anderen Parteien – eine ebenso mütterliche Ironie, wie für die Torheiten sowohl der Jugend als auch des reiferen Alters. Sie regte sich nicht um jeder Kleinigkeit willen auf. Aber sie nahm an allem Anteil. Und sie war auf Glück und Unglück gefaßt. Alles in allem war sie Optimistin.

»Man muß sich nicht die Laune verderben lassen ... Wenn man nur gesund bleibt, kommt alles wieder in Ordnung ...«

Solch ein Mensch mußte sich mit Christof verstehen. Sie hatten nicht viele Worte zu wechseln brauchen, um zu sehen, daß sie vom selben Schlag waren. Von Zeit zu Zeit tauschten sie ein verständnisvolles Lächeln, während die anderen stritten und schrieen. Öfter aber lächelte sie ganz allein, wenn sie Christof anschaute, der sich von den Streitereien mitreißen ließ und sich dann leidenschaftlicher daran beteiligte als alle anderen.

 

Christof merkte nichts von Oliviers Isoliertsein und seiner Befangenheit. Er selbst gab sich keine Mühe, den Leuten ins Herz zu sehen. Aber er aß und trank mit ihnen, er lachte und konnte zornig werden. Sie mißtrauten ihm nicht, obgleich sie mit ihm oft in heftigen Wortwechsel gerieten. Er nahm ihnen gegenüber kein Blatt vor den Mund. Im Grunde aber wäre es ihm schwer gefallen, wenn er hätte sagen sollen, ob er auf ihrer Seite stehe oder nicht. Er gab sich darüber keine Rechenschaft. Hätte er wählen müssen, so wäre er wahrscheinlich Syndikalist gegen den Sozialismus und alle Systeme des Staates geworden, dieses Ungeheuers, das Beamte, menschliche Maschinen schafft. Sein Verstand gab dem gewaltigen Streben jener Gemeinschaftsgruppen recht, deren zweischneidiges Beil gleichzeitig die tote Abstraktion des sozialistischen Staates und den unfruchtbaren Individualismus trifft, jene Zerbröckelung von Energien, jene Zersplitterung der Gesamtkraft in Einzelschwachheiten – eben das große Elend der heutigen Zeit, an dem die französische Revolution zum Teil die Schuld trägt.

Aber die Natur ist stärker als alle Vernunft. Als Christof mit den Syndikalisten – jenen gefährlichen Verbindungen der Schwachen – in Fühlung kam, bäumte sich sein kräftiger Individualismus auf. Er konnte nicht anders, als diese Menschen verachten, die sich aneinander ketten mußten, um in den Kampf zu gehen; und wenn er es auch gelten ließ, daß sie sich solchem Gesetz unterwarfen, so erklärte er doch, daß es für ihn nicht geschaffen sei. Es kam hinzu, daß die Schwachen, solange sie unterdrückt werden, wohl sympathisch sind, aber vollständig aufhören, es zu sein, wenn sie die Unterdrücker werden. Christof, der früher den vereinzelten guten Menschen zugerufen hatte: Schließt euch zusammen! – hatte einen höchst unangenehmen Eindruck, als er zum ersten Mal in eine der Genossenschaften jener guten Leute geriet, denn unter diesen waren auch weniger gute; aber alle waren sie erfüllt von ihren Rechten und ihrer Kraft, und alle waren bereit, sie zu mißbrauchen. Die Besten, alle, die Christof liebte, die Freunde, denen er im »Haus« »Johann Christoph in Paris«, Drittes Buch: »Das Haus«, S. 363 ff. in allen Stockwerken begegnet war, machten von diesen Kampfbündnissen keinerlei Gebrauch. Sie waren zu zart besaitet und zu schüchtern, um von den Genossenschaften nicht zurückgeschreckt zu werden; sie waren ganz dazu geschaffen, als erste von ihnen erdrückt zu werden. Der Arbeiterbewegung gegenüber waren sie in derselben Lage wie Olivier und die besten der jungen Bürger. Ihre Sympathie gehörte den organisierten Arbeitern. Aber sie waren im Kultus der Freiheit aufgezogen worden, und nun kehrten sich die Revolutionäre am wenigsten daran. Wer kümmert sich heute überhaupt um die Freiheit? Eine Elite, die ohne Einfluß auf die Weltgeschehnisse ist. Die Freiheit erlebt trübe Tage. Die Päpste Roms verbannen das Licht der Vernunft. Die Päpste von Paris löschen die Lichter des Himmels. Und die Herren Republikaner drehen die Straßenlaternen aus. Überall triumphiert der Imperialismus: der theokratische Imperialismus der römischen Kirche; der militärische in Reichen des Krämertums und der Schwärmerei; der bürokratische in den Republiken des Freimaurertums und der Habgier; der diktatorische Imperialismus der Revolutionsausschüsse! Arme Freiheit, du bist nicht von dieser Welt ... Der Mißbrauch der Macht, den die Revolutionäre predigten und trieben, empörte Christof und Olivier. Sie empfanden wenig Achtung für die antisozialistischen Gewerkschaftler, die für die gemeinsame Sache nicht leiden wollten. Aber sie fanden es abscheulich, daß man sie mit Gewalt dazu zwingen wollte. Einmal freilich muß man Farbe bekennen. In Wahrheit hat man nicht immer die Wahl zwischen Imperialismus und Freiheit, sondern zwischen dem einen Imperialismus und einem anderen. Olivier sagte:

»Ich will weder den einen noch den anderen; ich bin für die Unterdrückten.«

Christof haßte die Tyrannei der Unterdrücker nicht weniger. Aber da er zu der Gefolgschaft des Heeres revolutionärer Arbeiter gehörte, wurde er vom Strudel der Kraft mit fortgerissen.

Er ahnte das selbst kaum. Seinen Tischgenossen erklärte er, daß er nicht mit ihnen ginge.

»Solange es sich bei euch nur um geistige Interessen handelt,« sagte er, »interessiert ihr mich nicht. An dem Tage, an dem ihr für eine Überzeugung eintretet, werde ich auf eurer Seite sein. Was habe ich sonst zwischen zwei Freßbäuchen zu tun? Ich bin Künstler, ich habe nur die Kunst zu verteidigen, ich darf sie nicht in den Dienst einer Partei stellen. Ich weiß wohl, daß in letzter Zeit ehrgeizige Schriftsteller, von dem Wunsche nach ungesunder Volkstümlichkeit getrieben, ein schlechtes Beispiel gegeben haben. Mir scheint, sie haben der Sache, die sie auf diese Weise verteidigten, nicht besonders gedient; die Kunst aber haben sie verraten. Unsere eigentliche Aufgabe ist, das Licht des Geistes zu bewahren. Es darf durch eure blinden Kämpfe nicht getrübt werden. Wer wird die Fackel halten, wenn wir sie fallen lassen? Euch freilich wird es sehr angenehm sein, wenn ihr das Licht nach der Schlacht ungetrübt wiederfindet. Es muß immer Arbeiter geben, die das Kesselfeuer schüren, während man sich auf dem Schiffsdeck schlägt. Man muß alles verstehen, nichts hassen! Der Künstler ist die Magnetnadel, die selbst während des Sturmes immer nach Norden zeigt.«

Sie nannten ihn einen Schwätzer, sie sagten, daß er selber die Magnetnadel verloren habe, und sie leisteten sich das Vergnügen, ihn in aller Freundschaft zu verachten. Ein Künstler sein, hieß für sie ein Schlaukopf sein, der sich das Leben möglichst so einrichtete, daß er möglichst wenig und möglichst angenehm zu arbeiten hatte.

Er erwiderte, daß er ebensoviel, ja daß er mehr als sie arbeite, und daß er weniger Furcht vor der Arbeit habe als sie. Nichts widerte ihn so an, wie die Sabotage, wie das Hinludern einer Arbeit, wie das zum Prinzip erhobene Faulenzertum.

»Wie alle diese Armseligen um ihr kostbares Leben zittern!« dachte er ... »Guter Gott! Ich selbst arbeite seit meinem zehnten Jahre ohne Unterlaß. Ihr aber liebt die Arbeit nicht, ihr seid im Grunde Bürger ... Wenn ihr wenigstens fähig wäret, die alte Welt zu zerstören! Aber nicht einmal das könnt ihr! Ihr wollt es auch garnicht, wenn ihr noch so sehr heult, droht und tut, als wolltet ihr alles ausrotten; ihr habt doch nur einen Gedanken im Kopfe: Besitz von der Welt ergreifen, euch in das vom Bürgertum angewärmte Bett legen. Ausgenommen höchstens ein paar hundert arme Teufel von Steinklopfern, die stets bereit sind, ihre Haut oder die anderer zu Markte zu tragen, ohne daß sie wissen, wofür; aus Vergnügen oder aus Kummer, dem jahrhundertalten Kummer, der in ihnen zum Ausbruch kommt. Diese Wenigen ausgenommen, denken alle anderen nur daran, sich bei der ersten besten Gelegenheit in die Reihen der Bürger zu schleichen. Sie werden Sozialisten, Journalisten, Redner, Schriftsteller, Abgeordnete, Minister ... Ach was! Regt euch nicht so über sie auf! Ihr seid nicht besser. Das waren Verräter, sagt ihr? ... Gut. Wer aber ist nach ihnen an der Reihe? Ihr kommt noch alle daran. Nicht einer unter euch widerstände der Verführung. Wie solltet ihr auch? Nicht einer unter euch glaubt an eine unsterbliche Seele. Ihr seid Freßbäuche, sage ich euch, leere Bäuche! Und an nichts anderes denkt ihr, als sie euch anzufüllen!«

Darüber wurden sie böse und schrieen alle auf einmal. Mitten im Streite geschah es dann, daß Christof, von seinem Temperament fortgerissen, revolutionärer wurde als alle anderen. Wenn er sich auch dagegen auflehnte: sein intellektueller Hochmut, die wohltuende Vorstellung von einer rein ästhetischen Welt, die zur Freude des Geistes geschaffen wäre, verkroch sich beschämt beim Anblick einer Ungerechtigkeit. Ist eine Welt etwa ästhetisch, in der acht Menschen unter zehn in Armut oder Bedrängnis leben, in körperlichem oder seelischem Elend? Kommt mir nur nicht damit! Man muß schon ein schamloser Privilegienbesitzer sein, um eine solche Behauptung zu wagen. Ein Künstler wie Christof konnte nach seinem Gewissen nicht anders als auf der Seite der Arbeitenden stehen. Wer hat unter der Unmoral der sozialen Lebensbedingungen, unter der empörenden Vermögensungleichheit der Menschen mehr zu leiden als der geistige Arbeiter? Der Künstler stirbt Hungers oder wird Millionär, ohne daß ein anderer Grund dazu bestände als die Laune der Mode oder die Laune derer, die mit ihr spekulieren. Eine Gesellschaft, die ihre Besten untergehen läßt, oder sie in übertriebener Weise entlohnt, ist eine widernatürliche Gesellschaft; sie verdiente ausgerottet zu werden. Jeder Mensch, ob er arbeitet oder nicht, hat das Anrecht auf ein Minimum von Leben. Jede Arbeit, sei sie gut oder minderwertig, muß entlohnt werden, und zwar nicht nach ihrem wirklichen Wert (wer könnte darüber ein unfehlbarer Richter sein?), sondern nach den rechtmäßigen und normalen Bedürfnissen des Arbeitenden. Dem Künstler, dem Gelehrten, dem Erfinder, der der Gesellschaft zur Ehre gereicht, kann und muß sie einen genügenden Unterhalt zusichern, um ihm Zeit und Mittel zu ermöglichen, ihr noch weiter zur Ehre zu gereichen. Das und nicht mehr. Die Mona Lisa ist keine Million wert. Zwischen einer Summe Geldes und einem Kunstwerk bestehen keinerlei Beziehungen; das Werk steht nicht über oder unter dem Wert des Geldes; es steht außerhalb desselben. Es handelt sich nicht darum, es zu bezahlen; es handelt sich darum, daß der Künstler leben kann. Gebt ihm genug, daß er essen und in Frieden arbeiten kann. Es ist widersinnig und widerlich, wenn man aus ihm einen Dieb an fremdem Eigentum machen will. Um es rund heraus zu sagen: jeder Mensch, der mehr besitzt, als er zu seinem und der Seinen Leben und zur normalen Entwickelung seines Verstandes nötig hat, ist ein Dieb. Was er zuviel hat, haben andere zu wenig. Wie oft, wenn wir von dem unerschöpflichen Reichtum Frankreichs reden hörten, von den mächtigen Vermögen, haben wir, die Arbeiter, die Intellektuellen, Männer wie Frauen, traurig gelächelt – wir, die wir seit unserer Geburt uns bei der Arbeit aufreiben, um das zu erwerben, was uns vor dem Hungertode bewahrt, und das wir oft dann noch nicht einmal erwerben; denn wir sehen die Besten unter uns vor Anstrengung zugrunde gehen, – wir, die wir die seelische und geistige Auslese der Nation sind! Ihr, die ihr mehr als eueren Teil am Reichtum der Welt habt, ihr seid reich durch unser Leiden und unsere Armut. Das stört euch nicht einmal; es fehlt euch nicht an Sophismen, die euch beruhigen: ihr redet von dem heiligen Eigentumsrecht, dem gesetzmäßigen Lebenskampf, den erhabenen Interessen des Molochs Staat und des Fortschrittes, jenes Fabelungeheuers, jenes fragwürdigen Besseren, dem man das Gute opfert, – das Gut der anderen. Trotz alledem werdet ihr es durch eure Sophismen niemals widerlegen können: »Ihr habt mehr als ihr zum Leben braucht. Wir aber haben nicht genug. Und wir sind ebenso viel wert wie ihr; und Einige unter uns sind mehr wert als ihr alle zusammen.«

 

So teilte sich Christof der Rausch der Leidenschaften mit, die um ihn brodelten. Hinterher wunderte er sich über derartige Anfälle von Beredsamkeit, aber er legte ihnen keinen Wert bei. Er schob diese leichte Ereiferung dem Wein zu, und sie machte ihm Spaß. Er bedauerte nur, daß der Wein nicht besser sei; und er lobte seine rheinischen Gewächse. Er war auch weiter überzeugt, daß er mit den revolutionären Ideen nichts zu schaffen habe. Aber es geschah eigentümlicherweise, daß Christof, wenn er diese Ideen erörterte, oder sie sogar unterstützte, mit wachsender Leidenschaftlichkeit kämpfte, während, im Vergleich dazu, die seiner Gefährten abzunehmen schien.

In Wahrheit besaßen sie weniger Illusionen als er. Selbst die wildesten Rädelsführer, die das Bürgertum am meisten fürchtete, waren im Grunde unsicher und verteufelt bürgerlich. Coquard mit seinem geilen, wiehernden Lachen ließ zwar seine Stimme grollen und fuchtelte mit den Armen, aber er glaubte das, was er redete, nur halb. Freude am Reden, am Kommandieren, am Sich-Betätigen trieb ihn; er war ein Maulheld der Gewalttätigkeit; er durchschaute die bürgerliche Feigheit, und es belustigte ihn, ihr Furcht einzujagen, indem er stärker tat, als er war. Christof gegenüber gab er das lachend und ohne Umstände zu. Graillot kritisierte alles, aber auch alles, was man schaffen wollte; er ließ nichts zur Reife kommen. Joussier sagte zu allem ja. Er wollte niemals unrecht haben. Er sah das Häßliche seiner Beweisführung wohl ein, blieb aber um so eigensinniger dabei; er hätte den Sieg der Sache seinem Prinzipienstolz aufgeopfert. Aber Anfälle von verstocktem Glauben wechselten bei ihm mit Anfällen von zersetzendem Pessimismus, in denen er über die Verlogenheit der Ideologen und die Zwecklosigkeit alles Strebens mit Bitterkeit urteilte.

Die Mehrzahl der Arbeiter war ebenso. In einem Augenblick konnten sie aus einem Überschwang an Worten in tiefste Niedergeschlagenheit verfallen. Sie hatten noch unendliche Illusionen, aber diese waren auf nichts gegründet; sie hatten sie nicht mühevoll erobert und selbst geschaffen, sondern fertig übernommen nach dem Gesetz der kleinsten Kraft, dem gleichen Gesetz, das sie zur Zerstreuung in die Kneipen oder ins Tingeltangel trieb. Unheilbare Denkfaulheit war es, die nur allzu viele Entschuldigungen hatte; waren sie doch wie das mißhandelte Vieh, das nach nichts anderem verlangt, als sich niederlegen und in Frieden seinen Fraß und seine Träume wiederkäuen zu dürfen. Waren diese Träume aber einmal verflogen, so blieb nichts weiter zurück, als eine noch größere Erschlaffung und der Katzenjammer. Immerfort schrieen sie nach einem Führer; doch kaum hatten sie einen, so verdächtigten sie ihn und ließen ihn fallen. Das Traurigste war, daß sie damit nicht ganz unrecht hatten: die Führer wurden, einer nach dem anderen, durch den Köder des Reichtums, des Erfolges und der Eitelkeit angelockt. Auf einen Joussier – den die verzehrende Schwindsucht und die drohende Nähe des Todes vor der Versuchung bewahrte – kamen so und soviele andere, die Verrat übten oder Abtrünnige wurden! Sie waren Opfer der Seuche, die die derzeitigen Politiker und zwar aller Parteien befallen hatte: der Entsittlichung durch das Weib oder durch das Geld. Das Weib und das Geld (diese beiden Geißeln, die eigentlich eine einzige sind)! – Es gab bei der Regierung wie bei der Opposition Begabungen ersten Ranges, Menschen, die das Zeug zu großen Staatsmännern hatten (zu Richelieus Zeiten wären sie vielleicht welche geworden); aber sie waren ohne Überzeugung, ohne Charakter; das Bedürfnis nach Lebensgenuß und die Gewöhnung daran hatten sie entnervt; das brachte sie dazu, aus weitgreifenden Plänen heraus auf einmal ganz zusammenhanglos zu handeln, oder plötzlich alles im Stich zu lassen – die laufenden Angelegenheiten sowohl wie ihr Vaterland oder ihre Sache, – um sich auszuruhen und das Leben zu genießen. Sie waren wohl tapfer genug, sich in einer Schlacht töten zu lassen; aber sehr wenige dieser Führer wären fähig gewesen, in ihrem Beruf zu sterben, unbeweglich auf ihrem Posten auszuharren, die Hand am Steuer und die Augen fest geradeaus auf das unsichtbare Ziel gerichtet.

Das Bewußtsein dieser tiefwurzelnden Schwachheit schnitt der Revolution den Lebensfaden ab. Die Arbeiter vergeudeten ihre Zeit damit, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Ihre Streiks mißglückten immer – wegen der beständigen Mißhelligkeiten zwischen den Führern oder den Berufsgenossenschaften, zwischen den Reformern und den Revolutionären und wegen zu großer Ängstlichkeit bei allem großmäuligen Drohen; sie scheiterten an dem ererbten Herdentrieb, der diese Empörer bei der ersten gesetzlichen Mahnung wieder unter das Joch zwang; an der feigen Selbstsucht und der Gemeinheit derer, die den Aufstand der anderen benutzten, um sich an die Arbeitgeber zu machen, sich in gutes Licht zu setzen und sich ihre von Eigennutz diktierte Treue teuer bezahlen zu lassen. Ganz abgesehen von der den Massen eigenen Disziplinlosigkeit, der volkstümlichen Anarchie. Sie wollten wohl gemeinschaftliche Streiks machen, die einen durchaus revolutionären Charakter haben sollten; aber sie wollten nicht, daß man sie als Revolutionäre behandelte. An den Bajonetten lag ihnen ganz und gar nichts. Sie bildeten sich ein, man könne Eierkuchen machen, ohne Eier zu zerschlagen. Jedenfalls wäre ihnen lieber gewesen, daß andere die Eier aufschlugen.

Olivier sah, beobachtete und wunderte sich gar nicht. Er hatte sofort erkannt, wieviel tiefer diese Menschen standen als die Tat, die sie zu verwirklichen vorgaben; aber er hatte auch die Schicksalsmacht erkannt, die sie vorwärtsriß, und er merkte, daß Christof unbewußt im Strome mitschwamm. Ihn aber, der sich nichts Besseres wünschte, als sich fortreißen zu lassen, wollte der Strom nicht. Er blieb am Ufer und sah das Wasser vorüberfließen.

Es war ein starker Strom: er wühlte eine ungeheure Masse von Leidenschaften, Interessen und Glaubensüberzeugungen auf, die aufeinander stießen, sich rieben, sich im schäumenden Strudel und zwischen den gegensätzlichsten Strömungen miteinander vermengten. Die Führer schwammen voraus; sie waren von allen am wenigsten frei, denn sie wurden gestoßen; und vielleicht glaubten sie auch unter allen am wenigsten; einst hatten sie geglaubt, sie glichen den Priestern, die sie so oft verspottet hatten, die an ihr Gelübde gebunden waren, an den Glauben, den sie einmal besessen hatten, und den sie bis zum Ende zu bekennen gezwungen waren. Hinter ihnen her zog die große Herde, die brutal, unsicher und kurzsichtig war. Die meisten hatten den Glauben, aus Zufall, oder weil die Strömung gerade in der Richtung jener Utopien ging. Wechselte die Strömung, so hörte ihr Glaube noch am selben Abend auf. Viele glaubten auch aus Betätigungsdrang, aus Abenteuerlust, aus romantischer Dummheit, andere auf Grund schwätzerischer Logik, die jedes gesunden Menschenverstandes bar war; einige wenige glaubten aus Güte. Die Schlauköpfe bedienten sich der Ideen nur als Waffe im Kampf; ihr Streben ging aufs Nächste: sie kämpften für ein festes Gehalt, für eine bestimmte Zahl von Arbeitsstunden. Die Schlimmsten hofften im geheimen, sich einmal für ihr elendes Leben in gemeiner Weise schadlos halten zu können.

Aber der Strom, der sie trug, war weiser als sie; er kannte sein Ziel. Was machte es ihm aus, ob er sich augenblicklich am Damm der alten Welt brechen mußte! – Olivier sah voraus, daß eine soziale Revolution heute niedergeschlagen werden würde. Aber er wußte auch, daß sie niemals durch eine Niederlage, sondern nur durch den Sieg beendigt werden könnte; denn die Unterdrücker geben dem Verlangen der Unterdrückten nur dann Folge, wenn diese Unterdrückten ihnen Furcht einflößen. So förderte die Gewalttätigkeit der Revolutionäre ihre Sache weit weniger als die Gerechtigkeit dieser Sache selbst. Beide waren ein Teil von dem Gesetz der blinden aber sicheren Kraft, die die Menschheit lenkt.

»Denn ihr, die der Herr gerufen hat, erwäget, was ihr seid. Dem Fleische nach gibt es unter euch nicht viel Weise, noch Starke, noch viel Edele. Aber Er hat die Tollheiten dieser Welt ausgewählet, um die Weisen zu verwirren; und Er hat die Schwächen dieser Welt ausgewählet, um die Starken zu verwirren; und Er hat die Niedrigkeiten dieser Welt und die Verächtlichkeiten und die Dinge ausgewählet, die nichts sind, um die auszutilgen, die da sind ...«

Mochten nun aber Vernunft oder Unvernunft die Dinge der Welt regieren, mochte die soziale Organisation, durch den Syndikalismus vorbereitet, für die Zukunft einen verhältnismäßig glücklichen Erfolg versprechen, so meinte Olivier doch, daß es sich für Christof und ihn nicht der Mühe verlohne, ihre ganze Illusions- und Opferkraft in diesem erdgebundenen Kampfe, der keine neue Welt erschließen konnte, zu verschwenden. In seiner mystischen Hoffnung auf die Revolution war er enttäuscht. Das Volk schien ihm nicht besser und nur wenig aufrichtiger als die anderen Klassen; vor allem unterschied es sich von den anderen nicht genug. Oliviers Blick und Herz wurden von den Inselchen der Unabhängigen angezogen, von den kleinen Gruppen wahrhaft Gläubiger, die hier und dort wie Blumen aus dem Wasser, inmitten der Sturzwellen von Interessen und schmutzigen Leidenschaften, emportauchten. Die Elite kann sich noch so sehr mit der Menge vermischen wollen: sie wird immer zur Elite zurückkommen – zur Auslese aller Klassen und aller Parteien – zu denen, die das Feuer tragen. Und ihre heilige Pflicht ist es, darüber zu wachen, daß das Feuer in ihren Händen nicht verlösche.

Olivier hatte schon seine Wahl getroffen.

 

Wenige Häuser von dem seinen entfernt, war der Laden eines Flickschusters. Der Raum lag etwas tiefer als die Straße, und sein Inneres war mit ein paar zusammengenagelten Brettern ausgekleidet; die Fenster waren schmutzig und teils mit Papier verklebt. Man mußte drei Stufen hinabsteigen und konnte dann nur gebückt stehen. Es war gerade Platz genug für eine Reihe auszubessernder Schuhe und zwei Schemel. Den ganzen Tag über hörte man nach dem Beispiel des klassischen Flickschusters den Herrn der Werkstatt singen. Er pfiff, klopfte seine Sohlen, brüllte mit heiserer Stimme Gassenhauer und Revolutionslieder oder rief hinter seiner Glaskugel hervor die vorbeigehenden Nachbarinnen an. Eine Elster mit gebrochenem Flügel, die in einer Hausmeisterloge wohnte und hüpfend auf dem Bürgersteig einherspazierte, stattete ihm Besuche ab. Sie setzte sich auf die oberste Stufe am Ladeneingang und schaute dem Flickschuster zu. Er hielt einen Augenblick inne, um ihr im Flötenton Zoten zu erzählen, oder er mühte sich ab, ihr die »Internationale« vorzupfeifen. Sie saß und hörte mit erhobenem Schnabel ernsthaft zu; hin und wieder duckte sie sich, streckte den Schnabel vor, als wolle sie grüßen, und schlug ungeschickt mit den Flügeln, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden; dann machte sie plötzlich kehrt, unterbrach ihr Gegenüber mitten in einem Satz und flog mit ihrem einen Flügel und dem Flügelstutz auf die Lehne einer Bank, von wo aus sie die Hunde des Stadtviertels verhöhnte. Dann machte sich der dumme Schuster wieder ans Besohlen, aber die Flucht seiner Zuhörerin hinderte ihn nicht, die unterbrochene Rede zu Ende zu führen.

Er war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte ein gutmütiges, zugleich mürrisches Aussehen, kleine lachende Augen unter dicken Augenbrauen, einen Schädel, der auf dem Scheitel kahl war und wie ein Ei aus einem Haarnest herausschaute, behaarte Ohren, eine schwarze zahnlückige Mundhöhle, die sich bei Lachanfällen wie ein Brunnen öffnete, einen schmutzigen und struppigen Bart, in dem er mit seinen dicken, pechbeschmierten Tatzen ausgiebig wühlte. Er war im Stadtviertel unter dem Namen »Vater Feuillet« oder »Papa La Feuillette« bekannt. Wer ihn aber ärgern wollte, brauchte ihn nur La Fayette zu nennen; denn in der Politik war der Alte »scharlachrot«. Als ganz junger Mann hatte er an dem Aufstand der Kommune teilgenommen, war zum Tode verurteilt und schließlich deportiert worden; er war stolz auf seine Erinnerungen, und sein Groll umfaßte Badinguet, Gallifet und Foutriquet. Er erschien stets pünktlich bei allen revolutionären Versammlungen und war ein begeisterter Anhänger Coquards, um des Racheideals willen, das dieser Mann mit dem schönen Bart und der Donnerstimme prophezeite. Er versäumte nicht eine seiner Reden, trank förmlich seine Worte, lachte mit aufgesperrtem Mund über seine Scherze, schnappte seine Schimpfreden auf und jubelte über die Kämpfe und das verheißene Paradies. Am nächsten Morgen beim Frühschoppen las er in der Zeitung die kurze Wiedergabe der Reden noch einmal durch; er las sie sich und seinem Lehrling laut vor. Wollte er sie noch eingehender genießen, so ließ er sie sich von dem Lehrling vorlesen und ohrfeigte ihn, wenn er eine Zeile übersprang. Seine Arbeit lieferte er nicht ganz genau am versprochenen Tage ab. Dafür war es solide Arbeit: sie verdarb zwar die Füße, aber sie selbst war unverwüstlich.

Der Alte hatte einen Enkel von dreizehn Jahren bei sich, der bucklig, kränklich und rachitisch war, der Besorgungen für ihn machte und ihm als Lehrling diente. Die Mutter hatte mit siebzehn Jahren ihre Familie verlassen, um sich mit einem liederlichen Arbeiter davonzumachen, der Apache geworden war; es hatte nicht lange gedauert, bis man ihn erwischt und verurteilt hatte; dann war er verschwunden. Sie blieb, von den Ihren verstoßen, mit dem Kinde allein zurück und erzog den kleinen Emanuel. Auf ihn übertrug sie die Liebe und den Haß, den sie für ihren Geliebten empfunden hatte. Sie war eine Frau von krankhaft leidenschaftlichem und eifersüchtigem Charakter. Sie liebte ihr Kind mit aufbrausender Heftigkeit, mißhandelte es in brutaler Weise, und wenn es dann krank wurde, war sie rasend vor Verzweiflung. An den Tagen, an denen sie schlechter Laune war, legte sie ihn ohne Abendessen, ohne ein Stück Brot zu Bett. Wenn sie ihn an der Hand durch die Straßen schleppte, und er müde wurde, nicht vorwärts wollte und sich am Boden entlang schleifen ließ, brachte sie ihn mit einem Fußtritt wieder hoch. Ihre Redeweise war unzusammenhängend; sie konnte aus Tränen in hysterische Heiterkeitsausbrüche verfallen. Sie war früh gestorben. Der Großvater hatte den damals sechsjährigen Kleinen zu sich genommen. Er liebte ihn herzlich, aber er hatte so seine eigene Art, es ihm zu beweisen; sie bestand darin, das Kind anzufahren, es mit den verschiedensten Schimpfworten zu benennen, es bei den Ohren zu ziehen und es von morgens bis abends mit Schlägen zu traktieren, damit es sein Handwerk gut erlerne. Gleichzeitig bläute er ihm seinen sozialen und antiklerikalen Katechismus ein.

Emanuel wußte, daß der Großvater nicht böse sei. Aber er war stets auf dem Sprunge, mit den erhobenen Ellbogen die Ohrfeigen abzuwehren: der Alte flößte ihm Furcht ein, vor allem an den Zechabenden. Denn Vater La Feuillette La Feuillette = das Fäßchen. hatte seinen Spitznamen nicht von ungefähr: er betrank sich zwei oder drei mal monatlich; dann redete er alles durcheinander, er lachte und putzte sich heraus, und zum Schluß setzte es immer einige Hiebe für den Kleinen. Er machte viel Geschrei, aber er meinte es nicht so schlimm. Jedoch das Kind war furchtsam; sein leidender Zustand machte es empfindlicher als ein anderes; es hatte einen frühreifen Verstand und von der Mutter ein menschenscheues und zügelloses Herz geerbt. Die Brutalitäten des Großvaters regten es ebenso auf wie seine revolutionären Großsprechereien (beide traten immer gleichzeitig auf, denn der Alte orakelte hauptsächlich, wenn er betrunken war). Alle Erscheinungen der Außenwelt klangen in ihm wieder, so wie der kleine Laden erzitterte, wenn die schweren Omnibusse vorbeifuhren. In Emanuels verstörter Einbildungskraft vermengten sich wie Glockenschwingungen seine täglichen Eindrücke, seine großen Kinderschmerzen, die jammervollen Erinnerungen einer frühreifen Erfahrung, Berichte von der Kommune, Brocken von dem Abendvortrag, Zeitungsfeuilletons, Reden von Versammlungen, dunkle, wilde sexuelle Triebe, die ihm die Seinen vererbt hatten. Das Ganze bildete eine ungeheuerliche, aufregende Traumwelt, aus deren düsterer Nacht, aus deren morastigem Chaos zuweilen blendende Hoffnungsstrahlen aufblitzten.

Der Flickschuster schleppte seinen Enkel manchmal in die Kneipe zu Aurelie mit. Dort wurde Olivier auf den kleinen Buckligen aufmerksam, der eine helle, zwitschernde Stimme hatte. Wenn er so unter den Arbeitern saß, mit denen er wenig sprach, hatte er genug Zeit, das kränkliche Kindergesicht mit der riesigen Stirn und der scheuen und gedrückten Miene zu studieren; er war Zeuge der vertraulichen Plumpheiten, die man zu ihm sagte, und bei denen sich die Züge des Kleinen schweigend zusammenkrampften. Er hatte gesehen, wie bei manchen revolutionären Reden seine kastanienbraunen, sammetweichen Augen in fantastischem Entzücken über ein künftiges Glück strahlten – über ein Glück, das, selbst wenn es sich jemals verwirklichen sollte, nicht viel an seinem jämmerlichen Dasein ändern würde. In solchen Augenblicken verklärte sein Blick sein unschönes Gesicht, so daß man es vergaß. Der schönen Berthe selbst fiel das auf. Eines Tages sagte sie es ihm und küßte ihn, ehe er es sich versah, auf den Mund. Das Kind fuhr auf; es wurde blaß vor Erregung und warf sich voller Widerwillen zurück. Das Mädchen hatte gar nicht so viel Zeit, es zu bemerken: es zankte sich schon wieder mit Joussier herum. Nur Olivier sah Emanuels Verwirrung; er verfolgte den Kleinen mit den Augen und sah, wie er sich mit zitternden Händen und gesenktem Kopf ins Dunkel zurückzog und von der Seite her glühende und erzürnte Blicke auf das Mädchen warf. Er ging zu ihm hin und redete sanft, ja höflich mit ihm, so daß er seine Scheu verlor ... Wie unendlich wohl kann ein sanftes Entgegenkommen einem Herzen tun, das jeder Rücksicht entwöhnt ist! Es ist, als ob vertrocknete Erde einen Wassertropfen gierig aufsaugt. Es bedurfte nur weniger Worte, nur eines Lächelns, damit sich der kleine Emanuel im geheimsten Herzen Olivier ganz ergab und bei sich entschied, daß Olivier zu ihm gehöre. Als er ihm nachher auf der Straße begegnete und entdeckte, daß sie Nachbarn seien, war ihm das wie ein geheimnisvolles Schicksalszeichen dafür, daß er sich nicht getäuscht habe. Er paßte auf, ob Olivier bei dem Laden vorüberkäme, damit er ihm guten Tag wünschen könne; und wenn es geschah, daß der zerstreute Olivier nicht nach seiner Seite hin blickte, fühlte Emanuel sich verletzt.

Als Olivier eines Tages bei Vater Feuillette eintrat, um etwas zu bestellen, war Emanuel überglücklich. Als die Arbeit fertig war, trug er sie zu Olivier; er hatte dessen Rückkehr nach Hause abgepaßt, damit er sicher sei, ihn anzutreffen. Olivier war so in seine Arbeit vertieft, daß er ihn kaum beachtete; er bezahlte und sagte weiter nichts; das Kind schien auf etwas zu warten, sah nach rechts und nach links, und nur widerstrebend schien es fortzugehen. Olivier ahnte in seiner Güte, was in ihm vorging; er lächelte und versuchte, trotz der Verlegenheit, die es ihm stets bereitete, mit jemandem aus dem Volke zu reden, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Dieses Mal gelang es ihm, ganz schlichte, unmittelbare Worte zu finden. Mit dem Ahnungsvermögen dessen, der das Leid kennt, sah er (doch in zu einseitiger Weise) in dem Kinde ein gleich ihm vom Leben verwundetes Vögelchen, das, den Kopf unterm Flügel, auf seiner Vogelstange traurig zusammengeduckt sitzt und sich damit tröstet, von tollen Flügen ins Licht zu träumen. Ein ähnliches Gefühl instinktiven Vertrauens führte das Kind zu ihm; es wurde von diesem schweigsamen Menschen angezogen, der es nicht anschrie, der keine rauhen Worte brauchte, bei dem man sich vor den Brutalitäten der Straße geschützt fühlte. Und das mit Büchern angefüllte Zimmer, in dem rund um die Wände Bücherreihen liefen, welche die Träume von Jahrhunderten bargen, flößte ihm eine Art religiöser Ehrfurcht ein. Er suchte sich Oliviers Fragen nicht zu entziehen; er antwortete gern, wenn auch eine plötzlich einsetzende Scheu ihn daran hindern wollte; es fehlte ihm nur am Ausdruck. Olivier brachte voller Geduld und Vorsicht die trübe, stammelnde Seele dazu, sich zu eröffnen. Allmählich gelang es ihm, in ihr zu lesen, zu erkennen, was sie an Hoffnungen und lächerlichem, rührendem Glauben an eine Verbesserung der Welt barg. Er hätte jedoch darüber nicht lachen können, denn er wußte, daß sie das Unmögliche erträumte und daß sie die Menschen nicht ändern würde. Auch die Christen haben das Unmögliche erträumt; auch sie haben die Menschen nicht geändert. Wo ist der sittliche Fortschritt zwischen dem Zeitalter des Perikles und dem des Herrn Fallières? Jede Glaubensüberzeugung aber ist schön; und wenn die eine entschwindet, muß man die neu sich entzündende begrüßen; es gibt deren nie zuviel. Olivier beobachtete mit wachsender Teilnahme, welch unruhiges Licht den Geist des Kindes verwirrte. Welch sonderbares Gehirn! ... Olivier gelang es nicht, diesen sprunghaften Gedanken zu folgen; dieser Geist war einer zusammenhängenden und vernünftigen Anstrengung nicht fähig. Während man mit dem Knaben sprach, blieben seine Gedanken weit zurück, ohne zu folgen und klammerten sich an irgend ein Bild, das Gott weiß was für ein eben gesprochenes Wort heraufbeschworen harte; dann holten sie plötzlich alles ein und gingen mit einem Sprung weit über das Besprochene hinaus, indem sie aus irgend einem alltäglichen Gedanken, einem braven, bürgerlichen Satz eine ganze Zauberwelt, ein heldenhaftes, phantastisches Credo erstehen ließen. Diese dahindämmernde Seele, die plötzlich sich aufbäumend erwachte, war von einem kindlichen und mächtigen Verlangen nach Optimismus erfüllt; zu allem, was man zu ihm sagte, sei es über Kunst oder Wissenschaft, fügte er den einen gefälligen, melodramatischen Schluß, der auf seine Phantasien zurückführte und sie befriedigte.

Olivier las dem Kleinen des Sonntags ein wenig vor, um zu sehen, wie er es aufnehme. Er meinte, ihn mit realistischen Familiengeschichten fesseln zu können, und er wählte die Kindheitserinnerungen Tolstois. Dem Kleinen machte das wenig Eindruck; er sagte:

»Na ja, so ist es, das kennt man.«

Und er begriff nicht, wie man sich so viel Mühe geben könne, um Tatsächliches zu beschreiben ...

»Das ist eben ein kleiner Bengel,« sagte er verächtlich.

Ebenso wenig war er für Geschichte empfänglich, und gar die Wissenschaft ärgerte ihn; sie bedeutete für ihn die langweilige Vorrede zu einem Märchen: von unsichtbaren Kräften, die in den Dienst des Menschen gestellt waren, gleich den schrecklichen und gebändigten Dämonen. Wozu all diese Erklärungen? Wenn man etwas gefunden hat, braucht man nicht zu sagen, wie man es gefunden hat, sondern was man gefunden hat. Gedankenanalyse ist bürgerlicher Luxus. Die Seele des Volkes braucht die Synthese, sie braucht fertige Ideen, seien sie nun gut oder schlecht; sie können sogar eher schlecht sein als gut, aber sie müssen in einer Beziehung zum Handeln stehen, das lebenerfüllte und mit Elektrizität geladene Wirklichkeit ist. Von der ganzen Literatur, die Emanuel kennen konnte, rührte ihn am meisten das epische Pathos einiger Stellen von Hugo, und die schwülstige Rhetorik der revolutionären Redner, die er nicht ganz verstand und die, ebenso wie Hugo, sich selbst nicht immer verstanden. Die Welt war für ihn wie für sie nicht ein zusammenhängendes Gefüge von Ursache und Wirkung, sondern ein unendlicher, in Dunkel getauchter und von zitterndem Licht übergossener Raum, durch den des Nachts Sonnenblitze gleich riesigen Flügelschlägen gingen. Olivier versuchte vergebens, ihm seine bürgerliche Logik beizubringen. Die widerspenstige und verdrossene Seele entschlüpfte ihm unter den Händen. Sie fühlte sich behaglich in der Unbestimmtheit und beim Zusammenstoß ihrer halluzinatorischen Empfindungen, gleich einer liebenden Frau, die sich mit geschlossenen Augen hingibt.

Was Olivier in dem Kinde als verwandt empfand, zog ihn an und verstimmte ihn gleichzeitig: seine Einsamkeit, seine hochmütige Schwäche, seine idealistische Glut und – was so ganz anders war – jene unausgeglichene Vernunft, jene blinden und wilden Begierden, jene sinnliche Zügellosigkeit, die keine Vorstellung von Gut und Böse hatte, wie es die bürgerliche Moral festsetzt. Dabei ließ Emanuel dieses ungebändigte Temperament nur zum Teil ahnen, das Olivier, hätte er es ganz gekannt, erschreckt haben würde. Er kannte nicht im entferntesten diese Welt der dunklen Leidenschaften, die im Herzen und Hirn seines kleinen Freundes wogten. Unser bürgerlicher Atavismus hat uns allzu vernünftig gemacht. Wir wagen nicht einmal, in uns hinein zu schauen. Wenn wir ein Hundertstel der Träume, die ein anständiger Mann hat, zum Ausdruck brächten oder der Begierden, die eine keusche Frau beunruhigen, würde man Zeter schreien. Lassen wir diese Ungeheuerlichkeiten ruhen und reden wir nicht über sie! Aber machen wir uns klar, daß sie vorhanden sind und daß sie in jungen Seelen ungehemmt wirken. Der Kleine hatte alle Begierden und alle erotischen Träume, die allgemein für pervers gelten; sie überfielen ihn unvermittelt, ruckweise, wie Wirbelwinde; und da seine Häßlichkeit ihn vereinsamte, wurden die Begierden nur um so heißer. Olivier wußte davon nichts. Vor ihm schämte Emanuel sich. Oliviers Frieden und seine Reinheit übertrugen sich auf ihn. Das Beispiel eines solchen Lebens zähmte ihn. Das Kind empfand für Olivier eine heiße Liebe. Und seine zurückgedrängten Leidenschaften wirbelten in ungestümen Träumen durcheinander: Menschheitsglück, soziale Brüderlichkeit, Wunder der Wissenschaft, fantastischer Aufschwung, wilde und barbarische Dichtung, – eine ganze heldenhafte, erotische, kindliche, glänzende und niedere Welt war es, in der sein Verstand und sein Willen ruhelos und fiebernd umherirrten.

Sehr viel Zeit blieb ihm nicht, um diesen Träumen nachzuhängen, vor allem nicht in der Krambude des Großvaters, der keinen Augenblick schwieg und von morgens bis abends pfiff, klopfte und schwatzte. Aber für Träume ist immer noch Raum. Wieviel Traumtage kann man stehend, mit offenen Augen, in einer einzigen Sekunde erleben! – Das Tagewerk des Arbeiters paßt recht gut zu solchen sprunghaften abgerissenen Gedanken. Einer etwas längeren, logisch eng verbundenen Gedankenkette zu folgen, würde seinem Geist schwer fallen, jedenfalls eine Willensanstrengung erfordern. Gelänge es ihm auch, so würden doch hier und da ein paar Glieder fehlen; aber in den Pausen zwischen rhythmischen Bewegungen schieben sich Ideen ein, tauchen Bilder auf; die regelmäßigen Bewegungen des Körpers entfachen sie wie der Blasebalg das Feuer. Gedanken des Volkes! Sie sind wie Rauch- und Feuergarben, Funkenregen, die verlöschen, aufglühen und wieder verlöschen! Manchmal aber entfacht ein Funke, vom Winde getragen, die Feuersbrunst in dürren Wäldern und in den gefüllten bürgerlichen Scheuern ...

Es gelang Olivier, Emanuel in einer Buchdruckerei unterzubringen. Es war die Sehnsucht des Kindes gewesen, und der Großvater widersetzte sich nicht; er sah seinen Enkel gern gebildeter als er selbst es war, und vor der Druckerschwärze hatte er Achtung. Die Arbeit war in dem neuen Beruf anstrengender als im alten; aber unter den vielen Arbeitern konnte der Kleine seinen Gedanken ungestörter nachhängen als in der Bude, wo er allein neben dem Großvater saß.

Am schönsten war die Frühstückspause. Er hielt sich fern von der Arbeiterflut, die die kleinen Tische auf dem Bürgersteig und die Weinschenken des Stadtviertels überschwemmte, und entschlüpfte, eilig hinkend, in die benachbarten Anlagen. Dort setzte er sich rittlings auf eine Bank unter dem Blätterdach einer Kastanie neben einem Bronzefaun, der eine Traube in der Hand hielt, und dort schmauste er sein Brot und das Stück Wurst, das in ein fettiges Papier eingewickelt war; und er genoß es langsam, während eine Schar Spatzen ihn umgab. Fontänen warfen ein Rieselnetz feinen Regens auf den grünen Rasen. Blaue Tauben mit runden Augen gurrten in einem durchsonnten Baum. Und rings um ihn her tönte das ungeheuerliche Summen von Paris, das Rollen der Wagen, das rauschende Meer der Schritte, die vertrauten Straßenrufe, das ferne, fröhliche Pfeifchen eines Kesselflickers, der Hammer eines Steinklopfers, der auf dem Pflaster klang, die zarte Musik eines Springbrunnens, – es umhüllte ihn jener fieberheiße und vergoldete Zaubermantel, der den Traum: »Paris« umgibt. – Und der kleine Bucklige, der kauend rittlings auf der Bank saß, beeilte sich nicht, seine Bissen zu schlucken. Er träumte in wonnevoller Betäubung vor sich hin und fühlte sein schmerzendes Rückgrat und seine jämmerliche Seele nicht mehr: er war wie gebadet in einem unklaren und berauschenden Glück ...

… Warmes Licht, Sonne der Gerechtigkeit, die uns morgen leuchten wird, leuchtest du nicht jetzt schon? Alles ist so gut, so schön! Man ist stark, man ist gesund, man liebt ... Ich liebe, ich liebe alle, alle lieben mich ... Ach, wie schön ist es doch! Wie schön wird es morgen sein! ...

Die Fabriksirenen pfiffen. Das Kind erwachte, schlang seinen Bissen herunter, tat einen tiefen Zug aus dem nahen Brunnen, kroch in sein buckliges Gehäuse zurück und begab sich mit seinem hüpfenden, hinkenden Gang wieder an seinen Platz in der Druckerei, vor die Kästen mit den Zauberlettern, die eines Tages das Mene Tekel der Revolution schreiben sollten.

 

Vater Feuillet hatte einen alten Freund, Trouillet, den Papierhändler, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Er hatte einen Papier- und Kurzwarenladen, in dessen Auslagen man rosa und grüne Bonbons in Glasdosen sah, und in Pappschachteln Puppen ohne Arme und Beine. Oft stand der eine auf seiner Türschwelle, der andere in seiner Bude, und dann blinzelten sie sich über die Straße herüber zu und machten sich Zeichen durch Kopfschütteln und allerhand sonstige Gebärden. Zu manchen Stunden, wenn der Flickschuster vom Klopfen müde war und, wie er sagte, den Krampf im Hintern hatte, gaben sie sich Signale, La Feuillette mit seinem kläffenden Mundwerk, Trouillet mit einem undeutlichen Muhen, wie ein heiseres Kalb; dann gingen sie gemeinsam zur nächsten Kneipe, um ein Gläschen zu trinken. Mit dem Heimkehren hatten sie es nicht eilig. Sie waren verteufelte Schwätzer. Fast ein halbes Jahrhundert kannten sie sich. Auch der Papierhändler hatte seine kleine Rolle in dem großen Schauerstück von 1871 gespielt. Man hätte das nicht gedacht, wenn man den dicken, friedlich aussehenden Mann mit der schwarzen Kappe und der weißen Bluse sah, mit dem grauen Soldatenschnauzbart, den schwimmenden, blaßblauen, rotgeäderten Augen, unter denen die Lider Säckchen bildeten, und den schlaffen, glänzenden Wangen, diesen Mann, der immer schwitzte, ein Bein gichtisch nachzog, kurzatmig war und mit schwerer Zunge sprach. Von seinen einstigen Illusionen aber hatte er nichts verloren. Während einiger Jahre, da er als Flüchtling in der Schweiz gewesen war, hatte er Gesinnungsgenossen verschiedener Nationen kennen gelernt, vor allem Russen, die ihn in die Schönheiten der Bruderanarchie eingeweiht hatten. In der Beziehung stimmte er mit La Feuillette nicht überein, der ein Franzose vom alten Schlage, ein Anhänger des Draufgängertums und des Absolutismus in der Freiheit war. Im übrigen glaubten sie beide felsenfest an die soziale Revolution und den Zukunftsstaat. Jeder ging durchs Feuer für einen Führer, in dem er das Ideal dessen sah, was er selbst hätte sein mögen. Trouillet war für Joussier, und La Feuillette war für Coquard. Sie stritten unaufhörlich über das, was sie trennte, da ihre gemeinsamen Gedanken ihrer Ansicht nach verbürgt waren; (sie waren ihrer Sache ganz sicher, und es fehlte nicht viel, so glaubten sie sie zwischen zwei Gläsern verwirklicht.) Der Schuster war der größere Klugschwätzer von beiden. Er glaubte aus Vernunftgründen, wenigstens bildete er es sich ein; denn Gott weiß es, seine Gründe waren etwas sonderbarer Art, und kein anderer außer ihm konnte sie recht erfassen. Da er aber von Vernunftgründen weniger verstand als vom Schuhwerk, verlangte er, daß die anderen in seine Fußstapfen treten sollten. Der weniger kampflustige und faulere Papierhändler gab sich nicht die Mühe, seine Überzeugung zu beweisen. Man beweist nur etwas, woran man zweifelt. Er aber zweifelte nicht im geringsten. Sein beständiger Optimismus sah die Dinge, wie er sie wünschte, und, falls sie anders waren, sah er sie nicht oder vergaß sie sofort wieder. Ob nun durch Willenskraft oder aus Empfindungslosigkeit, er hatte jedenfalls keinerlei Kummer; die gegensätzlichsten Erfahrungen glitten an seinem Fell ab, ohne irgend welche Spuren zu hinterlassen. – Beide waren alte, romantische Kinder, die keinen Sinn für die Wirklichkeit besaßen, und für welche die Revolution, deren bloßer Name sie berauschte, eine schöne Geschichte bedeutete, die man sich erzählt, und von der man nicht mehr ganz genau weiß, ob sie einmal geschehen wird oder ob sie schon geschehen ist. Und beide glaubten – durch einfache Übertragung ihrer ererbten Gewohnheiten, die sich jahrhundertelang vor dem Menschensohn gebeugt hatten, – an dies Gottmenschentum. Selbstverständlich waren beide antiklerikal.

Das Lustige dabei war, daß der brave Papierhändler mit einer höchst frommen Nichte zusammen wohnte, die mit ihm machen konnte, was sie wollte. Die kleine, sehr brünette, rundliche Frau mit den lebhaften Augen war von großer Zungenfertigkeit, die durch einen ausgesprochenen Marseillaiser Dialekt noch betont wurde. Sie war die Witwe eines Redakteurs im Handelsministerium. Diese anspruchsvolle kleine Bürgersfrau, die allein, ohne Vermögen, mit einem Mädelchen zurückgeblieben war, und die der Onkel aufgenommen hatte, meinte, daß sie dem Krämer, ihrem Verwandten, noch eine Gnade erweise, wenn sie in seinem Laden verkaufte. Sie thronte auf ihrem Platz mit dem Gesichtsausdruck einer abgesetzten Königin, der aber zum Glück für die Geschäfte des Onkels und für die Kundschaft durch ihren natürlichen Wortschwall und ihr Redebedürfnis gemildert wurde. Frau Alexandrine war, wie es sich für ein Wesen von ihrer Vornehmheit geziemte, Royalistin und klerikal; sie trug ihre Gefühle mit einem Eifer zur Schau, der um so taktloser war, als es ihr ein boshaftes Vergnügen machte, den alten Ungläubigen, bei dem sie sich eingenistet hatte, damit zu ärgern. Sie hatte sich zur Herrscherin des Hausstandes aufgeschwungen, die für das Gewissen des gesamten Hauspersonals verantwortlich war; konnte sie den Onkel nicht bekehren – und sie hatte sich geschworen, ihn in extremis einzufangen –, so machte es ihr doch einen Heidenspaß, den Teufel in lauter Heiligkeit zu ersticken. An die Wände hängte sie Bilder der Mutter Gottes von Lourdes und des heiligen Antonius von Padua, den Kamin zierte sie mit kleinen farbigen Reliquien unter Glas, und im Alkoven ihrer Tochter stellte sie, sobald die Zeit gekommen war, ein Kapellchen des Marienmonats mit kleinen blauen Kerzen auf. Es war nicht ganz klar, was ihr bei ihrer aufdringlichen Frömmigkeit zu zeigen wichtiger war: die aufrichtige Zuneigung für den Onkel, den sie zu bekehren wünschte, oder das Vergnügen, das sie darin fand, ihn zu ärgern.

Der brave Mann, der ein wenig apathisch und verschlafen war, ließ alles geschehen; er wagte nicht, seine gefürchtete Nichte in ihrer kriegerischen Stimmung noch mehr zu reizen; mit einer so scharfen Zunge zu streiten war unmöglich. Ein einziges Mal wurde er böse, als ein kleiner St. Joseph sich verstohlen in sein Zimmer, auf den Platz über seinem Bett, einzuschleichen versuchte. In dieser Angelegenheit entschied sich die Sache zu seinen Gunsten, denn er hätte beinahe einen Schlaganfall erlitten, und die Nichte bekam Angst; das Experiment wurde nicht wiederholt. In allem übrigen gab er nach und tat, als sähe er nichts; allerdings verursachte ihm dieser Liebe-Gott-Geruch einiges Unbehagen: aber er wollte es nicht bemerken. Im Grunde bewunderte er seine Nichte und empfand ein gewisses Behagen, von ihr schlecht behandelt zu werden. Und dann waren sie ganz eines Sinnes, wenn es galt, das Mädelchen zu verwöhnen, die kleine Reine oder Rainette.

Sie war zwischen zwölf und dreizehn Jahren und kränkelte immer. Seit Monaten hatte sie ein Hüftleiden und mußte ausgestreckt und mit der einen Seite des Körpers in einen Gipsverband gezwängt liegen, gleich einer kleinen Daphne in ihrem Rindengürtel. Sie hatte die Augen eines verwundeten Rehes und die bleiche Haut von Pflanzen, die die Sonne entbehren, einen zu großen Kopf, den ihre blaßblonden, sehr feinen, straff zurückgekämmten Haare noch größer erscheinen ließen, aber ein bewegliches und feines Gesicht, eine ausdrucksvolle kleine Nase und ein gutes kindliches Lächeln. Die von der Mutter her überkommene Frömmigkeit war bei dem leidenden und zur Untätigkeit gezwungenen Kinde zur Überspanntheit geworden. Es konnte Stunden damit zubringen, seinen Rosenkranz abzubeten, einen kleinen Korallenrosenkranz, den der Papst geweiht hatte; zuweilen hielt es mit Beten inne, um ihn leidenschaftlich zu küssen. Die Kleine tat den ganzen Tag lang beinahe nichts; Handarbeiten waren ihr langweilig; Frau Alexandrine hatte ihr keine Lust dazu gemacht. Höchstens las sie ein paar alberne Traktätchen, irgend eine abgeschmackte Wundergeschichte, deren geschwollener und banaler Stil ihr wie die Poesie selber erschien, oder die Berichte über Verbrechen mit bunten Abbildungen in den Sonntagszeitungen, die ihre törichte Mutter ihr in die Hände gab. Sie brachte kaum ein paar Häkelmaschen fertig, während sie die Lippen bewegte und weniger auf ihre Arbeit achtete, als auf die Unterhaltung, die sie mit irgend einer ihr vertrauten Heiligen oder sogar mit dem lieben Gott selber pflegte. Denn man darf nicht glauben, daß man eine Jungfrau von Orleans sein muß, um solche Besuche zu bekommen; wir alle haben deren empfangen. Nur daß gewöhnlich die himmlischen Gäste an unserem Herde sitzen und uns allein reden lassen. Sie aber sagen kein Wort. Rainette kam es nicht in den Sinn, das übelzunehmen: wer kein Wort sagt, der stimmt zu. Übrigens hatte sie soviel zu sagen, daß sie ihnen kaum Zeit zum Antworten ließ; sie antwortete an ihrer Statt. Sie war eine schweigsame Schwätzerin; von ihrer Mutter hatte sie die Redseligkeit geerbt; aber dieser Strom ergoß sich in Worten nach innen, wie ein Bach, der unter der Erde verschwindet. – Natürlich nahm sie an der Verschwörung gegen den Onkel teil, um ihn zu bekehren; sie freute sich jedesmal, wenn im Hause die Geister des Lichts die Geister der Finsternis wieder um einen Zollbreit zurückgedrängt hatten; und mehr als einmal gelang es ihr, dem Alten ein Amulett in das Innenfutter seines Anzuges zu nähen oder in eine seiner Taschen eine Rosenkranzperle gleiten zu lassen, die der Onkel, um seinem Nichtchen einen Gefallen zu tun, nicht zu bemerken schien. – Diese Herrschaft der beiden Frömmlerinnen über den Pfaffenfresser bildete die ganze Empörung und Freude des Flickschusters. Er war unerschöpflich in derben Späßen über die Weiber, die die Hosen anhaben; und er zog seinen Freund auf, der sich unter den Pantoffel duckte. Eigentlich hatte er keinen Grund, den Schadenfrohen zu spielen, denn er selbst war zwanzig Jahre lang durch eine zänkische und hausbackene Frau heimgesucht worden, die ihn als alten Trunkenbold behandelte, und vor der er die Flügel hängen ließ. Aber er hütete sich wohl, das zu erwähnen. Der Papierhändler verteidigte sich schwach und ein wenig beschämt und predigte mit schwerfälliger Rede eine Duldsamkeit im Sinne Krapotkins.

Rainette und Emanuel waren Freunde. Seit ihrer frühesten Kindheit sahen sie sich täglich. Um die Wahrheit zu sagen: Emanuel wagte nur selten, sich in das Haus einzuschleichen. Frau Alexandrine sah ihn als Enkel eines Ungläubigen und als dreckigen kleinen Schuster scheel an. Aber Rainette verbrachte ihre Tage auf einem Ruhebett neben dem Fenster im Erdgeschoß. Emanuel trommelte im Vorübergehen an die Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und wünschte grinsend guten Tag. Im Sommer, wenn das Fenster offen stand, blieb er stehen, stützte die Arme möglichst hoch auf das Fensterbrett (denn er bildete sich ein, daß diese Stellung vorteilhaft für ihn wäre, daß seine durch diese Haltung erhobenen Schultern über seine wirkliche Mißgestalt hinwegtäuschten), und so plauderten sie miteinander. Rainette, die durch Besuche nicht verwöhnt war, bemerkte es nicht mehr, daß Emanuel bucklig war. Emanuel, der vor Mädchen Furcht hatte, Furcht und Abscheu, machte bei Rainette eine Ausnahme. Die kleine Kranke, die halb in Gips lag, hatte für ihn etwas Unberührbares und Fernes, etwas nicht eigentlich Irdisches. Nur an dem Abend, an dem die schöne Berthe ihn auf den Mund geküßt hatte, und auch noch am folgenden Tage vermied er in instinktiver Scheu Rainette; er ging mit gesenktem Kopf, ohne stehen zu bleiben, am Haus vorüber und strich furchtsam und mißtrauisch wie ein wilder Hund in einiger Entfernung umher. Dann kam er wieder. Sie war so wenig Weib! Wenn er aus der Werkstatt kam und sich so klein wie möglich machte, weil er zwischen den Buchhefterinnen hindurch mußte, die in ihren langen Arbeitskitteln wie in Nachthemden dastanden, wenn die großen, lärmenden und lachenden Mädchen mit ihren gierigen Augen ihn zu entkleiden schienen, – wie schnell eilte er dann zu Rainettes Fenster. Er war seiner Freundin dafür dankbar, daß sie eine Kranke war: er konnte ihr gegenüber den Überlegenen und sogar ein wenig den Gönner spielen. Er machte sich seine Bedeutung zu nutze, erzählte von den Straßenereignissen und setzte sich dabei in ein gutes Licht. Manchmal, wenn er in galanter Stimmung war, brachte er Rainette im Winter geröstete Kastanien, im Sommer eine Handvoll Kirschen mit. Sie gab ihm dafür von den vielfarbigen Bonbons, die die beiden Gläser in der Auslage füllten, und dann betrachteten sie zusammen Ansichtskarten. Das waren glückliche Augenblicke. Sie vergaßen beide den traurigen Körper, der ihre Kinderseelen gefangen hielt.

Aber es kam auch vor, daß sie wie die Großen von Politik und Religion zu reden anfingen. Dann wurden sie eben so dumm wie die Großen. Das gute Einvernehmen hörte auf. Sie sprach von Wundern, von neuntägigen Andachten oder von frommen, mit Papierspitzen umrandeten Bildern und von Ablaßtagen. Er sagte, das wären Dummheiten und Muckereien, wie er dergleichen von seinem Großvater hatte benennen hören. Aber wollte er dann von Volksversammlungen erzählen, zu denen ihn der Alte geführt hatte, von Reden, denen er beigewohnt, so unterbrach sie ihn voller Verachtung und sagte, daß alle diese Leute Trunkenbolde wären. Die Unterhaltung spitzte sich zu. Das Gespräch kam immer wieder auf die Verwandten zurück. Was der eine über die Mutter und die andere über den Großvater an Schmähreden gehört hatte, das sagten sie sich jetzt wiederholt ins Gesicht. Dann sprachen sie von sich selbst. Sie suchten, einander unangenehme Dinge zu sagen. Das gelang ihnen mühelos. Was er sagte, war plump. Sie dagegen fand die boshaftesten Worte. Dann ging er fort, und wenn er wiederkam, erzählte er, daß er mit anderen Mädchen zusammen gewesen sei, daß sie viel miteinander gelacht hätten und daß sie sich am nächsten Sonntag wieder treffen wollten. Sie sagte nichts: sie tat, als verachte sie seine Worte. Aber plötzlich geriet sie in Wut, warf ihm ihre Häkelnadel an den Kopf, schrie ihn an, daß er fortgehen solle und daß sie ihn nicht ausstehen könne; und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Er ging davon, ohne besonders stolz auf seinen Sieg zu sein. Er hatte die größte Lust, die mageren Händchen zu fassen und zu sagen, das alles sei nicht wahr, aber er zwang sich aus Stolz, nicht umzukehren.

Eines Tages wurde Rainette gerächt. – Er war mit seinen Werkstattkameraden zusammen. Sie mochten ihn nicht recht leiden, weil er sich so viel wie möglich von ihnen fernhielt und nicht redete, oder auch zu gut redete, in einer harmlos hochtrabenden Art, wie ein Buch, oder eher wie ein Zeitungsartikel (mit denen er ja vollgepfropft war). An jenem Tage redeten sie von der Revolution und der Zukunft. Er geriet in Begeisterung und wurde lächerlich. Ein Kamerad schrie ihn brutal an: »Zunächst einmal bist du selbst dabei überflüssig; du bist zu häßlich. In der zukünftigen Gesellschaft wird es keine Buckligen mehr geben. Man schmeißt sie bei der Geburt ins Wasser.«

Das stürzte ihn von der Höhe seiner Beredsamkeit herab. Ganz verstört schwieg er. Die anderen bogen sich vor Lachen. Den ganzen Nachmittag redete er keine Silbe mehr. Am Abend kehrte er heim; er beeilte sich, nach Hause zu kommen, damit er sich in einem Winkel verbergen und mit seinem Leid allein sein könne. Olivier begegnete ihm. Sein fahles Gesicht fiel ihm auf; er ahnte etwas von seinem Leide.

»Du hast Kummer. Warum?«

Emanuel wollte nicht sprechen. Olivier drang liebevoll in ihn. Der Kleine verharrte in seinem Schweigen. Aber sein Kinn zitterte, als wäre er dem Weinen nahe. Olivier faßte ihn bei der Hand und nahm ihn mit sich nach Hause. Wenn er auch selbst gegenüber der Häßlichkeit und Krankheit den instinktiven und grausamen Ekel empfand, den alle haben, die nicht mit der Seele einer barmherzigen Schwester auf die Welt gekommen sind, so ließ er sich doch nichts anmerken.

»Man hat dir weh getan?«

»Ja.«

»Was hat man dir getan?«

Der Kleine schüttete sein Herz aus. Er sagte, er sei häßlich. Er erzählte, daß seine Kameraden gesagt hätten, ihre Revolution sei nicht für ihn.

»Auch für sie ist sie nicht, mein Kleiner, und ebensowenig für uns. Die Revolution wird nicht in einem Tage gemacht. Man arbeitet für die, die nach uns kommen werden.«

Der Kleine war enttäuscht, daß es sich um eine so ferne Zeit handele.

»Macht es dir nicht Freude zu denken, daß man für das Glück von Tausenden von Jungen wie du einer bist, arbeitet, für Tausende von Menschen?«

Emanuel seufzte und sagte:

»Aber es wäre doch schön, wenn man selbst ein wenig von dem Glück abbekäme.«

»Mein Junge, man muß nicht undankbar sein. Du lebst in der schönsten Stadt, in der an Wundern reichsten Zeit; du bist nicht dumm, und du hast gute Augen. Denke an alles, was man rings um sich her sehen und lieben kann.«

Er wies ihn auf allerlei hin.

Das Kind hörte zu, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ja, aber wenn man sich sagt, daß man immer in seiner Haut stecken soll!«

»Nicht doch, du wirst einmal herauskommen.«

»Na, und dann ist es zu Ende.«

»Was weißt du davon?«

Der Kleine war verdutzt. Der Materialismus gehörte zum Credo des Großvaters. Er meinte, daß nur die Pfaffen an ein ewiges Leben glaubten. Er wußte, daß sein Freund nicht zu diesen gehörte, und er fragte sich, ob Olivier ernsthaft spräche. Olivier aber faßte seine Hand und sprach lange zu ihm: von seinem idealistischen Glauben, von der Einheit des grenzenlosen Lebens, das weder Anfang noch Ende habe, und dessen Milliarden Geschöpfe, dessen Milliarden Augenblicke nichts seien als die Strahlen einer einzigen Sonne. Aber er sagte ihm das nicht in dieser abstrakten Form. Instinktmäßig paßte er sich in seinen Worten der Gedankenwelt des Kindes an; die antiken Legenden, die greifbaren und tiefgründigen Vorstellungen der alten Schöpfungsgeschichten kamen ihm wieder in den Sinn; halb lachend, halb ernst sprach er von der Seelenwanderung und von den unzähligen Formen, durch die die Seele rinnt und sich reinigt, gleich einer Quelle, die von Becken zu Becken fließt. Er flocht in seine Erzählungen alte christliche Legenden und das Bild des Sommerabends, der sie beide umgab. Er saß neben dem offenen Fenster. Der Kleine stand neben ihm und hatte seine Hand in der Oliviers. Es war Samstag Abend. Die Glocken läuteten. Die ersten Schwalben, die eben erst zurückgekehrt waren, strichen an den Mauern der Häuser entlang. Der weite Himmel lachte über der Stadt, die sich in Dunkel zu hüllen begann. Das Kind lauschte mit angehaltenem Atem auf das Märchen, das ihm sein großer Freund erzählte. Und Olivier, den die Aufmerksamkeit seines kleinen Zuhörers anfeuerte, ließ sich immer mehr von seinen eigenen Geschichten hinreißen.

Es gibt im Leben entscheidungsschwere Sekunden, in denen, ebenso wie in der Nacht einer Großstadt die elektrischen Lichter plötzlich aufflammen, in der dunklen Seele das ewige Licht aufleuchtet. Es genügt ein Funken, der aus einer Seele sprüht, um in eine andere, wartende, das prometheische Feuer zu werfen. An jenem Frühlingsabend entzündete das ruhige Wort Oliviers ein unverlöschbares Licht in dem Geist, den der kleine unförmige Körper, gleich einer ausgebuckelten Laterne umschloß. Von Oliviers Vernunftgründen verstand er nichts; er hörte sie kaum. Die Legenden aber, die Bilder, die für Olivier schöne Fabeln und eine Art von Gleichnissen waren, wurden für ihn Fleisch und Blut, wurden Wirklichkeit. Das Märchen belebte sich und umwob ihn. Und alles, was er von seinem Fenster aus sehen konnte: die Menschen, die auf der Straße vorbeigingen, Reiche wie Arme, die Schwalben, die die Mauern streiften, die ermatteten Pferde, die ihre Last zogen, und die Steine der Häuser, welche das Dunkel der Dämmerung einsogen, der erblassende Himmel, an dem das Licht erstarb –, diese ganze äußere Welt nahm er plötzlich in sich auf wie einen Kuß. Es war nur wie ein Blitz; dann verlosch alles. Er dachte an Rainette und sagte:

»Aber wer zur Messe geht, wer an den lieben Gott glaubt, ist doch verdreht?«

Olivier lächelte:

»Sie glauben wie wir,« sagte er. »Wir glauben alle dasselbe. Nur glauben sie weniger als wir. Das sind die Leute, die, wenn sie das Licht sehen wollen, ihre Fensterladen schließen müssen und die Lampe anzünden. Sie stecken Gott in menschliche Gestalt. Wir haben bessere Augen. Aber immer ist es dasselbe Licht, das wir lieben.«

Der Kleine kehrte durch die dunklen Straßen heim, in denen das Gas noch nicht angezündet war. Die Worte Oliviers summten in seinem Kopf. Er sagte sich, daß es ebenso grausam sei, sich über die Leute lustig zu machen, die schlechte Augen haben, als über jene, die bucklig sind. Und er dachte an Rainette, die doch hübsche Augen hatte. Und er dachte daran, daß er sie zum Weinen gebracht hatte. Das war ihm unerträglich. Er kehrte um und ging an das Haus des Papierhändlers. Das Fenster stand noch halb offen. Vorsichtig schob er den Kopf hinein und rief leise:

»Rainette.«

Sie antwortete nicht.

»Rainette, verzeih mir.«

Rainettes Stimme antwortete im Dunkeln:

»Abscheulicher Junge! Ich kann dich nicht ausstehen!«

»Verzeihung!« wiederholte er.

Er schwieg. Dann, mit einem plötzlichen Anlauf, sagte er noch leiser, ganz verwirrt und ein wenig verlegen:

»Rainette, weißt du, ich glaube auch wie du an die guten Götter.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

Er sagte es hauptsächlich, weil er großmütig sein wollte. Aber nachdem er es nun einmal gesagt hatte, glaubte er es selbst ein wenig.

Eine Zeit lang blieben sie still. Sie sahen sich nicht. Wie schön war die Nacht draußen! ...

Der kleine Krüppel murmelte:

»Wie schön wird es sein, wenn man tot ist!«

Man konnte den leichten Atem Rainettes hören.

Er sagte:

»Gute Nacht, kleiner Frosch.«

Rainette antwortete mit gerührter Stimme:

»Gute Nacht.«

Erleichtert ging er davon. Er war zufrieden, daß Rainette ihm verziehen hatte. Und ganz im Grunde seines Herzens mißfiel es dem kleinen Schmerzensreich nicht, daß eine andere um seinetwillen gelitten hatte.

 

Olivier hatte sich wieder ganz zurückgezogen, und Christof tat es ihm bald nach. Ihr Platz war wirklich nicht in der syndikalistischen Bewegung. Olivier konnte sich nicht gemeinsam mit diesen Leuten in den Dienst einer Partei stellen. Und Christof wollte es nicht. Olivier zog sich im Namen der Schwachen und Unterdrückten zurück, Christof im Namen der Starken, der Unabhängigen. Aber soweit sie sich auch voneinander entfernt haben mochten, der eine zum Bug, der andere zum Heck –, sie waren nichtsdestoweniger auf demselben Schiffe, das das Arbeiterheer und die gesamte Gesellschaft trug. Christof betrachtete frei und selbstsicher mit herausforderndem Interesse den Zusammenschluß der Proletarier; er mußte in der Volksbütte untertauchen, das brachte ihm Erholung: er ging übermütiger und frischer daraus hervor. Er hatte seine Beziehungen zu Coquard aufrecht erhalten und nahm weiter von Zeit zu Zeit seine Mahlzeiten bei Aurelie ein. War er einmal dort, so tat er sich keinerlei Zwang an; er überließ sich seiner fantastischen Laune; das Paradoxon schreckte ihn nicht, und es machte ihm ein boshaftes Vergnügen, die Fragesteller zu den äußersten Konsequenzen ihrer widersinnigen und wütend verfochtenen Prinzipien zu treiben. Man wußte niemals, ob er ernsthaft sprach oder nicht; denn er kam beim Reden ins Feuer, und schließlich verlor er seine ursprüngliche paradoxe Absicht aus dem Auge. Der Künstler in ihm ließ sich durch die Trunkenheit der anderen berauschen. In einem solchen Augenblicke ästhetischer Erregung geschah es, daß er einmal in dem Hinterzimmer von Aureliens Wirtschaft ein revolutionäres Lied improvisierte, das sofort ausgeprobt und wiederholt wurde und sich schon am nächsten Tage unter den Arbeitergruppen verbreitete. Damit hatte er sich in schlechten Ruf gebracht. Die Polizei beobachtete ihn. Manasse, der die verzweigtesten Beziehungen hatte, wurde von einem seiner Freunde, Xavier Bernard, einem jungen Polizeibeamten, gewarnt, der sich mit Literatur befaßte und behauptete, von der Musik Christofs begeistert zu sein (denn der Dilettantismus und der anarchistische Geist hatten sich sogar unter die Wachthunde der dritten Republik geschlichen).

»Euer Krafft ist im besten Zuge, ein schlimmes Spiel zu treiben,« hatte Bernard gesagt. »Er spielt den Eisenfresser. Wir wissen zwar, was wir davon zu halten haben; aber oben wäre man nicht böse, wenn man in diesem revolutionären Mischmasch einen Fremden fassen könnte, – der noch dazu Deutscher ist. Es ist das klassische Mittel, um die Partei in Verruf zu bringen und sie zu verdächtigen. Wenn dieser Tölpel nicht acht gibt, werden wir ihn einstecken müssen. Das wäre ärgerlich. Warnen Sie ihn.«

Manasse warnte Christof. Olivier beschwor ihn, vorsichtig zu sein. Christof nahm ihre Ratschläge nicht ernst.

»Bah,« sagte er, »man weiß, daß ich nicht gefährlich bin. Ich habe doch wohl das Recht, mich ein bißchen zu amüsieren. Ich mag diese Leute gern, sie arbeiten, wie ich auch, sie haben gleich mir eine Überzeugung. Offen gesagt: es ist allerdings nicht dieselbe, wir gehören nicht zu der gleichen Partei ... Ausgezeichnet! Man wird sich also schlagen. Das mißfällt mir durchaus nicht. Was willst du? Ich kann mich nicht wie du in mein Gehäuse verkriechen. Ich muß atmen können. Ich ersticke im Bürgertum.«

Olivier, der nicht so anspruchsvolle Lungen hatte, fühlte sich in seiner engen Behausung wohl, und ebenso in der ruhigen Gesellschaft seiner beiden Freundinnen, obgleich die eine, Frau Arnaud, sich in Wohltätigkeitswerke gestürzt hatte, und die andere, Cécile, so ganz von der Kinderpflege erfüllt war, daß sie von Kindern und mit ihnen nur noch in dem lallenden und albernen Tone sprach, der sich dem des Vögelchens anzupassen sucht und sein unvollkommenes Lied zu einem menschlichen Sprechen erheben will.

Aus der Zeit, als er mit den Arbeiterkreisen Berührung gehabt hatte, waren ihm zwei Bekanntschaften geblieben, zwei unabhängige Menschen wie er. Der eine, Guérin, war Tapezierer. Er arbeitete nach seiner Phantasie, wie es ihm gerade in den Sinn kam, aber sehr geschickt; er liebte sein Handwerk. Er besaß einen natürlichen Geschmack für Kunstgewerbe, den er durch Beobachtung, Arbeit und häufige Besuche in den Museen entwickelt hatte. Olivier hatte bei ihm ein altes Möbelstück ausbessern lassen; die Arbeit war schwierig, doch der Handwerker hatte sich ihrer geschickt entledigt; er hatte Mühe und Zeit darauf verwandt und verlangte von Olivier nur einen bescheidenen Lohn, so glücklich machte es ihn, daß ihm die Arbeit gelungen war. Olivier interessierte sich für ihn, fragte ihn über sein Leben aus und suchte herauszubekommen, was er von der Arbeiterbewegung dachte. Guérin dachte überhaupt nichts darüber. Er kümmerte sich nicht darum. Im Grunde gehörte er weder zu dieser Partei noch zu sonst einer. Er las wenig. Seine ganze intellektuelle Bildung hatte sich durch die Sinne vollzogen, durch das Auge, die Hand, den angeborenen Geschmack des wahren Pariser Volkes. Er war ein glücklicher Mensch. Der Typus ist nicht selten in dem Kleinbürgertum der Pariser Arbeiter, die eine der intelligentesten Gruppen der Nation ausmachen; denn sie verwirklichen ein schönes Gleichgewicht zwischen Handwerk und gesunder Geistesbetätigung.

Der andere Bekannte Oliviers war von originellerer Art. Es war ein Briefträger namens Hurteloup. Er war ein schöner, großer Mann mit offener und heiterer Miene, hellen Augen, blondem Bärtchen und Schnurrbart. Eines Tages, als er einen eingeschriebenen Brief brachte, war er in Oliviers Zimmer getreten. Während Olivier unterschrieb, ging er an der Bücherei entlang und beguckte die Büchertitel:

»Aha,« meinte er, »Sie haben die Klassiker ...«

Dann fügte er hinzu:

»Ich sammle alte historische Schriften. Alle über die Bourgogne.«

»Sie sind Bourgogner?« fragte Olivier.

»Bourguignon salé,
L'épée au côté,
La barbe au menton,
Saute, Bourguignon!«

antwortete lachend der Briefträger. »Ich bin aus der Gegend von Avallon. Ich habe Familienpapiere, die aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts stammen ...«

Olivier wurde neugierig und wollte mehr darüber wissen. Hurteloup wünschte sich nichts Besseres, als davon reden zu können. Er gehörte in der Tat einer der ältesten Familien der Bourgogne an. Einer seiner Vorfahren hatte den Kreuzzug Philipp-Augusts mitgemacht. Ein anderer war unter Heinrich II. Staatssekretär gewesen. Vom XVII. Jahrhundert an war der Verfall eingetreten. In der Revolutionszeit war die verarmte und heruntergekommene Familie in der breiten Masse des Volkes untergetaucht. Jetzt kam sie durch die redliche Arbeit, durch die körperliche und seelische Kraft und Familientreue des Briefträgers Hurteloup wieder empor. Sein liebster Zeitvertreib bestand darin, historische und genealogische Dokumente zu sammeln, die sich auf die Seinen und ihr Stammland bezogen. In seinen freien Stunden ging er in die Archive und kopierte alte Papiere. Wenn er etwas nicht verstand, bat er einen Archivar oder einen Beamten der Sorbonne, die zu seinem Dienstbezirk gehörten, um Aufklärung. Seine vornehme Abstammung verdrehte ihm nicht den Kopf; er redete darüber lachend und ohne einen Schimmer von Verlegenheit oder Gejammer über das böse Schicksal. Er besaß eine sorglose und derbe Heiterkeit, die zu sehen geradezu wohltat. Und Olivier dachte bei seinem Anblick an das geheimnisvolle Kommen und Gehen von Geschlechtern, deren Leben jahrhundertelang kraftvoll dahinströmt, dann jahrhundertelang unter der Erde verschwindet und erst dann wieder emporsteigt, nachdem es in der Tiefe neuen Energien den Weg bereitet hat. Und das Volk erschien ihm wie ein ungeheures Becken, in dem sich die Ströme der Vergangenheit verlieren, aus dem die Ströme der Zukunft fließen, die unter einem anderen Namen zuweilen doch dieselben sind.

Guérin und Hurteloup waren ihm sympathisch. Aber man begreift, daß sie ihm keine Gesellschaft sein konnten. Zwischen ihnen und ihm waren nicht viele Unterhaltungen möglich. Der kleine Emanuel beschäftigte ihn mehr; er kam jetzt fast jeden Abend zu ihm. Seit der geheimnisreichen Unterredung mit Olivier hatte sich eine Umwälzung in dem Kinde vollzogen; er hatte sich mit wahrer Wissensgier ans Lesen gemacht. Verdutzt und verdöst stand er von seinen Büchern auf. Er schien weniger gescheit als früher, redete kaum, und es gelang Olivier nicht, ihm etwas anderes als Einsilbigkeiten zu entlocken; auf seine Fragen antwortete das Kind mit Dummheiten. Olivier verlor den Mut; er suchte sich nichts anmerken zu lassen, aber er glaubte, daß er sich getäuscht habe, und daß der Kleine völlig stumpfsinnig sei. Er sah nicht die ungeheure Arbeit fieberhafter Entwicklung, die sich in den verschlungenen Wegen dieser Seele vollzog. Übrigens war er ein schlechter Pädagoge und eher fähig, aufs Geratewohl eine Hand voll guten Korns auf die Felder zu werfen, als die Erde zu jäten und zu beackern. Christofs Anwesenheit vermehrte die Verwirrung noch. Olivier empfand eine gewisse Verlegenheit, seinen kleinen Schützling dem Freunde vorführen zu sollen; er schämte sich der Dummheit Emanuels, die geradezu niederschmetternd wurde, wenn Christof anwesend war. Das Kind verschloß sich dann in eine verbissene Schweigsamkeit. Es haßte Christof, weil Olivier ihn liebte. Es litt nicht, daß ein anderer im Herzen seines Lehrers wohnte. Weder Christof noch Olivier ahnten etwas von der fanatischen Liebe und Eifersucht, die diese Kindesseele verzehrte. Und doch hatte Christof dergleichen einst auch durchgemacht. Aber er erkannte sich in diesem Geschöpf, das aus einem anderen Metall wie er gegossen war, nicht wieder. In dieser dunklen Legierung ungesunder ererbter Triebe gab alles, Liebe und Haß und schlummernde Begabung, einen anderen Ton.

 

Der erste Mai rückte heran. Ein unruhiges Rumoren ging durch Paris. Die Maulhelden der C. G. T. taten alles, um es zu verbreiten. Ihre Zeitungen verkündeten, daß der große Tag gekommen sei, beriefen die Arbeitermilizen ein und gaben das Schreckenswort aus, das den Bürger am empfindlichsten Punkt traf, am Magen ... Feri ventrem ... Sie drohten mit dem Generalstreik. Die geängstigten Pariser reisten aufs Land oder versahen sich mit Vorräten wie zu einer Belagerung. Christof hatte Canet in seinem Auto getroffen, wie er zwei Schinken und einen Sack Kartoffeln heimbrachte; er war außer sich; er wußte nicht mehr genau, zu welcher Partei er gehörte; er benahm sich einmal wie ein alter Republikaner, dann wieder wie ein Royalist oder wie ein Revolutionär. Sein Kultus der Gewalt glich einer verrückt gewordenen Magnetnadel, deren Zeiger von Norden nach Süden und von Süden nach Norden springt. Öffentlich stimmte er zwar weiter in die Aufschneidereien seiner Freunde mit ein, aber heimlich hätte er sich mit dem ersten besten Diktator einverstanden erklärt, wenn er das rote Gespenst davongejagt hätte.

Christof lachte über diese allgemeine Feigheit. Er war überzeugt, daß nichts geschehen würde. Olivier war dessen weniger sicher. Seine bürgerliche Abstammung hatte ihm ein für alle mal ein wenig von dieser ewigen schwachen Angst hinterlassen, die die Erinnerung und die Erwartung der Revolution dem Bürgertum verursacht.

»Ach was!« meinte Christof, »du kannst ruhig schlafen. Deine Revolution fängt morgen nicht an. Ihr habt ja alle Angst, die Angst vor Schlägen. Überall ist sie: im Bürgertum, im Volk, in der ganzen Nation, in allen Nationen des Okzidents. Man hat nicht mehr genug Blut. Man fürchtet sich, es zu vergießen. Seit vierzig Jahren macht alles nur Worte und Zeitungsartikel. Sieh dir doch eure berühmte Affäre an. Wie laut habt ihr geschrieen: ›Tod! Blut! Nieder mit ihnen!‹ ... O, ihr Gascogner Kadetten! Was für eine Unmenge von Worten und Tinte! Und wieviel Blutstropfen?«

»Baue nicht darauf,« meinte Olivier. »Diese Furcht vor Blut ist der geheime Instinkt, daß beim ersten vergossenen Blut das Tier tollwütig wird und die Bestie unter dem Kulturmenschen zum Vorschein kommt. Gott weiß, wer sie dann zu bändigen vermag! Jeder schreckt vor dem Kriege zurück; wenn der Krieg aber ausbricht, wird er grauenvoll werden.«

Christof zuckte die Achseln und sagte, es sei nicht ohne Sinn, wenn sich das Zeitalter als Helden den Großsprecher Cyrano und den großmäuligen Hahn Chantecler erwählt habe, diese Helden der Lüge.

Olivier schüttelte den Kopf. Er wußte, daß Prahlen in Frankreich der Anfang zur Tat ist. Immerhin glaubte er ebensowenig wie Christof an eine nahe bevorstehende Bewegung; man hatte sie zu laut verkündet, und die Regierung war auf ihrer Hut. Man konnte mit gutem Grund glauben, daß die Syndikalisten den Kampf auf einen günstigeren Moment verschieben würden.

 

In der zweiten Hälfte des April hatte Olivier einen Anfall von Grippe: sie überfiel ihn in jedem Winter ungefähr zur selben Zeit und brachte eine alte Bronchitis wieder zum Ausbruch. Christof kam auf zwei oder drei Tage zu ihm. Die Krankheit war ziemlich leicht und ging schnell vorüber. Aber sie führte wie gewöhnlich bei Olivier eine körperliche und seelische Ermattung mit sich, die nach dem Fallen des Fiebers noch einige Zeit bestehen blieb. Stundenlang lag er im Bett ausgestreckt, hatte keine Lust, aufzustehen, keine Lust, sich zu rühren; er lag da und sah Christof zu, der, den Rücken ihm zugewandt, an seinem Tische saß und arbeitete.

Christof war in seine Arbeit vertieft. Manchmal, wenn er des Schreibens müde war, stand er plötzlich auf und ging ans Klavier; er spielte, aber nicht, was er geschrieben hatte, sondern, was ihm unter die Finger kam. Dabei vollzog sich etwas Sonderbares. Während das Niedergeschriebene in einem Stil gehalten war, der an seine früheren Werke erinnerte, schien das, was er spielte, von einem anderen Menschen zu sein; es kam aus einer Welt rauher und gestörter Atmung. Ein Wirrwarr und eine gewaltsame Unterbrechung des natürlichen Flusses war darin, nichts von der zwingenden Logik und Ordnung, die in seiner übrigen Musik herrschte. Es war, als ob diese unüberlegten Improvisationen, die dem Bewußtsein fern waren, die wie Tierschreie mehr aus dem Blut als aus dem Denken hervorbrachen, eine seelische Gleichgewichtsstörung verrieten, ein Gewitter, das sich in ferner Zukunft zusammenballte. Christof merkte davon nichts. Olivier aber lauschte, beobachtete Christof, und eine unbestimmte Unruhe erfüllte ihn. In seinem Schwächezustand besaß sein Geist besondere Durchdringungskraft und Hellsichtigkeit; er entdeckte Dinge, die niemand sonst bemerkte.

Christof schlug einen letzten Akkord an und hielt inne, in Schweiß gebadet, ein wenig verstört; er sah Olivier mit noch abwesendem Blick an, begann zu lachen und kehrte an seinen Tisch zurück. Olivier fragte ihn:

»Was war das, Christof?«

»Garnichts,« meinte Christof, »ich plätschere im Wasser, um den Fisch herbeizulocken.«

»Wirst du das niederschreiben?«

»Was denn? Das?«

»Was du da ausgesprochen hast.«

»Und was habe ich denn ausgesprochen? Ich weiß es schon nicht mehr.«

»Aber woran dachtest du?«

»Ich weiß nicht,« sagte Christof und strich sich mit der Hand über die Stirn.

Er begann wieder zu schreiben. Stille lag wieder über dem Zimmer der beiden Freunde. Olivier schaute immer noch zu Christof hinüber. Christof fühlte diesen Blick; er wandte sich um. Oliviers Augen waren mit soviel Liebe auf ihn gerichtet! »Faulpelz!« rief er fröhlich.

Olivier seufzte.

»Was hast du?« fragte Christof.

»O, Christof, wenn ich denke, welche Schätze in dir schlummern, in dir, der du mir so nahe bist; und doch sind sie nur für die andern; ich werde keinen Teil mehr daran haben! ...«

»Bist du toll? Was fällt dir ein?«

»Wie wird dein Leben sein? Welche Gefahren, welche Kümmernisse wirst du noch durchmachen? ... Ich möchte dir folgen, ich möchte bei dir sein ... Ich werde von alledem nichts sehen. Ich werde stumpfsinnig, dumm am Wege zurückbleiben.«

»Du bist wirklich dumm. Glaubst du vielleicht, daß, selbst wenn du wolltest, ich dich unterwegs liegen ließe?«

»Du wirst mich vergessen,« sagte Olivier.

Christof stand auf und setzte sich auf das Bett neben Olivier; er faßte ihn an den Handgelenken, die vor Schwäche feucht waren. Der Hemdkragen war aufgegangen; man sah die magere Brust, die allzu durchsichtige Haut, die zart und gespannt war, wie ein Segel, das ein Windhauch schwellt und das reißen will. Die festen Finger Christofs knöpften ungeschickt den Kragen zu. Olivier ließ es geschehen.

»Lieber Christof,« sagte er zärtlich, »ein großes Glück habe ich doch in meinem Leben kennen gelernt!«

»Laß das doch! Was sind das alles für Einfälle!« sagte Christof. »Es geht dir ebenso gut wie mir!«

»Ja,« sagte Olivier.

»Nun also, warum redest du solche Dummheiten?«

»Du hast recht,« meinte Olivier beschämt und lächelnd, »die Grippe ist daran Schuld, die einen so zerschlagen macht.«

»Man muß sich zusammenreißen! Hopp! Steh auf!«

»Jetzt nicht, später.«

Er träumte weiter. Am nächsten Tage stand er auf, aber er tat es nur, um in der Kaminecke weiter zu grübeln. Der April war lau und neblig. Hinter dem sanften Schleier der silbernen Nebel entfalteten die kleinen Blättchen ihre Knospen, die unsichtbaren Vögel sangen der Sonne entgegen, die noch nicht durchdrang. Olivier spulte die Spindel seiner Erinnerungen ab. Er sah sich wieder als Kind in dem Zuge sitzen, der ihn im Nebel neben seiner weinenden Mutter aus der kleinen Stadt davontrug. Antoinette saß allein in der anderen Ecke des Wagenabteils. Zarte Umrisse, feine Landschaften tauchten wieder vor seinen Augen auf. Schöne Verse kamen ihm in den Sinn, und ihre Silben und singenden Rhythmen ordneten sich von selbst. Sein Tisch stand neben ihm; er brauchte nur den Arm auszustrecken, um die Feder zu nehmen und seine dichterischen Gesichte festzuhalten. Aber der Wille fehlte ihm; er war müde. Er wußte, daß der Duft seiner Träume sich verflüchtigen würde, sobald er sie festhalten wollte. So war es immer: das Beste seines Selbst kam nicht zum Ausdruck; sein Geist war wie ein Tal voller Blumen; aber fast niemand hatte den Zugang dazu, und sobald man die Blumen pflückte, verwelkten sie. Nur einige wenige hatten ihr kränkliches Leben fristen dürfen, einige zarte Novellen, ein paar Verse, die einen lieblichen und verwelkenden Hauch ausströmten. Diese künstlerische Ohnmacht war lange Zeit sein größter Kummer gewesen. Soviel Leben in sich fühlen, das man nicht erhalten kann! ... Jetzt hatte er sich damit abgefunden. Die Blumen haben, um zu blühen, nicht nötig, daß man sie sieht. Sie sind am schönsten auf den Feldern, wo keine Hand sie pflückt. Glücklich die Blumenfelder, die in der Sonne träumen! – Die Sonne schien wenig; aber Oliviers Träume blühten um so üppiger. Wieviele traurige, zarte, fantastische Geschichten erzählte er sich selbst in diesen Tagen! Sie kamen wer weiß woher, schwammen gleich weißen Wolken in einem Sommerhimmel, zerrannen in der Luft, und andere folgten ihnen. Der Himmel war von ihnen bevölkert; manchmal aber blieb er entwölkt. In seinem Leuchten dämmerte Olivier vor sich hin, bis zu dem Augenblick, wo von neuem die schweigenden Barken des Traumes mit ihren großen vollen Segeln vorüberglitten.

Am Abend kam der kleine Bucklige. Olivier war so in seinen Geschichten drin, daß er lächelnd und ganz davon erfüllt, ihm eine erzählte. Wie oft sprach er so in seiner Gegenwart, ohne daß das Kind eine Silbe vernehmen ließ! Man vergaß schließlich, daß es da war ... Christof, der mitten in der Erzählung erschien und von ihrer Schönheit ergriffen wurde, bat Olivier, die Geschichte noch einmal zu beginnen. Olivier weigerte sich: »Ich bin wie du,« sagte er, »ich weiß sie schon nicht mehr.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Christof. »Du bist ein ganz verteufelter Franzose, der stets ganz genau weiß, was er sagt und tut; du vergißt nie etwas!«

»Leider!« meinte Olivier.

»Dann fange noch einmal an!«

»Es macht mich müde; wozu auch?«

Christof wurde böse.

»Das ist nicht recht,« sagte er, »was nützt dir dein Denken? Was du hast, wirfst du fort. Es ist für immer verloren.«

»Nichts ist verloren,« sagte Olivier.

Der kleine Bucklige erwachte aus seiner Reglosigkeit, in die ihn Oliviers Erzählung gebannt hatte, – ging zum Fenster und stand da mit verschwommenen Augen, feindseliger Miene und verkniffenem Gesicht, ohne daß man erraten konnte, was er dachte. Er stand auf und sagte:

»Morgen wird es schön sein.«

»Ich wette,« sagte Christof zu Olivier, »daß er nicht einmal zugehört hat.«

»Morgen ist der erste Mai,« fuhr Emanuel fort, dessen mürrisches Gesicht aufleuchtete.

»Das ist seine Geschichte,« sagte Olivier, »du wirst sie mir morgen erzählen!«

»Possen!« meinte Christof.

 

Am nächsten Tage holte Christof Olivier ab, um einen Spaziergang durch Paris zu machen. Olivier war genesen. Aber er empfand immer noch eine sonderbare Müdigkeit; er ging nicht gern aus; eine unbestimmte Furcht erfüllte ihn; er mochte sich nicht unter die Menschen mischen. Herz und Geist waren willig; aber das Fleisch war schwach. Er hatte Furcht vor den Zusammenrottungen der Menschen, vor Tumult, vor allen Brutalitäten. Er wußte nur allzu gut, daß er zum Opfer geschaffen war, ohne sich verteidigen zu können, ja selbst ohne es zu wollen; denn Leiden zu verursachen war ihm ebenso entsetzlich, wie selbst zu leiden. Kränkliche Körper zittern mehr als andere vor physischen Leiden, weil sie sie besser kennen, weil sie weniger Widerstandskraft haben, und weil ihre überreizte Einbildungskraft sie ihnen unmittelbarer und blutiger vorstellt. Olivier errötete über diese Feigheit seines Körpers, die dem Stoizismus seines Willens widersprach. Er zwang sich, sie zu bekämpfen. An jenem Morgen aber war ihm jede Berührung mit den Menschen ganz besonders peinlich, er hätte sich am liebsten den ganzen Tag über eingeschlossen. Christof schalt ihn, verspottete ihn, wollte um jeden Preis, daß er ausginge, damit er sich von seiner Erstarrung befreie: seit zehn Tagen war er nicht an die Luft gekommen. Olivier stellte sich taub. Christof sagte:

»Gut, dann gehe ich ohne dich. Ich will ihren ersten Mai sehen. Wenn ich heute abend nicht zurückkomme, kannst du dir denken, daß sie mich eingesteckt haben.«

Er ging fort. Auf der Treppe holte ihn Olivier ein. Er wollte Christof nicht allein gehen lassen.

Nur wenig Menschen waren auf den Straßen: ein paar kleine Arbeiterinnen, mit einem Maiglöckchenstengel geschmückt, Arbeiter im Sonntagsstaat, die mit gelangweilter Miene spazieren gingen. An den Straßenecken, in der Nähe der Untergrundbahnhöfe, standen Polizeiagenten in Gruppen beieinander. Die Gittertore des »Luxembourg« waren geschlossen. Die Luft blieb beständig neblig und lau. Man hatte schon seit langem die Sonne nicht mehr gesehen! ... Die beiden Freunde gingen Arm in Arm. Sie redeten wenig, aber sie hatten sich herzlich lieb. Ein paar Worte streiften vertrauliche und vergangene Dinge. Vor einer Märie blieben sie stehen, um nach dem Barometer zu sehen, das langsam steigen wollte.

»Morgen werde ich die Sonne sehen,« sagte Olivier.

Sie waren ganz in der Nähe von Céciles Haus. Sie wollten erst hineingehen, um das Kind zu begrüßen.

– Doch nein, das konnte man auf dem Rückweg tun.

Vom anderen Ufer her kamen ihnen jetzt mehr Menschen entgegen; friedliche Spaziergänger in Sonntagskleidern und mit Sonntagsgesichtern, Gaffer mit ihren Kindern, herumschlendernde Arbeiter. Zwei oder drei trugen im Knopfloch die wilde rote Rose. Sie sahen harmlos aus; es waren Revolutionäre, die sich zwangen es zu sein; man fühlte, sie hatten ein wohlwollendes und optimistisches Herz, das mit dem geringsten Anlaß zum Glück zufrieden war und dankbar für schönes oder auch nur mäßiges Wetter an einem Festtage wie diesem. Wem dankbar, das wußten sie nicht genau ... eigentlich allem rings umher. Sie gingen gemächlich, heiter, bewunderten die Knospen der Bäume, die hübschen Kleider der vorübergehenden kleinen Mädchen. Sie sagten voller Stolz:

»Man kann doch nur in Paris so gut angezogene Kinder sehen.«

Christof spottete über den angesagten großen Skandal ... Die guten Leute! ... Er empfand Zuneigung, aber auch ein Körnchen Verachtung für sie.

Je weiter man kam, um so mehr drängte sich die Menge. Verdächtige, fahle Gesichter, wüste Fratzen glitten in dem Menschenstrom vorüber, lauerten auf die Stunde, in der sie nach Beute schnappen konnten. Der Schlamm war aufgewühlt. Bei jedem Schritt wurde der Fluß trüber. Jetzt floß er dunkel und schwer dahin. Gleich Luftblasen, die aus dem Grunde des Wassers zur schmutzigen Oberfläche aufsteigen, hörte man hier und da Zurufe, Pfiffe, Händlerschreie, die das Raunen durchdrangen und die verschiedenen Schichten in der Menge ermessen ließen. Am Ende der Straße, in der Nähe von Aureliens Wirtschaft, herrschte ein Lärm wie an einer Schleuse. Die Menge staute sich an einem Damm von Polizei und Truppen. Vor dem Hindernis bildete sie eine dicht gedrängte Masse, die heulte, pfiff, sang, lachte und hin und her wogte ... Man hörte das Lachen des Volkes, dieses einzige Mittel, um tausend dunkle und schlummernde Gefühle auszudrücken, die sich in Worten nicht entladen können! ...

Diese Menge war nicht feindselig gestimmt. Sie wußte nicht, was sie wollte. Sie wartete darauf, es zu wissen. Zunächst vergnügte sie sich auf ihre Weise – erregt, brutal, noch ohne schlimme Absicht, – vergnügte sich damit, zu stoßen und gestoßen zu werden, auf die Polizisten zu schimpfen oder sich untereinander zu beschimpfen. Nach und nach wurde sie gereizt. Die Hintenstehenden waren ärgerlich, daß sie nichts sehen konnten, und um so herausfordernder, als sie unter dem Schutz des menschlichen Schildes weniger aufs Spiel setzen. Die Vornstehenden wurden, da sie zwischen die Stoßenden und die Widerstrebenden gequetscht waren, um so wütender, je unerträglicher ihre Lage wurde; der Druck der Strömung, die sie trieb, verhundertfachte ihren eigenen Druck. Und je enger sie gleich einem Viehhaufen aneinander gedrängt standen, um so mehr fühlten sie, wie die Hitze der Herde ihnen Brust und Lenden durchdrang. Und es war ihnen, als bildeten sie einen einzigen Block; in jedem einzelnen waren alle; jeder war ein Riese mit den Armen eines Briareus. In manchen Augenblicken strömte eine Woge von Blut zum Herzen des tausendköpfigen Ungeheuers zurück; dann wurden die Blicke haßerfüllt und die Schreie mordlustig. Individuen, die sich versteckten, begannen aus der dritten und vierten Reihe heraus mit Steinen zu werfen. Aus den Fenstern der Häuser schauten Familien zu; sie glaubten sich im Theater, reizten die Menge und warteten mit einem kleinen Schauer angstvoller Ungeduld darauf, daß die Truppen angriffen.

Mitten durch diese kompakte Masse bahnte sich Christof mit Knie- und Ellenbogenstößen seinen Weg wie ein Keil. Olivier folgte ihm. Der lebende Block öffnete sich einen Augenblick, um sie durchzulassen, und schloß sich sogleich wieder hinter ihnen. Christof frohlockte. Er hatte vollständig vergessen, daß er fünf Minuten vorher die Möglichkeit einer Volksbewegung abgeleugnet hatte. Kaum hatte er den Fuß in den Strom gesetzt, als er schon mitgerissen war. Obgleich er dieser französischen Menge und ihren Forderungen fremd gegenüberstand, fühlte er sich doch sofort mit ihr verschmolzen; was sie wollte, war ihm ziemlich gleich; er selbst wollte; es kümmerte ihn wenig, wohin er trieb; er ging und sog den Hauch des Wahnsinns ein.

Olivier folgte ihm, mitgezogen, aber freudlos; hellsichtig, wie er war, verlor er niemals das Bewußtsein seiner selbst. Den Leidenschaften dieses Volkes, das das seine war, stand er tausendmal fremder gegenüber als Christof; und dennoch wurde er gleich einem Strandgut von ihnen dahingetragen. Die Krankheit, die ihn geschwächt hatte, lockerte die Bande zwischen ihm und dem Leben. Wie fern fühlte er sich diesen Leuten! ... Da er ohne jeden Rausch und sein Geist frei war, prägten sich ihm die kleinsten Einzelheiten der Dinge ein. Er betrachtete voller Entzücken den goldblonden Nacken eines Mädchens vor ihm, den blassen und feinen Hals. Und gleichzeitig flößte ihm der scharfe Geruch, der aus diesen zusammengepferchten Leibern gärte, Ekel ein.

»Christof!« flehte er.

Christof hörte nicht.

»Christof!«

»He?«

»Kehren wir um ...«

»Du hast wohl Angst?« fragte Christof.

Er ging weiter. Olivier folgte ihm mit traurigem Lächeln.

Einige Reihen vor ihnen bemerkte er in der gefährlichen Zone, wo das zurückgedrängte Volk eine Art Damm bildete, seinen Freund, den kleinen Buckligen. Er kauerte auf dem Dach eines Zeitungskioskes, hatte sich mit beiden Händen angeklammert und schaute, in unbequemer Stellung zusammengeduckt, lachend über die Mauer der Soldaten; mit Siegermiene wandte er sich der Menge zu. Als er Olivier bemerkte, warf er ihm einen strahlenden Blick zu; dann spähte er wieder mit erwartungsvoll geöffneten Augen über den Platz; er wartete ... Auf was wohl? – Auf das, was kommen sollte ... Er war nicht der einzige. Unzählige andere rings um ihn her erwarteten das Wunder! Und Olivier, der Christof betrachtete, sah, daß auch Christof wartete.

Er rief das Kind an, schrie ihm zu, herabzusteigen. Emanuel stellte sich taub und sah nicht mehr zu ihm hin. Er hatte Christof entdeckt. Es war ihm sehr recht, daß er sich in dem Tumult einer Gefahr aussetzte, einesteils, um Olivier seinen Mut zu zeigen, anderenteils, um ihn dafür zu strafen, daß er mit Christof zusammen war.

Unterdessen hatten sie in der Menge einige ihrer Freunde wiedergefunden – Coquard mit dem goldenen Bart, nach dessen Meinung nur einige Prügeleien zu erwarten waren und der mit erfahrenem Blick den Moment voraussah, in dem der Krug überfließen würde. Etwas weiter abseits stand die schöne Berthe, die mit ihren Nachbarn derbe Worte wechselte und sich schön tun ließ. Es war ihr gelungen, sich in die erste Reihe durchzuzwängen, und sie beschimpfte die Polizisten, bis sie heiser war. Coquard näherte sich Christof. Als Christof ihn erblickte, fand er seinen Spott wieder.

»Was habe ich gesagt? Es wird garnichts geschehen.«

»Abwarten!« sagte Coquard. »Bleiben Sie nicht da vorn. Die Sache wird schon schief gehen.«

»Ach, Unsinn!« meinte Christof.

Genau in diesem Augenblick rückten die Kürassiere, die der Steinwürfe überdrüssig geworden waren, vor, um die Eingänge zum Platz freizumachen; die Gendarmen, die in der Mitte gestanden hatten, gingen im Laufschritt vor. Sofort begann die Auflösung. Nach den Worten des Evangeliums wurden die Ersten die Letzten. Aber sie gaben sich alle Mühe, es nicht lange zu bleiben. Um sich für ihren Rückzug zu entschädigen, pfiffen die wütenden Ausreißer ihre Verfolger aus und schrien »Mörder!«, bevor noch der erste Schuß gefallen war. Berthe schlüpfte wie ein Aal zwischen den Reihen hindurch und stieß gellende Schreie aus. Sie traf ihre Freunde, suchte Schutz hinter dem breiten Rücken Coquards, kam wieder zu Atem, drückte sich an Christof, kniff ihn aus Furcht oder aus irgend einem anderen Grunde in den Arm, warf Olivier einen schmachtenden Blick zu, ballte die Faust gegen den Feind und hörte nicht auf, zu keifen. Coquard faßte Christof am Arm und sagte:

»Gehen wir zu Aurelie.«

Sie hatten nur ein paar Schritte bis dorthin. Berthe war mit Graillot und ein paar Arbeitern schon vorangegangen. Christof, dem Olivier folgte, war im Begriff einzutreten. Die Straße war scharf gewölbt: der Bürgersteig vor der Wirtschaft lag fünf bis zehn Stufen höher als der Fahrdamm. Olivier schöpfte wieder Atem, nachdem er endlich aus der Menschenflut heraus war. Aber der Gedanke, wieder in die stickige Luft der Kneipe zu kommen, in das Gebrüll dieser Besessenen, widerstrebte ihm. Er sagte zu Christof:

»Ich gehe nach Hause.«

»Geh, mein Junge,« sagte Christof, »ich komme in einer Stunde nach.«

»Begib dich nicht mehr in Gefahr, Christof!«

»Hasenfuß!« meinte Christof lachend und trat in die Wirtschaft ein.

Olivier bog um die Ecke. Noch ein paar Schritte, und er war in einem Quergäßchen, das ihn von dem Handgemenge trennte. Da erinnerte er sich an seinen kleinen Schützling. Er wandte sich um und suchte ihn. Er entdeckte ihn genau in dem Augenblick, in dem Emanuel, der sich von seinem Beobachtungsposten hatte heruntergleiten lassen, hinfiel und von der Menge überrannt wurde; die Flüchtenden traten über ihn weg, die Polizisten kamen heran. Olivier überlegte nicht erst. Er sprang die Stufen hinab und eilte zu Hilfe. Ein Erdarbeiter sah die Gefahr, die gezogenen Säbel, sah Olivier, der die Hand ausstreckte, um dem Kinde aufzuhelfen, sah den brutalen Strom der Polizisten, der sie alle beide umwarf. Er schrie und stürzte nun auch herbei. Kameraden folgten ihm in hastigem Lauf. Noch andere kamen, die auf der Schwelle der Kneipe standen, und dann, auf ihren Ruf hin, die anderen, die drinnen saßen. Die beiden Haufen packten sich wie Hunde an der Gurgel. Und die Frauen, die oben auf den Stufen geblieben waren, heulten. – So gab der kleine aristokratische Bürger den Anstoß zu dem Kampfe, den niemand weniger gewollt hatte als er.

Christof, der von den Arbeitern mitgerissen wurde, warf sich in das Getümmel, ohne zu wissen, wie es entstanden war. Der Gedanke, daß Olivier darunter sein könne, lag ihm meilenfern. Er glaubte ihn schon weit weg und ganz in Sicherheit. Es war unmöglich, irgend etwas vom Kampfe zu sehen. Jeder hatte genug damit zu tun, aufzupassen, wer ihn angriff. Olivier war in dem Wirbel verschwunden gleich einer untersinkenden Barke. Ein Säbelstich, der nicht für ihn bestimmt war, hatte ihn an der linken Brust getroffen. Er stürzte hin; die Menge trampelte über ihn hinweg. Christof war durch eine Gegenströmung im Gedränge bis zum anderen äußersten Ende des Kampfplatzes gedrängt worden. Er war dabei ganz kaltblütig, ließ sich stoßen und stieß fröhlich wieder, als wäre er auf einer Kirmes. Er dachte so wenig an den Ernst der Dinge, daß er, als ihn ein Polizist mit ungeheuer breiten Schultern packte, den närrischen Gedanken hatte, ihn ebenfalls zu umfassen und zu sagen:

»Einen Walzer, mein Fräulein?«

Als ihm aber ein zweiter Polizist auf den Rücken sprang, schüttelte er sich wie ein Eber und bearbeitete alle beide mit Faustschlägen; festnehmen lassen wollte er sich denn doch nicht. Einer seiner Widersacher, der, der ihn von hinten gepackt hatte, kugelte aufs Pflaster, der andere wurde wütend und zog blank. Christof sah die Säbelspitze dicht vor seiner Brust; er wich aus, drehte das Handgelenk des Mannes um und suchte ihm die Waffe zu entwinden. Er begriff das alles nicht mehr; bis zu diesem Augenblick war ihm das Ganze wie ein Spiel erschienen. Jetzt aber kämpften sie wirklich und keuchten sich ins Gesicht. Er hatte keine Zeit, nachzudenken. Er sah die Mordlust im Auge des anderen. Und Mordlust erwachte in ihm. Er sah, daß er wie ein Hammel abgeschlachtet werden würde. Mit einer plötzlichen Bewegung drehte er das Handgelenk und kehrte den Säbel gegen die Brust des Mannes; er stieß zu; er fühlte, daß er tötete – er tötete. Und mit einem Schlage war vor seinen Augen alles verwandelt. Er war trunken – er heulte.

Seine Schreie hatten eine unglaubliche Wirkung. Die Menge hatte Blut gewittert. Im Augenblick wurde sie zur wilden Meute. Man schoß von allen Seiten. In den Fenstern der Häuser erschien die rote Fahne. Aus dem alten Atavismus der Pariser Revolution erstand im Nu eine Barrikade. Die Straße wurde aufgerissen, die Gasflammen abgedreht, Bäume niedergeschlagen, ein Omnibus umgestürzt. Man machte sich einen seit Monaten für die Arbeiten der Untergrundbahn offenen Graben zunutze. Die gußeisernen Gitter rings um die Bäume zerbrach man und warf mit den Stücken. Waffen kamen aus den Taschen und aus den Häusern zum Vorschein. In einer knappen Stunde hatte man den Aufstand: das ganze Stadtviertel war im Belagerungszustand. Und auf der Barrikade stand, nicht mehr wiederzuerkennen, Christof und heulte seinen Revolutionsgesang, in den zwanzig Kehlen einstimmten.

Olivier war zu Aurelie getragen worden. Er war ohne Bewußtsein. Man hatte ihn auf ein Bett in das dunkle Hinterzimmer gelegt. Zu Füßen stand, völlig niedergeschmettert, der kleine Bucklige. Berthe hatte zuerst eine große Aufregung gehabt: von weitem hatte sie geglaubt, Graillot wäre verwundet, und als sie Olivier erkannte, war ihr erster Ruf gewesen: »Welches Glück! Ich glaubte, es sei Leopold!«

Jetzt war sie voller Mitleid. Sie küßte Olivier und stützte seinen Kopf mit einem Kissen. Aurelie hatte ihm mit ihrer gewohnten Ruhe die Kleider geöffnet und legte einen ersten Verband an. Manasse Heimann kam gerade zur rechten Zeit mit Canet, seinem unzertrennlichen Freunde. Sie waren, wie Christof, aus Neugierde gekommen, um die Kundgebungen mitanzuschauen. Sie hatten dem Tumult beigewohnt und hatten Olivier fallen sehen. Canet heulte wie ein Hund; und doch dachte er gleichzeitig:

»Was habe ich nur da zu suchen gehabt?«

Manasse untersuchte den Verwundeten; er stellte sofort fest, daß er verloren sei. Er empfand Zuneigung für Olivier; aber er war nicht der Mensch, sich bei etwas aufzuhalten, was er nicht ändern konnte. Und er kümmerte sich nicht weiter um ihn, nur um an Christof denken zu können. Er bewunderte Christof, wenn er ihn auch als einen pathologischen Fall ansah. Er kannte seine Gedanken über die Revolution und wollte ihn aus der törichten Gefahr herausretten, in die er um einer Sache willen geraten war, die nicht die seine war. Es ging nicht allein um das Risiko, in dem Scharmützel den Schädel eingeschlagen zu kriegen: wenn man Christof festnähme, würden alle ihn anklagen, um sich selbst zu retten. Man hatte ihn seit langem gewarnt; die Polizei paßte ihm auf; man würde ihm nicht nur seine Dummheiten, sondern auch die der anderen aufhalsen. Xavier Bernard, den Manasse eben getroffen hatte, und der ebenso sehr zum Vergnügen als aus Dienstpflicht durch die Menge strich, hatte ihm im Vorübergehen ein Zeichen gemacht und zu ihm gesagt:

»Euer Krafft ist verrückt. Was sagen Sie, jetzt spielt er sich gar auf der Barrikade auf! Diesmal werden wir ihn nicht laufen lassen! Er soll sich doch in Gottes Namen aus dem Staube machen!«

Das war leichter gesagt als getan. Wenn Christof erfuhr, daß Olivier im Sterben lag, würde er tobsüchtig werden, er würde töten, würde getötet werden. Manasse sagte zu Bernard:

»Wenn er nicht auf der Stelle fortkommt, ist er verloren. Ich werde ihn fortschaffen.«

»Aber wie?«

»In Canets Auto, das dort an der Straßenecke steht.«

»Ja, aber erlaube mal ...« meinte Canet ganz außer Fassung gebracht.

»Du wirst ihn nach Laroche bringen,« fuhr Manasse fort. »Ihr werdet rechtzeitig den Schnellzug nach Pontarlier erreichen. Du verstaust ihn nach der Schweiz.«

»Er wird nicht wollen.«

»Er wird wollen. Ich werde ihm sagen, daß Jeannin sich mit ihm treffen wird, – daß er schon abgereist ist.«

Ohne auf Canets Einwände zu hören, ging Manasse, Christof von der Barrikade zu holen. Er war nicht besonders tapfer. Jedesmal, wenn er einen Schuß hörte, duckte er sich. Und er zählte an den Pflastersteinen ab (gerade oder ungerade), ob er getötet werden würde oder nicht. Aber er wich nicht zurück, er ging bis an sein Ziel. Christof saß oben auf einem umgeworfenen Omnibusrade und vergnügte sich damit, Revolverschüsse in die Luft zu feuern. Rings um die Barrikade war die Flut des Gesindels von Paris, das das Pflaster ausgespieen zu haben schien, angewachsen, wie das schmutzige Wasser einer Kloake nach einem starken Regen. Die ersten Kämpfer waren von ihm überschwemmt worden. Manasse rief Christof, der ihm den Rücken zudrehte, an. Christof hörte nicht. Manasse kletterte zu ihm hinauf und zog ihn am Ärmel. Christof stieß ihn zurück, so daß er beinahe hingestürzt wäre. Manasse blieb standhaft, zog sich von neuem hinauf und schrie:

»Jeannin ...«

In dem Lärm ging der Rest des Satzes unter. Christof war mit einem Schlage verstummt, ließ seinen Revolver fallen, polterte von seinem Gerüst herunter und kam zu Manasse, der ihn mit sich zog.

»Sie müssen fliehen!« sagte Manasse.

»Wo ist Olivier?«

»Sie müssen fliehen!« wiederholte Manasse.

»Warum, zum Teufel?« sagte Christof.

»In einer Stunde ist die Barrikade erobert; heute abend noch werden Sie eingesperrt werden.«

»Was habe ich denn getan?«

»Sehen Sie Ihre Hände an ... Nun? Ihre Sache liegt sehr einfach. Man wird Sie nicht schonen. Alle haben Sie erkannt. Es ist kein Augenblick zu verlieren.«

»Wo ist Olivier?«

»Zu Hause.«

»Ich will zu ihm.«

»Unmöglich. Die Polizei erwartet Sie vor der Türe. Er schickt mich, Sie zu warnen. Machen Sie, daß Sie fortkommen.«

»Wo soll ich denn hin?«

»In die Schweiz. Canet bringt Sie in seinem Auto fort.«

»Und Olivier?«

»Wir haben keine Zeit zum Schwatzen ...«

»Ich reise nicht, ohne ihn vorher zu sehen.«

»Sie werden ihn dort sehen. Er trifft morgen mit Ihnen zusammen. Er kommt mit dem ersten Zuge. Schnell! Ich erkläre Ihnen alles.«

Er packte Christof bei der Hand. Christof, der von dem Lärm und dem rasenden Sturm, der noch eben in ihm getobt hatte, betäubt war, vermochte nicht zu begreifen, was er getan und was man von ihm verlangte; er ließ sich mitschleppen. Manasse nahm ihn am Arm, und Canet faßte seine andere Hand. Er war von der Rolle, die man ihm in der Geschichte zuteilte, keineswegs entzückt. Manasse packte sie beide ins Auto. Der gute Canet wäre untröstlich gewesen, wenn man Christof eingesteckt hätte: aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn ein anderer als er selbst ihn gerettet hätte. Manasse kannte ihn. Und da ihm seine Zaghaftigkeit etwas bedenklich erschien, besann er sich plötzlich eines anderen, als das Auto bereits zur Abfahrt ankurbelte und er sie gerade verlassen wollte, und stieg zu ihnen ein.

 

Olivier war noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Niemand war im Zimmer als Aurelie und der kleine Bucklige. Ein trauriges Zimmer ohne Luft und Licht! Es war beinahe Nacht ... Olivier tauchte einen Augenblick aus dem Abgrund auf. Er fühlte auf seiner Hand die Lippen und die Tränen Emanuels. Er lächelte schwach und legte mit Anstrengung seine Hand auf den Kopf des Kindes. Wie schwer die Hand war! ... Von neuem versank er ...

Aurelie hatte auf das Kopfkissen ein kleines Sträußchen des ersten Mai, ein paar kleine Maiglöckchen gelegt. Vom Hofe her hörte man aus einem schlecht geschlossenen Wasserhahn Tropfen auf einen Eimer fallen. Bilder zitterten eine Sekunde aus dem Grunde der Erinnerung auf, gleich einem verlöschenden Licht ... Ein Haus in der Provinz, Glycinien an der Mauer, ein Garten, in dem ein Kind spielte: es war auf einen Rasen gebettet; ein Springbrunnen rieselte in ein steinernes Becken. Ein kleines Mädchen lachte ...

 

Sie verließen Paris. Sie durchquerten weite, in Nebel gehüllte Ebenen. Zehn Jahre zuvor, an einem ähnlichen Abend, war Christof in Paris angekommen. Damals war er auf der Flucht gewesen wie heute. Damals aber lebte der, der ihn geliebt hatte; und Christof floh ihm entgegen ...

In der ersten Stunde stand Christof noch unter der Erregung des Kampfes. Er sprach viel und laut. Er erzählte in abgerissenen Sätzen, was er gesehen und getan hatte. Er war stolz auf seine Heldentaten und empfand keinerlei Gewissensbisse. Manasse und Cavet sprachen ebenfalls, um ihn zu betäuben. Nach und nach sank das Fieber, und Christof schwieg. Seine beiden Begleiter sprachen allein weiter. Er war über die Abenteuer des Nachmittags ein wenig bestürzt, aber keineswegs niedergeschlagen. Er gedachte der Zeit, als er nach Frankreich gekommen war, schon damals auf der Flucht, immer auf der Flucht. Er mußte lachen. Das war wohl sein Schicksal. Paris zu verlassen, bereitete ihm wenig Kummer; die Erde war weit; die Menschen waren überall dieselben. Wo er sich befand, war ihm ziemlich gleich, vorausgesetzt, daß er bei seinem Freunde blieb. Er rechnete darauf, am folgenden Morgen wieder mit ihm zusammenzutreffen. Man hatte es ihm ja versprochen.

Sie kamen in Laroche an. Manasse und Canet verließen ihn nicht eher, als bis sie ihn in den abfahrenden Zug gesetzt hatten. Christof ließ sich noch einmal den Ort nennen, in dem er aussteigen, den Namen des Hotels und die Post, bei der er Nachrichten finden sollte. Wider Willen zeigten sie düstere Mienen, als sie ihn verließen. Christof schüttelte ihnen fröhlich die Hand.

»Herr Gott, machen Sie nicht solche Leichenbittermienen,« rief er ihnen zu. »Wir werden uns ja wiedersehen! Das Ganze ist doch keine Staatsangelegenheit! Morgen schreiben wir euch.«

Der Zug ging ab. Sie sahen ihm nach.

»Der arme Teufel!« sagte Manasse.

Sie stiegen wieder ins Auto. Sie schwiegen. Nach einiger Zeit sagte Canet zu Manasse:

»Ich glaube, wir haben eben ein Verbrechen begangen.«

Manasse antwortete zunächst nichts; dann sagte er:

»Bah, die Toten sind tot; man muß die Lebenden retten.«

Mit der hereinbrechenden Nacht sank Christofs Erregung vollständig. In eine Ecke des Wagenabteils gedrückt, überlegte er, ernüchtert und erstarrt. Als er seine Hände betrachtete, sah er Blut daran, das nicht das seine war. Ekel durchschauerte ihn. Das Bild des Mordes tauchte wieder vor ihm auf. Er entsann sich, getötet zu haben, und er wußte nicht mehr warum. Er begann von neuem, sich die Kampfszene ins Gedächtnis zurückzurufen, aber er sah sie diesmal mit ganz anderen Augen; er begriff nicht mehr, wie er hineingezerrt worden war. Er ging den Tag wieder durch, von dem Augenblick an, in dem er mit Olivier von Hause fortgegangen war; er machte noch einmal mit ihm den Weg durch Paris, bis zu dem Augenblick, in dem ihn der Wirbel mitgerissen hatte. An diesem Punkt hörte er auf, zu begreifen; seine Gedankenkette war unterbrochen; wie hatte er schreien, zuschlagen, mit diesen Menschen etwas gemeinsam wollen können, deren Überzeugung er mißbilligte? Das war nicht er, das war nicht er! ... Das erklärte sich nur durch die vollständige Abwesenheit seines Willens! ... Er war darüber ganz entsetzt und voller Scham. War er denn nicht Herr über sich? Und wer war denn sein Herr? ... Der Schnellzug trug ihn in die Nacht hinaus. Auch in ihm war düstere Nacht; die ihn verzehrte, eine schwindelerregende, unbekannte Kraft ... Er versuchte angestrengt, seine Verwirrtheit von sich abzuschütteln; aber dafür tauchte eine andere Sorge in ihm auf. Je näher er dem Ziele kam, um so mehr dachte er an Olivier, und eine grundlose Unruhe begann sich in ihm zu regen.

Als er ankam, schaute er durch das Fenster auf den Bahnsteig nach der lieben bekannten Gestalt aus ... Niemand war zu sehen. Er stieg aus und sah immer noch umher. Ein oder zweimal meinte er ihn zu sehen ... Nein, »er« war es nicht. Er ging in das verabredete Hotel. Olivier war nicht dort. Christof hatte keinen Grund, darüber verwundert zu sein: wie hätte Olivier vor ihm dort sein können? ... Von da an aber begann die Angst der Erwartung.

Es war Morgen. Christof ging in sein Zimmer hinauf. Er kam wieder herunter. Er frühstückte. Er schlenderte durch die Straßen. Er tat, als sei sein Kopf frei; er sah sich den See an, die Auslagen der Läden; er scherzte mit der Kellnerin, er blätterte in illustrierten Zeitschriften ... Nichts fesselte ihn. Der Tag schleppte sich langsam und schwerfällig dahin. Gegen sieben Uhr abends nahm Christof, früher als gewöhnlich und ohne rechten Appetit, sein Essen ein, weil er nichts Besseres zu tun hatte, und ging dann wieder in sein Zimmer hinauf, nachdem er gebeten hatte, daß man den erwarteten Freund, sobald er käme, zu ihm hinauf führe. Er saß vor dem Tisch, den Rücken der Türe zugewandt. Er hatte nichts, womit er sich beschäftigen konnte, keinerlei Gepäck, kein Buch, nichts als eine Zeitung, die er eben gekauft hatte. Er zwang sich zum Lesen, aber seine Aufmerksamkeit ging andere Wege: er vernahm das Geräusch von Schritten im Flur. Alle seine Sinne waren durch die Anstrengungen dieses erwartungsvollen Tages und dieser schlaflosen Nacht überreizt.

Plötzlich hörte er, wie man die Tür öffnete. Ein unerklärliches Gefühl ließ ihn sich nicht umdrehen. Er fühlte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Da wandte er sich um und sah Olivier, der ihn anlächelte. Er wunderte sich nicht und sagte:

»Ach, da bist du endlich!«

Die Erscheinung zerrann.

Christof stand mit einem Ruck auf, stieß den Tisch und seinen Stuhl zurück, so daß dieser umfiel. Seine Haare sträubten sich. Einen Augenblick stand er leichenblaß, mit klappernden Zähnen da.

Von dieser Minute an – wenn er auch nichts wußte, und sich immer wieder sagte: »ich weiß nichts« – wußte er alles; er wußte sicher, was nun kommen würde.

Er konnte nicht in seinem Zimmer bleiben. Er ging auf die Straße, er wanderte eine Stunde lang umher. Bei seiner Rückkehr überreichte ihm der Portier in der Halle des Hotels einen Brief. Den Brief. Er hatte gewußt, daß er da sein würde. Seine Hand zitterte, als er ihn nahm. Er ging ins Zimmer hinauf, um ihn zu lesen. Er öffnete ihn, er sah, daß Olivier tot war. Und er wurde ohnmächtig.

Das Schreiben war von Manasse. Es besagte, daß, als man ihm, Christof, am Abend vorher diesen Unglücksfall verbarg, um seine Abreise zu beschleunigen, man nur dem Wunsche Oliviers gehorcht habe, der seinen Freund gerettet wissen wollte, – daß es zu nichts geführt hätte, wenn Christof geblieben wäre, es sei denn, daß er sich auch ins Verderben gestürzt hätte, – daß er sich für das Gedächtnis seines Freundes und für seine anderen Freunde erhalten müsse, und auch für seinen eigenen Ruhm ... usw. ... Aurelie hatte in ihrer ungelenken, zitterigen Schrift drei Zeilen hinzugefügt, daß sie für den armen jungen Herrn, so gut sie könne, die letzte Sorge tragen werde.

 

Als Christof wieder zu sich kam, verfiel er in einen Anfall von Raserei. Er wollte Manasse töten. Er rannte zum Bahnhof. Die Halle des Hotels war leer, die Straßen verödet. Draußen in der Nacht achteten die spärlichen Heimkehrenden nicht auf den keuchenden Mann mit den irren Augen. Wie eine Bulldogge mit ihren Fangzähnen hatte er sich in seine fixe Idee verbissen:

»Manasse töten! Töten! ...« Er wollte nach Paris zurück. Der Nachtschnellzug war eine Stunde vorher abgegangen. Er mußte bis zum nächsten Morgen warten. Warten war ihm unmöglich. Er nahm den ersten Zug, der in der Richtung nach Paris fuhr, einen Zug, der an jeder Station hielt. Er war allein im Wagen; er schrie immerfort:

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr!«

An der zweiten Station nach der französischen Grenze blieb der Zug stehen. Er ging nicht weiter. Christof stieg bebend vor Wut aus, fragte nach einem anderen Zuge, wollte Auskünfte haben, regte sich über die verschlafene Gleichgültigkeit der Beamten auf. Was er auch tat, er kam doch zu spät. Zu spät für Olivier. Es würde ihm nicht einmal gelingen, Manasse aufzusuchen. Er würde vorher festgenommen werden. Was tun? Weiter fahren? Umkehren? Wozu? Wozu? ... Er dachte daran, sich von einem vorübergehenden Gendarmen festnehmen zu lassen; ein dunkler Lebenstrieb hielt ihn davon ab, riet ihm, in die Schweiz zurückzukehren. Kein Zug ging nach der einen oder anderen Richtung vor zwei oder drei Stunden. Christof setzte sich in den Wartesaal, konnte auch da nicht bleiben, verließ den Bahnhof und nahm schließlich seinen Weg aufs Geratewohl in die Nacht hinein. Er befand sich mitten in einem öden Land, zwischen Feldern, die hier und dort von Tannengruppen, Vorläufern eines Waldes, unterbrochen waren. Er drang weiter vor. Kaum hatte er ein paar Schritte getan, als er sich zur Erde warf und schrie:

»Olivier!«

Er lag quer über den Weg gestreckt und schluchzte. Geraume Zeit später, als in der Ferne ein Zug pfiff, stand er wieder auf. Er wollte zum Bahnhof zurückkehren, doch er irrte sich im Wege. Er ging die ganze Nacht hindurch. Was lag ihm daran, wohin er ging? Er wollte wandern, um nicht zu denken, wandern, bis er nicht mehr dachte, bis er tot umfiel. Er hatte nur den einen Wunsch: tot zu sein.

Bei Sonnenaufgang war er in einem französischen Dorf, weit ab von der Grenze. Während der ganzen Nacht hatte er sich von ihr entfernt. Er kehrte in einem Gasthof ein, aß gierig, ging wieder fort, wanderte immer weiter. Im Verlauf des Tages brach er mitten auf einer Wiese zusammen und schlief dort bis zum Abend. Als er erwachte, begann eine neue Nacht. Seine Raserei war vorüber. Es blieb ihm nichts als ein fürchterlicher, atemraubender Schmerz. Er schleppte sich bis zu einem Bauernhof, bat um ein Stück Brot und um eine Schütte Stroh zum Schlafen. Der Bauer musterte ihn scharf, schnitt ihm eine Scheibe Brot ab, führte ihn in den Stall und schloß ihn ein. Christof legte sich auf die Streu neben die süßlich riechenden Kühe und verschlang das Brot. Sein Gesicht war von Tränen überströmt. Aber Hunger und Schmerz wurden nicht geringer. Auch in dieser Nacht befreite ihn der Schlaf für einige Stunden von seinem Gram. Er erwachte am nächsten Morgen vom Geräusch der sich öffnenden Türe. Er blieb reglos ausgestreckt; er wollte nicht wieder zum Leben erwachen. Der Bauer stellte sich vor ihn hin und sah ihn lange an; in der Hand hielt er ein Papier, auf das er ab und zu schaute. Schließlich tat er einen Schritt vorwärts und hielt Christof eine Zeitung unter die Nase. Auf der ersten Seite sah dieser sein eigenes Bild.

»Das bin ich,« sagte Christof, »liefern Sie mich aus.«

»Stehen Sie auf,« sagte der Bauer.

Christof stand auf. Der Mann machte ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie gingen hinter dem Heuschober vorbei und nahmen einen zwischen Obstbäumen sich schlängelnden Fußweg. Als sie an ein Kreuz kamen, zeigte der Bauer Christof den Weg und sagte:

»Dort geht es zur Grenze.«

Mechanisch setzte Christof seinen Weg fort. Er wußte nicht, warum er eigentlich ging. Er war so matt, an Körper und Seele so gebrochen, daß er nach jedem Schritt am liebsten nicht mehr weitergegangen wäre. Aber er fühlte, wenn er anhielte, würde er überhaupt nicht mehr weiterkommen, er hätte sich nicht mehr von dem Platze rühren können, auf den er gefallen wäre. So wanderte er nochmals den ganzen Tag. Er hatte keinen Heller mehr, um Brot zu kaufen, überdies vermied er die Dörfer. In einem sonderbaren Gefühl, von dem seine Vernunft nichts wußte, hatte dieser Mensch, der sterben wollte, Angst davor, festgenommen zu werden: sein Körper war wie ein verfolgtes Tier, das flieht. Sein leibliches Elend, die Ermüdung, der Hunger, ein dunkles Entsetzen, das aus seinem Erschöpfungszustand kam, erstickten für den Augenblick seine seelische Verzweiflung. Er ersehnte nichts anderes, als ein Obdach zu finden, wo er sich mit seinem Leid einschließen durfte, um davon zu zehren.

Er überschritt die Grenze. In der Ferne sah er eine Stadt, die von Glockentürmen und Fabrikschornsteinen überragt wurde, deren lange Rauchschwaden alle in derselben Richtung, gleich schwarzen Flüssen, einförmig unter dem Regen durch die graue Luft zogen. Er war dem Umsinken nahe. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er in dieser Stadt einen Doktor aus seiner Heimat, einen gewissen Erich Braun, kannte, der ihm im vergangenen Jahr nach einem seiner Erfolge geschrieben hatte, um sich ihm wieder in Erinnerung zu bringen. So unbedeutend Braun auch war, und so wenig er mit seinem Leben verknüpft gewesen, machte Christof mit dem Instinkt des verwundeten Tiers doch eine äußerste Anstrengung, um zu jemandem hinzuflüchten, der ihm nicht ein völlig Fremder war.

 

Schleier von Rauch und Regen umhüllten die graue und rote Stadt bei seinem Eintritt. Er durchquerte sie, ohne irgend etwas zu sehen, fragte nach dem Weg, verlief sich, kehrte um, irrte aufs Geratewohl weiter. Er war am Ende seiner Kräfte. In einer letzten Anstrengung seines angespannten Willens mußte er Gäßchen mit steilen Treppen emporsteigen, die zu einem schmalen Hügel hinaufführten, auf dem sich die Häuser eng um eine düstere Kirche drängten. Sechzig rote Steinstufen in Absätzen von je drei oder sechs, zwischen jeder Stufenabteilung war eine kleine Plattform, die kaum für die Türe eines Hauses ausreichte. Auf jeder schöpfte Christof Atem. Er taumelte vor Müdigkeit. Oben, über dem Turm kreisten Raben. Endlich las er an einer Tür den gesuchten Namen. Er klopfte an. – Das Gäßchen lag in Nacht. Er schloß vor Ermattung die Augen. Schwarze Nacht war in ihm ... Ewigkeiten verstrichen ...

Die enge Tür öffnete sich halb. Auf der Schwelle erschien eine Frau. Ihr Gesicht lag im Schatten; aber der Umriß ihrer Gestalt hob sich vom hellen Hintergrund eines Gärtchens ab, das man am Ende eines langen Ganges im untergehenden Sonnenlicht sah. Sie war groß, hielt sich gerade, sprach nicht und wartete, daß er sie anredete. Er sah ihre Augen nicht; er fühlte ihren Blick. Er fragte nach Dr. Erich Braun und nannte seinen Namen. Die Worte kamen mühsam aus seiner Kehle. Er war von Müdigkeit, Durst und Hunger erschöpft. Die Frau ging ins Haus; ohne ein Wort zu sagen. Christof folgte ihr in einen Raum mit geschlossenen Läden. In der Dunkelheit stieß er an die Frau. Seine Kniee und sein Leib streiften diesen schweigsamen Körper. Sie ging hinaus, schloß die Türe hinter sich und ließ ihn ohne Licht allein zurück. Aus Furcht, irgend etwas umzustoßen, blieb er reglos stehen, gegen die Wand gelehnt und mit der Stirn an die glatte Tapete gestützt. Die Ohren sausten ihm, vor seinen Augen tanzten Schatten.

In dem oberen Stockwerke wurde ein Stuhl gerückt, man hörte Ausrufe der Überraschung, eine Tür wurde lärmend zugeschlagen. Schwere Schritte kamen die Treppe hinab.

»Wo ist er denn?« fragte eine bekannte Stimme.

Die Tür des Zimmers öffnete sich wieder.

»Wie, man hat ihn im Dunkeln gelassen? Anna! Zum Donnerwetter! Ein Licht!«

Christof war so schwach, er fühlte sich so verloren, daß der Laut dieser lärmenden, aber herzlichen Stimme ihm in seinem Elend wohltat. Er ergriff die Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Man hatte Licht gebracht. Die beiden Männer sahen sich an. Braun war klein; er hatte ein rotes Gesicht mit einem schwarzen, harten und schlecht gewachsenen Bart, gute, hinter Brillengläsern hervorlachende Augen, eine breite, gebuckelte Stirn, die durchfurcht, sorgenvoll, ausdruckslos war, und sorgfältig an den Kopf gebürstete und bis zum Nacken gescheitelte Haare. Er war vollkommen häßlich; Christof aber tat es wohl, ihn anzusehen und seine Hände zu drücken. Braun verbarg seine Überraschung nicht.

»Guter Gott, wie verändert er ist! In welchem Zustand!«

»Ich komme von Paris,« sagte Christof, »ich bin geflohen.«

»Ich weiß, ich weiß, wir haben es in der Zeitung gelesen, es hieß, Sie wären festgenommen worden. Gott sei Dank! Anna und ich haben viel an Sie gedacht.«

Er unterbrach sich und wies Christof die schweigende Gestalt, die ihn empfangen hatte:

»Meine Frau.«

Sie war mit der Lampe in der Hand, am Eingang des Zimmers stehen geblieben. Ein verschlossenes Gesicht mit starkem Kinn. Das Licht fiel auf ihr braunes, ins Rote spielende Haar und auf ihre farblosen Wangen. Sie reichte Christof mit steifer Bewegung die Hand, während ihr Ellenbogen an den Körper gepreßt blieb; er nahm die Hand, ohne hinzuschauen. Ihm wurde schwach.

»Ich bin gekommen ...« versuchte er zu erklären, »ich dachte Sie würden vielleicht so gut sein ... wenn ich nicht allzu sehr störe ... mich einen Tag aufzunehmen ...«

Braun ließ ihn nicht zu Ende reden.

»Einen Tag! ... Zwanzig Tage, fünfzig, so viele Sie mögen. Solange Sie in dieser Stadt sind, wohnen Sie in unserem Haus, und ich hoffe, es wird lange sein! Es ist eine Ehre und ein Glück für uns.«

Diese herzlichen Worte übermannten Christof vollends. Er warf sich in Brauns Arme.

»Mein guter Christof, mein guter Christof,« sagte Braun ... »Er weint ... Ja, was hat er denn? Anna! Anna! Schnell, er wird ohnmächtig ...«

Christof war in den Armen seines Wirtes zusammengebrochen. Die Ohnmacht, die er seit mehreren Stunden kommen fühlte, hatte ihn übermannt.

Als er die Augen wieder öffnete, lag er in einem großen Bett. Ein feuchter Erdgeruch stieg durch das offene Fenster, Braun stand über ihn gebeugt.

»Verzeihung,« stammelte Christof und versuchte, sich aufzurichten.

»Aber er stirbt ja vor Hunger,« rief Braun.

Die Frau ging hinaus, kehrte mit einer Tasse wieder und ließ ihn trinken. Braun stützte ihm den Kopf. Christof kam wieder zu sich; aber die Ermattung war stärker als der Hunger; kaum hatte er den Kopf wieder aufs Kissen gelegt, so schlief er auch schon wieder ein. Braun und seine Frau wachten bei ihm; dann, als sie sahen, daß er nichts als Ruhe bedürfe, ließen sie ihn allein.

 

Ein Schlaf, der jahrelang zu dauern schien, umfing ihn, ein Schlaf, der einen übermannt und in dem man schwer wie Blei auf dem Grunde eines Sees liegt. Man ist die Beute angesammelter Müdigkeit und ungeheuerlicher Phantasiegebilde, die unaufhörlich um die Pforten des Willens herumstreichen. Erhitzt, zerschlagen, verloren in dieser unbekannten Nacht, – wollte er sich zum Erwachen bringen; er vernahm immer wieder und wieder die Halbenstundenschläge der Turmuhren; er konnte nicht atmen, nicht denken, sich nicht regen; er lag gefesselt, geknebelt, gleich einem Mann, den man ersticken will; er wollte sich wehren und versank von neuem in tiefen Schlaf. Endlich kam die Morgendämmerung, die späte und graue Dämmerung eines Regentages. Die unerträgliche Glut, die ihn verzehrte, sank; aber sein Körper lag unter einem Berge begraben. Er wachte auf. Schreckliches Erwachen! – »Warum die Augen öffnen? Warum erwachen? Liegen bleiben wie mein armer kleiner Freund, der unter der Erde schläft ...«

Er lag auf dem Rücken ausgestreckt und bewegte sich nicht, obgleich ihm die Lage im Bett unbequem war; Arme und Beine waren ihm schwer wie Stein. Er war in einem Grabe. Fahles Licht. Ein paar Regentropfen schlugen an die Scheiben. Ein Vogel im Garten stieß ein paar klagende leise Töne aus. Welch ein Elend, daß man lebte! Wie sinnlos grausam!

Die Stunden rannen dahin. Braun kam herein. Christof wandte nicht den Kopf. Als Braun sah, daß er mit offenen Augen lag, sprach er ihn fröhlich an; und als Christof weiter mit düsterem Blick zur Decke starrte, versuchte er, seine Schwermut zu vertreiben; er setzte sich auf das Bett und schwatzte laut darauf los. Dieser Lärm war für Christof unerträglich. Er machte eine, wie ihm selbst schien, übermenschliche Anstrengung und sagte:

»Ich bitte Sie, lassen Sie mich.«

Der brave Mann änderte sofort den Ton.

»Sie wollen allein sein? Ja, aber selbstverständlich! Gewiß! Bleiben Sie nur ruhig liegen. Ruhen Sie sich aus, reden Sie nicht, man wird Ihnen die Mahlzeiten heraufbringen; es soll niemand sprechen.«

Aber er war unfähig, etwas kurz auszudrücken. Nach endlosen Erklärungen verließ er das Zimmer auf den Spitzen seiner derben Schuhe, unter denen das Parkett krachte. Christof blieb wieder allein, in seine tödliche Ermattung versunken. Sein Denken zerrann zu einem unklaren Schmerzgefühl. Er rang verzweifelt nach Verständnis ... Warum hatte er ihn gekannt? Warum hatte er ihn geliebt? Wozu hatte es gedient, daß Antoinette sich aufopferte? Welchen Sinn hatten alle diese Leben, alle diese Generationen gehabt? Diese Summe von Schicksalsschlägen und Hoffnungen, die in dieses eine Leben ausliefen und mit ihm in die Leere versanken? ... Sinnlosigkeit des Lebens! Sinnlosigkeit des Todes! Ein Wesen, ausgestrichen, hinweggerafft, ein ganzes Geschlecht verschwunden, ohne daß eine Spur zurückblieb. War das nun widerlich oder eher grotesk? Ein schlimmes Lachen kam ihn an, ein Lachen aus Haß und Verzweiflung. Seine Ohnmacht einem solchen Schmerz gegenüber, sein Schmerz über solche Ohnmacht vernichteten ihn. Sein Herz war gebrochen ...

Kein Geräusch im Haus als die Schritte des Doktors, der seine Besuche machen ging. Christof hatte jedes Empfinden für Zeit verloren, als Anna erschien. Sie brachte das Mittagessen auf einem Tablett. Er sah sie an, ohne sich zu regen, ohne selbst die Lippen zu einem Dank zu bewegen. Aber in seine starren Augen, die nichts zu sehen schienen, grub sich das Bild der jungen Frau mit photographischer Deutlichkeit ein. Viel später, als er sie besser kannte, sah er sie noch immer so; spätere Bilder konnten nicht diese erste Erinnerung auslöschen. Sie hatte dichtes Haar, das in einen schweren Knoten geschlungen war, eine gewölbte Stirn, breite Wangen, eine kurze, gerade Nase, eigensinnig niedergeschlagene Augen, die, wenn sie anderen Augen begegneten, sich ihnen mit einem unfreien und gütelosen Ausdruck entzogen. Ihre etwas starken, aufeinandergepreßten Lippen hatten einen entschlossenen, beinahe harten Ausdruck. Sie war groß, schien kräftig und wohlgestaltet, aber in ihre Kleider eingeschnürt und steif in ihren Bewegungen. Sie kam geräuschlos und wortlos, setzte das Tablett auf den Tisch neben das Bett und ging, die Arme an den Körper gepreßt, mit gesenkter Stirn wieder davon. Christof kam es nicht in den Sinn, sich über diese sonderbare und ein wenig lächerliche Erscheinung zu wundern; er rührte das Essen nicht an und litt schweigend weiter. Der Tag verstrich. Der Abend kam wieder, und wieder kam Anna mit neuen Gerichten. Sie fand die vom Morgen unberührt; und sie trug sie ohne eine Bemerkung fort. Sie sagte nicht ein freundliches Wort, wie es jede Frau instinktmäßig einem Kranken gegenüber findet. Es war, als sei Christof für sie nicht vorhanden, oder als wäre sie selbst kaum vorhanden. Christof empfand eine dunkle Feindseligkeit, als er, diesesmal voller Ungeduld, ihren linkischen und steifen Bewegungen folgte. Immerhin war er ihr dankbar, daß sie nicht zu reden versuchte. – Er war es noch mehr, als er nach ihrem Fortgehen den Ansturm des Doktors über sich ergehen lassen mußte, der gemerkt hatte, daß Christofs erste Mahlzeit unberührt geblieben war. Er ärgerte sich über seine Frau, weil sie ihn nicht zum Essen gezwungen hatte, und er wollte Christof dazu zwingen. Um Frieden zu haben, mußte Christof ein paar Schluck Milch zu sich nehmen. Danach kehrte er ihm den Rücken.

Die zweite Nacht war ruhiger. Der schwere Schlaf umfing Christof von neuem mit seinem Nichts. Keine Spur mehr von dem verhaßten Leben. – Das Erwachen aber war um so drückender. Alle Einzelheiten des schicksalvollen Tages kamen ihm wieder ins Gedächtnis zurück: Oliviers Widerwillen, das Haus zu verlassen, sein Drängen, umzukehren; und voller Verzweiflung sagte er sich:

»Ich selbst habe ihn getötet.«

Es war ihm unmöglich, allein, eingeschlossen, reglos zu bleiben unter den Krallen der Sphinx mit den gierigen Augen, die ihm immer wieder den Wirbel ihrer Fragen mit ihrem Leichenodem ins Gesicht blies. Fiebernd stand er auf. Er schleppte sich aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab; er hatte das instinktive und angsterfüllte Bedürfnis, sich an andere Menschen zu drängen. Aber sobald er eine andere Stimme vernahm, hätte er fliehen mögen.

Braun war im Eßzimmer. Er empfing Christof mit seinen üblichen Freundschaftsbezeugungen. Sofort begann er, ihn über die Pariser Geschehnisse auszufragen. Christof nahm ihn beim Arm:

»Nein,« sagte er, »fragen Sie mich nichts. Später ... Sie müssen mir darum nicht böse sein. Ich kann nicht. Ich bin sterbensmüde, ich bin so müde ...«

»Ich weiß, ich weiß,« sagte Braun herzlich. »Die Nerven sind erschüttert. Das sind die Erregungen der vergangenen Tage. Reden Sie nicht, tun Sie sich keinerlei Zwang an. Sie sind frei, Sie sind wie zu Hause. Man wird sich nicht um Sie kümmern.« Er hielt Wort. Um jede Anstrengung seines Gastes zu vermeiden, fiel er in die entgegengesetzte Übertreibung: er wagte nicht mehr, vor ihm mit seiner Frau zu sprechen; man redete leise, man ging auf den Zehenspitzen; es wurde lautlos im Hause. Christof mußte, durch diese Unnatur einer flüsternden Stille gereizt, Braun bitten, daß man in gewohnter Weise weiterlebe.

Die folgenden Tage kümmerte man sich also nicht mehr um Christof. Er blieb stundenlang in einer Zimmerecke sitzen oder strich wie ein Träumender durchs Haus. Woran dachte er? Er hätte es nicht sagen können. Er fand kaum noch die Kraft, zu leiden. Er war vernichtet. Die Empfindungslosigkeit seines Herzens flößte ihm Entsetzen ein. Er hatte nur noch einen Wunsch: mit »ihm« begraben zu sein, und daß alles vorbei wäre. – Einmal fand er die Gartentüre offen und ging hinaus. Aber es machte ihm einen so schmerzlichen Eindruck, wieder im Licht zu sein, daß er schleunigst umkehrte und sich bei geschlossenen Fensterläden in sein Zimmer verschloß. Das schöne Wetter bereitete ihm Qual. Er haßte die Sonne. Die Natur mit ihrer brutalen Heiterkeit drückte ihn nieder. Bei Tisch aß er schweigend, was Braun ihm vorsetzte, und saß da, ohne ein Wort zu reden, die Augen starr auf den Tisch gerichtet. Eines Tages zeigte ihm Braun im Wohnzimmer ein Klavier. Christof wandte sich voller Entsetzen davon ab. Jedes Geräusch war ihm verhaßt. Schweigen, Schweigen und Nacht! ... Nichts war mehr in ihm als unendliche Leere und das Bedürfnis nach Leere. Mit seiner Lebensfreude war es vorbei, tot schien der kraftvolle Vogel der Freude, der einst in leidenschaftlichem Schwung singend emporstieg. Tagelang, wenn er in seinem Zimmer saß, hatte er keinen anderen Eindruck seines Lebens als den lahmen Puls der Standuhr im Nebenzimmer, der in seinem Gehirn zu schlagen schien. Und dennoch lebte der wilde Vogel der Freude noch in ihm, er flatterte plötzlich mit den Flügeln, stieß sich an die Gitterstäbe, und im Innern seiner Seele tobte ein schrecklicher Kampf mit dem Schmerz, – »der Verzweiflungsschrei eines in einer weiten, verödeten Ebene einsam zurückgebliebenen Geschöpfes.«

Das Unglück dieser Welt liegt darin, daß man fast niemals einen Gefährten hat. Kameraden vielleicht und Zukunftsfreunde. Man ist verschwenderisch mit dem schönen Namen Freund. In Wahrheit hat man kaum mehr als einen Freund im Leben. Und recht selten sind die, die ihn haben. Aber dies Glück ist so groß, daß, wenn man es verloren hat, man nicht mehr weiß, wie man leben soll. Er erfüllt das Leben, ohne daß man darauf achtet. Er geht, und das Leben ist leer. Man hat nicht nur den verloren, den man geliebt hat, sondern jeden Grund zum Lieben, – jeden Grund, geliebt zu haben. Wozu hat er gelebt? Wozu hat man selbst gelebt?

Der Schicksalsschlag durch diesen Tod war für Christof um so schrecklicher, als er ihn in einem Augenblick traf, in dem sein Wesen schon heimlich erschüttert war. In manchen Perioden des Lebens vollzieht sich im Innern des Organismus eine unerbittliche Arbeit der Umwandlung; dann sind Körper und Seele den Angriffen von außen eher preisgegeben, der Geist fühlt sich schwach, eine unbestimmte Traurigkeit nagt an ihm, ein Überfluß an allen Dingen, ein Sichloslösen von allem, was man getan hat, eine Unfähigkeit, zu erkennen, was man sonst noch tun könnte. In dem Alter, in dem sich solche Krisen vollziehen, sind die meisten Menschen durch häusliche Pflichten gebunden: das ist ein Schutzwall für sie, der ihnen dafür allerdings die notwendige geistige Freiheit nimmt, sich zu beurteilen, sich zurechtzufinden, sich ein starkes neues Leben aufzubauen. Wieviel verborgener Kummer, wieviel bitterer Ekel! ... Vorwärts! Vorwärts! Man muß darüber wegkommen ... Die tägliche Pflicht, die Sorge um die Familie, für die man verantwortlich ist, hält den Mann aufrecht gleich einem Pferd, das im Stehen schläft und erschöpft zwischen seinen Deichseln weitergeht. – Aber der völlig freie Mensch hat nichts, was ihn in den Stunden der Losgelöstheit vom Leben stützt, was ihn zwingt, vorwärts zu gehen; er geht aus Gewohnheit, er weiß nicht, wohin er geht. Seine Kräfte sind gestört, sein Bewußtsein verdunkelt. Wehe ihm, wenn ihn in solchem Augenblick, in dem er hindämmert, ein Donnerschlag aus seinem Schlafwandeln reißt! Dann ist er in Gefahr, zusammenzubrechen.

 

Einige Briefe aus Paris, die ihn schließlich erreichten, rissen Christof für kurze Zeit aus seiner verzweifelten Empfindungslosigkeit. Sie kamen von Cécile und Frau Arnaud. Sie brachten ihm Trostworte. Arme, nutzlose Trostworte. Die über den Schmerz reden, leiden nicht selbst. – Sie brachten ihm vor allem ein Echo der entschwundenen Stimme ... Er fand nicht die Kraft, zu antworten; und die Briefe hörten auf. In seiner Niedergeschlagenheit suchte er, seine Spur zu verwischen. Verschwinden ... Der Schmerz ist ungerecht: alle, die er geliebt hatte, waren für ihn nicht mehr vorhanden. Ein einziges Wesen existierte: der, der nicht mehr war. Wochenlang wollte er ihn hartnäckig ins Leben zurückzwingen. Er pflegte Unterhaltungen mit ihm; er schrieb ihm:

»Mein Herz, ich habe heute keinen Brief von dir bekommen. Wo bist du? Komme zurück, komme zurück, sprich mit mir, schreibe mir! ...«

In der Nacht gelang es ihm trotz seiner Bemühungen nicht, ihn im Traume wiederzusehen. Man träumt wenig von denen, die man verloren hat, solange uns ihr Verlust das Herz zerreißt. Später, wenn das Vergessen kommt, erscheinen sie wieder.

Doch nach und nach drang das Außenleben in das Grab seiner Seele. Christof begann, die verschiedenen Geräusche des Hauses wieder zu vernehmen, und, ohne daß er es merkte, Teilnahme dafür zu empfinden. Er wußte, zu welcher Stunde die Tür aufging und sich schloß, wie oft am Tage und in wieviel verschiedenen Arten, je nach den Besuchern. Er kannte Brauns Schritt; er sah den Doktor im Geist vor sich, wie er von seinen Besuchen zurückkehrte, im Vorzimmer stehen blieb und Hut und Mantel aufhängte, stets in derselben krankhaft peinlichen Art. Und wenn eines der gewohnten Geräusche nicht in der vorgesehenen Ordnung erfolgte, suchte er wider Willen nach dem Grunde der Veränderung. Bei Tisch begann er, mechanisch auf die Unterhaltung zu hören. Er bemerkte, daß Braun fast stets allein sprach. Seine Frau antwortete ihm nur ganz kurz. Braun, den das Ausbleiben einer Gegenrede nicht störte, erzählte mit geschwätziger Einfalt von den Besuchen, die er gerade gemacht hatte und von dem aufgefangenen Klatsch. Es geschah, daß, während er redete, Christof ihn ansah. Braun war darüber ganz glücklich und grübelte darüber nach, wie er ihn fesseln könnte. Christof versuchte, sich wieder ins Leben zurückzufinden ... Welche Anstrengung! Er fühlte sich so alt, alt wie die Welt! ... Morgens, wenn er aufstand, wenn er sich in dem Spiegel sah, war er seines Körpers, seiner Gebärden, seines dummen Äußeren überdrüssig. Wozu aufstehen, sich ankleiden? ... Er gab sich unendliche Mühe, um zu arbeiten: es war ihm dabei zum Brechen zu Mute. Wozu schaffen, wenn doch alles für das Nichts bestimmt ist? Musik zu machen, war ihm unmöglich geworden. Man beurteilt die Kunst – und alles übrige – erst im Unglück recht. Das Unglück ist ein guter Probierstein. Erst in ihm erkennt man die, welche die Jahrhunderte überdauern, welche stärker als der Tod sind. Wenige halten ihm Stand. Man ist betroffen über die Mittelmäßigkeit mancher Seelen, auf die man zählte, – ebenso auch über die mancher Künstler, die man liebte, und mancher Freunde im Leben. – Wie wenige bleiben einem! Wie hohl klingt alle Schönheit der Welt unter dem Finger des Schmerzes!

Aber der Schmerz ermattet und seine Hand erschlafft. Christofs Nerven entspannten sich. Er schlief, schlief unaufhörlich. Es war, als könne er diesen Hunger nach Schlaf niemals stillen. Und eines Nachts schließlich war sein Schlaf so tief, daß er erst am folgenden Nachmittag erwachte. Das Haus war öde. Braun und seine Frau waren ausgegangen. Das Fenster stand offen, das Licht lachte herein. Christof fühlte sich von einer erdrückenden Last befreit. Er stand auf und ging in den Garten hinab. Ein enges Rechteck, von hohen Mauern umschlossen, wie in einem Kloster. Ein paar Sandwege zwischen Rasenvierecken und kleinbürgerliche Blumen; eine Bogenlaube, um die sich Weinranken und Rosen schlangen. Ein winziger Wasserstrahl tropfte aus einer Muschelgrotte; ein an die Mauer gelehnter Akazienbaum neigte seine duftenden Zweige über den Nachbargarten. Hinter ihm erhob sich der alte Kirchturm in rotem Sandstein. Es war vier Uhr nachmittags. Der Garten lag schon im Schatten. Die Sonne übergoß noch den Wipfel des Baumes und den roten Kirchturm. Christof setzte sich in die Laube, den Rücken an die Mauer gelehnt, und betrachtete mit zurückgebeugtem Kopf den durchsichtigen Himmel zwischen dem Geflecht der Reben und Rosen. Ihm war, als erwache er aus einem quälenden Traum. Reglose Stille war um ihn her. Über seinem Kopf hing ein Schlingrosenzweig welk herab. Plötzlich entblätterte sich die schönste Rose, starb hin. Der Schnee ihrer Blätter zerstob in der Luft. Es war, als sterbe ein schönes, unschuldiges Leben. So einfach! ... Für Christof gewann das eine Bedeutung von herzzerreißender Süße. Er rang nach Atem; und das Gesicht in den Händen bergend, schluchzte er ...

Die Turmglocken klangen. Von Kirche zu Kirche gaben andere Stimmen Antwort ...

Christof verlor das Bewußtsein der Zeit. Als er den Kopf wieder hob, schwiegen die Glocken, die Sonne war untergegangen. Christof fühlte sich durch seine Tränen erleichtert. Sein Geist war wie reingewaschen. Er spürte ein Musikbächlein in sich rinnen und schaute zur feinen Mondsichel auf, die am Abendhimmel dahinglitt. Das Geräusch heimwärts gerichteter Schritte weckte ihn auf. Er ging in sein Zimmer hinauf, schloß doppelt hinter sich ab und ließ den Quell der Musik fließen. Braun rief ihn zu Tisch, er klopfte an die Türe, er versuchte zu öffnen: Christof antwortete nicht. Beängstigt schaute Braun durchs Schlüsselloch und beruhigte sich, als er Christof halb über seinen Tisch gebeugt sah, zwischen Papieren, die er vollschrieb.

Einige Stunden später kam Christof erschöpft hinab und fand im unteren Zimmer den Doktor, der ihn geduldig lesend erwartete. Er umarmte ihn, bat ihn um Entschuldigung wegen seines Benehmens seit seiner Ankunft und begann, ohne daß Braun ihn fragte, ihm die dramatischen Ereignisse der letzten Wochen zu erzählen. Es war das einzige Mal, daß er darüber sprach; auch da war er nicht sicher, ob Braun sich ein rechtes Bild machen konnte: denn Christof berichtete ganz unzusammenhängend; es war schon spät, und trotz seiner Neugierde war Braun totmüde. Schließlich – es schlug zwei Uhr – merkte es Christof. Sie sagten sich gute Nacht.

 

Von diesem Augenblicke an gestaltete sich Christofs Dasein neu. Er war nicht mehr in dem Zustand vorübergehender, krankhafter Überreizung; er verfiel wohl wieder in seine Trauer, aber es war eine gesunde Trauer, die ihn nicht am Leben hinderte. Er mußte ja weiterleben! Dieser Mann, der eben verloren hatte, was er am meisten auf der Welt liebte, dieser Mann, an dem sein Kummer nagte, der den Tod in sich trug, besaß eine solche überquellende, gewaltsame Lebenskraft, daß sie aus seinen Worten der Trauer sprach, aus seinen Augen, seinem Mund, seinen Gebärden strahlte. Im Innersten dieser Kraft aber hatte sich ein nagender Wurm eingenistet. Christof hatte Anfälle von Verzweiflung. Sie trafen ihn wie Stiche. Er war ruhig, er zwang sich zum Lesen oder ging spazieren: plötzlich tauchte das Lächeln Oliviers auf, sein müdes und zärtliches Gesicht ... Ein stechender Schmerz im Herzen ... Er schwankte, er drückte stöhnend die Hand an die Brust. Eines Tages saß er am Klavier; er spielte mit dem Ungestüm früherer Zeiten etwas von Beethoven ... Plötzlich hielt er inne, warf sich zur Erde und indem er das Gesicht in die Kissen eines Sessels drückte, schrie er auf:

»Mein Junge ...«

Am schlimmsten war der Eindruck des »schon einmal Erlebten«, den er bei jedem Schritt hatte. Unaufhörlich fand er dieselben Gebärden wieder, dieselben Worte, die beständige Wiederkehr der gleichen Erfahrungen. Alles war ihm bekannt. – Er ahnte alles voraus. Jene Gestalt, die ihn an eine früher gekannte erinnerte, würde jetzt gleich sagen – (er war dessen im voraus sicher) – ja, sie sagte dieselben Dinge, die er von der anderen gehört hatte; gleichgeartete Wesen machten gleichartige Wandlungen durch, stießen gegen dieselben Hindernisse und verbrauchten ihre Kräfte gleichermaßen daran. Wenn es wahr ist, daß »nichts das Leben so sehr mit Überdruß erfüllt als die Wiederholung der Liebe,« wieviel mehr also diese Wiederholung aller Dinge! Er war wie besessen davon. – Er versuchte, nicht mehr daran zu denken; denn er durfte nicht daran denken, wenn er leben wollte. Und er wollte leben. Schmerzhafte Heuchelei, die aus Scham, ja aus Erbarmen sich selbst nicht erkennen will, unbesiegbarer Lebensdrang, der sich versteckt hält! Man weiß, daß es keinen Trost gibt, und man schafft sich Trost; man ist überzeugt, daß das Leben keinen Daseinszweck hat, und schmiedet sich selbst Lebenszwecke. Man redet sich ein, daß man leben muß, wenn auch niemandem etwas daran liegt, als einem selbst. Wenn nötig, würde man herausfinden, daß der Tote zum Leben ermutigt. Und man weiß, daß man dem Toten Worte leiht, die man von ihm hören will. O Jammer! ...

Christof setzte seinen Weg fort; sein Schritt schien die alte Sicherheit wiederzufinden; die Tür seines Herzens schloß sich hinter seinem Schmerz. Niemals sprach er darüber zu anderen; er selbst vermied es, allein mit ihm zu bleiben. Er schien ruhig. »Die wahren Schmerzen,« sagt Balzac, »liegen scheinbar ruhig in dem tiefen Bett, das sie sich gegraben haben, in dem sie zu schlafen scheinen, in dem sie aber die Seele weiter zerfressen.« Wer Christof gekannt und gut beobachtet hätte, wie er ging und kam, wie er sich unterhielt und Musik machte, ja sogar lachte (er lachte jetzt!), der hätte wohl gefühlt, daß in diesem kräftigen Menschen, mit den Augen, die vor Leben sprühten, irgend etwas im tiefsten Innern zerstört war.

 

Sobald er wieder ans Leben gekettet war, mußte er sich um seinen Unterhalt kümmern. Es konnte keine Rede davon sein, die Stadt zu verlassen. Die Schweiz war der sicherste Zufluchtsort. Und wo hätte er eine aufopferndere Gastfreundschaft gefunden? – Aber sein Stolz konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, seinem Freunde zur Last zu fallen. Trotz Brauns Widerspruch, der nichts annehmen wollte, war er nicht eher ruhig, bis er einige Musikstunden hatte, die ihm erlaubten, seinen Wirten eine regelmäßige Pension zu zahlen. Das war nicht leicht. Das Gerücht über seine revolutionären Abenteuer hatte sich verbreitet. Und die bürgerlichen Familien waren nicht geneigt, einen Menschen bei sich einzuführen, der für gefährlich galt oder doch in jedem Fall für außergewöhnlich, und der folglich wenig »anständig« sein konnte. Indessen gelang es ihm durch seinen musikalischen Ruf und Brauns Bemühungen, sich den Eintritt in vier oder fünf Häuser zu verschaffen, die weniger Gewissensbedenken hatten oder neugieriger waren und vielleicht aus musikalischem Snobismus wünschten, sich hervorzutun. Sie waren darum nicht weniger darauf bedacht, ihn zu überwachen und zwischen dem Lehrer und den Schülern beträchtliche Schranken aufrecht zu erhalten.

Das Leben verlief in Brauns Hause nach einem methodisch geregelten Plan. Morgens ging jeder an seine Arbeit: der Doktor machte seine Besuche, Christof ging zu seinen Stunden, Frau Braun zum Markt und an ihre erbaulichen Werke. Christof kehrte gewöhnlich gegen ein Uhr zurück, meistens vor Braun, der nicht wollte, daß man auf ihn warte; und er setzte sich mit der jungen Frau zu Tisch. Das war ihm nicht angenehm; denn sie war ihm nicht sympathisch, und er wußte nicht, was er mit ihr reden solle. Sie gab sich keinerlei Mühe, diesen Eindruck zu bekämpfen, der ihr unmöglich verborgen bleiben konnte. Sie strengte sich weder in bezug auf den Geist noch in bezug auf ihre Kleidung an; niemals richtete sie als erste das Wort an Christof. Die besondere Reizlosigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Kleidung, ihre Unbeholfenheit und Kälte hätten jeden Mann abgestoßen, der, wie Christof, für weibliche Anmut empfänglich war. Wenn er sich an die geistvolle Eleganz der Pariserinnen erinnerte, konnte er beim Anblick Annas sich nicht enthalten, zu denken:

»Wie häßlich sie ist!«

Das war jedoch nicht gerecht; und es blieb auch nicht aus, daß er die Schönheit ihrer Haare, ihrer Hände, ihres Mundes, ihrer Augen bemerkte, – in den seltenen Augenblicken, wo es ihm gelang, diesem Blick zu begegnen, der immer auswich. Doch sein Urteil wurde dadurch nicht beeinflußt. Aus Höflichkeit zwang er sich, mit ihr zu reden; er suchte mühsam nach Unterhaltungsstoff. Sie half ihm in nichts. Zwei oder drei mal versuchte er, sie über die Stadt auszufragen, über ihren Mann, über sich selbst; er konnte nichts aus ihr herausbekommen. Sie antwortete mit Alltäglichkeiten; sie gab sich Mühe, zu lächeln; aber diese Mühe machte sich in unangenehmer Weise bemerkbar; ihr Lächeln war gezwungen, ihre Stimme dumpf; sie ließ jedes Wort einzeln fallen, nach jedem Satz trat ein peinliches Stillschweigen ein. Christof redete schließlich so wenig wie möglich mit ihr; und sie wußte ihm dafür Dank. Für beide war es eine Erleichterung, wenn der Doktor heimkam. Er war immer guter Laune, lärmend, geschäftig, gewöhnlich, – ein ausgezeichneter Mann. Er aß, trank, sprach und lachte ausgiebig. Mit ihm plauderte Anna ein wenig; aber in dem, was sie sagten, war kaum von etwas anderem die Rede als von den Gerichten, die man aß, und von den Preisen. Manchmal machte sich Braun ein Vergnügen daraus, sie mit ihren frommen Werken und den Predigten des Pastors zu necken. Dann setzte sie eine steife Miene auf und schwieg beleidigt bis zum Schluß der Mahlzeit. Öfters erzählte der Doktor von seinen Besuchen; er gefiel sich darin, gewisse ekelerregende Fälle aufs genaueste mit einer Fröhlichkeit zu beschreiben, die Christof außer sich brachte. Er warf seine Serviette auf den Tisch und stand mit einer Grimasse des Abscheus auf, die des Erzählers ganze Freude war. Braun hörte dann auf und beruhigte lachend seinen Freund. Doch bei der nächsten Mahlzeit fing er von neuem an. Es schien, daß diese Krankenhausscherze die unempfindliche Anna erheiterten. Sie unterbrach dann ihr Schweigen durch ein plötzliches und nervöses Lachen, das etwas vom Tier an sich hatte. Vielleicht empfand sie über das, was sie belachte, aber nicht weniger Ekel als Christof.

Nachmittags hatte Christof wenig Schüler. Er blieb gewöhnlich mit Anna zu Haus, während der Doktor ausging. Sie sahen sich nicht. Jeder arbeitete für sich. Zu Anfang hatte Braun Christof gebeten, seiner Frau einige Klavierstunden zu geben. Sie war, wie er sagte, recht musikalisch. Christof bat Anna, ihm etwas vorzuspielen. Sie ließ sich keineswegs bitten, obgleich es ihr unangenehm war; aber sie tat es mit ihrem gewohnten Mangel an Anmut: ihr Spiel war mechanisch, von einer unglaublichen Gefühllosigkeit. Alle Noten waren gleichwertig; nirgends irgend eine Betonung; wenn sie eine Seite umwenden mußte, hielt sie gefühllos mitten in einem Satz inne, beeilte sich keineswegs und fing bei der folgenden Note wieder an. Christof regte sich derartig auf, daß es ihm schwer fiel, ihr keine Grobheit zu sagen. Er vermied es nur dadurch, daß er vor dem Ende des Stückes hinausging. Das störte sie nicht; sie spielte unentwegt bis zur letzten Note weiter und zeigte sich über diese Unhöflichkeit weder gekränkt noch beleidigt. Sie schien sie kaum zu bemerken. Aber es war zwischen ihnen von Musik nicht mehr die Rede. An den Nachmittagen, an denen Christof ausging, geschah es manchmal, wenn er unvorhergesehen heimkehrte, daß er Anna beim Üben überraschte, was sie mit frostiger und abgeschmackter Hartnäckigkeit tat, indem sie unermüdlich fünfzigmal denselben Takt wiederholte, ohne sich auch nur zu erregen. Niemals musizierte sie, wenn sie wußte, daß Christof zu Hause war. Alle Zeit, die sie nicht ihrer religiösen Beschäftigung widmete, verwandte sie auf den Haushalt. Sie nähte, stopfte, besserte aus und überwachte das Dienstmädchen; sie war vom Ordnungs- und Reinlichkeitsteufel besessen. Ihr Mann hielt sie für eine brave, ein wenig sonderbare Frau – (»wie alle Frauen«) – aber auch für aufopfernd, »wie alle Frauen«. In diesem letzten Punkt machte Christof im geheimen einige Einschränkungen: solche Psychologie schien ihm zu kindlich einfach; aber er sagte sich, schließlich sei das Brauns Angelegenheit; und er dachte nicht mehr darüber nach.

Nach dem Essen saß man abends zusammen. Braun und Christof unterhielten sich, Anna arbeitete. Auf Brauns Bitten hin hatte sich Christof bewegen lassen, das Klavierspiel wieder aufzunehmen; und er spielte manchmal bis spät in die Nacht in dem großen, schlecht erhellten Wohnzimmer, das auf den Garten führte. Braun war in Verzückung ... Wer kennt nicht diese Art Leute, die sich für Kunstwerke begeistern, die sie nicht verstehen, oder die sie verkehrt verstehen! – (gerade deswegen lieben sie sie ja!) – Christof ärgerte sich nicht mehr darüber; er hatte schon so viele Dummköpfe im Leben kennen gelernt! Aber bei manchen Ausrufen einer albernen Begeisterung hörte er zu spielen auf und ging, ohne etwas zu sagen, in sein Zimmer hinauf. Braun begriff schließlich und setzte seinen Betrachtungen einen Dämpfer auf. Übrigens war seine Liebe zur Musik schnell erschöpft; aufmerksam konnte er nicht länger als eine Viertelstunde hintereinander zuhören; dann nahm er seine Zeitung, oder er duselte und ließ Christof in Ruhe. Anna, die im Hintergrunde des Zimmers saß, redete kein Wort; sie hatte eine Handarbeit auf den Knieen und schien zu nähen; aber ihre Augen waren starr und ihre Hände reglos. Manchmal ging sie geräuschlos mitten in einem Stück hinaus, und man sah sie nicht wieder.

 

So strichen die Tage dahin. Christof erholte sich wieder. Die plumpe aber herzliche Güte Brauns, die Ruhe des Hauses, die heilsame Regelmäßigkeit dieses täglichen Lebens, die nach germanischer Weise außerordentlich reichhaltige Nahrung, frischten sein derbes Temperament wieder auf. Die körperliche Gesundheit war wieder hergestellt; aber seine Seele war noch immer krank. Die wiederauflebende Kraft machte die Verwirrung des Geistes noch fühlbarer, der sein Gleichgewicht nicht wiederfinden konnte und einer schlecht ballasteten Barke glich, die beim geringsten Anstoß umkippt.

Er lebte in tiefer Vereinsamung. Er konnte zu keinerlei geistiger Vertrautheit mit Braun gelangen. Seine Beziehungen zu Anna beschränkten sich auf wenig mehr als auf den Morgen- und Abendgruß. Sein Verkehr mit den Schülern war eher feindselig; denn er verbarg ihnen schlecht, daß sie besser tun würden, sich nicht mit Musik zu befassen. Er kannte niemanden. Der Fehler lag nicht allein an ihm, der sich seit seiner Trauer in einen Winkel verkroch. Man hielt ihn sich vom Leibe.

Er befand sich in einer alten Stadt voll Intelligenz und Kraft; aber sie war von Patrizierstolz erfüllt, in sich abgeschlossen und selbstzufrieden. Eine bürgerliche Aristokratie, die arbeitsam und hochkultiviert, aber engherzig und frömmelnd von ihrer und ihrer Stadt Überlegenheit fest überzeugt war und sich nur wohlfühlte in der Abgeschlossenheit der Familie. Es waren große, weitverzweigte Familien. Jede hatte ihren Empfangstag für die Ihren. Im übrigen war man wenig zugänglich. Diese mächtigen Häuser mit ihren Jahrhunderte alten Vermögen empfanden keinerlei Bedürfnis, ihren Reichtum zu zeigen. Sie kannten sich; das war genug. Die Meinung anderer zählte wenig. Man sah Millionäre, die wie Kleinbürger angezogen waren; sie sprachen ihre rauhe, von derben Ausdrücken durchsetzte Mundart und gingen ihr Leben lang gewissenhaft täglich in ihre Büros, selbst in einem Alter, in dem die Arbeitsamsten sich das Recht auf Ruhe zuerkennen. Die Frauen setzten ihren Stolz in häusliche Tugenden. Den Mädchen wurde keinerlei Mitgift gegeben. Die Reichen ließen ihre Kinder von neuem die harte Lehrzeit durchmachen, die sie an sich selber erprobt hatten. Im täglichen Leben herrschte strenge Sparsamkeit. Dafür eine sehr großzügige Verwendung dieser mächtigen Vermögen für Kunstsammlungen, Bildergalerien, soziale Werke; riesige und fortlaufende, fast stets anonyme Spenden für wohltätige Gründungen oder zur Bereicherung von Museen. Ein Gemisch von Größe und Lächerlichkeiten, die beide aus einem anderen Zeitalter stammten. Diese Welt, für die die übrige Welt nicht vorhanden zu sein schien – obgleich sie sie durch das Geschäftsleben, durch ausgebreitete Verbindungen, durch lange und weite Studienreisen, die die Söhne machen mußten, sehr gut kannte, – diese Welt, für die ein großer Ruf, eine fremde Berühmtheit erst von dem Tage an zählte, an dem der Künstler bei ihr empfangen und bekannt wurde, hielt sich selbst in strengster Zucht. Alle traten füreinander ein, und alle überwachten einander. Dadurch entstand ein Gesamtbewußtsein, das die individuellen Verschiedenheiten (die übrigens unter diesen rauhen Menschen besonders scharf ausgeprägt waren), unter dem Schleier religiöser und sittlicher Gleichförmigkeit verbarg. Jedermann ging zur Kirche, jedermann glaubte. Nicht einer hegte einen Zweifel oder wollte ihn zugeben. Es war unmöglich, zu erkennen, was im Grunde dieser Seelen vorging, die sich um so hermetischer vor den Blicken verschlossen, als sie sich von einer strengen Überwachung umgeben wußten, als sich jeder das Recht anmaßte, in das Gewissen seines Nächsten hineinzuschauen. Es hieß, daß selbst die Ausgewanderten, die, welche sich befreit glaubten, – sobald sie den Fuß wieder hierher setzten, von den Überlieferungen, den Gewohnheiten, der Atmosphäre der Stadt eingefangen wurden: die Ungläubigsten wurden sofort wieder gezwungen, zur Kirche zu gehen und zu glauben. Nicht zu glauben wäre ihnen widernatürlich erschienen. Nicht zu glauben kam nur einer niederen Klasse mit schlechten Manieren zu. Es war nicht angängig, daß ein Mann aus ihren Kreisen sich den religiösen Pflichten entzog. Wer nicht zur Kirche ging, stellte sich außerhalb seiner Klasse und wurde von ihr nicht mehr empfangen.

Diese lastende Zucht war anscheinend noch nicht genug. Diese Menschen fanden, ihre Kaste binde sie noch nicht genügend fest aneinander. Sie hatten daher im Innern dieses großen Vereines eine Unmenge kleiner Vereine gegründet, damit sie vollständig gebunden wären. Man zählte mehrere Hunderte; und ihre Zahl wuchs jedes Jahr. Sie waren für alles mögliche da: für wohltätige Zwecke, für kaufmännische Zwecke, für gleichzeitig fromme und kaufmännische Zwecke, für die Kunst, die Wissenschaften, für den Gesang, die Musik, für geistige Übungen, für körperliche Übungen – ganz einfach aus Vereinslust oder aus Vergnügungssucht; es gab Vereine der Stadtviertel und der Berufe; es gab welche für Menschen des gleichen Standes, mit gleichem Vermögen, mit gleichem Gewicht, mit gleichem Vornamen. Es hieß, man hätte einen Verein der Vereinslosen gründen wollen; man habe aber kein Dutzend Menschen zusammen bekommen.

So war die Seele in den dreifachen Schnürleib der Stadt, der Kaste und des Vereins gepreßt. Ein verborgener Zwang drückte auf die Charaktere. Die Meisten hatten sich seit ihrer Kindheit, – seit Jahrhunderten darein gefügt; und sie fanden ihn heilsam. Es wäre ihnen unschicklich und ungesund erschienen, den Schnürleib auszuziehen. Wenn man ihr zufriedenes Lächeln sah, hätte niemand ahnen können, welche Folter sie zu erleiden imstande waren. Aber die Natur nahm ihre Rache. Ab und zu ging aus diesem Kreise eine aufrührerische Persönlichkeit hervor, ein kraftvoller Künstler oder ein unerschrockener Denker, der seine Fesseln brutal zerbrach und den Aufpassern der Stadt manche Nuß zu knacken gab. Sie waren so intelligent, daß sie sich niemals mit dem Empörer, falls er der Stärkere war, und sie ihn nicht schon im Keim erstickt hatten, in einen hartnäckigen Kampf eingelassen hätten, – (der Kampf hätte möglicherweise skandalöse Auftritte mit sich geführt) – also nahmen sie ihn in Beschlag. War er Maler, steckten sie ihn ins Museum, war er Denker, in die Bibliotheken. Er mochte sich noch so sehr die Lungen ausschreien, um Ungeheuerlichkeiten von sich zu geben: sie taten, als hörten sie nicht. Vergebens beteuerte er seine Unabhängigkeit; sie legten Beschlag auf ihn. So war die Wirkung des Giftes aufgehoben: ein homöopathisches Verfahren. – Aber solche Fälle waren selten; die Mehrzahl der Empörer kam gar nicht ans Tageslicht. Die friedlichen Häuser umschlossen ungeahnte Tragödien. Es kam vor, daß einer ihrer Bewohner mit seinem ruhigen Schritt und ohne besondere Erklärung davonging und sich in den Fluß stürzte. Oder man schloß sich wohl auch für ein halbes Jahr ein; man sperrte seine Frau in ein Irrenhaus, um ihr den Kopf wieder zurechtzusetzen. Man sprach darüber wie von etwas Natürlichem ohne Verlegenheit und mit der sanften Ruhe, die einen der schönen Züge der Stadt ausmachte, und die man dem Leiden und dem Tode gegenüber zu bewahren wußte.

Dieses starke Bürgertum, das sich selbst gegenüber streng war, weil es seinen Wert kannte, war anderen gegenüber weniger anspruchsvoll, weil es sie weniger achtete. In bezug auf Fremde, die sich in der Stadt aufhielten, wie Christof, wie deutsche Professoren oder politische Flüchtlinge, zeigten sich diese Leute sogar ziemlich freiheitlich: denn die waren ihnen gleichgültig. Übrigens hatten sie für Intelligenz etwas übrig. Fortschrittliche Ideen schreckten sie nicht: man wußte, sie würden auf ihre Söhne keinen Einfluß gewinnen. Man bezeigte seinen Gästen ein frostiges Wohlwollen, das sie in Abstand hielt.

Bei Christof brauchte man nicht allzu deutlich zu werden. Er befand sich in einem Zustand äußerster Empfindsamkeit, in dem sein Herz bloßlag; er war nur allzu geneigt, überall Selbstsucht und Gleichgültigkeit zu sehen und sich in sich selbst zurückzuziehen.

Außerdem bildeten Brauns Patienten, der sehr enge Kreis, zu dem seine Frau gehörte, eine ganz besonders unnachsichtige, protestantische kleine Welt. Christof wurde dort als ursprünglicher Katholik und tatsächlicher Ungläubiger doppelt ungern gesehen. Er selbst fand sehr vieles, was ihn zurückstieß. Wenn er auch nichts glaubte, so trug er doch den Jahrhunderte alten Stempel seines Katholizismus, den er allerdings mehr künstlerisch als verstandesmäßig empfand; er war der Natur gegenüber nachsichtiger und kümmerte sich weniger darum, ob er etwas erklären und verstehen könne, als darum, ob er es liebte oder nicht liebte; auch war ihm die geistige und seelische Freiheit von Paris unbewußt zur Gewohnheit geworden. Er mußte sich notwendigerweise an dieser kleinen frömmelnden Welt stoßen, in der die geistigen Fehler des Calvinismus übertrieben deutlich wurden: ein religiöser Wirklichkeitssinn, der dem Glauben die Flügel beschnitt und ihn dann über dem Abhang hängen ließ; denn er entstand aus einem a priori, das ebenso anfechtbar war wie jeder Mystizismus: er war weder Poesie noch Prosa, sondern glich einer in Prosa übertragenen Poesie. Ein intellektueller Hochmut herrschte, ein absoluter, gefährlicher Glaube an die Vernunft, an ihre eigene Vernunft. Wenn sie weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaubten, so glaubten sie doch an die Vernunft, wie ein Katholik an den Papst oder ein Fetischanbeter an seinen Götzen glaubt; es kam ihnen nicht einmal in den Sinn, ihre Vernunft in Frage zu stellen. Wenn das Leben sie Lügen gestraft hätte, so hätten sie eher das Leben verneint. Es lag darin ein Mangel an Psychologie, eine Verständnislosigkeit für die Natur, die verborgenen Kräfte, die Wurzeln des Wesens, – des »Erdgeistes«. Sie zimmerten sich ein Leben, zimmerten sich Menschen zurecht, die kindlich, vereinfacht, schematisch waren. Manche unter ihnen waren gebildete, praktische Leute; sie hatten viel gelesen und viel gesehen. Aber nichts sahen noch lasen sie, so wie es war: sie brachten es auf eine unsinnliche Formel. Sie waren arm an Blut; sie hatten moralisch hochstehende Eigenschaften, aber sie waren nicht menschlich genug; und das ist die Sünde wider den heiligen Geist. Ihre oft wirklich vorhandene Herzensreinheit, die edel und naiv, manchmal komisch war, wurde unglücklicherweise in manchen Fällen tragisch: sie führte anderen gegenüber zu einer erschreckenden Härte, zu einer ruhigen Unmenschlichkeit, die ihrer selbst sicher und ohne Zorn war. Wie hätten sie Bedenken haben sollen? War auf ihrer Seite nicht die Wahrheit, das Recht, die Tugend? Empfingen sie nicht die Offenbarung unmittelbar von ihrer heiligen Vernunft? Die Vernunft ist eine strenge Sonne; sie erleuchtet, aber sie macht blind. In diesem kalten Licht ohne Feuchtigkeit und ohne Schatten wachsen die Seelen farblos auf, ihr Herzblut wird aufgesogen.

Wenn aber zu dieser Zeit für Christof etwas sinnlos war, so war es die Vernunft. Diese Sonne erhellte seinen Augen nur die Felswände des Abgrundes, ohne ihm einen Ausgang zu zeigen, ohne ihm zu ermöglichen, die Tiefe zu ermessen.

Was die künstlerische Welt betraf, so hatte Christof wenig Gelegenheit und noch weniger das Verlangen, mit ihr in Berührung zu treten. Die Musiker waren im allgemeinen brave Hüter der Neo-Schumannschen und der »Brahminischen« Epoche, gegen die Christof früher Lanzen gebrochen hatte. Zwei machten eine Ausnahme: der Organist Krebs, der eine berühmte Konditorei unterhielt, ein braver Mann und guter Musiker war und es noch mehr gewesen wäre, wenn er, um ein Wort eines seiner Landsleute zu wiederholen, »nicht einen Pegasus geritten hätte, dem er allzuviel Hafer zu fressen gab«, – und der andere, ein junger jüdischer Komponist, ein originelles Talent von kraftvollem und unruhigem Blut, der mit Schweizer Artikeln handelte: mit Holzschnitzereien, Berner Häuschen und Bären. Diese beiden, die unabhängiger waren als die anderen, wahrscheinlich, weil sie aus ihrer Kunst keinen Beruf machten, hätten sich wohl gern an Christof angeschlossen; und zu einer anderen Zeit wäre Christof neugierig gewesen, sie kennen zu lernen. In dieser Zeit seines Lebens aber war jede künstlerische und menschliche Neugierde in ihm abgestumpft; er fühlte mehr, was ihn von den Menschen trennte, als was ihn mit ihnen verband.

Sein einziger Freund, der Vertraute seiner Gedanken, war der Fluß, der die Stadt durchfloß, derselbe mächtige und väterliche Fluß, der oben im Norden seine Vaterstadt bespülte. Christof fand in seiner Nähe die Erinnerung an seine Kinderträume wieder ... Doch in der Trauer, die ihn einhüllte, nahmen sie wie der Rhein selber eine düstere Färbung an. In der Abenddämmerung auf eine Kaimauer gestützt, schaute er auf den fieberhaft dahineilenden Strom, die wirbelnde, schwere, dunkle treibende Masse, die unaufhörlich vorüberfloß, in der man nichts unterschied als große bewegte Kreppstreifen, Tausende von Bächen, Strömungen, Wirbel, die sich bildeten und wieder auseinanderflossen, gleich dem Chaos von Bildern in einer Fieberphantasie; ewig entwerfen sich ihre Linien und löschen sich ewig wieder aus. Auf diesem Trugbild der Dämmerung glitten gleich Särgen gespenstige Frachtkähne ohne eine menschliche Gestalt. Die Nacht wurde dunkler. Der Fluß wurde zu Bronze. Seine tintenschwarze Rüstung glänzte unter den Uferlichtern, die gedämpfte Lichtstreifen darauf warfen: kupferfarbene Reflexe der Gaslaternen, mondfarbene der elektrischen Bogenlampen, blutrote der Kerzen hinter den Fenstern der Häuser. Das Murmeln des Flusses erfüllte das Dunkel. Ewiges Rauschen, das in seiner Eintönigkeit trauriger ist als das des Meeres ...

Christof lauschte stundenlang diesem Sang von Tod und Lebensüberdruß. Er konnte sich nur mit Mühe davon losreißen; dann stieg er wieder durch die steilen Gäßchen mit den roten Treppen, die in der Mitte abgetreten waren, zu seiner Behausung hinauf: an Körper und Seele gebrochen, klammerte er sich an das Eisengeländer an, das in die Mauer eingelassen war und in dem Licht der Straßenlaterne oben auf dem öden, nächtlichen Kirchplatz hell glänzte ...

Er begriff nicht mehr, warum die Menschen lebten. Wenn er sich zufällig an die Kämpfe erinnerte, deren Zeuge er gewesen war, bewunderte er voll Bitterkeit diese Menschheit mit ihrem Glauben, der ihr wie ein Pfahl ins Fleisch gerammt war. Den Ideen folgten entgegengesetzte Ideen, den Taten Rückschläge: – Demokratie, Aristokratie, Sozialismus, Individualismus, Romantik, Klassizismus, Fortschritt, Überlieferung – und so in alle Ewigkeit fort. Jede neue Generation, die in weniger als zehn Jahren verbraucht war, glaubte mit demselben Überschwang, daß sie allein den Gipfel erklommen habe, und stürzte ihre Vorläufer hinab: sie ereiferte sich, schrie, erkannte sich Macht und Ruhm zu, stürzte dann selbst unter den Steinwürfen neuer Ankömmlinge hinab, verschwand. Wer war die nächste?

Das musikalische Schaffen war für Christof keine Zuflucht mehr; es war unregelmäßig, ungeordnet, ziellos. Schreiben? Für wen? Für die Menschen? Er machte eine Krisis bitteren Menschenhasses durch. Für sich selbst? Er fühlte nur allzu sehr die Nichtigkeit der Kunst, die unfähig war, die Leere des Todes auszufüllen. Einzig und allein seine blinde Kraft hob ihn in gewissen Augenblicken mit ungestümem Flügel empor, fiel dann aber gebrochen wieder zurück. Er war wie eine Gewitterwolke, die in der Finsternis grollt. Olivier war verschwunden, und ihm blieb nichts zurück. Er war erbittert gegen alles, was früher sein Leben erfüllt hatte, gegen die Empfindungen, die er mit anderen zu teilen geglaubt hatte, gegen die Gedanken, die er mit der übrigen Menschheit gemeinsam zu haben sich eingebildet hatte. Es war ihm heute, als wäre er das Spielzeug einer Einbildung gewesen: das ganze soziale Leben beruhte auf einem unendlichen Mißverständnis, dessen Ursache die Sprache war. In Wirklichkeit besteht nur eine Beziehung zwischen den Worten. Man sagt und man hört Worte; nicht ein Wort hat denselben Sinn, wenn zwei verschiedene Menschen es sagen. Und das ist noch nichts: kein Wort, nicht ein einziges, findet im Leben seine Verwirklichung. Die Worte überragen die erlebte Wirklichkeit. Man redet von Liebe und von Haß. Es gibt keine Liebe, keinen Haß, keine Freunde, keine Feinde, keinen Glauben, keine Leidenschaft, kein Gut, kein Böse. Es gibt nur kalte Reflexe jener Lichtscheine, die aus erloschenen Sonnen, aus seit Jahrhunderten toten Sternen niederfallen ... Freunde? Es fehlt nicht an Leuten, die diesen Namen für sich in Anspruch nehmen. Welche nichtssagende Wirklichkeit aber stellt ihre Freundschaft dar? Was ist Freundschaft im Sinne der Allgemeinheit? Wieviel Minuten seines Lebens gibt der, der sich ein Freund zu sein dünkt, dem verblaßten Andenken seines Freundes hin? Was würde er ihm opfern; nicht etwa von dem ihm Notwendigen, sondern von seinem Überfluß, von seinem Nichtstun, von seiner Langenweile? Was hatte Christof Olivier geopfert? – (denn er nahm sich nicht aus; nur Olivier nahm er von dem Nichts aus, in das er alle menschlichen Wesen einbeschloß.) – Die Kunst ist nicht wirklicher als die Liebe. Welchen Platz nimmt sie wahrhaft im Leben ein? Mit welcher Liebe wird sie von denen geliebt, die sich von ihr ergriffen glauben? ... Die Ärmlichkeit menschlicher Empfindungen ist nicht vorstellbar. Außer dem Artinstinkt, dieser kosmischen Kraft, die der Hebel der Welt ist, gibt es nichts als ein paar kleine Erregungen. Die meisten Menschen haben nicht genug Lebenskraft in sich, um sich ganz und gar einer Leidenschaft hinzugeben. Sie sparen sich mit vorsichtigem Geiz auf. Sie sind von allem etwas und nichts ganz. Wer sich ohne zu rechnen in allen Augenblicken seines Lebens allem hingibt, was er tut, allem, was er leidet, allem, was er liebt, allem, was er haßt, der ist ein Wunder, – man müßte ihn das größte Wunder nennen, das einem vergönnt ist auf der Erde anzutreffen. Die Leidenschaft ist wie das Genie: ein Wunder. Das heißt soviel, als sie ist überhaupt nicht vorhanden.

So dachte Christof: und das Leben schickte sich an, ihm einen schrecklichen Gegenbeweis aufzuzwingen. Das Wunder ist überall, wie das Feuer im Stein: ein Schlag läßt es hervorsprühen. Wir ahnen nicht die Dämonen, die in uns schlummern ... »… Però non mi destar, deh! parla basso! ...«

 

Eines Abends, als Christof am Klavier improvisierte, stand Anna auf und ging hinaus, wie sie oft tat, wenn Christof spielte. Die Musik langweilte sie anscheinend. Christof gab nicht mehr acht darauf: es war ihm gleichgültig, was sie dachte. Er spielte weiter. Da kamen ihm Gedanken, die er festzuhalten wünschte; er hielt inne und wollte auf sein Zimmer gehen, um sich das nötige Notenpapier zu holen. Als er die Tür zum Nebenzimmer öffnete und mit gesenktem Kopf in die Dunkelheit trat, stieß er heftig an einen reglosen, am Eingang stehenden Körper. Anna ... Der Anprall und der Schreck ließen die junge Frau aufschreien. Christof, in seiner Besorgnis, ihr weh getan zu haben, ergriff herzlich ihre beiden Hände – sie waren eiskalt. Sie schien – wohl vor Schreck – zu zittern. Sie murmelte eine undeutliche Erklärung wegen ihrer Anwesenheit an diesem Ort:

»Ich suchte ... im Eßzimmer ...«

Er verstand nicht, was sie suchte; und vielleicht hatte sie es auch gar nicht gesagt. Ihm schien es eigenartig, daß sie ohne Licht umherging, um etwas zu suchen. Aber er war an das sonderbare Wesen Annas so gewöhnt, daß er nicht darauf acht gab.

Eine Stunde später war er in das kleine Wohnzimmer zurückgekehrt, in dem er den Abend mit Braun und Anna verbrachte. Er saß vor dem Tisch unter der Lampe und schrieb. Anna, rechts am anderen Tischende, saß über ihre Arbeit gebeugt und nähte. Hinter ihnen, in einem niedrigen Sessel in der Nähe des Feuers las Braun in einer Zeitschrift. Alle drei schwiegen. Man vernahm mit Unterbrechungen das Plätschern des Regens auf dem Gartenkies. Um sich völlig abzusondern, drehte Christof, der schon zu drei Vierteln abgewendet saß, Anna den Rücken zu. Ihm gegenüber gab ein Wandspiegel den Tisch, die Lampe und die beiden über ihre Arbeit gebeugten Gestalten wieder. Es war Christof, als sähe Anna ihn an. Zuerst beunruhigte ihn das nicht; schließlich, als dies Empfinden gar nicht wich, wurde es ihm unbehaglich, er schaute zu dem Spiegel hin und er sah ... Sie schaute ihn in der Tat an. Mit was für einem Blick! Er war wie versteinert, hielt den Atem an und schaute. Sie wußte nicht, daß er sie beobachtete. Das Lampenlicht fiel auf ihr bleiches Gesicht, dessen gewohnter Ernst und dessen Schweigsamkeit den Ausdruck verhaltener Leidenschaft zeigte. Ihre Augen, diese unbekannten Augen, die er niemals hatte treffen können, waren fest auf ihn gerichtet: tiefblaue Augen mit großen Pupillen und einem brennenden und harten Blick; sie hingen an ihm, sie durchforschten ihn mit stummer und hartnäckiger Glut. Ihre Augen? Waren das wirklich ihre Augen? Er sah sie und glaubte es nicht. Sah er recht? Er wandte sich schnell um ... Die Augen waren gesenkt. Er versuchte mit ihr zu reden, sie zu zwingen, ihm ins Gesicht zu schauen. Die unbewegliche Gestalt antwortete, ohne von ihrer Arbeit den Blick zu heben, der sich hinter dem undurchdringlichen Dunkel der bläulichen Lider mit den kurzen und dichten Wimpern verschanzt hatte. Wäre Christof seiner selbst nicht so sicher gewesen, hätte er geglaubt, die Beute einer Sinnestäuschung zu sein. Aber er wußte, was er gesehen hatte, und er fand keine Erklärung dafür.

Doch da sein Geist von der Arbeit erfüllt war und Anna ihn wenig interessierte, beschäftigte ihn der eigenartige Eindruck nicht lange.

Eine Woche später versuchte Christof am Klavier ein Lied, das er eben komponiert hatte. Braun, der sowohl aus ehemännlicher Eitelkeit wie aus Necksucht den Hang hatte, seine Frau zu quälen, sie möge singen oder spielen, drang an diesem Abend besonders darauf. Gewöhnlich weigerte sich Anna mit einem höchst trockenen Nein und machte sich dann nicht mehr die Mühe, auf die Aufforderungen, Bitten oder Scherze zu antworten; sie preßte die Lippen zusammen und stellte sich taub. Diesmal legte sie zu Brauns und Christofs größtem Erstaunen die Arbeit zusammen, stand auf, kam ans Klavier und sang das Lied, das sie nie zuvor gelesen hatte. Es war eine Art Wunder, das Wunder. Ihre Stimme hatte einen verinnerlichten Klang und erinnerte in nichts an ihre ein wenig rauhe und verschleierte Sprechstimme. Sie setzte vom ersten Ton an fest ein und ohne einen Schatten von Verlegenheit; ohne Anstrengung verlieh sie dem musikalischen Satz eine erschütternde und reine Größe; sie erhob sich zu einer Kraft der Leidenschaft, die Christof erbeben ließ: denn ihm war, als vernähme er die Stimme seines eigenen Herzens. Er sah sie verdutzt an, während sie sang, und endlich, zum ersten male, sah er sie. Er sah ihre düsteren Augen, in denen ein Schimmer von einer Wildheit aufglomm, ihren großen, leidenschaftlichen Mund mit den gutgeschnittenen Lippen, das sinnliche, ein wenig schwere und grausame Lächeln, ihre gesunden weißen Zähne, ihre schönen und starken Hände, deren eine sich auf das Klavierpult stützte, und den kräftigen Bau eines in die Kleidung gezwängten, durch ein allzu beschränktes, allzu ärmliches Leben abgemagerten Körpers, den man aber unter dem Kleid jugendfrisch, kräftig und harmonisch ahnte.

Als das Lied zu Ende war, setzte sie sich wieder, die Hände auf die Kniee gelegt. Braun lobte sie. Aber er fand, sie habe nicht herzhaft genug gesungen. Christof sagte nichts. Er betrachtete sie nur. Sie lächelte unbestimmt; denn sie wußte, daß er sie ansah. Ein tiefes Schweigen herrschte an diesem Abend zwischen ihnen. Es wurde ihr klar, daß sie sich soeben über sich selbst erhoben habe oder vielleicht zum ersten Male sie selber gewesen sei. Sie begriff nicht, wieso.

 

Von diesem Tage an begann Christof, Anna aufmerksam zu beobachten. Sie war in ihre Stummheit, ihre kalte Gleichgültigkeit und ihre Arbeitswut zurückgefallen, die sogar ihren Mann reizte, und bei der sie die dunklen Gedanken ihrer trüben Natur einschläferte. Christof konnte sie noch so sehr belauern, er entdeckte nichts anderes mehr in ihr als die steife Bürgersfrau der ersten Zeit. Manchmal saß sie in sich versunken, untätig, mit starren Augen da. So verließ man sie, und so fand man sie nach einer Viertelstunde wieder: sie hatte sich nicht gerührt. Fragte ihr Mann sie, woran sie dächte, schreckte sie aus ihrer Erstarrung auf, lächelte und sagte, sie dächte an gar nichts. Und sie sagte die Wahrheit.

Nichts brachte sie aus ihrer Ruhe. Eines Tages, als sie sich anzog, explodierte ihre Spirituslampe. In einem Augenblick stand Anna in Flammen. Das Dienstmädchen rannte fort und brüllte um Hilfe. Braun verlor den Kopf und rannte umher, stieß Schreie aus und es wurde ihm beinahe übel. Anna riß ihren Frisiermantel auf, streifte den Rock ab, der Feuer gefangen hatte und trat es mit den Füßen aus. Als Christof aufgeregt mit einer Karaffe, die er sinnlos ergriffen hatte, herbeilief, fand er Anna auf einem Stuhl stehend, im Unterrock und mit nackten Armen, wie sie ohne Erregtheit die brennenden Vorhänge mit den Händen löschte. Sie verbrannte sich, machte aber davon keinerlei Aufhebens und schien nur ärgerlich, daß man sie in diesem Aufzug gesehen hatte. Sie errötete, bedeckte linkisch ihre Schultern mit den Armen und floh mit der Miene beleidigter Würde ins Nebenzimmer. Christof bewunderte ihre Ruhe; aber er hätte nicht sagen können, ob diese Ruhe mehr Mut oder mehr Stumpfheit bewies. Er neigte zu der letzteren Erklärung. Diese Frau schien sich wahrhaftig für nichts zu interessieren, weder für andere noch für sich selbst. Christof zweifelte daran, ob sie ein Herz habe.

Er zweifelte aber keineswegs mehr nach einer Begebenheit, deren Zeuge er war. Anna besaß eine kleine schwarze Hündin mit klugen und sanften Augen, die das Hätschelkind des Hauses war. Braun liebte sie über alles. Christof nahm sie mit sich, wenn er sich zum Arbeiten in sein Zimmer einschloß; und oft spielte er mit ihr hinter verschlossener Türe, anstatt zu arbeiten. Ging er aus, so stand sie lauernd auf der Schwelle und folgte seinen Schritten: denn er brauchte einen Gefährten beim Spaziergang. Sie lief tänzelnd vor ihm her, und ihre vier Pfoten wirbelten über den Boden so behende, als flatterten sie. Ab und zu blieb sie stehen, stolz darauf, daß sie schneller war als er; und leicht gekrümmt, mit vorgestreckter Brust, sah sie ihm entgegen. Sie tat sich wichtig; sie bellte wütend ein Stück Holz an. Sobald sie aber in der Ferne einen anderen Hund entdeckte, floh sie mit Windesschnelle und suchte zitternd Schutz zwischen Christofs Beinen. Christof machte sich über sie lustig und hatte sie doch gern. Seit er sich von den Menschen zurückgezogen hatte, fühlte er sich mehr zu den Tieren hingezogen; er fand sie bemitleidenswert und rührend. Wie vertrauensvoll geben sich diese armen Tiere dem hin, der gut zu ihnen ist! Der Mensch ist so sehr Herr ihres Lebens und Sterbens, daß, wer diesen schwachen Wesen, die ihm ausgeliefert sind, weh tut, einen abscheulichen Mißbrauch seiner Macht begeht.

Wie sehr das reizende Tierchen auch an allen hing, so zog es doch Anna deutlich vor. Diese tat nichts, um es anzulocken; aber sie koste es gern, sie ließ es auf ihren Knieen ruhen, sorgte für seine Nahrung und schien es so lieb zu haben, wie sie überhaupt zu lieben fähig war. Eines Tages konnte die Hündin den Rädern eines Automobils nicht mehr ausweichen. Sie wurde beinahe vor den Augen ihrer Herren überfahren. Sie lebte noch und schrie jämmerlich. Braun stürzte barhäuptig aus dem Hause; er raffte das blutende Bündel auf und suchte seine Qualen wenigstens zu lindern. Anna kam herbei, sah, ohne sich niederzubücken, darauf hin, verzog angeekelt den Mund und ging davon. Braun stand mit Tränen in den Augen dem kleinen Geschöpfe im Todeskampf bei. Christof ging mit großen Schritten im Garten auf und ab und ballte die Fäuste. Er hörte, wie Anna ruhig dem Dienstmädchen Befehle gab. Er konnte sich nicht enthalten, sie zu fragen:

»Ihnen tut das wohl gar nicht leid?«

Sie antwortete:

»Man kann doch nichts mehr ändern, nicht wahr? Dann ist es besser, man denkt nicht daran.«

Er empfand etwas wie Haß gegen sie; dann fiel ihm das Sonderbare der Antwort auf; und er lachte. Er sagte sich, Anna müsse ihm wirklich das Rezept geben, nach dem man nicht mehr an traurige Dinge zu denken brauchte. Und er fand, das Leben sei leicht für die, die das Glück haben, kein Herz zu besitzen. Er dachte daran, wie wenig sich Anna aufregen würde, falls Braun stürbe, und er beglückwünschte sich, daß er nicht verheiratet war. Seine Einsamkeit schien ihm weniger traurig als solche Kette von Gewohnheiten, die einen fürs Leben an ein Wesen bindet, für das man ein Gegenstand des Hasses ist, oder, was noch schlimmer ist, dem man überhaupt nichts bedeutet. Diese Frau liebte offenbar niemanden. Sie lebte kaum. Das Frömmlertum hatte sie ausgedörrt.

Eines Tages, Ende Oktober, bereitete sie Christof eine Überraschung. – Sie saßen bei Tisch. Er sprach mit Braun über ein Verbrechen aus Leidenschaft, von dem die ganze Stadt erfüllt war. Auf dem Lande hatten sich zwei italienische Mädchen, zwei Schwestern, in denselben Mann verliebt. Da weder die eine noch die andere sich gutwillig opfern wollte, hatten sie das Los gezogen, welche von beiden den Platz räumen sollte. Die Verlierende sollte sich ganz einfach in den Rhein stürzen. Doch als das Schicksal gesprochen hatte, zeigte die Verlierende wenig Eifer, dem Beschluß zu folgen. Die andere war über einen solchen Treubruch empört. Von Beschimpfungen kam es zu Schlägen und sogar zu Messerstichen; dann drehte sich plötzlich der Wind: man umarmte sich weinend und schwor, ohne einander nicht leben zu können; und da man trotzdem sich nicht damit abfinden konnte, den Liebhaber zu teilen, beschloß man, ihn zu töten. So geschah es. Eines Nachts ließen die beiden Verliebten den Liebhaber in ihr Zimmer ein, der voller Stolz über diese doppelte Frauengunst war; und während die eine ihn leidenschaftlich mit ihren Armen umschlang, stieß ihm die andere nicht weniger leidenschaftlich den Dolch in den Rücken. Glücklicherweise wurde sein Geschrei gehört. Man kam, man entriß ihn in ziemlich jämmerlichem Zustand der Umarmung seiner Freundinnen und nahm diese fest. Sie erhoben Einspruch und behaupteten, daß das niemanden etwas anginge, daß nur sie allein etwas mit der Angelegenheit zu tun hätten, und daß, sobald sie einig darüber wären, sich jemandes zu entledigen, der ihnen gehörte, niemand sich hineinzumischen habe. Das Opfer war nahe daran, dieser Auffassung recht zu geben; aber die Justiz begriff das nicht. Braun begriff es ebensowenig.

»Sie sind verrückt,« sagte er. »Man muß sie in ein Irrenhaus sperren. Nein! solche Bestien! ... Ich verstehe, daß man sich aus Liebe tötet. Ich verstehe sogar, daß man das Wesen tötet, das man liebt und das einen betrügt ... Das heißt, ich entschuldige es nicht; aber ich erkenne es als ein Überbleibsel von tierischem Atavismus an; es ist barbarisch, aber logisch: man tötet den, der einem Leid zufügt. Aber ohne Groll, ohne Haß jemanden töten, den man liebt, nur weil andere ihn lieben, das ist Wahnsinn ... Begreifst du das, Christof?«

»Bah,« meinte Christof, »ich bin ans Nichtbegreifenkönnen gewöhnt. Liebe und Unvernunft sind eins.«

Anna, die scheinbar ohne zuzuhören geschwiegen hatte, hob den Kopf und sagte mit ihrer ruhigen Stimme:

»Darin liegt doch nichts Unvernünftiges. Es ist ganz natürlich. Wenn man liebt, will man das, was man liebt, zerstören, damit niemand anderes es haben kann.«

Braun sah seine Frau verdutzt an; er schlug auf den Tisch, kreuzte die Arme und sagte:

»Wo hat sie das aufgefischt? ... Wie! Mußt du auch deine Weisheit dazugeben? Was zum Teufel verstehst du davon?«

Anna errötete leicht und schwieg. Braun fuhr fort:

»Wenn man liebt, will man zerstören? ... Was für ein ungeheuerlicher Blödsinn! Zerstören, was einem teuer ist, heißt sich selbst zerstören. Ganz im Gegenteil; wenn man liebt, ist das natürliche Empfinden, dem wohlzutun, der einem wohltut, ihn zu verhätscheln, ihn zu pflegen, gut zu ihm zu sein, gut zu sein gegen jedes. Lieben bedeutet das Paradies auf Erden.«

Anna, deren Augen ins Dunkel starrten, ließ ihn reden, schüttelte dann den Kopf und sagte kalt:

»Man ist nicht gut, wenn man liebt.«

 

Christof erneuerte nicht den Versuch, Anna singen zu hören. Er fürchtete ... eine Enttäuschung – oder vielleicht etwas anderes? Er hätte es nicht sagen können. Anna hegte dieselbe Furcht. Sie vermied es, im Wohnzimmer zu sein, wenn er zu spielen begann.

Aber eines Abends im November, als er am Kamin las, sah er, wie Anna, mit ihrer Arbeit auf den Knieen, dasaß und in eine ihrer Träumereien versunken war. Sie schaute ins Leere, und Christof meinte, durch ihren Blick den Schimmer jener seltsamen Glut vom damaligen Abend gleiten zu sehen. Er schloß das Buch. Sie fühlte sich beobachtet und begann wieder zu nähen. Unter ihren gesenkten Lidern sah sie immer alles. Er stand auf und sagte:

»Kommen Sie.«

Sie richtete die Augen auf ihn, in denen es noch unruhig flackerte, begriff und folgte ihm.

»Wo geht ihr hin?« fragte Braun.

»Zum Klavier,« erwiderte Christof.

Er spielte. Sie sang. Sogleich fand er sie so wieder, wie sie ihm das erste Mal erschienen war. Mit Leichtigkeit trat sie in diese heroische Welt ein, als wäre es die ihre. Er stellte sie weiter auf die Probe, nahm ein zweites Stück vor, dann ein drittes, schwungvolleres, wobei er den Schwarm der Leidenschaften in ihr entfesselte, sie hinriß, sich selbst mit fortreißen ließ; dann, als sie auf dem Höhepunkt angekommen waren, hielt er plötzlich inne und fragte sie, indem er seine Augen in ihre senkte:

»Ja, wer sind Sie denn eigentlich?«

Anna erwiderte:

»Ich weiß es nicht.«

Er sagte grob:

»Was steckt denn in Ihnen, daß Sie so singen?«

Sie erwiderte:

»Das, was Sie mich singen lassen.«

»Wirklich? Nun, dann steckt es nicht an der verkehrten Stelle. Ich frage mich, ob ich selbst das geschaffen habe, oder Sie. Empfinden Sie denn diese Dinge so, gerade Sie?«

»Ich weiß nicht, ich glaube, wenn man singt, ist man nicht man selbst.«

»Und ich glaube, daß Sie nur dann Sie selbst sind.«

Sie schwiegen. Ihre Wangen waren feucht von leichtem Schweiß. Ihr Busen hob sich leise. Sie starrte in das Kerzenlicht und kratzte mechanisch an den Wachsflecken, die auf den Rand des Leuchters getropft waren. Er griff aufs Geratewohl in die Tasten und sah sie an. Sie redeten noch einige verlegene Worte abgerissen und in rauhem Ton, versuchten ein paar nichtssagende Redensarten und schwiegen dann gänzlich, aus Furcht, tiefer nachzuforschen ...

Am nächsten Morgen redeten sie kaum miteinander; sie sahen sich mit einer Art Angst verstohlen an. Aber sie gewöhnten sich daran, abends zu musizieren. Bald spielten sie auch nachmittags zusammen; und täglich mehr. Immer bemächtigte sich vom ersten Akkord an die gleiche unverständliche Leidenschaft ihres ganzen Wesens und machte aus der Kleinbürgerin während der Zeit, da die Musik dauerte, eine gebieterische Venus, die Verkörperung aller Leidenschaften.

Braun wunderte sich über Annas plötzliche Liebe zum Gesang, nahm sich aber nicht die Mühe, nach einer Erklärung dieser Frauenlaune zu suchen. Er wohnte diesen kleinen Konzerten bei, bewegte den Kopf im Takt dazu, gab seine Ansichten kund und war vollkommen glücklich, obgleich er eine sanftere Musik vorgezogen hätte: solche Kräfteverschwendung schien ihm übertrieben. Christof witterte eine Gefahr; aber sein Kopf war schwindlig: durch die Krisis, die er gerade durchgemacht hatte, geschwächt, leistete er keinen Widerstand und verlor das Bewußtsein dessen, was in ihm vorging, ohne nachzuforschen, was in Anna vorging. Eines Nachmittags, mitten in einem Lied, in vollem Überströmen leidenschaftlicher Gluten, hielt sie inne und ging ohne Erklärung aus dem Zimmer. Christof wartete auf sie; sie erschien nicht wieder. Eine halbe Stunde später, als er im Flur an ihrem Zimmer vorbeikam, sah er sie durch die halboffene Türe im Hintergrund, mit erstarrtem Gesicht inbrünstig ins Gebet versunken.

Indessen stellte sich ganz allmählich ein wenig Vertrauen zwischen ihnen ein. Er versuchte, sie dazu zu bringen, etwas aus ihrer Vergangenheit zu erzählen; sie sprach nur von alltäglichen Dingen. Mit unendlicher Mühe und Stück für Stück entriß er ihr einige genauere Einzelheiten. Durch Brauns leicht indiskrete Gutmütigkeit gelang es ihm, das Geheimnis ihres Lebens zu mutmaßen.

Sie war in der Stadt geboren. Mit ihrem Mädchennamen hieß sie Anna Maria Senfl. Ihr Vater, Martin Senfl, gehörte einer Jahrhunderte alten millionenschweren Kaufmannsfamilie an, in der Klassenstolz und religiöse Strenge sehr überhand genommen hatten. Abenteurerlichen Sinnes hatte er, wie viele seiner Landsleute, mehrere Jahre in der Fremde, im Orient und in Südamerika zugebracht; er hatte sogar kühne Forschungsreisen in Zentral-Asien unternommen, wozu ihn gleicherweise die Handelsinteressen seines Hauses wie die Liebe zur Wissenschaft und die eigene Freude daran drängten. Bei diesen Weltfahrten hatte er sich nicht allein mit keinerlei Lasten beschwert, sondern er hatte auch die, die er trug, abgeworfen, nämlich seine alten Vorurteile. Und zwar so vollständig, daß er bei der Heimkehr, heißblütig und dickköpfig wie er war, trotz des empörten Widerstandes der Seinen die Tochter eines Bauern aus der Umgegend heiratete, die einen zweifelhaften Ruf hatte, und die zuerst seine Geliebte gewesen war. Die Ehe war das einzig erfindliche Mittel für ihn gewesen, sich das schöne Mädchen, dem er nicht mehr entsagen konnte, zu erhalten. Nachdem die Familie ihr Veto vergebens eingelegt hatte, verschloß sie sich vollständig vor dem, der ihre allerheiligste Autorität mißachtete. Die Stadt, – das heißt alle, die zählten, zeigten sich gewöhnlich eines Sinnes inbezug auf die sittliche Würde der Allgemeinheit und nahmen insgesamt Partei gegen das unkluge Paar. Der Forscher erfuhr an sich, daß es nicht weniger gefährlich ist, den Vorurteilen der Leute in den christlichen Ländern zuwider zu handeln als den Anhängern des Dalai Lama. Er war nicht stark genug, um sich über die Meinung der Welt hinwegzusetzen. Er hatte in seinen Vermögensanteil schon große Lücken gerissen; nirgends fand er Anstellung, alles blieb ihm verschlossen. Er rieb sich in nutzlosem Zorn gegen die schlechte Behandlung durch die unversöhnliche Stadt auf. Seine Gesundheit, die durch Ausschweifungen und Fieber untergraben war, konnte dem nicht widerstehen. Er starb fünf Monate nach seiner Heirat an einem Blutsturz. Vier Monate später starb im Kindbett seine Frau, eine gutmütige, aber schwache und dumme Person, die seit ihrer Hochzeit keinen Tag ohne Tränen verbracht hatte; an dem Gestade, das sie verließ, blieb die kleine Anna zurück.

Martins Mutter lebte noch. Sie hatte weder ihrem Sohn, noch der, die sie als Schwiegertochter nicht anerkennen wollte, im geringsten verziehen, nicht einmal auf beider Totenbett. Doch als sie nicht mehr lebten und die göttliche Rache dadurch gestillt war, nahm sie das Kind zu sich. Diese Frau war von engherziger Frömmigkeit, reich und geizig; sie führte ein Seidenwarengeschäft in einer düsteren Straße der Altstadt. Sie behandelte die Tochter ihres Sohnes nicht wie ihre Enkelin, sondern wie eine Waise, die man aus Barmherzigkeit aufgenommen hat und die einem dafür eine Art Dienstbarkeit schuldet. Immerhin ließ sie ihr eine sorgfältige Erziehung angedeihen; aber sie legte ihr gegenüber niemals ihre mißtrauische Härte ab; es war, als hielte sie das Kind für schuldig an der Sünde seiner Eltern und als wäre sie darauf erpicht, die Sünde in ihm zu ersticken. Sie gestattete ihr keinerlei Zerstreuung; sie belauerte ihre natürliche Eigenart in jeder ihrer Gebärden, in ihren Worten, ja sogar in ihren Gedanken wie ein Verbrechen; sie tötete in dem jungen Leben die Freude. Anna wurde frühzeitig daran gewöhnt, sich in der Kirche zu langweilen und es nicht zu zeigen. Sie wurde mit den Schrecken der Hölle umgeben; ihre Kinderaugen mir den niedergeschlagenen Lidern sahen sie jeden Sonntag an der Pforte des alten Münsters in der Gestalt der unanständigen und verzerrten Statuen, denen ein Feuer zwischen den Beinen brennt und an deren Schenkeln Kröten und Schlangen hinaufkriechen. Sie gewöhnte sich daran, ihre Instinkte zu unterdrücken und sich selbst zu belügen. Sobald sie in dem Alter war, ihrer Großmutter helfen zu können, mußte sie von morgens bis abends in dem traurigen und düsteren Laden arbeiten. Sie nahm die Gewohnheiten an, die rings um sie herrschten, den Geist der Ordnung, der trübseligen Sparsamkeit, der unnützen Entbehrungen; jene gelangweilte Gleichgültigkeit nahm von ihr Besitz, jene wegwerfende und mürrische Lebensauffassung, die die natürliche Folge religiösen Glaubens bei denen ist, die nicht von Natur aus religiös sind. Sie ging so vollständig in ihrer Frömmigkeit auf, daß es selbst der alten Frau zuviel erschien; sie übertrieb das Fasten und die Kasteiungen; eines Tages kam sie auf den Einfall, ein Korsett zu tragen, das mit Nadeln besteckt war, die ihr bei jeder Bewegung in das Fleisch drangen; man sah sie bleich werden, aber man wußte nicht, was sie habe. Schließlich, als sie ohnmächtig wurde, ließ man einen Arzt kommen. Sie verweigerte es, sich untersuchen zu lassen (sie wäre eher gestorben, als sich vor einem Manne auszuziehen), aber sie gestand; und der Arzt machte ihr eine so heftige Szene, daß sie versprach, es nicht wieder zu tun. Um ganz sicher zu gehen, überwachte die Großmutter von nun an ihre Kleidung. Anna empfand in solchen Martern nicht etwa, wie man hätte glauben können, eine mystische Wollust; sie hatte wenig Fantasie; sie hätte die Poesie eines Franz von Assisi oder einer heiligen Therese nicht verstanden. Ihre Frömmigkeit war unfroh und erdenschwer. Wenn sie sich folterte, tat sie es nicht um der Belohnung willen, die sie dafür in einem künftigen Leben erwartete, sondern aus einem grausamen Lebensekel, der sich gegen sie selbst wandte und ein beinahe boshaftes Vergnügen darin fand, sich selbst weh zu tun. Eine sonderbare Abweichung lag darin, daß dieser harte und kalte Geist, der dem der Großmutter glich, für Musik empfänglich war, ohne daß sie selbst ahnte, in wie hohem Maße. Die anderen Künste blieben ihr verschlossen; vielleicht hatte sie in ihrem ganzen Leben niemals ein Bild angeschaut; sie schien keinerlei Sinn für plastische Schönheit zu haben, so sehr fehlte es ihr in ihrer hochmütigen und gewollten Gleichgültigkeit an Geschmack; der Gedanke an einen schönen Körper weckte in ihr nur den Gedanken an Nacktheit, das heißt, wie bei dem Bauern, von dem Tolstoi spricht, ein Gefühl des Widerwillens, das bei Anna um so stärker war, als sie im Verkehr mit Wesen, die ihr gefielen, eher den dumpfen Stachel des Begehrens empfand, als den ruhigen Eindruck der ästhetischen Wertung. Sie ahnte weder ihre eigene Schönheit noch die Kraft ihrer zurückgedrängten Instinkte: oder vielmehr, sie wollte nicht ahnen; und durch die Gewohnheit des Selbstbetrugs gelang es ihr, sich selbst etwas weis zu machen.

Braun begegnete ihr bei einem Hochzeitsessen, an dem sie ausnahmsweise teilnahm; man lud sie wenig ein, denn sie stand ihrer unpassenden Abstammung wegen immer noch in schlechtem Ruf. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie fiel ihm auf. Keineswegs etwa suchte sie sich bemerkbar zu machen. Steif und geschmacklos angezogen, saß sie bei Tisch neben ihm und öffnete kaum den Mund zum Reden. Braun aber, der nicht aufhörte, sich mit ihr zu unterhalten, das heißt, während der ganzen Mahlzeit allein zu sprechen, kehrte begeistert heim. Mit seinem gewohnten Scharfblick fiel ihm die jungfräuliche Reinheit seiner Nachbarin auf; er bewunderte ihren gesunden Verstand und ihre Ruhe. Er schätzte auch ihre schöne Gesundheit und die soliden Hausfraueneigenschaften, die sie ihm zu haben schien. Er machte der Großmutter seinen Besuch, kam noch einmal, hielt um Anna an und erhielt das Jawort. Keinerlei Mitgift indes. Frau Senfl vermachte das Vermögen ihres Hauses der Stadt für kaufmännische Unternehmungen.

In keinem Augenblick hatte die junge Frau für ihren Mann Liebe empfunden: der Gedanke daran kam nach ihrer Meinung in einem ehrbaren Leben gar nicht in Frage, man mußte ihn eher als sündhaft von sich weisen. Aber sie schätzte Brauns Güte und war ihm, ohne daß sie es zeigte, dankbar dafür, daß er sie trotz ihrer zweifelhaften Abstammung geheiratet hatte. Übrigens hatte sie ein ausgeprägtes Empfinden für die eheliche Ehre. In den sieben Jahren, die sie verheiratet waren, hatte nichts ihre Verbindung gestört. Sie lebten nebeneinander, verstanden sich durchaus nicht, ließen sich aber dadurch nicht bekümmern; sie waren in den Augen der Welt das Vorbild einer Musterehe. Sie gingen wenig aus. Braun hatte viele Patienten; aber es war ihm nicht gelungen, seine Frau bei ihnen einzuführen. Sie gefiel nicht; und der Makel ihrer Geburt war noch nicht ganz verwischt. Anna machte selbst auch keinerlei Anstrengungen, um empfangen zu werden. Sie trug noch die Verachtung nach, die ihre Kindheit verdüstert hatte. Auch fühlte sie sich in Gesellschaft befangen, und es war ihr nicht unlieb, daß man sie vergaß. Sie machte und empfing einige unumgänglich notwendige Besuche, die das Interesse ihres Mannes verlangte. Die Besucherinnen waren neugierige und boshafte Kleinbürgerinnen. Ihr Klatsch war Anna völlig gleichgültig; sie gab sich nicht die Mühe, ihre Teilnahmlosigkeit zu verbergen. Das war unverzeihlich. So wurden die Besuche seltener, und Anna blieb allein. Das gerade wollte sie: nichts störte mehr den Traum, den sie in sich verspürte, und das dunkle Raunen ihres Blutes.

 

Seit einigen Wochen jedoch schien Anna leidend. Ihr Gesicht wurde immer hohler und blasser. Sie floh Christofs und Brauns Gegenwart und verbrachte die Tage in ihrem Zimmer; sie vertiefte sich in ihre Gedanken; sie antwortete nicht, wenn man mit ihr sprach. Braun kümmerte sich im allgemeinen nicht sehr um solche Frauenlaunen. Er erklärte sie Christof. Wie fast alle Männer, die dafür geschaffen sind, von den Frauen getäuscht zu werden, schmeichelte er sich, sie sehr gut zu kennen. Und er kannte sie in der Tat ziemlich gut, was gar nichts nützt. Er wußte, daß sie oft Zustände von schwerer Träumerei, eigensinniger und feindseliger Schweigsamkeit haben, und er fand, daß man sie dann in Ruhe lassen müsse und nicht versuchen dürfe, in die gefährliche Welt des Unbewußten hineinzuleuchten, vor allem aber sie nicht zu veranlassen, es selbst zu tun. Nichtsdestoweniger begann er, sich um Annas Gesundheit zu sorgen. Er behauptete, daß die Bleichsucht von ihrer Lebensweise herrühre, davon, daß sie ewig eingeschlossen bliebe, niemals aus der Stadt, ja kaum aus dem Hause heraus käme. Er wollte, daß sie spazieren ginge. Er konnte sie wenig begleiten: Sonntags war er durch seine kirchlichen Pflichten in Anspruch genommen; an den anderen Tagen hatte er Sprechstunden. Was Christof betraf, so vermied er, mit ihr auszugehen. Ein oder zweimal hatten sie einen gemeinsamen kurzen Spaziergang außerhalb der Stadt gemacht und sich dabei zum Sterben gelangweilt. Die Unterhaltung schlief ein. Die Natur schien für Anna nicht vorhanden zu sein; sie sah nichts; jede Landschaft bestand für sie aus Gras und Steinen; ihre Unempfindlichkeit wirkte erkältend. Christof hatte versucht, ihr Bewunderung für eine schöne Gegend einzuflößen. Sie schaute, lächelte kalt und sagte mit dem Bemühen, ihm einen Gefallen zu tun:

»O ja, das ist mystisch ...«

Und das auf dieselbe Art, wie sie gesagt hätte:

»Es ist sehr sonnig.«

Vor Ärger hatte sich Christof die Nägel in die Handflächen gepreßt. Seither hatte er sie nichts mehr gefragt. Und wenn sie ausging, fand er einen Vorwand, um zu Hause zu bleiben.

In Wirklichkeit traf es nicht zu, daß Anna für die Natur unempfänglich war. Sie liebte nicht, was man im allgemeinen schöne Landschaften nennt: sie unterschied sie nicht von anderen. Aber sie liebte das Land an und für sich – die Erde und die Luft. Nur ahnte sie ebenso wenig davon wie von ihren anderen, ihren stärksten Empfindungen; und wer mit ihr zusammen lebte, ahnte es noch weniger.

 

Braun setzte es schließlich bei seiner Frau durch, einen Tagesausflug in die Umgegend zu machen. Sie gab verdrießlich nach, damit man sie in Ruhe ließe. Man setzte den Spaziergang auf einen Sonntag fest. Im letzten Augenblick wurde der Doktor, der sich kindlich darauf gefreut hatte, durch einen ernsten Krankheitsfall zurückgehalten. So ging Christof mit Anna allein.

Es war ein schöner, schneefreier Wintertag, reine, kalte Luft, klarer Himmel, heller Sonnenschein und ein eisiger Wind. Sie nahmen eine kleine Vorortbahn, die zu einem jener blauen Hügelzüge führte, die rings um die Stadt einen fernen Glorienschein weben. Ihr Wagenabteil war voll; sie saßen getrennt. Sie redeten nicht miteinander. Anna war in düsterer Stimmung; am Abend vorher hatte sie zu Brauns Überraschung erklärt, daß sie am nächsten Morgen nicht zum Gottesdienst ginge. Zum erstenmal in ihrem Leben versäumte sie ihn. War das Auflehnung? ... Wer ahnte die Kämpfe, die in ihr tobten? Sie sah starr vor sich hin; sie war bleich; sie grübelte.

Sie stiegen aus. Die feindliche Kälte zwischen ihnen verflüchtigte sich nicht zu Beginn des Spazierganges. Sie wanderten nebeneinander her; sie ging mit festem Schritt, ohne auf irgend etwas zu achten; ihre Hände waren frei; ihre Arme schlenkerten hin und her; ihre Schritte hallten auf der fest gefrorenen Erde wieder. – Nach und nach belebte sich ihr Gesicht, die schnelle Gangart rötete ihre blassen Wangen. Ihr Mund öffnete sich ein wenig, um die Frische der Luft zu trinken. Bei der Biegung eines Fußpfades, der in Windungen emporstieg, schickte sie sich an, den Hügel geraden Wegs emporzuklettern wie eine Ziege; als sie am Abhang eines Steinbruchs beinahe gefallen wäre, klammerte sie sich am Strauchwerk fest. Christof folgte ihr. Sie kletterte schneller, glitt aus und zog sich mit den Händen am Gestrüpp wieder empor. Christof rief ihr zu, sie möge warten. Sie antwortete nicht und kletterte gebückt, auf Händen und Füßen, weiter. Sie schritten durch die Nebel, die gleich einem silbernen Schleier über dem Tal schwebten und am Buschwerk zerrissen; dann befanden sie sich in der warmen Höhensonne. Oben auf dem Gipfel wandte sie sich um; ihr Gesicht leuchtete. Sie atmete mit offenem Mund. Mit spöttischen Augen schaute sie auf Christof, der den Abhang emporklomm, zog ihren Mantel aus, warf ihn ihm an den Kopf und nahm, ohne abzuwarten, daß er verschnaufte, ihren Weg weiter. Christof begann ihr nachzujagen. Das Spiel machte ihnen Spaß; die Luft berauschte sie. Sie rannte einen steilen Abhang hinab; die Steine gerieten unter ihren Füßen ins Rollen; sie kam nicht aus dem Gleichgewicht, sie glitt, sprang, schoß dahin wie ein Pfeil. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick zurück, um abzumessen, wie weit sie Christof voran sei. Er kam ihr näher. Sie stürzte in ein Gehölz, die welken Blätter knisterten unter ihren Schritten; die Zweige, die sie beiseite schob, peitschten sein Gesicht. Sie stolperte über die Wurzeln eines Baumes. Er fing sie. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, versetzte ihm derbe Stöße, versuchte, ihn hinzuwerfen; sie schrie und lachte. Ihre Brust war gegen ihn gestemmt und keuchte; einen Augenblick streiften sich ihre Wangen; er fühlte auf seinen Lippen den Schweiß, der ihre Schläfen näßte; er atmete den Duft ihrer feuchten Haare ein. Mit einem starken Stoß machte sie sich frei und sah ihn ohne Verwirrung mit herausfordernden Augen an. Er war ganz verdutzt über die Kraft, die in ihr steckte und von der sie im gewöhnlichen Leben keinerlei Gebrauch machte. Sie gingen ins nächste Dorf, wobei sie vergnügt die trockenen Stoppeln niedertraten, die unter ihren Schritten wieder aufschnellten. Vor ihnen flogen Raben auf, die die Felder absuchten. Die Sonne brannte und der Nordwind biß. Er hatte Anna untergefaßt. Sie trug ein ziemlich dünnes Kleid; er fühlte unter dem Stoff den feuchten, in Glut gebadeten Körper. Er wollte, daß sie ihren Mantel wieder anzöge; sie weigerte sich und machte aus Prahlerei auch noch den Kragen auf. Sie setzten sich in ein Gasthaus, dessen Schild den Namen: »Zum wilden Mann« trug. Vor der Türe wuchs eine kleine Tanne. Der Eßsaal war mit deutschen Vierzeilern geschmückt und mit zwei Buntdrucken, von denen der eine, gefühlvolle, »Im Frühling« hieß, der andere, patriotische »Die Schlacht von St. Jakob«; außerdem war ein Kruzifix dort, mit einem Schädel zu Füßen des Kreuzes. Anna zeigte einen Heißhunger, den Christof noch nicht an ihr kannte. Sie tranken wohlgemut einen leichten Weißwein. Nach der Mahlzeit gingen sie wieder quer durch die Felder wie zwei gute Kameraden. Keinerlei Hintergedanken waren in ihnen, sie dachten nur an die Lust der Wanderung, an ihr singendes Blut, an die Luft, die sie peitschte. Annas Zunge hatte sich gelöst. Sie tat sich keinen Zwang mehr an; sie sagte aufs Geratewohl alles, was ihr durch den Kopf ging.

Sie sprach von ihrer Kindheit: Ihre Großmutter nahm sie mit zu einer Freundin, die neben dem Dom wohnte; während die alten Damen plauderten, schickte man sie in den großen Garten, auf den der Schatten des Münsters fiel. Sie setzte sich in einen Winkel und rührte sich nicht mehr; sie lauschte dem Rascheln der Blätter, sie beobachtete das Gewimmel der Insekten; sie empfand Freude und Furcht. – (Sie vergaß zu sagen, daß sie Furcht vor Teufeln hatte; ihre Fantasie war davon besessen. Man hatte ihr erzählt, daß sie um die Kirchen herumstrichen, ohne zu wagen, hineinzugehen; und sie meinte, sie in der Gestalt von Tieren zu sehen: Spinnen, Eidechsen, Ameisen, das ganze häßliche Völkchen, das um sie her, unter den Blättern, auf der Erde oder in den Mauerspalten wimmelte.) – Dann sprach sie von dem Haus, in dem sie gelebt hatte, von ihrem sonnenlosen Zimmer; sie dachte mit Vergnügen daran zurück; nächtelang hatte sie dort, ohne zu schlafen, verbracht und sich etwas erzählt ...

»Was denn?«

»Törichtes Zeug.«

»Erzählen Sie.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Warum?«

Sie errötete, lachte dann und fügte hinzu:

»Und auch am Tage, während ich arbeitete.«

Sie dachte einen Augenblick daran zurück, lachte wieder und sagte:

»Es war törichtes Zeug, allerlei Schlimmes.«

Er meinte scherzend:

»Sie hatten also keine Angst?«

»Wovor?«

»Verdammt zu werden?«

Ihr Gesicht erstarrte.

»Davon soll man nicht sprechen,« sagte sie.

Er lenkte die Unterhaltung ab. Er bewunderte die Kraft, die sie eben beim Kämpfen gezeigt hatte. Sie nahm ihren vertraulichen Ton wieder an und erzählte von ihren Heldentaten als kleines Mädchen (sie sagte »als Junge«; denn als Kind hatte sie immer an den Spielen und Schlachten der Jungen teilnehmen wollen). Einmal, als sie mit einem kleinen Kameraden zusammenstand, der einen ganzen Kopf größer als sie war, hatte sie ihm plötzlich einen Faustschlag versetzt, in der Hoffnung, daß er wieder schlagen werde. Aber er war davongelaufen und hatte geschrieen, daß sie ihn schlüge. Ein anderes Mal auf dem Lande war sie auf den Rücken einer weidenden schwarzen Kuh geklettert; das erschreckte Tier hatte sie gegen einen Baum geworfen: sie wäre dabei beinahe ums Leben gekommen. Sie kam auch auf den Gedanken, aus dem Fenster eines ersten Stockwerkes zu springen, weil sie sich selbst nicht zutraute, es zu können: sie hatte das Glück, mit einer Verrenkung davonzukommen. Wenn man sie allein zu Hause ließ, erfand sie wunderliche und gefährliche Übungen; sie stellte ihren Körper auf die sonderbarsten und verschiedenartigsten Proben.

»Wer hätte das von Ihnen gedacht,« meinte er, »wenn man Sie so ernst sieht? ...«

»O!« sagte sie, »wenn man mich nur an manchen Tagen in meinem Zimmer sähe, wenn ich allein bin.«

»Wie! Auch jetzt noch?«

Sie lachte. Sie fragte ihn – zu etwas anderem übergehend, – ob er auf die Jagd ginge. Er sagte entsetzt nein. Sie erzählte, daß sie einmal auf eine Amsel geschossen und sie getroffen hätte. Er war empört.

»Na, na,« meinte sie, »was ist denn dabei?«

»Haben Sie denn kein Herz?«

»Das weiß ich nicht.«

»Glauben Sie denn nicht, daß die Tiere Geschöpfe sind wie wir?«

»Doch,« sagte sie. »Gerade wollte ich Sie fragen: glauben Sie, daß die Tiere eine Seele haben?«

»Ja, das glaube ich.«

»Der Pastor sagt nein. Und ich glaube, sie haben eine ... Vor allem,« fuhr sie ganz ernsthaft fort, »glaube ich, daß ich in einem früheren Leben ein Tier war.«

Er mußte lachen.

»Darüber ist doch nichts zu lachen,« sagte sie. (Sie lachte auch.) »Das ist eine von den Geschichten, die ich mir, als ich klein war, vorerzählte. Ich bildete mir ein, daß ich eine Katze, ein Hund, ein Vogel, ein Hühnchen, ein Kälbchen sei. Ich fühlte ihre Wünsche in mir. Ich hätte eine Stunde lang in ihrem Fell oder in ihren Federn stecken mögen; mir war, als stecke ich darin. Sie begreifen das wohl nicht?«

»Sie sind ein sonderbares Tier. Aber wenn Sie diese Verwandtschaft mit den Tieren empfinden, wie können Sie ihnen dann Böses tun?«

»Irgend jemandem tut man immer Böses. Die einen fügen mir Böses zu, ich füge anderen Böses zu. Das ist nun einmal so. Ich jammere deshalb nicht. Man darf nicht so weichherzig sein im Leben! Ich tue mir selbst auch weh, das macht mir Spaß!«

»Sich selbst?«

»Mir. Schauen Sie. Eines Tages habe ich mir mit dem Hammer einen Nagel hier in die Hand getrieben.«

»Warum?«

»Um nichts.«

(Sie sagte nicht, daß sie sich habe kreuzigen wollen.)

»Geben Sie mir die Hand,« sagte sie.

»Was wollen Sie damit?«

»Geben Sie.«

Er gab ihr die Hand. Sie ergriff und drückte sie so, daß er aufschreien mußte. Wie zwei Flegel tollten sie miteinander, als wollten sie sich so weh wie möglich tun. Sie waren vorbehaltlos glücklich. Die ganze übrige Welt, die Ketten ihres Lebens, die Kümmernisse der Vergangenheit, die Furcht vor der Zukunft, das Gewitter, das sich in ihnen zusammenzog, alles war verschwunden.

Sie hatten mehrere Meilen zurückgelegt. Sie fühlten keine Müdigkeit. Plötzlich stand sie still, warf sich zur Erde, streckte sich in die Stoppeln und sagte nichts mehr. Auf dem Rücken liegend, die Arme unterm Kopf, schaute sie in den Himmel. Welcher Frieden! Welche Wonne! ... Einige Schritte entfernt murmelte eine verborgene Quelle in unterbrochenem Plätschern gleich einer klopfenden Ader, schwach einmal, einmal stärker. Der Horizont war perlmutterglänzend. Ein leichter Nebel schwebte über der veilchenfarbenen Erde, aus der sich die nackten, schwarzen Bäume emporreckten. Sonne des scheidenden Winters, junge, blaßgoldene Sonne, die im Entschlummern ist. Wie glänzende Pfeile schossen die Vögel durch die Luft. Die freundlichen Stimmen der Dorfglocken riefen einander und gaben sich Antwort von Dorf zu Dorf ... Christof saß neben Anna und betrachtete sie. Sie dachte nicht an ihn. Eine tiefe Freude durchdrang sie. Ihr schöner Mund lächelte still. Er dachte:

»Sind Sie das wirklich? Ich erkenne Sie nicht mehr.«

»Ich mich auch nicht, ich auch nicht. Ich glaube, ich bin eine andere. Ich habe keine Angst mehr; ich habe keine Angst mehr vor »Ihm« ... Ach, wie hat er mich unterdrückt, was hat er mich leiden lassen! Mir ist, als sei ich in meinen Sarg eingenagelt gewesen ... Jetzt atme ich auf; dieser Körper, dieses Herz gehört mir. Mein Körper, mein lieber Körper. Mein freies und liebeerfülltes Herz. Soviel Glück ist in mir! Und ich erkannte es nicht, ich kannte mich nicht! Was hattet ihr aus mir gemacht? ...«

Er glaubte sie leise seufzen zu hören. Aber sie dachte nur, daß sie glücklich und daß alles schön sei.

Der Tag ging zur Neige. Schon um vier Uhr begann die Sonne, des Scheinens müde, hinter den grau-lila Schleiern des Nebels zu verschwinden. Christof stand auf und ging zu Anna hin. Er neigte sich über sie. Sie wandte ihm ihren Blick zu, der noch ganz erfüllt war von dem Taumel über den weiten Himmelsraum, durch den er geglitten war. Einige Sekunden vergingen, bevor sie ihn erkannte. Dann sahen ihre Augen ihn mit einem rätselhaften Lächeln an, das ihre dunkle Unruhe auf ihn übertrug. Um ihm zu entgehen, schloß er eine Sekunde lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, schaute sie ihn noch immer an. Und es war ihm, als ob sie sich schon seit Tagen so anschauten. Es war, als läse einer in der Seele des anderen. Aber sie wollten nicht wissen, was sie gelesen hatten.

Er reichte ihr die Hand. Sie nahm sie wortlos. Sie kehrten ins Dorf zurück, von dem man unten in der Talsenkung die Türme mit ihren Pique-Aßhauben sah; einer trug auf seiner Dachspitze von bemoosten Ziegeln, gleich einer Mütze auf der Stirn, ein leeres Storchennest. An einem Kreuzweg in der Nähe des Dorfeinganges kamen sie an einem Brunnen vorüber, auf dem eine kleine katholische Heilige, eine Magdalena in Holz, stand, die anmutig und ein wenig geziert die Arme ausstreckte. Anna ging mit einer instinktiven Bewegung auf ihre Gebärde ein, streckte ihr ebenfalls die Arme entgegen, stieg auf das Steintreppchen und füllte die Hände der hübschen Heiligen mit Stechpalmenzweigen und rotbeerigen Ebereschen, die die Vögel und der Frost verschont hatten.

Auf der Straße gingen Gruppen von Bauern und Bäuerinnen im Sonntagsstaat an ihnen vorüber, Frauen mit stark gebräunter Haut, lebhaften Farben, mit dicken, in Schnecken aufgesteckten Haarknoten, hellen Kleidern und blumengeschmückten Hüten. Sie trugen weiße Handschuhe und hatten rote Handgelenke. Sie sangen, wenn auch nicht ganz richtig, mit scharfen, friedlichen Stimmen ehrbare Lieder. In einem Stalle brüllte eine Kuh. Ein Kind, das den Keuchhusten hatte, hustete in einem Hause. Aus einiger Entfernung drangen die näselnden Töne einer Klarinette und eines Klapphornes herüber. Man tanzte auf dem Dorfplatz zwischen der Kneipe und dem Kirchhof. Auf einem Tisch zusammengehockt spielten vier Musikanten. Anna und Christof setzten sich vor das Gasthaus und schauten den Tänzern zu. Die Paare pufften sich und schimpften mit viel Lärmen. Die Mädchen schrien aus Lust am Schreien. Die Trinker schlugen mit ihren Fäusten auf dem Tisch den Takt. Zu einer anderen Zeit hätte diese plumpe Lustbarkeit Anna angewidert; an dem Abend freute sie sich daran; sie hatte ihren Hut abgenommen und schaute angeregt zu. Christof hätte über den komischen Ernst der Musik und der Musikanten am liebsten laut aufgelacht. Er suchte in seinen Taschen, nahm einen Bleistift und begann, auf die Rückseite einer Gasthausrechnung Querstriche und Punkte aufzuzeichnen: er schrieb Tänze. Das Blatt war bald voll; er verlangte noch andere, die er wie das erste mit seiner breiten, ungeduldigen und ungeschickten Handschrift bedeckte. Anna las, die Wange nahe an seiner, über seine Schulter weg und summte halblaut mit; sie versuchte, das Ende der Sätze zu erraten und klatschte in die Hände, wenn sie richtig geraten hatte oder wenn ihre Vermutung durch eine unerwartete Wendung irre ging. Als Christof fertig war, trug er, was er eben geschrieben hatte, zu den Musikanten. Es waren wackere Schwaben, die ihr Handwerk verstanden; sie spielten ohne zu stocken vom Blatt. Ein gefühlvoller und burlesker Humor kam in ruckweisen Rhythmen, als wären sie von Lachstößen unterbrochen, in diesen Weisen zum Ausdruck. Es war unmöglich, ihrer ungestümen Possenhaftigkeit zu widerstehen: die Beine tanzten von selbst. Anna stürzte sich in die Runde. Sie ergriff aufs Geratewohl zwei Hände, sie drehte sich wie rasend; eine Schildpattnadel sprang aus ihrem Haar, Locken lösten sich und fielen ihr ins Gesicht. Christof ließ die Augen nicht von ihr ab. Er bewunderte dieses schöne starke Tier, das bis dahin durch eine unbarmherzige Zucht verdammt gewesen war, still und reglos zu bleiben; er sah sie, wie sie niemand bisher gesehen hatte, so wie sie unter der entliehenen Maske wirklich war: eine von Kraft trunkene Bacchantin. Sie rief ihn. Er eilte auf sie zu und umfaßte sie. Sie tanzten, tanzten, bis sie schwindlig gegen eine Mauer taumelten. Betäubt hielten sie inne. Es war völlig Nacht geworden. Sie ruhten sich einen Augenblick aus; dann nahmen sie von der Gesellschaft Abschied. Anna, die gewöhnlich mit Leuten aus dem Volke, sei es aus Verlegenheit oder aus Verachtung, recht steif war, streckte den Musikern freundlich die Hand hin, ebenso dem Wirt und den Dorfburschen, die ihr zunächst standen.

Sie waren unter dem leuchtenden, eisigen Himmel wieder allein und gingen querfeldein denselben Weg zurück, den sie am Morgen gemacht hatten. Anna war noch immer ganz angeregt. Nach und nach sprach sie weniger; dann hörte sie auf zu reden, als übermannte sie die Müdigkeit oder der geheimnisvolle Eindruck der Nacht. Sie stützte sich zärtlich auf Christof. Als sie den Abhang hinuntergingen, den sie einige Stunden vorher emporgestiegen waren, seufzte sie. Sie kamen an die Station. Kurz vor dem ersten Hause stand er still, um sie anzusehen. Auch sie sah ihn an und lächelte ihm wehmütig zu. Im Zuge war dieselbe Menschenmenge wie bei der Hinfahrt. Sie konnten nicht miteinander plaudern. Er saß ihr gegenüber und verschlang sie mit den Augen. Sie hielt die Augen gesenkt. Als sie seinen Blick spürte, schaute sie zu ihm auf. Dann wandte sie sich ab, und es gelang ihm nicht mehr, ihren Blick auf sich zu ziehen. Sie schaute in die Nacht hinaus. Ein unbestimmtes Lächeln spielte um ihre Lippen, in deren Winkeln etwas Müdes lag. Dann verlosch das Lächeln. Der Ausdruck wurde düster. Er meinte, daß sie dem Rhythmus des Zuges lauschte, und versuchte, mit ihr zu reden. Sie antwortete kalt, nur mit einem Wort, ohne den Kopf zu wenden. Er suchte sich zu überreden, daß die Ermattung an dieser Veränderung schuld sei. Aber er wußte ganz gut, daß der Grund ein anderer war. Je näher sie der Stadt kamen, um so mehr sah er, wie das Gesicht Annas erstarrte, das Leben darin erlosch, wie dieser ganze schöne Körper mit seiner wilden Anmut sich wieder in Stein hüllte. Sie stützte sich beim Aussteigen nicht auf die Hand, die er ihr bot. Schweigend kehrten sie heim.

 

Einige Tage später, gegen vier Uhr nachmittags, waren sie allein zusammen. Braun war ausgegangen. Seit dem Abend vorher war die Stadt in einen blaßgrünen Nebel gehüllt. Das Grollen des unsichtbaren Flusses schwoll an. Die Lichtfunken der elektrischen Bahnen zuckten im Nebel auf. Das Tageslicht wurde erstickt und erlosch; es schien gar keiner bestimmten Tageszeit mehr anzugehören; es war eine jener Stunden, in denen jedes Bewußtsein der Wirklichkeit schwindet, eine Stunde, die außerhalb der Jahrhunderte steht. Nach der schneidenden Brise der vorhergehenden Tage war die feuchte Luft plötzlich milde, allzu lau und allzu weichlich geworden. Der Himmel hing voll Schnee und bog sich unter der Last.

Sie waren allein im Wohnzimmer, dessen Einrichtung den kalten und nüchternen Geschmack seiner Herrin widerspiegelte. Sie sprachen nichts. Er las. Sie nähte. Er stand auf und ging zum Fenster; er drückte sein breites Gesicht gegen die Scheiben und blieb träumend stehen; dieses fahle Licht, das von dem düsteren Himmel auf die bleifarbene Erde zurückgeworfen wurde, betäubte ihn. Seine Gedanken schwankten unruhig hin und her; vergebens versuchte er, sie zu bannen: sie entglitten ihm. Angst überfiel ihn; er fühlte sich in einen Abgrund gezogen, und aus der Leere seines Innern, aus den angehäuften Trümmern erhob sich in langsamen Wirbelstößen ein glühender Wind. Er drehte Anna den Rücken zu. Sie sah ihn nicht, sie war in ihre Arbeit vertieft; aber ein leichter Schauer lief ihr durch den Körper; sie stach sich mehrere Male mit der Nadel und fühlte es nicht. Sie waren beide durch das Nahen der Gefahr gebannt.

Er riß sich aus seiner Betäubung und machte ein paar Schritte durchs Zimmer. Das Klavier zog ihn an und flößte ihm Furcht ein. Er vermied, es anzusehen. Im Vorbeigehen konnte seine Hand nicht widerstehen; sie schlug eine Taste an. Der Ton bebte wie eine Stimme. Anna fuhr zusammen und ließ ihre Arbeit fallen. Schon hatte sich Christof hingesetzt und spielte. Er merkte ohne hinzusehen, daß Anna aufgestanden war, daß sie kam, daß sie neben ihm stand. Bevor er sich von seinem Tun Rechenschaft ablegte, hatte er die religiöse und leidenschaftliche Melodie wieder angefangen, die sie das erstemal gesungen hatte, als sie sich ihm offenbarte; er improvisierte über das Thema stürmische Variationen. Ohne daß er ein Wort gesagt hatte, begann sie zu singen. Sie verloren das Gefühl für alles das, was sie umgab. Die geheiligte Raserei der Musik trug sie in ihren Fängen mit sich fort ...

O Musik, die du die Abgründe der Seele erschließest! Du zerstörst das gewohnte Gleichmaß des Geistes. Im Alltagsleben sind die alltäglichen Seelen wie verschlossene Zimmer; es welken in ihnen die nutzlosen Kräfte, Tugend und Laster, deren Sein uns zur Last fällt; die kluge praktische Vernunft, der schlappe gesunde Menschenverstand bewahren die Schlüssel zum Zimmer. Sie lassen nur ein paar Wandschränke in gut bürgerlicher Ordnung sehen. Die Musik aber besitzt den Zauberstab, der die Schlösser sprengt. Die Pforten öffnen sich. Die Dämonen des Herzens kommen zum Vorschein. Und die Seele sieht sich zum ersten Male nackt. – Solange die Sirene singt, solange ihre Zauberstimme schwingt, zwingt der Bändiger die Bestien unter seinen Blick. Die machtvolle Vernunft eines großen Musikers zügelt die Leidenschaften, die er entfesselt. Doch schweigt die Musik, ist der Bändiger nicht mehr da, grollen die Leidenschaften, die er erweckt hat, in dem erschütterten Käfig weiter und lauern auf Beute ...

Die Melodie ging zu Ende. Schweigen ... Sie hatte beim Singen ihre Hand auf Christofs Schulter gestützt. Sie wagten nicht mehr, sich zu regen; und sie merkten, daß sie zitterten. Plötzlich – es war wie ein Blitz – neigte sie sich über ihn, er wandte sich ihr zu; ihre Lippen begegneten sich: ihr Atem durchdrang ihn ...

Sie stieß ihn zurück und entfloh. Er blieb, ohne sich zu regen im Dunklen zurück. Braun kam nach Hause. Sie setzten sich zu Tisch. Christof war eines Gedankens unfähig. Anna schien abwesend. Sie schaute in irgend eine Ferne. Bald nach dem Abendessen ging sie in ihr Zimmer. Christof, der mit Braun nicht allein zu bleiben vermocht hätte, zog sich ebenfalls zurück. Gegen Mitternacht wurde der Doktor, der schon zu Bett gegangen war, zu einem Kranken gerufen. Christof hörte ihn die Treppe hinabsteigen und aus dem Haus gehen. Seit sechs Uhr schneite es. Die Häuser und Straßen waren in ein Leichentuch gehüllt. Die Luft war wie mit Watte ausgestopft. Kein Schritt, kein Wagen draußen zu hören. Die Stadt war wie tot. Christof schlief nicht. Er fühlte ein Entsetzen, das von Minute zu Minute wuchs. Er konnte sich nicht rühren. Er lag auf dem Rücken, als wäre er in sein Bett genagelt, mit offenen Augen da. Die Wände des Zimmers standen in metallischer Klarheit, die vom Weiß der Erde und der Dächer kam. Ein kaum hörbares Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Nur sein fieberhaft gespanntes Ohr hatte es vernehmen können. Ein ganz leises Rascheln auf den Dielen des Ganges. Christof richtete sich in seinem Bett auf. Das leichte Geräusch kam näher und hörte auf; eine Diele knarrte. Man war hinter der Tür: man wartete ... Vollkommene Reglosigkeit während mehrerer Sekunden, vielleicht mehrerer Minuten ... Christof atmete nicht mehr, er war in Schweiß gebadet. Schneeflocken streiften wie Flügel an das Fenster. Eine Hand tastete an der Türe, die sich auftat. Auf der Schwelle stand eine weiße Erscheinung; sie näherte sich langsam; einige Schritte vom Bette hielt sie an. Christof unterschied nichts; aber er hörte sie atmen; und er hörte sein eigenes klopfendes Herz. Sie kam ans Bett. Noch einmal hielt sie inne. Ihre Gesichter waren sich so nahe, daß ihr Atem sich vermengte. Ihre Blicke suchten sich, ohne sich im Dunkeln finden zu können ... Sie stürzte über ihn hin. Sie umarmten sich schweigend, ohne ein Wort, mit rasender Leidenschaft ...

 

Eine Stunde, zwei Stunden, eine Ewigkeit später. Die Haustür ging. Anna löste sich aus der Umarmung, in der sie verschlungen waren, glitt aus dem Bett und verließ Christof ohne ein Wort, wie sie gekommen war. Er hörte, wie ihre nackten Füße sich entfernten und eilig über das Parkett huschten. Sie erreichte ihr Zimmer, in dem Braun sie im Bett liegend, scheinbar schlafend fand. So blieb sie die ganze Nacht mit offenen Augen, ohne einen Atemzug, reglos in dem engen Bett neben dem schlafenden Braun. Wieviel Nächte hatte sie schon so verbracht!

Christof schlief ebenso wenig. Er war verzweifelt. Liebesangelegenheiten und vor allem die Ehe betrachtete dieser Mann mit tragischem Ernst. Er haßte die Leichtfertigkeit jener Schriftsteller, die ihre Kunst mit dem Ehebruch würzen. Der Ehebruch flößte ihm einen Abscheu ein, in dem sich seine bäuerische Naturhaftigkeit und sein hoher sittlicher Standpunkt trafen. Alles in allem empfand er eine religiöse Ehrfurcht und einen physischen Ekel vor der Frau, die einem anderen gehörte. Das hündische Durcheinander, in dem eine gewisse europäische Auslese lebte, verursachte ihm Übelkeit. Der vom Ehemann zugelassene Ehebruch ist eine Schändlichkeit; ohne das Wissen des Ehemanns ist er der ehrlose Betrug eines gemeinen Bedienten, der im geheimen seinen Herrn verrät und beschmutzt. Wie oft hatte er mitleidslos die verachtet, die sich solcher Gemeinheit schuldig gemacht hatten! Er hatte mit Freunden gebrochen, die sich in seinen Augen derartig entehrt hatten ... Und nun hatte er sich selbst mit derselben Schmach befleckt! Sein Verbrechen wurde durch die Umstände besonders abscheulich. Er war krank und elend in dies Haus gekommen. Ein Freund hatte ihn aufgenommen, hatte ihm Hilfe geleistet, ihn getröstet. Niemals hatte sich seine Güte als falsch erwiesen. Nichts war ihm zuviel geworden; ihm verdankte er das Leben. Und zum Dank hatte er diesem Menschen seine Ehre und sein bescheidenes häusliches Glück gestohlen! Er hatte ihn gemein verraten. Und mit wem? Mit einer Frau, die er nicht kannte, die er nicht verstand, die er nicht liebte ... Die er nicht liebte? Sein ganzes Blut empörte sich. Liebe ist ein zu schwaches Wort, um den Feuerstrom auszudrücken, der ihn durchglühte, sobald er an sie dachte. Das war keine Liebe und war tausendmal mehr als Liebe ... Er verbrachte die Nacht in wildem Aufruhr. Er erhob sich, tauchte sein Gesicht in eisiges Wasser, bis er fast erstickte und einen Schüttelfrost bekam. Die Krise endete mit einem Fieberanfall. Als er ganz gebrochen aufstand, dachte er, wieviel mehr noch als er sie von Scham bedrückt sein müsse. Er ging zum Fenster. Die Sonne glitzerte auf dem blendenden Schnee. Im Garten hing Anna Wäsche auf eine Leine. Sie war ganz bei ihrer Arbeit, und nichts schien sie zu beunruhigen. In ihrem Gang und ihren Bewegungen lag eine Würde, die ganz neu an ihr war, und in der sie unbewußt Bewegung hatte wie eine Statue.

 

Beim Mittagessen sahen sie sich wieder. Braun war den ganzen Tag über von Hause fort. Niemals hätte Christof diese Begegnung mit ihm ertragen. Er wollte mit Anna reden, aber sie waren nicht allein; das Dienstmädchen kam und ging; sie mußten sich in acht nehmen. Christof suchte vergebens Annas Blick. Sie sah niemanden an. Kein Zeichen von Verwirrung. Und in ihren kleinsten Bewegungen stets diese Sicherheit und dieser an ihr ungewohnte Adel. Nach Tisch hoffte er, daß sie endlich miteinander sprechen könnten; aber das Dienstmädchen deckte besonders langsam ab; und als sie ins Nebenzimmer gingen, richtete sie es so ein, daß sie folgen konnte: immer hatte sie etwas zu bringen oder zu holen; sie stöberte im Flur in der Nähe der halboffenen Türe herum, die Anna zu schließen sich durchaus nicht beeilte: man hätte meinen können, daß sie sie belauere. Anna setzte sich mit ihrer ewigen Handarbeit an das Fenster. Christof saß in einem Sessel, drehte dem Fenster den Rücken zu und hatte ein offenes Buch vor sich, in dem er aber nicht las. Anna, die ihn flüchtig von der Seite betrachten konnte, sah mit einem Blick sein gequältes Gesicht, das die Wand anstarrte, und sie lächelte grausam. Vom Hausdach, von dem Baum im Garten tropfte der schmelzende Schnee mit feinem Klingen auf den Sand. In der Ferne scholl Gelächter von Kindern, die sich mit Schneeballen in der Straße jagten. Anna schien eingeschlafen zu sein. Das Schweigen marterte Christof; er hätte vor Qual schreien mögen.

Endlich ging das Dienstmädchen in das untere Stockwerk und verließ das Haus. Christof stand auf, er wandte sich Anna zu, er wollte sagen: »Anna, Anna, was haben wir getan?«

Anna sah ihn an; ihre eigensinnig gesenkten Augen öffneten sich wieder: sie richteten ihr verzehrendes Feuer auf Christof. Wie ein Schlag traf ihn dieser Blick; er taumelte; alles, was er sagen wollte, war mit einem Mal ausgelöscht. Sie gingen aufeinander zu und wieder umschlangen sie sich ...

 

Dunkelheit des Abends sank nieder. Ihr Blut toste noch. Sie lag mit heruntergerissenem Kleid, mit ausgebreiteten Armen auf dem Bett, ohne auch nur eine Bewegung zu machen, ihren Körper zu bedecken. Er hatte das Gesicht in das Kopfkissen gewühlt und stöhnte. Sie richtete sich zu ihm auf, hob seinen Kopf empor und strich ihm zärtlich mit den Fingern über Augen und Mund, sie näherte ihm ihr Gesicht und senkte ihren Blick in den seinen. Ihre Augen waren tief wie ein See; sie lächelten, unempfindlich für jedes Leid. Das Gewissen schlief. Er schwieg. Gleich großen Wellen rannen Schauer durch sie hin ... Als Christof diese Nacht allein in sein Zimmer zurückkehrte, dachte er daran, sich zu töten.

Kaum war er am folgenden Tage aufgestanden, als er Anna suchte. Jetzt war er es, der ihren Augen auswich. Sobald er ihnen begegnete, verflog aus seinen Gedanken, was er zu sagen hatte. Doch bezwang er sich und wollte von der Gemeinheit ihrer Tat reden. Kaum hatte sie verstanden, als sie ihm heftig mit der Hand den Mund verschloß. Sie wandte sich mit zusammengezogenen Brauen, zusammengepreßten Lippen und bösem Ausdruck von ihm ab. Er sprach weiter. Sie warf die Handarbeit, die sie hielt, zur Erde, machte die Türe auf und wollte hinaus. Er umklammerte ihre Hände, schloß die Türe und sagte bitter, sie wäre ja sehr gut daran, wenn sie aus ihrem Geist jeden Gedanken an die Schlechtigkeit, die sie begangen hätten, verbannen könnte. Sie wehrte sich wie ein Tier, das man in einer Falle gefangen hat, und schrie voll Zorn: »Schweig! ... du feiger Mensch, siehst du denn nicht, wie ich leide? ... Ich will nicht, daß du redest! Laß mich los!«

Ihr Gesicht hatte sich verzerrt, ihr Blick war haßerfüllt und furchtsam wie der eines Tieres, dem man weh getan hat; ihre Augen hätten ihn gemordet, – wenn sie dazu fähig gewesen wären! Er ließ sie los. Sie rannte ans andere Ende des Zimmers, um vor ihm geschützt zu sein. Er hatte keine Lust, ihr nachzugehen. Sein Herz krampfte sich zusammen vor Bitterkeit und Entsetzen. Braun kam heim. Sie sahen ihn mit leerem Ausdruck an. Außer ihrer Qual war nichts für sie vorhanden.

Christof ging aus. Braun und Anna setzten sich zu Tisch. Während des Essens stand Braun plötzlich auf und öffnete das Fenster: Anna war ohnmächtig geworden.

 

Christof verschwand für vierzehn Tage aus der Stadt und schützte eine Reise vor. Anna blieb, außer zur Essenszeit, während der ganzen Woche in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ihr Gewissen, ihre Gewohnheiten, das ganze vergangene Leben, von dem sie sich befreit glaubte, und von dem man sich niemals befreit, hielt sie wieder gefangen. Wenn sie auch die Augen noch so fest schloß, täglich nahm der Gram mehr von ihrem Herzen Besitz. Schließlich ließ er sie nicht mehr los. Am folgenden Sonntag weigerte sie sich noch einmal, zum Gottesdienst zu gehen. Aber am darauffolgenden ging sie wieder hin und dann versäumte sie ihn nicht mehr. Sie war besiegt, wenn auch nicht unterworfen. Gott war der Feind, – ein Feind, den sie nicht loswerden konnte. Sie kam zu ihm mit dem dumpfen Zorn eines Sklaven, der zum Gehorsam gezwungen wird. Während des Gottesdienstes zeigte ihr Gesicht nichts als feindliche Kälte; aber in den Tiefen ihrer Seele befand sich ihr ganzes religiöses Leben in einem einzigen wilden Kampf, in einer einzigen stummen Auflehnung gegen den Herrn, dessen Vorwurf sie verfolgte. Sie tat, als höre sie nicht. Sie mußte ihn hören; und mit zusammengebissenen Zähnen, die Stirn von einer eigensinnigen Falte durchfurcht, mit hartem Blick haderte sie mit Gott. An Christof dachte sie nur voll Haß. Sie verzieh ihm nicht, daß er sie einen Augenblick aus ihrem Seelengefängnis gerissen hatte, um sie, ihren Henkersknechten zur Beute, wieder zurückfallen zu lassen. Sie schlief nicht mehr; Tag und Nacht ging sie dieselben qualvollen Gedanken noch einmal durch; sie jammerte nicht; hartnäckig führte sie ihren Haushalt weiter, erfüllte alle ihre Aufgaben, und ihre Willenskraft erhielt im täglichen Leben bis zum Äußersten ihr unumgängliches und eigensinniges Wesen aufrecht, in dem sie, mit der Genauigkeit einer Maschine, ihre Pflicht tat. Sie magerte ab, sie schien von einem inneren Leiden verzehrt. Braun fragte sie mit ängstlicher Zärtlichkeit aus; er wollte sie untersuchen. Sie stieß ihn wütend zurück. Je mehr Gewissensbisse sie ihm gegenüber empfand, um so härter sprach sie mit ihm.

Christof hatte beschlossen, nicht mehr zurückzukehren. Er erlegte sich die größten Anstrengungen auf. Er machte große Märsche und schwere körperliche Übungen, er ruderte, er wanderte, er kletterte auf die Berge. Durch nichts gelang es ihm, das Fieber zu löschen.

Er war der Leidenschaft mehr ausgeliefert als irgend jemand. Sie ist genialen Naturen eine Notwendigkeit. Selbst die keuschesten, Beethoven, Bruckner, müssen immer lieben. Alle menschlichen Kräfte sind bei ihnen gesteigert; und da bei ihnen die Kräfte im Banne der Einbildungskraft stehen, so ist ihr Gehirn die Beute beständiger Leidenschaften. Meistens sind es nur vorübergehende Flammen; die eine zerstört die andere, und alle werden durch die große Feuersbrunst des schöpferischen Geistes aufgezehrt. Aber sobald die Glut der Schmiede die Seele nicht mehr erfüllt, ist sie wehrlos den Leidenschaften ausgeliefert, die sie nicht entbehren kann; sie verlangt sie, sie schafft sie; sie muß von ihnen verzehrt werden ... Dann aber besteht neben dem bittren Begehren, das im Blute brennt, noch das Verlangen nach Zärtlichkeit, das den müden und vom Leben enttäuschten Mann in die mütterlichen Arme der Trösterin treibt. Ein großer Mann ist mehr Kind als ein anderer; mehr als ein anderer fühlt er das Bedürfnis, sich einer Frau anzuvertrauen, seine Stirn in den weichen Händen der Freundin zu bergen, sein Haupt auf ihrem Schoße auszuruhen.

Aber Christof begriff nicht ... Er glaubte nicht an die Schicksalsmacht der Leidenschaft, – diese Torheit der Romantiker. Er glaubte an die Pflicht und Macht zu kämpfen, an die Kraft seines Willens ... Sein Willen! Wo war der? Keine Spur war von ihm mehr vorhanden. Er war besessen. Der Stachel der Erinnerung schmerzte ihn Tag und Nacht. Der Duft von Annas Körper schwebte um ihn. Er war wie eine schwere Barke, die ohne Steuer mit dem Winde dahinschießt. Vergebens wollte er fliehen, er versuchte es mit verzweifelten Kräften: immer sah er sich wieder an dieselbe Stelle zurückgeschleudert; und er schrie dem Winde zu:

»Zerbrich mich doch! Was willst du sonst von mir?«

Fieberhaft zermarterte er sich mit Fragen. Warum, warum gerade diese Frau? ... Warum liebte er sie? Nicht wegen ihrer seelischen und geistigen Eigenschaften. Es gab viele andere, die klüger und besser waren. Nicht wegen ihres Körpers. Er hatte andere Geliebte gehabt, die seine Sinne mehr befriedigten. Was war es also? – Man liebt, weil man liebt. Ja, aber es muß doch einen Grund geben, selbst wenn er sich dem gewöhnlichen Verstand entzieht. Wahnsinn? Das sagt gar nichts. Warum gerade dieser Wahnsinn?

Weil es eine verborgene Seele gibt, blinde Mächte, Dämonen, die jeder in sich verschlossen trägt. Seit die Menschheit besteht, ist unsere ganze Anstrengung darauf gerichtet, diesem inneren Meer die Dämme unserer Religionen vorzubauen. Kommt aber ein Gewittersturm (und je reicher die Seelen sind, um so eher sind sie Gewitterstürmen ausgesetzt), so brechen die Dämme nieder, die Dämonen haben freies Feld, finden sich anderen Seelen gegenüber, die von ähnlichen Mächten getrieben werden ... So stürzen sie sich aufeinander. Haß oder Liebe? Gegenseitige Zerstörungswut? Die Leidenschaft ist eine Raubseele.

Das Meer ist entfesselt. Wer dämmt es wieder in sein Bett zurück? Nun gilt es, den anzurufen, der stärker ist als man selbst: Neptun, den Gott der Fluten.

 

Nach vierzehn Tagen vergeblicher Anstrengungen, seinen Leidenschaften zu entfliehen, kehrte Christof wieder in Annas Haus zurück. Er konnte nicht länger fern von ihr leben. Er erstickte. Zwar kämpfte er weiter. Am Abend nach seiner Heimkehr fanden sie Vorwände, um sich nicht zu sehen, um nicht zusammen zu speisen; nachts schloß sich jedes angstvoll in sein Zimmer ein. – Aber die Leidenschaft war schließlich stärker. Mitten in der Nacht flüchtete sie mit bloßen Füßen aus ihrem Zimmer und klopfte an seine Türe; er öffnete; eiskalt streckte sie sich neben ihm hin. Sie weinte leise. Er fühlte ihre Tränen über seine Wange rinnen. Sie suchte sich zu beruhigen; aber ihre Qual überwältigte sie, und sie schluchzte, die Lippen an Christofs Hals gepreßt. Durch diesen Schmerz aufgewühlt, vergaß er den eigenen; er suchte sie zu besänftigen und sagte ihr zärtliche, tröstende Worte. Sie stöhnte:

»Ich bin unglücklich, ich möchte tot sein.«

Ihre Klagen zerrissen ihm das Herz. Er wollte sie küssen. Sie stieß ihn zurück.

»Ich hasse Sie! ... Warum sind Sie gekommen?« Sie entwand sich seinen Armen, warf sich auf die andere Seite des Bettes. Das Bett war eng. Ihren Bemühungen zum Trotz berührten sich ihre Körper. Anna drehte Christof den Rücken zu und zitterte vor Wut und Schmerz. Sie haßte ihn tödlich. Christof schwieg niedergeschmettert. Anna hörte in der Stille seinen unterdrückten Atem; sie wandte sich plötzlich um, legte ihre Arme um seinen Hals und sagte:

»Armer Christof! ich tue dir weh ...«

Zum ersten Male vernahm er solchen Ton des Mitleids von ihr.

»Verzeihe mir,« sagte sie.

Er sagte:

»Wir haben einander zu verzeihen.«

Sie richtete sich auf, als könne sie nicht mehr atmen. Niedergedrückt, mit gekrümmtem Rücken, saß sie im Bett und sagte:

»Ich bin verloren ... Gott hat es gewollt; er hat mich der Sünde ausgeliefert ... Was vermag ich gegen ihn?«

Lange Zeit blieb sie so sitzen, dann legte sie sich wieder hin und rührte sich nicht. Ein schwacher Lichtschein verkündete den beginnenden Tag. In dem Dämmerlicht sah er das schmerzvolle Gesicht, dicht neben dem seinen. Er murmelte:

»Es wird Tag.«

Sie regte sich nicht.

Er sagte:

»Nun meinetwegen; was liegt daran?«

Sie öffnete die Augen und verließ mit einem Ausdruck von Todesmattigkeit das Bett. Sie saß auf dem Rand und starrte auf den Boden. Mit ausdrucksloser Stimme sagte sie:

»Heute nacht habe ich daran gedacht, ihn zu töten.«

Er fuhr entsetzt auf.

»Anna!« sagte er.

Sie starrte mit düsterer Miene zum Fenster.

»Anna!« wiederholte er; »um Gotteswillen, nicht ihn! Er ist der Bessere ...«

»Nein. Nicht ihn,« sprach sie ihm nach.

Sie schauten sich an. Seit langem wußten sie es. Sie wußten, daß es der einzige Ausweg sei. Sie konnten es nicht ertragen, in der Lüge weiter zu leben. Und niemals hatten sie auch nur die Möglichkeit ins Auge gefaßt, gemeinsam zu fliehen. Sie wußten wohl, daß das den Konflikt nicht lösen würde; denn das Schlimmste waren ja nicht die äußeren Hindernisse, die sie trennten, sondern ihr Inneres, die Verschiedenheit ihrer Seelen. Es war ihnen ebenso unmöglich, zusammen zu leben, wie nicht zusammen zu leben. Sie waren in die Enge getrieben.

Von diesem Augenblick berührten sie sich nicht mehr: der Schatten des Todes war über ihnen: sie waren einander heilig.

Aber sie vermieden es, sich eine Frist zu setzen. Sie sagten sich: »Morgen, morgen ...« Und von diesem Morgen wandten sie die Augen ab. Christofs kraftvolle Seele bäumte sich manchmal empört auf; er wollte sich nicht ergeben; er verachtete den Selbstmord und wollte sich nicht mit solchem jämmerlichen und abgekürzten Schluß eines großen Lebens bescheiden. Und wie hätte Anna ohne den furchtbarsten Zwang die Vorstellung eines Todes ins Auge gefaßt, der den ewigen Tod zur Folge hatte? Aber die blutige Unabwendbarkeit stand wie ein lauerndes Gespenst vor ihnen, und der Kreis zog sich nach und nach immer enger um sie zusammen.

 

An diesem Morgen befand sich Christof zum ersten Male seit dem Verrat Braun gegenüber. Bis dahin war es ihm gelungen, eine Begegnung zu vermeiden. Aber es war ihm unerträglich. Er mußte Vorwände finden, um nicht an seinem Tisch zu sitzen, an seiner Seite zu essen: die Bissen blieben ihm in der Kehle stecken. Seine Hand drücken, sein Brot essen, – ein Judaskuß! ... Das Entsetzlichste war nicht die Selbstverachtung, sondern die Angst vor Brauns Leid, wenn er erführe ... Dieser Gedanke folterte ihn. Er wußte sehr wohl, daß der arme Braun sich niemals rächen würde, daß er vielleicht nicht einmal die Kraft besäße, sie zu hassen; aber welchen Zusammenbruch würde er erleiden! Mit was für Augen sie ansehen! Christof fühlte sich unfähig, dem Vorwurf dieser Augen standzuhalten. – Und es war unumgänglich, daß Braun früher oder später gewarnt werden würde. Ahnte er nicht jetzt schon etwas? Als ihn Christof nach der vierzehntägigen Abwesenheit wiedersah, war er von seinem veränderten Aussehen betroffen: Braun war nicht mehr derselbe. Seine Heiterkeit war verschwunden oder zeigte etwas Erzwungenes. Bei Tisch warf er verstörte Blicke auf Anna, die nicht sprach, nicht aß, die sich verzehrte wie ein Licht. Mit schüchterner und rührender Fürsorge suchte er sich ihrer anzunehmen; sie wies seine Aufmerksamkeiten schroff zurück; dann beugte er sich über seinen Teller und schwieg. Mitten in der Mahlzeit warf Anna, die dem Ersticken nahe war, ihre Serviette auf den Tisch und ging hinaus. Die beiden Männer beendeten schweigend die Mahlzeit oder taten wenigstens so; sie wagten nicht, die Augen zu heben. Als sie fertig waren und Christof fortgehen wollte, nahm Braun ihn plötzlich mit beiden Händen beim Arm.

»Christof! ...« sagte er.

Christof schaute ihn verwirrt an.

»Christof,« wiederholte Braun (und seine Stimme zitterte), – »weißt du, was sie hat?«

Christof war es, als durchbohre man ihn; er stand einen Augenblick still, ohne zu antworten. Braun schaute ihn schüchtern an. Er entschuldigte sich hastig:

»Du siehst sie oft, zu dir hat sie Vertrauen ...«

Christof war nahe daran, Brauns Hände zu küssen und ihn um Vergebung anzuflehen. Braun sah Christofs verstörtes Gesicht; erschreckt darüber, wollte er nichts weiter sehen; mit flehendem Blick, sich überstürzend, stammelte er, indem er ihm selbst die Antwort eingab:

»Nein, nicht wahr, du weißt nichts?«

Christof sagte niedergeschmettert:

»Nein.«

O Schmerz, sich nicht selbst anklagen, sich nicht demütigen zu können, weil es das Herz dessen, den man tödlich beleidigt hat, zerreißen würde! O Schmerz, nicht die Wahrheit sagen zu dürfen, weil man in den Augen dessen, der einen danach fragt, liest, daß er um keinen Preis die Wahrheit wissen will! ...

»Gut, gut, ich danke dir ...« murmelte Braun. Seine Hände hielten noch immer Christofs Ärmel umklammert, als wollte er ihn noch etwas fragen; aber er wagte es nicht und vermied seinen Blick. Dann ließ er ihn los, seufzte und ging fort.

Christof war von seiner neuen Lüge wie zerschmettert. Er lief zu Anna. Er erzählte ihr, vor Erregung stotternd, was vorgefallen war. Anna hörte mit düsterer Miene zu und sagte:

»Nun, mag er es doch wissen! Was liegt daran?«

»Wie können Sie so sprechen!« schrie Christof. »Das ist abscheulich! Um keinen Preis, um keinen Preis will ich, daß er leidet.«

Anna wurde heftig:

»Und wenn er leidet? Leide ich nicht auch? Mag er doch leiden!«

Sie sagten sich bittere Worte. Er warf ihr vor, daß sie nur sich selbst liebe; sie beschuldigte ihn, mehr an ihren Mann als an sie zu denken.

Aber einen Augenblick später, als er ihr sagte, daß er so nicht weiterleben könne, daß er Braun alles gestehen werde, nannte sie ihn einen Egoisten und schrie, daß ihr sein Gewissen höchst gleichgültig sei, daß aber Braun nichts erfahren dürfe. Trotz ihrer harten Worte dachte sie an Braun ebensoviel wie Christof. Empfand sie auch für ihren Mann keine wahre Zuneigung, so hing sie doch an ihm. Vor den sozialen Banden und den Pflichten, die sie auferlegten, empfand sie eine religiöse Ehrfurcht. Sie dachte vielleicht nicht, daß die Ehegattin gut sein und ihren Mann lieben müsse. Aber sie dachte, daß sie ihre Hausfrauenpflicht peinlich genau zu erfüllen und ihm treu zu bleiben habe. Es erschien ihr unehrenhaft, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, so wie sie es getan hatte.

Und besser noch als Christof wußte sie, daß Braun bald alles erfahren würde. Wenn das Christof verborgen blieb, war es zum Teil ihr Verdienst: einmal, weil sie seine Bedrängnis nicht vermehren wollte, dann aber auch aus Stolz.

 

So abgeschlossen Brauns Haus auch war, so geheim die bürgerliche Tragödie blieb, die sich dort abspielte, so war dennoch bereits etwas davon nach außen durchgesickert.

Niemand konnte sich in dieser Stadt einbilden, daß sein Leben verborgen bliebe. Das ist eine sonderbare Tatsache. Auf den Straßen schaut einen niemand an; die Haustüren und die Fensterläden sind geschlossen. Aber in den Winkeln der Fenster sind »Spione« aufgehängt; und wenn man vorbeigeht, hört man das Rascheln der Vorhänge, die auf- und zugezogen werden. Niemand kümmert sich um einen; es ist, als werde man übersehen; aber bald merkt man, daß kein Wort, keine Gebärde verloren geht; man weiß, was einer getan und gesagt, was einer gesehen und gegessen hat; man weiß, ja, man schmeichelt sich, zu wissen, was einer gedacht hat. Eine geheime allgemeine Überwachung umgibt einen. Dienstboten, Lieferanten, Verwandte, Freunde, Gleichgültige, unbekannte Spaziergänger, alle arbeiten in schweigender Übereinstimmung an dieser instinktiven Spionage, deren verstreute Elemente sich, man weiß nicht wie, zusammenschließen. Man beobachtet nicht allein das Tun, man forscht auch in den Herzen. Niemand hat in dieser Stadt das Recht, seine geheimste Überzeugung für sich zu bewahren; jeder hat das Recht, sich an dich heranzudrängen, in deinen geheimsten Gedanken zu stöbern und darüber Rechenschaft zu fordern, wenn sie in der Öffentlichkeit Anstoß erregen. Der unsichtbare Despotismus der Gesamtseele lastet auf dem Individuum. Sein Leben lang bleibt es ein Kind unter Vormundschaft. Nichts gehört ihm selbst: es gehört der Stadt.

Es hatte genügt, daß Anna zwei Sonntage hintereinander nicht in der Kirche erschienen war, um Verdacht zu erwecken. Früher schien niemand ihre Gegenwart beim Gottesdienst bemerkt zu haben. Sie lebte abseits, und man hätte meinen können, die Stadt hätte ihr Vorhandensein vergessen. Am Abend des ersten Sonntages, an dem sie nicht erschienen war, wußte jeder von ihrer Abwesenheit und bewahrte es im Gedächtnis. Am folgenden Sonntage schien keiner der frommen Blicke, die dem heiligen Wort im Gesangbuch oder auf den Lippen des Pastors folgten, von seiner ernsten Aufmerksamkeit abgelenkt. Aber nicht eines hatte versäumt, beim Eintritt zu bemerken, daß Annas Platz leer war, und sich beim Hinausgehen noch einmal davon zu überzeugen. Am folgenden Tage empfing Anna den Besuch von Personen, die sie monatelang nicht gesehen hatte. Sie kamen unter verschiedenen Vorwänden. Die einen fürchteten, sie sei krank, die anderen zeigten plötzlich Teilnahme für ihre Angelegenheiten, ihren Mann, ihr Haus; einige erwiesen sich eigentümlich gut von dem unterrichtet, was bei ihr vorging. Niemand machte (in plumper Rücksichtnahme) Anspielungen auf Annas Abwesenheit beim Gottesdienst während der zwei Sonntage. Anna sagte, sie sei leidend und habe viel zu tun. Die Besucherinnen hörten ihr aufmerksam zu und gaben ihr recht. Anna wußte, daß sie nicht ein Wort von dem, was sie sagte, glaubten. Ihre Blicke wanderten rings im Zimmer umher, stöberten herum, vermerkten und buchten. Sie verloren nichts von ihrem frostigen Wohlwollen, das dabei aufdringlich und geziert war. Aber man sah in ihren Augen die zudringliche Neugierde, die sie verzehrte. Zwei oder drei fragten mit übertriebener Gleichgültigkeit, wie es Herrn Krafft ginge.

Einige Tage später (es war während Christofs Abwesenheit) kam der Pastor selber, ein stattlicher gepflegter Biedermann von strotzender Gesundheit, leutselig, mit einer unerschütterlichen Ruhe, die das Bewußtsein gibt, die Wahrheit, die ganze Wahrheit allein gepachtet zu haben. Er erkundigte sich liebevoll besorgt nach der Gesundheit seines Gemeindekindes, hörte höflich und zerstreut die Entschuldigungen mit an, die sie vorbrachte und die er nicht verlangt hatte, nahm eine Tasse Tee und scherzte freundlich, anläßlich des eingeschenkten Getränkes, darüber, daß der in der Bibel erwähnte Wein kein Alkoholgetränk sei, brauchte einige Zitate, erzählte eine Anekdote und machte beim Aufbruch Anspielungen auf die Gefahr schlechter Gesellschaft und gewisser Spaziergänge, auf den Geist der Gottlosigkeit, auf die Unzucht des Tanzes und schmutziger Begierden. Er schien ganz allgemein von dem Jahrhundert zu reden, nicht von Anna. Er schwieg einen Augenblick, hüstelte, stand auf, trug Anna förmliche Empfehlungen an Herrn Braun auf, machte einen lateinischen Scherz, grüßte und ging davon. – Anna war starr über die Anspielung. War es eine Anspielung? Wie hatte er von dem Spaziergang Christofs und Annas erfahren können? Sie hatten dort niemanden, der sie kannte, getroffen. Aber wurde nicht alles in dieser Stadt bekannt? Der Musiker mit dem charakteristischen Gesicht und die junge Frau in Schwarz, die in dem Gasthof tanzten, waren aufgefallen. Man hatte sie beschrieben; und da alles weiter getragen wird, war das Gerücht in die Stadt gedrungen, wo die einmal erweckte Bosheit sofort Anna bezeichnete. Allerdings bedeutete das nur einen Verdacht, aber von eigentümlich anziehender Art; dazu kamen noch Erläuterungen von Annas eigenem Dienstmädchen. Die allgemeine Neugierde lag jetzt auf der Lauer, erwartete, daß sie sich selbst bloßstellten und umlauerte sie mit tausend unsichtbaren Augen. Die schweigende und hinterlistige Stadt lag zum Sprunge bereit wie eine beutegierige Katze.

Trotz der Gefahr hätte sich Anna vielleicht nicht ergeben: vielleicht hätte sie das Bewußtsein dieser feigen Feindseligkeit dazu gedrängt, sie zornig herauszufordern, wenn sie nicht auch in sich den pharisäischen Geist dieser ihr feindlichen Gesellschaft getragen hätte. Die Erziehung hatte ihre Natur unterjocht. Wenn sie die Tyrannei und die Albernheit der öffentlichen Meinung auch noch so richtig einschätzte, so achtete sie sie trotzdem; sie unterschrieb ihre Rechtssprüche, selbst wenn sie über sie selbst gefällt wurden: hätte ihr Gewissen ihnen widersprochen, so würde sie ihrem Gewissen unrecht gegeben haben. Sie verachtete die Stadt; und doch war sie unfähig, die Verachtung dieser selben Stadt zu tragen.

Nun sollte sich aber auch noch die Gelegenheit zur Verbreitung des öffentlichen Klatsches bieten. Der Karneval stand vor der Türe.

Der Karneval hatte bis zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, – (seither ist das anders geworden) – einen Charakter altertümlicher Ausgelassenheit und Rauheit bewahrt. Seinem Ursprung getreu, bei dem sich der freiwillig oder unfreiwillig geknechtete Menschengeist vom Joche der Vernunft bis zur Verwilderung freimachte, trat er nirgends frecher auf, als in den Epochen und in den Ländern, auf denen Sitten und Gesetze, die Hüterinnen der Vernunft, am schwersten lasten. So mußte auch Annas Heimatstadt einer jener auserwählten Erdenflecke bleiben. Je mehr die sittliche Strenge dort die Gebärden lähmte und die Stimmen zum Schweigen brachte, um so kühner wurden während einiger Tage diese Gebärden, um so ungebändigter schrien die Stimmen. Alles, was sich in den Tiefen der Seelen ansammelte: Eifersucht, heimlicher Haß, schamlose Neugierde, alle dem Gesellschaftstier angeborenen böswilligen Triebe brachen plötzlich mit dem Getöse und dem Jubel der Rache aus. Jeder hatte das Recht, auf die Straße zu gehen und, sorgfältig maskiert, mitten auf dem Marktplatze jemanden, den er verabscheute, an den Pranger zu stellen, den Vorübergehenden alles, was er während eines Jahres geduldiger Mühe in Erfahrung gebracht hatte, den ganzen nach und nach aufgespeicherten Schatz von Skandalgeschichten, der Öffentlichkeit preiszugeben. Der eine stellte sein Wissen auf Wagen zur Schau, der andere trug durchsichtige Laternen umher, auf denen in Inschriften und Bildern die Geheimgeschichte der Stadt deutlich gemacht war. Wieder ein anderer wagte sogar, in der Maske seines Feindes aufzutreten, die so leicht kenntlich war, daß die Straßenjungen ihn mit dessen Namen bezeichneten. Klatschzeitungen erschienen während dieser drei Tage, Angehörige der guten Gesellschaft beteiligten sich heimlich an diesem Narrenspiel. Keinerlei Zensur wurde geübt, höchstens bei politischen Anspielungen, – da diese wilde Freiheit verschiedentlich zu Streitigkeiten zwischen der Stadtverwaltung und den ausländischen Gesandtschaften Veranlassung gegeben hatte. Nichts aber schützte die Bürger vor den Bürgern. Die Furcht vor der öffentlichen Bloßstellung, die beständig über ihnen schwebte, trug wohl nicht wenig dazu bei, in den Sitten den unantastbaren Schein aufrecht zu erhalten, auf den die Stadt so stolz war. Anna lebte unter dem Druck der Angst vor jenen Tagen, einer Angst, die übrigens ungerechtfertigt war. Sie hatte herzlich wenig zu fürchten. Sie bedeutete für die Stadt viel zu wenig, als daß man auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, sie anzugreifen. Aber die vollständige Abgeschlossenheit, in der sie sich hielt, der Zustand nervöser Erschöpfung und Überreizung, in den sie durch mehrere schlaflose Wochen und seelische Leiden gekommen war, machte ihre Fantasie für die widersinnigsten Schreckgebilde empfänglich. Sie übertrieb die Feindseligkeit derer, die sie nicht leiden mochten. Sie meinte, der Verdacht sei ihr auf der Spur; es bedürfe des geringsten Anstoßes, um sie ins Verderben zu stürzen; und wer sollte sie darüber beruhigen, daß das nicht beschlossene Sache sei? Dann würde also der Schimpf kommen, die mitleidlose Entkleidung, das Zurschaustellen ihres Herzens vor allen Vorübergehenden: eine so furchtbare Schande, daß Anna vor Scham zu sterben meinte, wenn sie nur daran dachte. Man erzählte sich, daß einige Jahre zuvor ein junges Mädchen, das dieser Verfolgung ausgesetzt gewesen war, mit den Ihren außer Landes hatte fliehen müssen. Und man konnte nicht das geringste tun, um sich zu verteidigen, nichts, um dergleichen zu verhindern, nichts, um auch nur zu erfahren, was geschehen werde. Der Zweifel war noch aufregender als die Gewißheit. Anna blickte mit den Augen eines zu Tode gehetzten Tieres um sich. In ihrem eigenen Hause fühlte sie sich umzingelt.

 

Annas Dienstmädchen hatte die Vierzig überschritten: sie hieß Bäbi, war groß und stark, mit einem Gesicht, das an den Schläfen und der Stirn spitz und knochig, und unter den Kinnladen aufgedunsen, breit und lang auslief wie eine aufgeschlagene Birne; sie trug ein beständiges Lächeln zur Schau, hatte kleine runde Augen, die so tief lagen, daß sie unter ihren roten Lidern ohne sichtbare Wimpern wie nach innen gezogen schienen. In ihrer stets gezierten Heiterkeit war sie von der Herrschaft immer begeistert, stets ihrer Ansicht und in rührseliger Teilnahme um ihre Gesundheit besorgt. Sie lächelte, wenn man ihr etwas auftrug, sie lächelte, wenn man sie tadelte. Braun glaubte an ihre unbedingte Anhänglichkeit. Ihre scheinheilige Miene bildete den geraden Gegensatz zu Annas Kälte. In vielem jedoch ähnelte sie ihr: wie diese sprach sie wenig, war schmucklos und sorgfältig gekleidet; gleich ihr war sie sehr fromm, begleitete sie in die Kirche, erfüllte genau ihre Andachtspflichten und war um ihre häuslichen Obliegenheiten, Reinlichkeit, Pünktlichkeit, tadelloses Benehmen und tadellose Küche, gewissenhaft bemüht. Sie war mit einem Wort das Muster eines Dienstboten und der vollkommene Typus des gehässigen Dienstboten. Anna, deren weiblicher Instinkt sich nur wenig über die geheimen Gedanken der Frauen täuschte, gab sich inbezug auf sie keinerlei Einbildungen hin. Sie konnten einander nicht ausstehen, wußten es und ließen sich nichts merken.

In der Nacht nach Christofs Rückkehr, als Anna in ihrer Qual trotz ihres Entschlusses, ihn niemals wiederzusehen, doch wieder zu ihm ging und im Dunkel, an den Wänden entlang tastend, eilig dahinschritt, fühlte sie unter ihren nackten Füßen, kurz bevor sie in Christofs Zimmer trat, nicht wie gewöhnlich das kalte, glatte Parkett, sondern einen warmen Staub, der leise knirschte. Sie bückte sich, fühlte mit den Händen nach und begriff: eine dünne Schicht feiner Asche war über die ganze Breite des Ganges auf einem Raum von zwei bis drei Metern ausgestreut. Bäbi hatte unbewußt die alte List angewandt, die, wie es im Liede heißt, der Zwerg Frocin anwandte, um Tristan zu überführen, der zu Isoldens Bett schlich; so bewahrheitet sich, daß für die Jahrhunderte nur wenige Urbilder alles Guten und Schlechten gelten. Ein Beweis für die weise Ökonomie des Weltalls! – Anna hielt sich nicht auf: in einer Art von verächtlichem Trotz ging sie ihren Weg weiter; sie kam zu Christof, erzählte ihm jedoch trotz ihrer Unruhe nichts davon; auf dem Rückwege aber nahm sie den Ofenbesen und löschte sorgsam die Spuren der gemachten Schritte aus. Als Anna und Bäbi sich am Morgen wiedersahen, geschah es in gewohnter Weise: die eine war kalt, die andere lächelte.

Bäbi bekam manchmal Besuch von einem etwas älteren Verwandten, der in der Kirche die Obliegenheiten eines Küsters erfüllte; man sah ihn beim Gottesdienst vor der Kirchentüre Wachtposten stehen, wobei er eine schwarzweißgestreifte Armbinde mit silberner Troddel trug und sich dabei auf einen hohen, gebogenen Stab stützte. Seinem Berufe nach war er Sargfabrikant. Er hieß Sami Witschi. Er war sehr groß und mager und trug seinen rasierten Kopf mit dem ernsthaften alten Bauerngesicht etwas geneigt. Er war fromm und wußte wie kein anderer Bescheid in allen Gerüchten, die über sämtliche Seelen des Kirchspiels in Umlauf waren. Bäbi und Sami wollten sich heiraten; sie schätzten gegenseitig ihre ehrbaren Eigenschaften, ihren festen Glauben und ihre Bosheit. Aber sie beeilten sich nicht, ihre Absicht auszuführen; sie prüften einander vorsichtig. – In der letzten Zeit waren Samis Besuche häufiger geworden. Ohne daß man es ahnte, war er da. Jedesmal, wenn Anna bei der Küche vorbeiging, sah sie durch die Glastüre Sami neben dem Herde sitzen, und Bäbi nähend einige Schritte davon. Sie mochten noch soviel reden, man vernahm keinen Ton. Man sah Bäbis aufgeheitertes Gesicht und ihre sich bewegenden Lippen; Samis ernsthafter, großer Mund verzog sich, ohne sich zu öffnen, zu einem grinsenden Lächeln: kein Laut kam aus der Kehle; das Haus schien stumm. Wenn Anna in die Küche kam, stand Sami respektvoll auf und blieb, ohne etwas zu reden, stehen, bis sie wieder hinaus war. Wenn Bäbi die Tür aufgehen hörte, unterbrach sie mit auffallender Beflissenheit irgend ein gleichgültiges Gespräch und zeigte Anna ein kriecherisches Lächeln, während sie ihre Befehle erwartete. Anna war überzeugt, daß sie von ihr redeten; aber sie verachtete sie zu sehr, um sich dazu herzugeben, sie heimlich zu belauschen. Am Tage, nachdem Anna die schlaue Aschenfalle entdeckt hatte und in die Küche kam, war das Erste, was sie sah, daß Sami den kleinen Besen in den Händen hielt, den sie nachts gebraucht hatte, um den Abdruck ihrer nackten Füße zu verwischen. Sie hatte ihn aus Christofs Zimmer mitgenommen; und im selben Augenblick kam es ihr urplötzlich wieder in den Sinn, daß sie vergessen hatte, ihn wieder dorthin zurückzutragen; sie hatte ihn in ihrem eigenen Zimmer gelassen, wo Bäbis scharfsichtige Augen ihn sofort entdeckt hatten. Die beiden Bundesgenossen hatten nicht versäumt, sich die Geschichte zusammenzureimen. Anna verriet keinerlei Bewegung. Bäbi, die dem Blick ihrer Herrin folgte, lächelte mit übertriebener Zuvorkommenheit und erklärte:

»Der Besen war entzwei; ich habe ihn Sami gegeben, damit er ihn ausbessere.«

Anna gab sich nicht die Mühe, die plumpe Lüge zu entlarven. Sie schien nicht einmal hinzuhören; sie prüfte Bäbis Tätigkeit, machte ihre Einwände und ging in unerschütterlicher Ruhe hinaus. Sobald aber die Türe hinter ihr zufiel, verlor sie allen Stolz; sie konnte es sich nicht versagen, in der Flurecke versteckt zu lauschen (sie fühlte sich im tiefsten gedemütigt, daß sie zu solchen Mitteln griff; die Furcht aber beherrschte sie.) – Ein ganz kurzes, lachendes Glucksen. Dann ein so leises Geflüster, daß man nichts unterscheiden konnte. In ihrer Aufregung aber glaubte Anna, zu verstehen; ihr Entsetzen gab ihr die Worte ein, die sie zu hören fürchtete; sie bildete sich ein, daß sie von den bevorstehenden Maskeraden sprachen und von einer Spottaufführung. Kein Zweifel: sie wollten dabei die Geschichte mit der Asche vorbringen. Wahrscheinlich täuschte sie sich; aber in dem Zustand krankhafter Überreizung, in dem sie sich befand, in dem sie seit vierzehn Tagen von den fixen Ideen des Schimpfes besessen war, schien ihr das Ungewisse nicht nur möglich, sondern sicher.

Von diesem Augenblick an war ihr Entschluß gefaßt.

 

Am Abend desselben Tages – (es war der Mittwoch, der der Fastnacht vorangeht) – wurde Braun zu einer Untersuchung, ungefähr zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt, gerufen.

Er konnte erst am nächsten Morgen wiederkommen. Anna ging nicht zum Essen hinunter und blieb in ihrem Zimmer. Sie hatte diese Nacht gewählt, um das schweigende Gelübde, das sie getan hatte, zu erfüllen. Aber sie hatte beschlossen, es allein auszuführen, ohne Christof etwas davon zu sagen. Sie verachtete ihn. Sie dachte:

»Er hat es versprochen. Aber er ist ein Mann, er ist egoistisch und verlogen; er hat seine Kunst, er wird schnell vergessen.«

Und vielleicht war in ihrem heftigen Herzen, das jeder Güte bar schien, dennoch Platz für eine mitleidige Regung für ihren Gefährten. Aber sie war zu hart und zu leidenschaftlich, um sich das einzugestehen.

Bäbi richtete Christof aus, daß ihre Herrin sich entschuldigen ließe, daß sie nicht ganz wohl sei und sich ausruhen wolle. Christof aß also allein unter Bäbis Aufsicht, die ihn mit ihrem Geschwätz ermüdete, ihn zum Reden zu bringen suchte und sich für Anna mit so übertriebenem Eifer ins Zeug legte, daß Christof trotz seines leichten Vertrauens zu den Menschen mißtrauisch wurde. Er zählte gerade darauf, diesen Abend zu benutzen, um mit Anna eine entscheidende Unterredung zu haben. Auch er konnte sie nicht mehr hinausschieben. Er hatte die Verpflichtung, die sie beim Morgengrauen jenes traurigen Tages gemeinsam eingegangen waren, nicht vergessen. Er war bereit, sie zu erfüllen, wenn Anna darauf bestand. Aber er sah die Sinnlosigkeit dieses zwiefachen Todes ein, der nichts änderte, während der Skandal und der Schmerz darüber Braun zur Last fallen würden. Er meinte, das Beste wäre, wenn sie sich voneinander losrissen, wenn er noch einmal versuchte, fortzugehen, oder wenigstens, falls er die Kraft hätte, ihr fern zu bleiben. Er zweifelte zwar daran, nach dem nutzlosen Versuch, den er soeben gemacht hatte, aber er sagte sich, im Falle er es nicht mehr ertragen könnte, habe er immer noch die Zeit, allein und ohne daß irgend jemand etwas davon erführe, den letzten Schritt zu tun.

Er hoffte, daß er nach dem Essen einen Augenblick loskommen könnte, um in Annas Zimmer hinaufzugehen. Bäbi aber folgte ihm auf Schritt und Tritt. Gewöhnlich hörte sie mit ihrer Arbeit frühzeitig auf; heute abend aber wurde sie mit dem Aufwaschen nicht fertig; und als Christof ihrer ledig zu sein glaubte, kam sie auf den Gedanken, einen Wandschrank im Flur, der zu Annas Zimmer führte, zu ordnen. Christof sah sie breitbeinig auf einem Schemel stehen; er begriff, daß sie den ganzen Abend nicht heruntersteigen würde. Eine wütende, unbändige Lust überkam ihn, sie samt ihrem Tellerstapel hinunterzuwerfen; aber er bezwang sich und bat sie, nachzusehen, wie es ihrer Herrin gehe und ob er ihr nicht Guten Abend sagen könne. Bäbi ging, kehrte zurück und sagte, indem sie ihn dabei mit boshafter Freude beobachtete, daß es der gnädigen Frau besser ginge, daß sie müde sei und niemanden sehen wolle. Ärgerlich und nervös versuchte Christof zu lesen, konnte es aber nicht und ging in sein Zimmer. Bäbi spähte nach seinem Licht, bis es ausgelöscht war, und ging dann auch hinauf, nahm sich aber vor, wach zu bleiben; sie brauchte die Vorsicht, ihre Türe offen zu lassen, damit sie alle Geräusche des Hauses vernehmen könne. Unglücklicherweise für sie schlief sie stets ein, kaum daß sie im Bett lag, und ihr Schlaf war so fest, daß weder der Donner noch selbst ihre Neugierde sie vor Tagesanbruch hätte aufwecken können. Ihr Schlaf war für keinen ein Geheimnis. Sein Echo drang bis in das untere Stockwerk.

Sobald Christof dieses vertraute Geräusch hörte, ging er zu Anna. Er mußte sie sprechen. Eine unbestimmte Unruhe quälte ihn. Er kam an die Türe, er drehte den Knopf; die Türe war verschlossen. Er klopfte sachte an: keine Antwort. Er preßte seinen Mund ans Schlüsselloch und flehte mit leiser, eindringlicher Stimme: keine Regung, kein Geräusch. Wenn er sich auch sagte, Anna schliefe, so packte ihn doch die Angst. Und als er im vergeblichen Bemühen, irgend etwas zu vernehmen, seine Wangen gegen die Türe drückte, traf ihn ein Geruch, der über die Schwelle zu dringen schien. Er beugte sich nieder und wußte: es war Gasgeruch. Sein Blut erstarrte. Er rüttelte an der Türe, ohne daran zu denken, daß er Bäbi wecken könne; die Tür gab nicht nach ... Er begriff: Anna hatte in dem Ankleideraum, der an ihr Zimmer stieß, einen kleinen Gasofen; sie hatte ihn geöffnet. Man mußte die Tür aufbrechen. Trotz seiner Erregung bewahrte Christof noch soviel Überlegung, um daran zu denken, daß Bäbi um keinen Preis etwas hören dürfe. Er drückte leise, mit ungeheurer Gewalt, gegen den einen Türflügel. Die feste, gutverschlossene Tür krachte in ihren Angeln, gab aber nicht nach. Eine andere Tür führte aus Annas in Brauns Zimmer. Er lief dorthin. Sie war ebenfalls verschlossen. Hier aber war das Schloß außen. Er versuchte, es auszuheben. Das war nicht leicht. Er mußte die vier großen Schrauben, die in das Holz eingelassen waren, entfernen. Er hatte nur sein Messer; und er sah nichts, denn er wagte nicht, eine Kerze anzuzünden; er hätte dadurch möglicherweise eine Explosion in der ganzen Wohnung hervorrufen können. Tastend gelang es ihm, sein Messer in eine Schraube hineinzubekommen, dann in noch eine, wobei er die Schneide zerbrach und sich schnitt; ihm schien, als wären die Schrauben von teuflischer Länge und als würde er niemals damit fertig werden, sie herauszudrehen. Und während er in fieberhafter Eile arbeitete, daß sich ihm der Körper mit eiskaltem Schweiß bedeckte, kam ihm gleichzeitig eine Kindheitserinnerung in den Sinn: er sah sich als zehnjährigen Jungen zur Strafe in eine dunkle Kammer eingeschlossen; er hatte das Schloß entfernt und war aus dem Hause geflohen ... Die letzte Schraube gab nach. Das Schloß löste sich mit einem Knistern, das vom gespaltenen Holz kam. Christof stürzte in das Zimmer, lief ans Fenster, öffnete es. Ein Strom kalter Luft kam herein. Christof, der in der Dunkelheit an den Möbeln entlang taumelte, fand das Bett, tastete, traf auf Annas Körper, fühlte mit bebenden Händen durch die Decke die reglosen Beine, kam bis zur Hüfte hinauf: Anna saß in ihrem Bett und zitterte. Die Zeit war noch zu kurz gewesen, als daß sie die ersten Erstickungserscheinungen an sich hätte spüren können: das Zimmer war hoch, die Luft drang durch die schlecht verschlossenen Fenster- und Türritzen. Christof nahm sie in die Arme. Sie machte sich voll Wut los und schrie:

»Machen Sie, daß Sie fortkommen! ... Ach, was haben Sie getan?«

Sie hob die Arme und wollte ihn schlagen; aber die Erregung überwältigte sie: sie fiel auf die Kissen zurück und schluchzte:

»O! O! nun muß ich noch einmal von vorne anfangen!«

Christof nahm ihre Hände, küßte sie, schalt sie, sagte ihr zärtliche und harte Worte:

»Sterben! Und allein, ohne mich sterben!«

»Ach du!« meinte sie bitter.

Ihr Ton sagte deutlich:

»Du willst doch leben.«

Er fuhr sie an, er wollte ihren Willen zwingen.

»Rasende!« sagte er, »weißt du denn nicht, daß du das Haus hättest in die Luft sprengen können!«

»Das gerade wollte ich,« sagte sie leidenschaftlich.

Er suchte ihre religiösen Besorgnisse zu wecken: damit hatte er das Richtige getroffen. Kaum hatte er daran gerührt, als sie zu schreien begann und ihn anflehte, zu schweigen. Er blieb mitleidlos dabei, denn er meinte, das sei das einzige Mittel, um den Lebenswillen in ihr wieder zurückzurufen. Sie redete nichts mehr und schluchzte krampfhaft. Als er fertig war, sagte sie in dem Tone verhaltenen Hasses:

»Bist du jetzt zufrieden? Hast du dein Ziel erreicht? Du hast mich vollends elend gemacht. Und was soll ich jetzt tun?«

»Leben,« sagte er.

»Leben!« schrie sie. »Aber weißt du denn nicht, daß das unmöglich ist! Du weißt nichts! Gar nichts weißt du!«

Er fragte:

»Was ist los?«

Sie zuckte die Schultern.

»Höre zu.«

Sie erzählte ihm in kurzen, abgerissenen Sätzen von allem, was sie ihm bisher verschwiegen hatte; von der Spionage Bäbis, von der Asche, dem Auftritt mit Sami, vom Karneval, von der ungeheuren Schande. Sie unterschied beim Erzählen nicht mehr, was die Furcht ihr vortäuschte, und was sie in Wahrheit zu fürchten Ursache hatte. Er hörte entsetzt zu und war noch unfähiger als sie, in dem Bericht die wirkliche Gefahr von der eingebildeten zu trennen. Er wäre nicht im entferntesten auf den Gedanken gekommen, daß man solche Jagd auf sie mache. Er versuchte, zu begreifen; er konnte nichts sagen. Gegen solche Feinde war er machtlos. Er fühlte nur eine blinde Wut und den Wunsch, drauflos zu schlagen. Er sagte:

»Warum hast du Bäbi nicht fortgejagt?«

Sie würdigte ihn keiner Antwort. Die fortgejagte Bäbi wäre eine noch schlimmere Lästerzunge gewesen als die geduldete; und Christof begriff den Widersinn seiner Frage. Seine Gedanken gingen durcheinander; er suchte einen Entschluß zu fassen, suchte nach einer sofortigen Tat. Mit geballten Fäusten sagte er:

»Ich werde sie beide töten.«

»Wen?« fragte sie voll Verachtung für seine nutzlosen Worte. Seine Kraft sank zusammen. Er fühlte sich gefangen in dem Netz undurchdringlichen Verrates, in dem nichts greifbar war, zu dem sich alle verbündet hatten. Er wehrte sich.

»Schurken!« schrie er verzweifelt.

Er sank vor dem Bett in die Kniee und drückte sein Gesicht gegen Annas Körper. – Sie schwiegen. Sie empfand eine Regung von Verachtung und Mitleid für diesen Mann, der weder sie noch sich zu verteidigen vermochte. Er fühlte an seiner Wange Annas Beine vor Kälte zittern. Das Fenster war offen geblieben, und draußen fror es; man sah an dem frostklaren Himmel die Sterne zittern.

Nachdem sie die bittere Freude ausgekostet hatte, ihn so zerbrochen zu wissen wie sich selbst, sagte sie in hartem und müdem Tone:

»Stecken Sie eine Kerze an.«

Er machte Licht. Anna klapperte mit den Zähnen und saß, die Arme gegen die Brust gedrückt, die Knie zum Kinn emporgezogen, zusammengekauert da. Er schloß das Fenster. Er setzte sich auf das Bett. Er nahm Annas eiskalte Füße, er wärmte sie mit seinem Mund, mit seinen Händen. Das rührte sie.

»Christof!« sagte sie.

Ihre Augen waren voll Jammer.

»Anna!« sagte er.

»Was werden wir tun?«

Er sah sie an und sagte:

»Sterben.«

Sie stieß einen Freudenschrei aus:

»O, willst du wirklich? Willst du auch? ... Ich werde nicht allein sein!«

Sie küßte ihn.

»Glaubst du denn, ich würde dich verlassen?«

Mit leiser Stimme erwiderte sie:

»Ja.«

Er fühlte, was sie gelitten haben mußte.

Nach einigen Augenblicken befragte er sie mit dem Blick.

Sie verstand:

»Im Schreibtisch,« sagte sie. »Rechts die untere Schublade.«

Er ging und suchte. Ganz hinten sah er einen Revolver liegen. Braun hatte ihn gekauft, als er Student war. Er hatte ihn niemals gebraucht. In einer zerbrochenen Schachtel fand Christof ein paar Patronen. Er brachte alles zum Bett. Anna sah hin und wandte sofort die Augen zur Wand. Christof wartete; dann fragte er:

»Du willst nicht mehr?«

Anna wandte sich lebhaft um.

»Ich will ... Schnell!«

Sie dachte:

»Nichts kann mich mehr vor der ewigen Verdammnis retten. Etwas mehr, etwas weniger, es bleibt alles dasselbe.«

Christof lud ungeschickt den Revolver.

»Anna,« sagte er mit zitternder Stimme, »einer von uns beiden wird den anderen sterben sehen.«

Sie riß ihm die Waffe aus der Hand und sagte voll Egoismus:

»Ich zuerst!«

Sie sahen sich noch einmal an ... Ach, selbst in diesem Augenblick, in dem sie einer für den anderen sterben wollten, fühlten sie sich einander so fern! ... Jeder dachte voller Entsetzen:

»Was habe ich nur getan? Was habe ich getan?«

Und jeder las es in den Augen des anderen. Die Sinnlosigkeit der Tat entsetzte besonders Christof. Vergeblich sein ganzes Leben, vergeblich seine Kämpfe, vergeblich seine Leiden; vergeblich seine Hoffnungen; alles verschleudert, in den Wind gestreut; eine geringfügige Bewegung sollte alles auslöschen ... In normalem Zustande hätte er Anna den Revolver entrissen, er hätte ihn aus dem Fenster geworfen, er hätte geschrien:

»Nein, nein! Ich will nicht!«

Aber acht Monate Leid, acht Monate voller Zweifel und qualvoller Trauer und obendrein noch der Sturm dieser wahnsinnigen Leidenschaft hatten seine Kraft untergraben, seinen Willen gebrochen; er fühlte, daß er nichts mehr vermochte, daß er nicht mehr Herr über sich war. Ach, was lag schließlich daran?

Anna, die der ewigen Verdammnis gewiß war, straffte ihr ganzes Wesen, um diese letzte Lebensminute noch ganz zu umschließen: das schmerzdurchwühlte Gesicht Christofs, das von der flackernden Kerze erhellt war, die Schatten auf der Wand, ein Geräusch von Schritten auf der Straße, die Berührung mit dem Stahl, den sie in der Hand hielt ... An all diese Eindrücke klammerte sie sich wie der Ertrinkende an das Wrack, das mit ihm untergeht. Danach kam nichts als Schrecken. Warum die Wartezeit nicht in die Länge ziehen! Aber sie sagte sich immer wieder:

»Es muß sein ...«

Sie sagte Christof ohne Zärtlichkeit Lebewohl, mit der Hast eines eiligen Reisenden, der den Zug zu versäumen fürchtet; sie öffnete das Hemd, tastete nach dem Herzen und drückte den Lauf des Revolvers daran. Christof kniete vor ihr und verbarg das Gesicht in der Decke. Im Augenblick, als sie losdrückte, legte sie ihre linke Hand auf die Christofs. Die Gebärde eines Kindes, das Angst hat, allein in die Nacht zu gehen ...

So vergingen einige entsetzliche Sekunden ... Anna schoß nicht. Christof wollte den Kopf heben, er wollte ihren Arm festhalten, und fürchtete doch, daß gerade diese Bewegung sie zum Abdrücken brächte. Er hörte nichts mehr, er verlor das Bewußtsein ... Ein Stöhnen Annas schnitt ihm ins Herz. Er richtete sich auf. Er sah Annas Gesicht von Entsetzen verzerrt. Der Revolver war vor sie aufs Bett gefallen. Klagend sagte sie immer wieder:

»Christof, der Schuß ist nicht losgegangen! ...«

Er nahm die Waffe; während der langen Zeit, in der sie gelegen hatte, war sie angerostet; sonst war sie gut. Vielleicht waren die Patronen durch die Luft schlecht geworden. – Anna streckte die Hand nach dem Revolver aus.

»Hör auf!« flehte er.

Sie befahl:

»Die Patronen!«

Er gab sie ihr. Sie prüfte sie, nahm eine, lud, zitterte dabei beständig, setzte die Waffe wieder an die Brust und drückte los. – Auch dieser Schuß versagte.

Anna warf den Revolver ins Zimmer.

»Ach, das ist zu entsetzlich! Zu entsetzlich!« schrie sie. »Er will nicht, daß ich sterbe!«

Sie wühlte sich in ihre Decke; sie war wie rasend. Er wollte sich ihr nähern; schreiend stieß sie ihn zurück. Schließlich hatte sie einen Nervenanfall. Christof blieb bis zum Morgen bei ihr. Endlich beruhigte sie sich. Aber sie lag ohne einen Atemzug mit geschlossenen Augen, über die Stirn und die Wangenknochen spannte sich ihre leichenfahle Haut; sie glich einer Toten.

Christof zog das durchwühlte Bett zurecht, hob den Revolver auf, setzte das herausgenommene Schloß wieder ein, brachte das ganze Zimmer in Ordnung und ging hinaus; denn es war sieben Uhr, und Bäbi mußte bald kommen.

 

Als Braun am Morgen heimkehrte, fand er Anna noch in demselben Zustand völliger Entkräftung. Er sah wohl, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen sein mußte; aber er konnte weder von Bäbi noch von Christof etwas in Erfahrung bringen. Den ganzen Tag über rührte sich Anna nicht, sie öffnete kaum die Augen. Ihr Puls war so schwach, daß man ihn kaum fühlte; ab und zu setzte er aus, und Braun glaubte einen Augenblick voller Angst, daß das Herz zu schlagen aufgehört habe. Sein Gefühl für Anna ließ ihn an seiner Kunst zweifeln; er lief zu einem Kollegen und brachte ihn herbei. Die beiden Männer untersuchten Anna, konnten aber nicht zur Gewißheit kommen, ob es sich um ein beginnendes Fieber handele oder um eine hysterische Nervenkrankheit: man mußte die Kranke weiter beobachten. Braun wich nicht von Annas Lager. Er wollte nicht essen. Gegen Abend zeigte Annas Puls kein Fieber, aber äußerste Schwäche. Braun suchte ihr ein paar Löffel Milch einzuflößen; ihr Körper verweigerte die Nahrung. Sie lag in den Armen ihres Mannes wie eine zerbrochene Puppe. Braun verbrachte die Nacht neben ihr sitzend und stand alle Augenblicke auf, um sie zu behorchen. Bäbi, die Annas Krankheit keineswegs rührte – die aber die Pflichttreue selbst war, weigerte sich, zu Bett zu gehen, und wachte mit Braun.

Am Freitag öffnete Anna die Augen. Braun redete sie an. Sie nahm von seiner Anwesenheit keine Notiz. Sie blieb reglos liegen und starrte die Wand an. Gegen Mittag sah Braun, wie große Tränen ihre mageren Wangen entlang rannen. Er trocknete sie sanft; Tropfen für Tropfen flossen ihre Tränen weiter. Von neuem versuchte Braun, sie zur Aufnahme einiger Nahrung zu bewegen. Sie ließ alles mit sich geschehen. Am Abend begann sie zu sprechen: es waren zusammenhanglose Worte. Es handelte sich um den Rhein; sie wollte sich ertränken, aber es war nicht genug Wasser da. Hartnäckig blieb sie im Traum bei ihren Selbstmordversuchen und dachte sich immer neue, sonderbare Todesformen aus; immer wieder versagte sich ihr der Tod. Manchmal stritt sie mit jemandem; ihr Gesicht nahm dann einen Ausdruck von Zorn und Furcht an; sie wandte sich an Gott und wollte ihm eigensinnig beweisen, daß ihn die Schuld träfe. Dann wieder entzündete sich die Flamme eines Begehrens in ihren Augen, und sie sagte schamlose Worte, die sie eigentlich nicht kennen konnte. Einmal bemerkte sie Bäbi und gab ihr genaue Anweisungen für die Wäsche des folgenden Tages. In der Nacht schlummerte sie ein. Plötzlich richtete sie sich auf; Braun lief herbei. Sie sah ihn sonderbar an und stammelte ungeduldige und undeutliche Worte. Er fragte sie:

»Meine liebe Anna, was willst du?«

Sie sagte mit scharfer Stimme:

»Hole ihn!«

»Wen?« fragte er.

Sie sah ihn weiter mit demselben Ausdruck an; plötzlich brach sie in ein Gelächter aus, strich sich mit den Händen über die Stirn und stöhnte:

»Ach, mein Gott! Vergessen! ...«

Der Schlaf übermannte sie wieder. Sie blieb bis zum Tagesanbruch ruhig. Gegen Morgen bewegte sie sich etwas; Braun stützte ihren Kopf, um ihr zu trinken zu geben; sie nahm gefügig ein paar Schlucke, neigte sich über Brauns Hände und küßte sie. Und wieder schlummerte sie ein.

Am Samstagmorgen erwachte sie gegen neun Uhr. Ohne ein Wort zu sagen, machte sie Miene, aufzustehen. Braun eilte zu ihr und versuchte, sie wieder hinzulegen. Sie wehrte sich. Er fragte sie, was sie tun wolle. Sie antwortete:

»Zum Gottesdienst gehen.«

Er versuchte, sie zur Vernunft zu bringen, ihr klar zu machen, daß es nicht Sonntag sei, daß die Kirche geschlossen wäre. Sie schwieg; aber sie setzte sich neben das Bett auf den Stuhl und zog sich mit schlotternden Fingern die Kleider an. Der mit Braun befreundete Arzt kam herein. Er vereinte seine inständigen Bitten mit denen Brauns. Dann, als er sah, daß sie nicht nachgeben werde, untersuchte er sie und gab schließlich seine Erlaubnis. Er nahm Braun beiseite und sagte, daß die Krankheit seiner Frau rein seelischer Natur zu sein scheine, daß man im Augenblick vermeiden müsse, ihr zu widersprechen, daß er keine Gefahr darin erblicke, wenn sie ausginge, vorausgesetzt, daß Braun sie begleite. So sagte also Braun zu Anna, daß er mit ihr gehen werde. Sie widersprach und wollte allein gehen. Aber schon bei den ersten Schritten im Zimmer taumelte sie. Daraufhin nahm sie, ohne ein Wort zu sagen, Brauns Arm und sie gingen fort. Sie war sehr schwach und blieb unterwegs stehen. Mehrmals fragte er sie, ob sie umkehren wolle. Sie nahm den Weg wieder auf. An der Kirche fanden sie die Türen verschlossen, wie er es gesagt hatte. Anna setzte sich auf eine Bank neben den Eingang und blieb fröstelnd sitzen, bis es zwölf Uhr schlug. Dann nahm sie wieder Brauns Arm, und sie kehrten schweigend heim. Abends aber wollte sie wieder zur Kirche. Brauns Flehen war vergeblich. Man mußte sich von neuem auf den Weg machen.

Christof hatte diese beiden Tage einsam zugebracht. Braun war zu besorgt, um an ihn zu denken. Ein einziges Mal, am Sonnabendmorgen, als Braun Anna von ihrer fixen Idee, auszugehen, abbringen wollte, hatte er sie gefragt, ob sie Christof sehen wolle. Sie zeigte einen Ausdruck so heftigen Entsetzens und Widerwillens, daß er ganz betroffen war; Christofs Name wurde nicht mehr genannt.

Christof hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen. Besorgnis, Liebe, Gewissensbisse bildeten in ihm ein Chaos von sich bekämpfenden Schmerzen. Er gab sich an allem die Schuld. Ekel vor sich selbst zermalmte ihn. Mehrere Male stand er auf, um Braun alles zu gestehen, – wurde aber sofort durch den Gedanken zurückgehalten, daß er durch solche Selbstbeschuldigung noch mehr Unglück anrichte. Gleichzeitig ließ ihn die Leidenschaft nicht los. Er strich im Flur vor Annas Zimmer vorbei; doch sobald er hörte, daß sich im Innern Schritte näherten, floh er in sein Zimmer.

Als Braun und Anna nachmittags ausgingen, spähte er ihnen, hinter dem Fenstervorhang verborgen, nach. Er sah Anna. Sie, die sonst so gerade und stolz schritt, ging mit krummem Rücken, gebeugtem Kopf, gelber Haut; sie war gealtert und verschwand unter dem Mantel und dem Schal, mit denen ihr Mann sie umhüllt hatte; sie war häßlich. Aber Christof sah nicht ihre Häßlichkeit, er sah nur ihr Elend; und sein Herz strömte von Mitleid und Liebe über. Er hätte zu ihr laufen mögen, sich vor ihr in den Staub werfen, ihre Füße, diesen von der Leidenschaft verwüsteten Körper küssen, ihre Verzeihung erflehen mögen. Und er dachte, indem er sie ansah:

»Mein Werk! Das ist mein Werk!«

Aber sein Blick traf im Spiegel sein eigenes Bild; er sah in seinen Augen, in seinen Zügen dieselbe Verheerung; er sah sich gleich ihr vom Tode gestempelt und dachte:

»Mein Werk? Nein. Das Werk des grausamen Herrn, der zur Raserei treibt und tötet.«

Das Haus war leer. Bäbi war ausgegangen, um den Nachbarn die Tagesereignisse zu erzählen. Die Zeit verstrich. Es schlug fünf Uhr. Bei dem Gedanken, daß Anna heimkehren würde und daß die Nacht käme, wurde Christof von Entsetzen gepackt. Er fühlte, daß er nicht die Kraft haben werde, diese Nacht unter demselben Dach mit ihr zu bleiben. Er fühlte, daß die Last der Leidenschaft seinen Verstand zerstören mußte. Er wußte nicht, was er tun würde, er wußte nicht, was er wollte, es sei denn, daß er, um welchen Preis auch immer, Anna besitzen wollte. Er dachte an die elende Gestalt, die er eben unter seinem Fenster hatte vorübergehen sehen und sagte sich:

»Ich muß sie vor mir retten.«

Seine Willenskraft erwachte wieder. Er raffte die Papierblätter, die auf dem Tisch herumlagen, zusammen, verschnürte sie, nahm Hut und Mantel und ging fort. Im Flur, nahe bei Annas Türe, beschleunigte er, von Furcht gepackt, den Schritt. Unten warf er einen letzten Blick auf den verödeten Garten. Er schlich wie ein Dieb davon. Ein eisiger Nebel drang wie mit Nadeln in seine Haut. Er strich an den Hausmauern entlang, in der Furcht, einem bekannten Gesicht zu begegnen. Er ging zum Bahnhof. Er stieg in einen Zug, der nach Luzern abging. Von der ersten Station schrieb er an Braun. Er sagte, daß eine dringende Angelegenheit ihn für einige Tage aus der Stadt rufe, und daß er unglücklich sei, ihn in solchem Augenblick allein lassen zu müssen; er bat ihn, ihm Nachricht an eine angegebene Adresse zu senden. In Luzern nahm er den Gotthardzug. Nachts stieg er an einer kleinen Station zwischen Altdorf und Göschenen aus. Er kannte den Namen nicht und erfuhr ihn niemals. Er ging in das erste Gasthaus am Bahnhof. Wasserpfützen schnitten den Weg ab. Es goß in Strömen; es regnete die ganze Nacht; es regnete den ganzen Tag. Mit dem Getöse eines Wassersturzes fiel der Regen wie aus einem geborstenen Rohr. Himmel und Erde wurden überschwemmt und schienen sich aufzulösen wie sein Denken. Er legte sich in das feuchte Bett, das nach Eisenbahnrauch roch. Er vermochte nicht liegen zu bleiben. Der Gedanke an die Gefahren, denen Anna ausgesetzt war, beschäftigte ihn zu sehr, als daß er Zeit gefunden hätte, noch an seine eigenen Qualen zu denken. Es galt, die öffentliche Bosheit hinters Licht zu führen, sie auf falsche Spur zu leiten. In seinem Fieber kam er auf einen sonderbaren Gedanken: er erfand einen Brief an einen der wenigen Musiker, mit dem er in der Stadt einigen Umgang gehabt hatte, an Krebs, den Organisten-Konditor. Er ließ durchblicken, daß eine Herzensangelegenheit ihn nach Italien zöge, daß er unter dieser Leidenschaft schon gelitten habe, als er zu Braun gekommen sei, daß er versucht hätte, sie dort loszuwerden, daß sie aber stärker als er gewesen sei. Alles dies drückte er so klar aus, daß Krebs es verstehen konnte, und doch auch wieder so verschleiert, daß er nach eigenem Ermessen etwas hinzufügen konnte. Christof bat Krebs, das Geheimnis für sich zu bewahren. Er wußte, daß der brave Mann geschwätzig war, und zählte – mit Recht – darauf, daß Krebs, sobald er die Nachricht empfangen hatte, sie durch die ganze Stadt verbreiten würde. Um die Meinungen völlig irre zu leiten, schloß Christof seinen Brief mit einigen sehr kühlen Worten über Braun und Annas Krankheit.

Den Rest der Nacht und den folgenden Tag war er ganz durchdrungen von der fixen Idee: Anna ... Anna ... Er durchlebte noch einmal mit ihr Tag für Tag die letzten Monate; er sah sie nicht mehr, wie sie war, er umgab sie mit einem von der Leidenschaft gewebten Zauberschein. Immer hatte er sie nach seinem Wunsch geschaffen, hatte ihr eine seelische Größe, ein tragisches Gewissen angedichtet, dessen er bedurfte, um sie noch mehr zu lieben. Diese Lüge der Leidenschaft trat jetzt doppelt sicher auf, da Annas Gegenwart sie nicht mehr richtigstellte. Er sah eine gesunde und freie, aber unterdrückte Natur, die sich gegen ihre Ketten wehrte, die ein offnes, weites Leben im vollen Licht der Seele ersehnte, und die dann, von Furcht erfaßt, ihre Träume bekämpfte, weil sich die mit ihrem Schicksal nicht in Einklang bringen ließen und es noch schmerzlicher gestalteten. Sie schrie ihm zu:

»Zu Hilfe!«

Er sah wieder ihren schönen Körper vor sich und umarmte sie. Seine Erinnerungen folterten ihn. Er fand ein mörderisches Vergnügen daran, seine Wunden aufzureißen. Je weiter der Tag vorrückte, um so unerträglicher wurde das Gefühl von allem, was er verloren hatte, bis er es nicht mehr ertragen konnte.

Ohne zu wissen, was er tat, stand er auf, ging hinunter, bezahlte und nahm den ersten Zug, der in Annas Stadt zurückführte. Er kam mitten in der Nacht an; er ging geraden Wegs nach dem Hause. Eine Mauer trennte das Gäßchen von dem Nachbargarten Brauns. Christof erkletterte die Mauer, sprang in den fremden Garten und drang von dort aus in Brauns Garten ein. Er stand vor dem Hause. Alles war dunkel, außer dem Schimmer eines Nachtlichtes, das mit ockerfarbenem Scheine ein Fenster färbte, – Annas Fenster. Dort war Anna. Dort litt sie. Er brauchte nur noch einen Schritt zu tun, um einzutreten. Schon streckte er die Hand nach der Türklinke aus, – da sah er seine Hand an, die Türe, den Garten; plötzlich wurde ihm seine Tat bewußt; er erwachte aus der Fieberfantasie, die ihn seit sieben oder acht Stunden in Bann hielt, er schauderte und entriß sich mit einem Ruck der Macht, die seine Füße unbeweglich an den Boden fesselte; er lief zur Mauer, kletterte wieder zurück und entfloh.

In derselben Nacht verließ er die Stadt zum zweiten Male; und am nächsten Morgen vergrub er sich bei Schneegestöber in ein Gebirgsdorf. – Sein Herz begraben, sein Denken einschläfern, vergessen, vergessen ...

– »E però leva su, vinci l'ambascia
con l'animo che vince ogni battaglia,
se col suo grave corpo non s'accascia.«

Leva' mi allor, mostrandomi fornito
meglio di lena ch'io non mi sentia;
e dissi: »Va, ch'io son forte ed ardito.«<
/H6>

Inf. XXIV.

 

Mein Gott, was habe ich dir getan? Warum drückst du mich so zu Boden? Von Kindheit an war Elend und Kampf mein Los. Ich habe gekämpft, ohne zu klagen. Ich habe mein Elend geliebt. Ich habe versucht, die Seele, die du mir gegeben hast, rein zu bewahren, das Feuer, das du in mich gelegt hast, zu erhalten ... Herr, du, du selber tust alles, um zu zerstören, was du geschaffen hast. Du hast dies Feuer erstickt, du hast diese Seele besudelt, du hast mir alles genommen, was mein Leben ausmachte. Ich besaß zwei einzige Schätze in der Welt: meinen Freund und meine Seele. Ich habe nichts mehr, du hast mir alles genommen. Ein einziges Wesen war mein in der Wüste der Welt, du hast es von mir genommen. Unsere Herzen waren eines, du hast sie auseinandergerissen. Du hast uns die Wonne, beieinander zu sein, nur kennen gelehrt, um uns um so schrecklicher fühlen zu lassen, daß wir einander verloren haben. Du hast rings um mich und in mich eine Leere gegraben. Ich war gebrochen, krank, willenlos, waffenlos, gleich einem Kinde, das in der Nacht weint. Du hast diese Stunde gewählt, um mich zu schlagen. Du hast mich mit leisen Schritten meuchlings überfallen wie ein Verräter und hast mich umgebracht. Du hast deinen wilden Hund, die Leidenschaft, auf mich losgelassen; ich war ohne Kraft, das wußtest du, und ich konnte nicht kämpfen; die Leidenschaft hat mich zu Boden geworfen, sie hat mich ausgeplündert, hat alles beschmutzt, alles zerstört ... Ich ekle mich vor mir selbst. Könnte ich wenigstens meine Schmach und meinen Schmerz hinausschreien oder sie in dahinströmender, schaffender Kraft vergessen! Aber meine Kraft ist gebrochen, mein Schöpfertum verdorrt ... Ich bin ein toter Baum ... Könnte ich sterben! O Gott, erlöse mich, brich diesen Körper und diese Seele, entreiße mich der Erde, lasse mich nicht zuckend im Grabe liegen, verlängere meinen Todeskampf nicht ins Endlose! Ich flehe um Erbarmen ... Vollende dein Werk an mir!

 

So rief Christofs Schmerz nach einem Gott, an den seine Vernunft nicht glaubte.

Er hatte sich in ein einsames Bauerngehöft im Schweizer Jura geflüchtet. Das Haus, das am Rande eines Gehölzes stand, war in der Niederung einer kuppenreichen Hochebene verborgen. Bodenschwellungen bewahrten es vor den Nordwinden. Vor ihm lagen abfallende Wiesen und tiefe, bewaldete Abhänge; der Felsen hörte plötzlich auf und fiel steil ab; verkrüppelte Tannen klammerten sich am Abgrund an; breitästige Buchen bogen sich nach rückwärts. Der Himmel war erloschen, das Leben entschwunden. Eine wesenlose Weite mit verwischten Linien.

Alles schlief unter dem Schnee. Nur die Füchse bellten nachts im Wald. Es war gegen Ende des Winters. Ein später, endloser Winter. Jedesmal, wenn er zu Ende zu gehen schien, fing er immer noch einmal an.

Doch seit einer Woche fühlte die alte erstarrte Erde ihr Herz wieder neu erstehen. Ein erster Scheinfrühling durchdrang die Luft und die erstarrte Rinde. Von den Buchenzweigen, die wie schwebende Flügel ausgespannt waren, tropfte der Schnee. Unter dem weißen Mantel, der die Felder bedeckte, lugten schon einige zartgrüne Grashalme hervor; rings um ihre feinen Spitzen atmete der feuchte schwarze Boden durch die Schneelöcher wie durch kleine Münder. Ein paar Stunden am Tage murmelten wieder die Stimmen des in ihrem Eiskleide erstarrten Wassers. In dem Gerippe der Bäume pfiffen einige Vögel helle, gellende Lieder.

Christof sah nichts von alledem. Ihm war alles gleich. Unaufhörlich ging er in seinem Zimmer auf und ab, oder er wanderte draußen umher. Unmöglich, ruhig zu bleiben. Seine Seele wurde von inneren Dämonen hin- und hergezerrt. Sie zerrissen sich untereinander. Die zurückgedrängte Leidenschaft schlug immer noch wütend an die Wände des Hauses. Der Ekel vor der Leidenschaft war nicht minder heftig; sie hatten einander an der Kehle gepackt und zogen das Herz mit in ihren Kampf. Gleichzeitig verlangte die Erinnerung an Olivier ihr Recht, die Verzweiflung über seinen Tod, der glühende Wunsch, etwas zu schaffen, der nicht befriedigt wurde, der Stolz, der sich vor dem Abgrund des Nichtseins bäumte. Alle Teufel hatten von ihm Besitz ergriffen. Kein Augenblick des Aufatmens. Und wenn eine scheinbare Ruhe eintrat, wenn die aufgepeitschten Fluten einen Augenblick zurücksanken und er sich wieder allein gegenüber stand, fand er nichts mehr von seinem Ich: Denken, Liebe, Willen, alles war vernichtet.

Schaffen! das war die einzige Rettung. Das Wrack seines Lebens den Fluten überlassen! Sich schwimmend in den Traum der Kunst retten! ... Schaffen! ... Er wollte es ... Er konnte es nicht mehr.

Christof hatte niemals eine Arbeitsmethode gehabt. Als er stark und gesund war, hatte ihn eher der Überfluß bedrängt, als die Besorgnis, daß er versiegen könne; er folgte seinen Launen: er arbeitete, wie es ihm einfiel, wie es ihm die zufälligen Umstände eingaben, ohne irgend welche feste Regeln. Eigentlich arbeitete er überall, in jedem Augenblick; sein Gehirn war fortwährend beschäftigt. Manchmal hatte ihn Olivier, der weniger reich und überlegter war, gewarnt:

»Nimm dich in acht. Du verläßt dich allzu sehr auf deine Kraft. Sie ist ein Sturzbach. Heute wasserreich, morgen vielleicht ausgetrocknet. Ein Künstler muß sein Talent einfangen; es erlaubt ihm nicht, sich nach Belieben zu verzetteln. Weise deiner Kraft einen Weg, zwinge dich zur Gewohnheit, zu einer Hygiene der täglichen Arbeit, zu bestimmten Stunden. Sie ist dem Künstler ebenso notwendig, wie die Gewohnheit der militärischen Griffe und Schritte dem Menschen, der kämpfen soll. Kommen dann kritische Augenblicke (und sie kommen immer), so bewahrt diese Eisenrüstung die Seele vor dem Umsinken. Ich weiß das sehr wohl. Wenn ich nicht gestorben bin, so hat nur sie mich gerettet.«

Christof aber lachte und sagte:

»Das mag gut für dich sein, mein Junge! Bei mir ist keine Gefahr, daß ich jemals den Geschmack am Leben verliere. Ich habe einen zu gesunden Appetit.«

Olivier zuckte die Achseln:

»Ein Zuviel hat oft ein Zuwenig zur Folge. Die allzu Gesunden erkranken am schlimmsten.«

Jetzt wurde Oliviers Wort zur Wahrheit. Nach dem Tode des Freundes war die Quelle inneren Lebens nicht sogleich versiegt. Aber sie war seltsam unregelmäßig geworden. Sie brach plötzlich hervor, hörte auf und verlief dann unter der Erde. Christof achtete nicht darauf. Was lag ihm daran? Sein Schmerz und die aufkeimende Leidenschaft nahmen sein Denken ganz in Anspruch. – Nachdem aber der Sturm vorüber war und er den Quell wieder suchte, um daraus zu trinken, fand er nichts mehr. Wüste. Nicht ein Wasserrinnsal. Die Seele war ausgedörrt. Es war vergeblich, daß er den Sand ausgraben, aus den unterirdischen Gewässern den Quell emporsprudeln lassen, um jeden Preis schaffen wollte; – die geistige Maschine verweigerte den Gehorsam. Er konnte die Gewohnheit, die treue Verbündete nicht zu Hilfe rufen, die, wenn jeder Lebenszweck uns flieht, hartnäckig und beständig allein bei uns bleibt, kein Wort sagt, keine Bewegung macht, uns mit unbeweglichen Augen und Lippen, aber mit sehr sicherer, niemals zitternder Hand durch den gefährlichen Engpaß führt, bis das Tageslicht und die Lebenslust wieder zum Vorschein kommen. Christof war hilflos; und seine Hand begegnete keiner Hand in der Nacht. Er konnte nicht mehr zum Tageslicht zurückgelangen. Das war die schwerste Prüfung. Da fühlte er sich an der Grenze des Wahnsinns. Manchmal hatte er sinnlose und verrückte Kämpfe gegen sein Hirn zu bestehen, war von irgend einer Manie besessen, zum Beispiel einem Zahlenwahnsinn: er zählte die Dielen des Parketts, die Bäume im Walde; Noten und Akkorde, über die seine Vernunft nicht frei verfügte, lieferten einander in seinem Kopfe geordnete Schlachten. Dann wieder überkam ihn ein Zustand vollständiger Erschöpfung, in dem er wie ein Toter dalag.

Niemand kümmerte sich um ihn. Er bewohnte einen abseits liegenden Flügel des Hauses. Er machte sich sein Zimmer selbst; doch machte er es nicht alle Tage. Man stellte ihm unten sein Essen hin; er sah kein menschliches Gesicht. Sein Wirt, ein alter, schweigsamer und selbstsüchtiger Bauer, interessierte sich nicht für ihn. Ob Christof aß oder nicht aß, war seine eigene Angelegenheit. Kaum achtete man darauf, ob Christof abends heimgekehrt war. Einmal hatte er sich im Walde verlaufen und steckte bis zu den Schenkeln im Schnee. Es fehlte wenig, und er wäre nicht wiedergekehrt. Er suchte sich totmüde zu laufen, um nicht denken zu müssen. Es gelang ihm nicht; nur ab und zu fand er vor Erschöpfung ein paar Stunden Schlafes.

Ein einziges lebendes Geschöpf schien sich um sein Dasein zu kümmern: ein alter Bernhardinerhund, der seinen dicken Kopf mit den blutgeränderten Augen auf Christofs Kniee legte, wenn er auf der Bank vor dem Hause saß. Sie sahen sich lange an. Christof stieß ihn nicht zurück. Diese Augen beunruhigten ihn nicht, wie den kränklichen Goethe. Er hatte nicht Lust, ihm gleich jenem zuzurufen:

»Stelle dich, wie du willst, Larve, mich sollst du doch nicht unterkriegen!«

Er wünschte sich nichts Besseres, als sich von diesen bittenden und müden Augen einfangen zu lassen, ihnen zu helfen; er fühlte eine gefangene Seele in ihnen, die ihn anflehte.

In dieser Zeit, in der er im Leid versank, in der er lebend vom Leben losgerissen durch die menschliche Selbstsucht verstümmelt war, sah er plötzlich die Opfer des Menschen, sah das Schlachtfeld, auf dem der Mensch Meister ist im Hinschlachten der anderen Geschöpfe; und sein Herz war von Mitleid und Entsetzen erfüllt. Selbst zur Zeit, da er glücklich war, hatte er immer die Tiere geliebt; er konnte keine Grausamkeit gegen sie vertragen; er empfand einen Widerwillen gegen die Jagd, den er aus Furcht vor der Lächerlichkeit nicht auszusprechen wagte; vielleicht wagte er ihn sich selbst nicht einzugestehen; aber dieser Widerwille war die geheime Ursache von der scheinbar unerklärlichen Fremdheit, die er manchen Männern gegenüber empfand; niemals hätte er einen Menschen zum Freund haben können, der rein aus Vergnügen ein Tier tötete. Darin lag keinerlei Sentimentalität: er wußte besser als irgendwer, daß das Leben auf einer Unsumme von Leid und endloser Grausamkeit beruht; man kann nicht leben, ohne Leid zuzufügen. Es nützt nichts, die Augen zu schließen und sich mit Worten schadlos zu halten. Es nützt ebensowenig, den Schluß zu ziehen, daß man auf das Leben verzichten müsse, und wie ein Kind zu greinen. Nein. Wenn man für den Augenblick kein anderes Mittel zum Leben weiß, so muß man töten, um zu leben. Aber wer tötet, um zu töten, ist ein Schurke. Unbewußt ein Schurke, ich weiß wohl. Dennoch ein Schurke. Das beständige Streben des Menschen muß darauf gerichtet sein, die Summe des Leids und der Grausamkeit zu verringern; das ist die erste menschliche Pflicht.

Solche Gedanken blieben im gewöhnlichen Leben in Christofs Herzen begraben. Er wollte nicht an sie denken. Wozu? Was konnte er damit ausrichten? Er hatte Christof zu sein, er hatte sein Werk zu vollenden, mußte um jeden Preis leben, auf Kosten Schwächerer leben ... Er hatte das Weltall nicht geschaffen ... Nicht daran denken, nicht daran denken ...

Nachdem aber das Unglück auch ihn in die Reihe der Besiegten gedrängt hatte, mußte er wohl oder übel daran denken. Früher hatte er Olivier getadelt, wenn er sich in die nutzlose Reue und das zwecklose Mitgefühl für alles Unglück, das die Menschen leiden und anstiften, vertiefte. Jetzt ging er sogar noch weiter als Olivier. Mit der Heftigkeit seiner mächtigen Natur ging er der Tragödie des Weltalls auf den Grund: er litt alle Leiden der Welt, er war wie ein Geschundener. Er konnte an die Tiere nicht mehr ohne ein Gefühl der Angst denken. Er las in den Blicken der Tiere, er sah in ihnen eine Seele gleich der seinen, eine Seele, die nicht reden konnte, deren Augen aber klagten:

»Was habe ich euch getan, warum tut ihr mir weh?«

Das alltäglichste Schauspiel, das er hundertmal gesehen hatte, – ein Kälbchen, das in einer Sparrenkiste eingeschlossen jammerte; seine großen, vorstehenden, schwarzen Augen mit dem bläulichen Weiß, seine rosigen Lider, seine weißen Wimpern, seine krausen, weißen Büschel auf der Stirn, seine bläuliche Schnauze, seine einwärts gebogenen Kniee; – ein Lamm, das ein Bauer an den vier zusammengebundenen Beinen, mit hängendem Kopf, forttrug, das versuchte, sich aufzurichten, wie ein Kind stöhnte, blökte und seine graue Zunge heraushängen ließ; – Hühner, die in einem Korbe zusammengepfercht waren; – in der Ferne das laute Schreien eines Schweines, das man schlachtete; – auf dem Küchentisch ein Fisch, den man ausnahm ... alles das konnte er nicht mehr ertragen. Die namenlosen Qualen, die der Mensch diesen Unschuldigen auferlegt, schnürten ihm das Herz zusammen. Man stelle sich bei dem Tier nur einen Schimmer von Vernunft vor und mache sich klar, welch fürchterlicher Traum die Welt dann für es ist: die gleichgültigen, blinden und tauben Menschen, die es erwürgen, ihm den Bauch aufschlitzen, ihm die Gedärme herausziehen, es in Stücke zerschneiden, es lebend kochen, sich manchmal daran ergötzen, daß es sich in Schmerzen windet! Gibt es unter den Menschenfressern Afrikas etwas Schrecklicheres? Das Leiden der Tiere hat für ein freies Bewußtsein etwas noch Unerträglicheres als das Leiden der Menschen. Denn dieses wird wenigstens als etwas Böses angesehen, und der es begeht, als Verbrecher. Aber Tausende von Tieren werden ohne einen Schatten von Reue täglich nutzlos hingemordet. Wer sich darüber aufhält, macht sich lächerlich. – Das aber ist das Unverzeihliche. Dies Verbrechen allein rechtfertigt alles, was der Mensch leidet. Es schreit nach Rache gegen die Gattung Mensch. Lebt ein Gott und duldet er es, so schreit es Rache gegen Gott. Lebt ein guter Gott, so müßte die niedrigste lebendige Seele erlöst werden. Ist Gott nur gut zu den Stärksten, leuchtet seine Gerechtigkeit nicht über den Elenden, über den Geringen, die der Menschheit geopfert werden, so gibt es keine Güte, keine Gerechtigkeit! ...

Ach! leider ist das vom Menschen verübte Gemetzel gering gegenüber dem allgemeinen Morden des Weltalls! Die Tiere fressen einander auf. Die friedlichen Pflanzen, die stummen Bäume sind wilde Tiere untereinander. Heiterkeit der Wälder, – schönrednerischer Gemeinplatz für Literaten, die die Natur nur durch ihre Bücher kennen! ... In dem nahen Walde, wenige Schritte vom Hause entfernt, werden erschreckende Kämpfe ausgefochten. Die mörderischen Buchen werfen sich auf die schönen, rosigen Körper der Tannen, umschlingen ihre schlanken, antiken Säulen und ersticken sie. Sie werfen sich über die Eichen, zerbrechen sie, machen sich Stützen aus ihnen. Die hundertarmigen Buchen, von denen eine so stark wie zehn Bäume ist, säen den Tod rings um sich her. Und wenn sie keinen Feind vor sich haben und sich untereinander begegnen, kommen sie in ein wütendes Gemenge, durchdolchen sich, wachsen zusammen, umwinden sich wie vorsintflutliche Ungeheuer. Tiefer im Wald, an der Lichtung sind die Akazien auf den Platz herausgetreten, haben die Tannenwaldungen angegriffen, umspannen und packen die Wurzeln des Feindes, vergiften sie mit ihren Säften. Kampf auf Leben und Tod, in dem der Sieger sich des Platzes und zugleich der Überreste des Besiegten bemächtigt. Dann kommen die kleinen Ungeheuer und vollenden das Werk der großen! Die Pilze drängen sich zwischen die Wurzeln, saugen an dem kranken Baum, bis er nach und nach ausgehöhlt ist. Die schwarzen Ameisen zerfressen das faulende Holz. Millionen unsichtbarer Insekten zernagen, zerstechen, zerreiben zu Staub, was einmal Leben war ... Und in aller Stille gehen diese Kämpfe vor sich ... O Frieden der Natur, tragische Maske, die das schmerzvolle und grausame Gesicht des Lebens bedeckt!

 

Mit Christof ging es rasend abwärts. Aber er war nicht der Mensch, der sich kampflos mit untätigen Armen ertränken ließ. Wenn er auch noch so gern sterben wollte, so tat er doch alles, um zu leben. Er gehörte zu denen, die, wie Mozart sagte, »sich betätigen wollen, bis es schließlich keine Möglichkeit mehr gibt, etwas zu tun.« Er fühlte, wie er unterging, und suchte, während er nach rechts und links um sich schlug, mit den Armen einen Anhaltspunkt. Er meinte, ihn gefunden zu haben. Er erinnerte sich an Oliviers kleines Kind. Sofort übertrug er auf dieses seinen ganzen Lebenswillen. Er klammerte sich daran. Ja, er mußte es aufsuchen, es zurückfordern, es erziehen, es lieben, die Stelle das Vaters übernehmen, Olivier in seinem Sohn fortleben lassen. Wie hatte er in seinem selbsüchtigen Schmerz daran nicht denken können? Er schrieb an Cécile, die die Obhut über das Kind hatte. Er wartete fieberhaft auf Antwort. Sein ganzes Sein spannte sich diesem einen Gedanken entgegen. Er zwang sich zur Ruhe; ein Hoffnungsstrahl blieb ihm. Er hatte Vertrauen, er kannte Céciles Güte.

Die Antwort kam. Cécile schrieb, daß drei Monate nach Oliviers Tode eine Dame in Trauer zu ihr gekommen sei und ihr gesagt habe:

»Geben Sie mir mein Kind zurück.«

Es war sie, die einst ihr Kind und Olivier verlassen hatte, – Jacqueline; sie war aber so verändert, daß man sie kaum wiedererkannte. Ihr Liebeswahn hatte nicht lange gedauert. Sie war des Geliebten noch schneller überdrüssig geworden, als der Geliebte ihrer. Gebrochen, angeekelt, gealtert, war sie zurückgekehrt. Der allzu laute Skandal über ihr Abenteuer hatte ihr viele Türen verschlossen. Die Gewissenlosesten waren nicht die Nachsichtigsten. Ihre eigene Mutter hatte ihr eine so beleidigende Verachtung gezeigt, daß Jacqueline nicht bei ihr bleiben konnte. Sie hatte die Heuchelei der Welt bis auf den Grund kennen gelernt. Oliviers Tod hatte sie vollends zu Boden geschmettert. Sie schien so schmerzerfüllt, daß Cécile sich nicht das Recht zugestand, ihr, was sie forderte, zu verweigern. Wohl war es hart, ein kleines Geschöpf wieder herzugeben, das man sich schon gewöhnt hatte als sein eigenes zu betrachten. Wie aber sollte man noch härter gegen jemanden sein, der mehr Rechte als man selbst hat und unglücklicher ist? Sie hatte an Christof schreiben und ihn um Rat fragen wollen. Christof aber hatte niemals auf die Briefe, die sie an ihn richtete, geantwortet; sie wußte seine Adresse nicht, sie wußte nicht einmal, ob er lebte oder tot war ... Die Freude kommt und geht. Was tun? Verzichten. Die Hauptsache war, daß das Kind glücklich wurde und geliebt ...

Der Brief kam am Abend an. Ein verspäteter Winter hatte Schnee mit sich gebracht. Während der ganzen Nacht war er niedergefallen. Die Bäume im Walde, die schon junge Blätter angesetzt hatten, krachten und zerbrachen unter der Schneelast. Es war wie eine Artillerieschlacht. Christof saß ohne Licht in seinem Zimmer, in der schneedurchhellten Finsternis, lauschte dem Wald, der Unheil zu künden schien, und fuhr bei jedem Krachen in die Höhe; er glich einem dieser Bäume, die sich krachend unter der Bürde neigen. Er sagte sich:

»Jetzt ist alles zu Ende.«

Die Nacht verging, der Tag brach an; der Baum war nicht gebrochen. Den ganzen neuen Tag hindurch, die folgende Nacht und die Tage und die Nächte nachher bog sich der Baum weiter und krachte; aber er brach nicht. Christof hatte keinerlei Lebenszweck mehr; und er lebte. Er hatte keinerlei Grund zum Kämpfen mehr; und er kämpfte, Fuß an Fuß, Leib an Leib mit dem unsichtbaren Feinde, der ihm das Rückgrat zerbrechen wollte, wie Jakob mit dem Engel. Er erwartete von dem Kampfe nichts mehr, er erwartete nur noch das Ende, die Ruhe; aber er kämpfte immer weiter und schrie:

»So zerbrich mich doch! Warum zerbrichst du mich nicht?«

 

Die Tage verstrichen. Christof ging ohne alle Lebenskraft aus ihnen hervor. Doch hielt er sich mit Gewalt noch weiter aufrecht, er ging aus, er wanderte. Glücklich die, denen eine gesunde Natur in den Finsternissen ihres Lebens als Stütze dient! Die Beine des Vaters und des Großvaters trugen den Körper des Sohnes, der nahe am Zusammenbrechen war: die Kraft der starken Ahnen trug die zerbrochene Seele wie den toten Ritter sein Pferd.

Er schritt auf einem Gratweg zwischen zwei Schluchten; er ging den schmalen, steinigen Fußweg hinab, zwischen dessen spitzen Kieseln sich die knotigen Wurzeln verkrüppelter kleiner Eichen hinschlängelten; er ging, ohne zu wissen wohin und war seines Weges sicherer, als wenn ein klarer Wille ihn geführt hätte. Er hatte nicht geschlafen; seit mehreren Tagen hatte er kaum etwas gegessen. Nebel lag vor seinen Augen. Er stieg ins Tal hinab. – Es war die Woche vor Ostern. Ein grauer Tag. Der letzte Ansturm des Winters war besiegt. Überall war warmer Frühling. Aus den unteren Dörfern klangen die Glocken empor. Zuerst aus dem einen, das mit seinen schwarzen und gelben, buntscheckigen Hüttendächern, die wie mit Samt von dichtem Moos bedeckt waren, wie ein Nest in einer Höhlung zu Füßen des Berges lag. Dann aus einem anderen, unsichtbaren, das auf dem anderen Bergabhange lag. Dann aus noch anderen in der Ebene am jenseitigen Ufer des Flusses. Und von weither aus einer Stadt das Gesumme, das sich im Nebel verlor. Christof stand still. Sein Herz war nahe am Vergehen. Jene Stimmen schienen ihm zuzurufen:

»Komm zu uns. Hier ist der Frieden. Hier ist der Schmerz entschlafen. Entschlafen mit dem Denken. Wir wiegen die Seele so gut, daß sie in unseren Armen entschlummert. Komm, ruhe dich aus, du wirst nicht mehr erwachen.«

Wie müde er sich fühlte! Wie gern er geschlafen hätte! Aber er schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich suche nicht den Frieden, ich suche das Leben.«

Er machte sich wieder auf den Weg. Er lief meilenweit, ohne es zu bemerken. In seiner überreizten Schwäche steigerten sich ihm die einfachsten Eindrücke zu unerwarteter Heftigkeit. Sein Denken warf über alles ringsumher auf der Erde und in der Luft einen fantastischen Schein. Ein Schütten, der auf dem weißen und sonnigen öden Wege vor ihm herlief, ohne daß er seine Ursache kannte, ließ ihn zusammenfahren.

Beim Heraustreten aus einem Gehölz befand er sich in der Nähe eines Dorfes. Er schlug einen anderen Weg ein: der Anblick der Menschen tat ihm weh. Doch konnte er ein einsames Haus nicht vermeiden, das oberhalb des Fleckens lag; es stand an den Bergrücken gelehnt und sah wie ein Sanatorium aus: ein großer, sonniger Garten umgab es; ein paar Wesen irrten mit unsicheren Schritten durch die sandbestreuten Wege. Christof beachtete sie nicht; aber bei einer Pfadbiegung stand er einem Mann mit blassen Augen, aufgeschwemmtem und gelbem Gesicht gegenüber, der zusammengesunken auf einer Bank, am Fuße zweier Pappeln saß und vor sich hinstarrte. Ein anderer Mann saß neben ihm; sie schwiegen beide. Christof ging an ihnen vorüber. Aber schon nach wenigen Schritten stand er still: diese Augen waren ihm bekannt. Er wandte sich um. Der Mann hatte sich nicht gerührt; er starrte weiter bewegungslos auf einen Gegenstand vor sich. Aber sein Begleiter erblickte Christof, der ihm ein Zeichen machte. Er kam heran.

»Wer ist das?« fragte Christof.

»Ein Kranker der Heilanstalt,« sagte der Mann, indem er auf das Gebäude zeigte.

»Ich glaube, ich kenne ihn,« sagte Christof.

»Das ist möglich,« sagte der andere. »Er war ein sehr bekannter Schriftsteller in Deutschland.«

Christof nannte einen Namen. – Ja, er war es. – Er hatte ihn früher einmal gesehen, zu der Zeit, als er für Mannheims Zeitschrift schrieb. Damals waren sie Feinde gewesen; Christof fing damals erst an, und der andre war schon berühmt. Er war der kräftigste, selbsicherste Mensch, der alles, was nicht ihn betraf, unendlich verachtete, ein Romanschriftsteller, dessen realistische und sinnliche Kunst die Mittelmäßigkeit der marktgängigen Literaten überragte. Christof, der ihn verabscheute, konnte nicht umhin, die Vollendung dieser materiellen, aufrichtigen und beschränkten Kunst zu bewundern.

»Vor einem Jahr hat es ihn befallen,« sagte der Wärter. »Man hat ihn gepflegt, man hielt ihn für geheilt, und er kehrte nach Hause zurück. Dann ist er wiedergekommen. Eines Abends hat er sich aus dem Fenster gestürzt. In der ersten Zeit hier war er aufgeregt und schrie. Jetzt ist er recht ruhig. Er verbringt seine Tage so, wie Sie ihn da sitzen sehen.«

»Was betrachtet er denn?« fragte Christof.

Er ging näher an die Bank heran. Voller Mitleid sah er das fahle Gesicht des Besiegten, seine schweren, über die Augen fallenden Lider; das eine Auge war fast geschlossen. Der Geisteskranke schien nicht zu bemerken, daß Christof da war. Christof nannte ihn beim Namen, nahm seine Hand, – eine weiche, feuchte Hand, die man wie ein totes Ding nehmen konnte; er hatte nicht das Herz, sie in seinen Händen zu behalten; der Mann schlug eine Sekunde lang seine Augen zu Christof auf, so daß nur das Weiße zu sehen war; dann starrte er wieder mit seinem kindischen Lächeln vor sich hin. Christof fragte:

»Was betrachten Sie da?«

Ohne sich zu regen, antwortete der Mann halblaut:

»Ich warte.«

»Worauf?«

»Auf die Auferstehung.«

Christof fuhr zusammen. Eilig ging er fort. Das Wort hatte ihn wie ein Feuerstrahl getroffen.

Er lief tiefer in den Wald ein und stieg die Abhänge in der Richtung zu seinem Hause wieder empor. In seiner Verwirrung verlor er den Weg; er war mitten in großen Tannenwaldungen. Schatten und Stille. Ein paar rötlich gelbe Sonnenflecke fielen, wer weiß woher, in das undurchdringliche Dunkel. Christof war von diesen Lichtstellen wie gebannt. Ringsumher schien alles Nacht. Er ging auf dem Nadelteppich und stieß gegen die Wurzeln, die wie geschwollene Adern hervorstanden. Zu Füßen der Bäume weder Pflanzen noch Moos. In den Zweigen kein Vogelsang. Die unteren Äste waren abgestorben. Alles Leben hatte sich nach oben geflüchtet, wo die Sonne war. Bald erlosch auch dieses Leben. Christof kam in einen Waldteil, der von einer geheimnisvollen Krankheit befallen war. Eine Art von langen und feinen Flechten, die wie Spinnengewebe aussahen, umspannten die Zweige der roten Tannen mit ihrem Netz, fesselten sie von den Füßen bis zum Kopf, schlangen sich von einem Baum zum andern und erstickten den Wald. Man hätte sie für Meeresalgen mit tückischen Fühlern halten können. Auch das Schweigen der Meerestiefe herrschte. Oben wurde das Sonnenlicht blasser. Nebel, die sich hinterlistig in den toten Wald geschlichen hatten, umzingelten Christof. Alles verschwand; nichts mehr war da. Während einer halben Stunde irrte Christof aufs Geratewohl in dem Netz des weißen Nebels hin und her, der sich nach und nach verdichtete, schwärzer wurde und ihm in die Kehle drang. Er meinte, geradeaus zu gehen und ging doch, unter dem gigantischen Spinnengewebe, das von den erstickten Tannen herabhing, im Kreise herum; der Nebel ließ beim Vorüberstreichen zitternde Tropfen an ihnen hängen. Endlich lockerten sich die Maschen, eine Lücke entstand, und es gelang Christof, aus dem Tiefseewald herauszukommen. Er fand wieder lebendige Gehölze und den schweigenden Kampf der Tannen und Buchen. Doch überall herrschte dieselbe Reglosigkeit. Die Stille, die seit Stunden brütete, beängstigte ihn. Christof stand stille, um zu lauschen ...

Plötzlich vernahm er in der Ferne ein Heulen, das näher kam. Ein Windstoß erhob sich aus der Tiefe des Waldes. Wie ein galoppierendes Pferd raste er über die wogenden Baumwipfel dahin. So braust der Gott Michel Angelos im Sturmwind vorüber. Er fuhr über Christofs Haupt dahin. Der Wald und Christofs Herz erschauerten. Das war der Verkündiger ... Wieder wurde es still. Christof war wie von heiligem Schrecken erfaßt; mit schlotternden Beinen kehrte er eilig heim. Auf der Schwelle des Hauses warf er wie ein Verfolgter einen unruhigen Blick hinter sich. Die Natur schien tot. Die Wälder, die die Abhänge des Gebirges bedeckten, schliefen wie bedrückt von einer lastenden Traurigkeit. Die reglose Luft war von zauberhafter Durchsichtigkeit. Kein Laut. Nur die düstere Musik eines Sturzbaches – das Wasser, das am Felsen frißt – ertönte wie das Totengeläut der Erde. Christof legte sich mit Fieber zu Bett. Im nahen Stalle bewegten sich, unruhig wie er, die Tiere ...

Nacht. Er war eingeschlafen. Wieder erhob sich in der Stille das ferne Heulen. Der Wind kehrte zurück, diesmal als Orkan, als Frühlingsföhn, der mit seinem heißen Atem die fröstelnde, noch schlafende Erde erwärmt, als Föhn, der das Eis schmilzt und die fruchtbaren Regenwolken zusammentreibt. Er grollte gleich dem Donner in den Wäldern jenseits der Schlucht. Er kam näher, schwoll an und nahm die Abhänge im Sturmschritt. Durch das ganze Gebirge ging ein Brüllen. Im Stalle wieherte ein Pferd, die Kühe muhten. Christof saß mit gesträubten Haaren im Bett und lauschte. Der Sturm kam heran und heulte, daß die Fensterläden schlugen, die Wetterfahnen kreischten, Dachziegel abflogen, das Haus erzitterte. Ein Blumentopf fiel herab und zerbrach. Christofs schlecht geschlossenes Fenster sprang krachend auf, und der heiße Wind fuhr herein und drang Christof mitten ins Gesicht und auf seine nackte Brust. Er sprang mit offenem Mund aus dem Bett und rang nach Atem. Es war, als stürze sich in seine leere Seele der lebendige Gott. Die Auferstehung! ... Die Luft drang in seine Kehle, der Strom neuen Lebens drang in sein innerstes Wesen. Es war, als sollte er zerbersten. Er wollte schreien, vor Schmerz und Freude schreien: doch aus seinem Munde kamen nur unartikulierte Laute. Er schwankte; er stand zwischen Papieren, die der Gewittersturm umherwirbelte und schlug mit den Armen gegen die Wände. Mitten im Zimmer stürzte er hin und schrie:

»O du, du! Endlich bist du zurückgekehrt!«

 

»Du bist zurückgekehrt, bist zurückgekehrt! O du, den ich verloren hatte! ... Warum hast du mich verlassen?«

»Um mein Werk zu vollenden, das du preisgegeben hast!«

»Welches Werk?«

»Den Kampf.«

»Mußt du denn kämpfen? Bist du nicht Herr über alles?«

»Ich bin nicht Herr.«

»Bist du nicht alles, was ist?«

»Ich bin nicht alles, was ist. Ich bin das Leben, das das Nichts bekämpft. Ich bin nicht das Nichts. Ich bin das Feuer, das in der Nacht brennt. Ich bin nicht die Nacht. Ich bin der ewige Kampf; und über dem Kampf schwebt nicht ein ewiges Schicksal. Ich bin der freie Wille, der ewig kämpft. Kämpfe und brenne mit mir.«

»Ich bin besiegt. Ich bin zu nichts mehr gut.«

»Bist du besiegt, scheint dir alles verloren, – so werden andere Sieger sein. Denke nicht an dich, denke an deine Schar.«

»Ich bin allein. Ich habe nur mich, und ich habe keine Schar.«

»Du bist nicht allein, und du gehörst nicht dir selbst. Du bist eine meiner Stimmen, du bist einer meiner Arme. Rede für mich, strafe für mich. Doch wenn dein Arm zerbricht, deine Stimme versagt, so bleibe ich dennoch aufrecht; ich kämpfe mit Hilfe andrer Stimmen, andrer Arme als die deinen. Auch besiegt, bist du ein Teil der Schar, die niemals besiegt wird. Denke daran, und du wirst noch im Tode siegen.«

»Herr, ich leide so sehr!«

»Glaubst du, ich leide nicht auch? Seit Jahrtausenden schon liegt mir der Tod auf der Lauer, umspäht mich das Nichts. Nur mit siegreichen Schlägen bahne ich mir den Weg. Der Strom des Lebens ist rot von meinem Blut.«

»Kämpfen, immer kämpfen?«

»Es gilt immer zu kämpfen. Auch Gott kämpft. Gott ist ein Eroberer. Er ist ein reißender Löwe. Das Nichts kreist ihn ein; und Gott durchbricht es. Der Rhythmus des Kampfes schafft die Harmonie des Alls. Diese Harmonie ist nicht für deine sterblichen Ohren bestimmt. Genug, daß du weißt, sie ist da. Tue deine Pflicht in Frieden und überlasse das andere den Göttern.«

»Ich habe keine Kraft mehr.«

»Singe für die, die stark sind.«

»Meine Stimme ist gebrochen.«

»Bete.«

»Mein Herz ist beschmutzt.«

»Reiß es aus. Nimm das meine.«

»Herr, es bedeutet nichts, sich selbst zu vergessen, seine müde Seele von sich zu werfen. Aber kann ich meine Toten von mir werfen, kann ich, die ich liebe, vergessen?«

»Verlasse sie, die tot sind, verlasse auch deine tote Seele. Lebend wirst du sie mit meiner lebendigen Seele wiederfinden.«

»O du, der mich verlassen hat, wirst du mich nochmals verlassen?«

»Ich werde dich nochmals verlassen. Zweifle nicht daran. An dir ist es, mich nicht mehr zu lassen.«

»Aber wenn mein Leben erlischt?«

»Entzünde es in anderen.«

»Wenn der Tod in mir ist?«

»Das Leben ist anderwärts. Geh, öffne ihm deine Pforten. Tor, der du dich im zerstörten Hause verschließt! Geh aus dir hinaus. Es gibt andre Wohnstätten.«

»O Leben, o Leben, ich sehe ... Ich suchte dich in mir, in meiner leeren, verschlossenen Seele. Meine Seele zerbricht; durch die Fenster meiner Wunden strömt die Luft; ich atme wieder, ich finde dich wieder, o Leben! ...«

»Jetzt finde ich dich wieder ... Schweige und lausche.«

 

Und Christof vernahm, gleich einem Quellengemurmel, den Sang des Lebens, der wieder in ihn einströmte. Auf sein Fensterbrett gelehnt, sah er den Wald, der gestern noch tot war, der jetzt in Sonne und Wind aufwallte, aufgewühlt gleich dem Ozean. Über das Rückgrat der Bäume strichen gleich Freudenschauern die Wellen des Windes; und die gebeugten Zweige reckten ihre Arme wie in Begeisterung dem leuchtenden Himmel entgegen. Und der Wassersturz klang wie eine lachende Glocke. Die Landschaft, die gestern noch im Grabe lag, war auferstanden; das Leben war zur selben Zeit in sie zurückgekehrt wie die Liebe in Christofs Herz. Wunder der Seele, die, von der Gnade berührt, zum Leben erwacht! Alles erwacht rings um sie her. Das Herz beginnt von neuem zu schlagen. Das Auge des Geistes öffnet sich wieder. Die versiegten Bronnen beginnen wieder zu fließen.

Und Christof kehrte zurück in die göttliche Schlacht ... Wie klein wurden seine eigenen Kämpfe, die menschlichen Kämpfe, in diesem gigantischen Ringen, in dem es Sonnen regnet wie Schneeflocken, die der Sturmwind daherfegt ... Er hatte seine Seele abgestreift. Wie in den Träumen, in denen man im Raume schwebt, so schwebte er über sich selber, er sah sich aus der Höhe in dem Zusammenspiel der Dinge; und mit einem Blick offenbarte sich ihm der Sinn seines Strebens, der Wert seiner Leiden. Seine Kämpfe nahmen Teil an dem großen Weltenkampf. Sein Irrweg war die Episode eines Augenblickes, die sofort wieder ausgeglichen war. So wie er für alle stritt, stritten alle für ihn. Sie teilten seine Prüfungen. Er hatte Teil an ihrem Ruhm.

»Genossen, Feinde, geht über mich fort, zermalmt mich, daß ich fühle, wie über meinen Leib die Räder der siegreichen Kanonen rollen! Ich denke nicht an das Eisen, das mir das Fleisch durchfurcht; ich denke nicht an den Fuß, der mein Haupt zertritt, ich denke an meinen Rächer, an den Meister, an den Herrn des unermeßlichen Heeres. Mein Blut wird der Kitt sein seines künftigen Sieges ...«

Gott war für Christof nicht der fühllose Schöpfer, nicht Nero, der von seiner ehernen Höhe herab den Brand der Stadt betrachtet, den er selbst entzündet hat. Gott kämpfte, Gott litt. Mit allen denen, die kämpften und litten. Denn er war das Leben, der Tropfen Licht, der in das Dunkel gefallen, sich weitet und dehnt und die Nacht auftrinkt. Doch grenzenlos ist die Nacht und niemals ruht der göttliche Kampf; und niemand kann wissen, wie er einst enden wird. Heldische Symphonie, in der selbst die Dissonanzen, die aufeinander stoßen und miteinander verschmelzen, ein heiteres Konzert ergeben! Gleich dem Buchenwald, der in der Stille wütende Schlachten liefert, so führt das Leben Krieg, inmitten des ewigen Friedens. Diese Kämpfe, dieser Frieden fanden in Christof ein Echo. Er war wie eine Muschel, in der der Ozean rauscht. Heldengeschrei ertönte in ihm, Trompetenrufe, Stöße von Klängen, die von erhabenen Rhythmen geleitet wurden. Denn dieser klangreichen Seele offenbarte sich alles in Klängen. Das Licht sang in ihr, die Nacht sang in ihr, das Leben und der Tod. Seine Seele sang für die Sieger in der Schlacht; sie sang für ihn selbst, den Besiegten und Niedergeschmetterten. Sie sang. Alles war Sang. Sie war ein einziger Sang.

Ihr Rausch war so groß, daß sie sich selbst nicht singen hörte. Gleich dem Frühlingsregen ergossen sich die Sturzbäche der Musik in den durch den Winter geborstenen Boden. Schmach, Kummer, Bitterkeit offenbarten jetzt ihre geheimnisvolle Mission: sie hatten die Erde durchackert und hatten sie fruchtbar gemacht; die Pflugschar des Schmerzes hatte sein Herz durchfurcht und neue Lebensquellen erschlossen. Die Steppe blühte wieder auf. Aber es waren nicht mehr die Blüten des vorigen Frühlings; eine neue Seele war geboren.

In jedem Augenblick gebar sie sich neu. Denn sie war noch nicht verknöchert und geformt wie die Seelen sind, die das Ende ihres Wachstums erreicht haben, die Seelen, die sterben werden. Sie war nicht die Statue. Sie war das Metall im Fluß. Jede Sekunde schuf aus ihr ein neues Universum. Christof kam es nicht in den Sinn, sich Grenzen zu stecken. Er überließ sich der Freude eines Menschen, der die Last seiner Vergangenheit hinter sich wirft und sich mit jungem Blut, mit freiem Herzen zu einer langen Reise aufmacht, die Meeresluft einatmet und denkt, daß die Reise niemals ein Ende nehmen wird. Jetzt, da ihn von neuem die schöpferische Kraft, die die Welt durchströmt, erfaßte, drohte ihn der Reichtum der Welt zu ersticken wie ein Rausch. Er liebte, er war sein Nächster, als wäre er es selbst. Und alles war ihm »der Nächste«, das Gras, das er trat, die Hand, die er drückte. Ein schöner Baum, der Schatten einer Wolke auf dem Berge, der Duft der Wiesen, den der Wind herbeitrug, nachts der summende Schwarm der Sonnen am Himmel ... alles war wie ein Wirbel im Blut ... Er hatte keine Lust zu reden oder zu denken, er hatte nur noch Lust, zu lachen und zu weinen und sich mit diesem lebendigen Wunder zu verschmelzen. Schreiben, warum schreiben? Kann man das Unaussprechliche niederschreiben? ... Aber ob er konnte oder nicht, er mußte schreiben. Das war sein Gesetz. Wie Blitze trafen ihn die Gedanken, wo immer er sich auch befand, am häufigsten beim Spazierengehen. Unmöglich konnte er warten. Dann schrieb er, ganz gleich womit, ganz gleich worauf; er wäre oft nicht fähig gewesen, zu sagen, was diese Sätze bedeuteten, die in unaufhaltbarem Strom aus ihm hervorsprudelten; und während er schrieb, kamen ihm neue Gedanken und immer neue, und er schrieb, schrieb auf seine Manschetten oder auf sein Hutfutter; so schnell er auch schrieb, sein Denken lief noch schneller, so daß er eine Art Stenographie benutzen mußte.

Es waren vorläufig nur gestaltlose Notizen. Die Schwierigkeiten begannen, wenn er diese Gedanken in gewohnte musikalische Formen gießen wollte; er machte die Entdeckung, daß keine der alten Gußformen für sie paßte; wenn er seine Gesichte getreu wiedergeben wollte, mußte er damit beginnen, jede gehörte Musik und alles, was er geschrieben hatte, zu vergessen, reinen Tisch mit jedem erlernten Formelwesen und der überlieferten Technik zu machen, die Krücken eines kraftlosen Geistes fortzuwerfen und das Bett zu verlassen, das für die Faulheit derer bereit steht, die die Anstrengungen des eigenen Denkens fliehen und sich in das Denken anderer betten. Damals, als er zur Reife seines Lebens und seiner Kunst gelangt zu sein glaubte, – in Wirklichkeit war er nur am Ende eines seiner Leben und einer seiner künstlerischen Inkarnationen gekommen, – damals drückte er sich in einer Sprache aus, die schon vor seinem Denken bestanden hatte: sein Empfinden hatte sich ohne Auflehnung der Logik einer vorher festgesetzten Entwicklung unterworfen, die ihm im voraus einen Teil seiner Gebilde diktierte und ihn auf gebahnten Wegen sanft zu dem hergebrachten Ausdruck hinleitete, den das Publikum von ihm erwartete. Jetzt gab es keinen Weg mehr für ihn, sein Gefühl mußte ihn sich selber bahnen. Der Geist hatte nur zu folgen. Seine Rolle bestand nicht mehr darin, die Leidenschaft zu beschreiben oder sie zu analysieren; er mußte mit ihr verschmelzen, mußte sich mit ihrem inneren Gesetz vermählen.

Gleichzeitig lösten sich die Widersprüche, mit denen Christof sich seit langem herumgeschlagen hatte, ohne daß er es sich hatte zugeben wollen. Denn, war er auch ein reiner Künstler, so hatte er doch oft fremde Bestandteile mit seiner Kunst vermischt; er legte ihr eine soziale Mission bei; und er merkte nicht, daß zwei Menschen in ihm lebten: der schöpferische Künstler, der sich um keinerlei moralischen Zweck kümmerte, und der Tatmensch, der Vernunftmensch, der verlangte, daß seine Kunst moralisch und sozial sei. Manchmal setzte der eine den anderen in sonderbare Verwirrung. Jetzt, da jeder schöpferische Gedanke sich ihm in organischer Gesetzmäßigkeit wie eine jeder Wirklichkeit überlegene Wirklichkeit aufzwang, war er der Dienstbarkeit der praktischen Vernunft enthoben. Allerdings verlor er nichts von seiner Verachtung für die schwächliche und verderbte Sittenlosigkeit der Zeit; allerdings dachte er immer noch, daß eine unreine und ungesunde Kunst auf der untersten Stufe der Kunst stände, weil sie eine Krankheit ist, ein Pilz, der auf einem verwesenden Stamme wächst; aber wenn die Unterhaltungskunst die Prostitution der Kunst ist, so stellte ihr Christof nicht den kurzsichtigen Nützlichkeitssinn der sittlichen Kunst gegenüber, diesen flügellosen Pegasus, der den Pflug zieht. Die höchste Kunst, die einzige, die dieses Namens würdig ist, steht über den Gesetzen eines Tages; sie ist ein Komet, der durch die Unendlichkeit schießt. Möglich, daß diese Kraft in der Ordnung der praktischen Dinge nützlich, möglich auch, daß sie unnütz oder gefährlich erscheint; aber sie ist die Kraft, sie ist die Bewegung und das Feuer; sie ist der Blitz, der vom Himmel zuckt; und dadurch ist sie geheiligt, dadurch ist sie wohltuend. Ihre Wohltaten können sogar praktischer Art sein; ihre wahren, ihre göttlichen Wohltaten aber sind wie der Glaube übernatürlicher Art. Sie gleicht der Sonne, der sie entstammt. Die Sonne ist weder sittlich noch unsittlich. Sie ist. Sie erhellt die Nacht des unendlichen Raumes. So auch die Kunst.

Christof, der ihr ergeben war, erlebte nun die Überraschung, zu sehen, daß unbekannte Mächte aus ihr emporstiegen, die er nicht geahnt hatte: etwas ganz anderes als seine Leidenschaften, seine Traurigkeiten, seine bewußte Seele; eine fremde Seele, die allem, was er geliebt und gelitten hatte, seinem ganzen Leben, gleichgültig gegenüberstand, eine fröhliche, fantastische, wilde, unverständliche Seele. Sie ritt ihn, sie gab ihm die Sporen. Und in den seltenen Augenblicken, in denen er zu Atem kam, wenn er überlas, was er eben geschrieben hatte, fragte er sich:

»Wie konnte das, gerade das, aus mir hervorgehen?«

Er fiel jenem geistigen Rausch zur Beute, den jedes Genie kennt, dem von seinem Wollen abhängigen Willen, dem »unaussprechlichen Rätsel der Welt und des Lebens,« das Goethe »das Dämonische« nannte, und gegen das er gewappnet blieb, das ihn aber unterwarf.

Und Christof schrieb und schrieb. Tagelang, wochenlang. In gewissen Perioden kann der befruchtete Geist sich einzig aus sich selber nähren und schafft in beinahe unbegrenzter Weise. Die zarteste Berührung mit der Außenwelt, ein einziges vom Wind herbei getragenes Samenkorn genügt, und die inneren Keime, Myriaden von Keimen, sprießen auf und blühen. Christof fand nicht Zeit zu denken, er fand nicht Zeit zu leben. Die schöpferische Seele herrschte über die Ruinen des Lebens.

Dann aber hörte das auf. Christof ging zerbrochen, verbrannt, um zehn Jahre gealtert daraus hervor, – aber gerettet. Er hatte sein Selbst verlassen, er war in Gott eingezogen.

Weiße Büschel waren plötzlich in seinem schwarzen Haar erschienen, gleich den Herbstblumen, die in einer Septembernacht in den Feldern auftauchen. Neue Runzeln durchfurchten seine Wangen. Aber die Augen hatten ihre Ruhe wiedergewonnen, und der Mund war ergebungsvoll geworden. Er war beruhigt. Er begriff jetzt. Er begriff die Eitelkeit seines Stolzes, die Eitelkeit des menschlichen Stolzes überhaupt unter der drohenden Faust der weltenbewegenden Macht. Niemand ist mit Sicherheit Herr seiner selbst. Es gilt zu wachen. Denn wenn man einschläft, so stürzt sich die göttliche Macht über uns und trägt uns in wer weiß welche Abgründe fort. Oder die Flut, die uns mit sich reißt, strömt zurück und läßt uns in ihrem trockenen Bett. Nicht einmal der Wille genügt, um zu kämpfen. Man muß sich demütigen vor dem unbekannten Gott, der, wann und wo er will, als Liebe, Tod oder Leben daherfährt. Der menschliche Wille vermag nichts ohne den seinen. Eine einzige Sekunde genügt ihm, um Jahre der Arbeit und Anstrengungen zunichte zu machen. Und wenn es ihm gefällt, kann er das Ewige aus Staub und Schmutz aufsprießen lassen. Niemand mehr als der schaffende Künstler hängt von ihm ab; denn, wenn er wahrhaft groß ist, redet er nur das, was der Geist ihm eingibt.

Und Christof begriff die Weisheit des alten Haydn, der sich jeden Morgen, bevor er die Feder nahm, auf die Kniee warf ... Vigila et Ora. Wachet und betet. Betet zu Gott, daß er mit euch sei. Bleibt in liebender und frommer Gemeinschaft mit dem Geist des Lebens.

 

Gegen Ende des Sommers entdeckte ein Pariser Freund, der durch die Schweiz kam, Christofs Zufluchtsort. Er besuchte ihn. Es war ein Musikkritiker, der sich stets als der beste Beurteiler seiner Vertonungen erwiesen hatte. Er wurde von einem bekannten Maler begleitet, der sich ebenfalls als ein leidenschaftlicher Musikfreund und Bewunderer Christofs bekannte. Sie erzählten ihm von dem bedeutenden Erfolg seiner Werke: man spielte sie überall in Europa. Christof bezeigte wenig Interesse für diese Nachricht: die Vergangenheit war für ihn tot, jene Werke zählten nicht mehr. Auf die Bitte seines Besuchers hin zeigte er ihm, was er kürzlich geschrieben hatte. Der andere begriff nicht das geringste. Er dachte, Christof sei verrückt geworden.

»Keine Melodie, kein Takt, keine thematische Arbeit; eine Art von flüssigem Kern, eine Materie im Guß, die noch nicht erkaltet ist, die alle Formen annimmt und doch keine hat; die an nichts erinnert; Lichtscheine in einem Chaos.«

Christof lächelte:

»Das ist es ungefähr,« sagte er. »Die Augen des Chaos, die durch den Schleier der Ordnung leuchten ...«

Der andere aber verstand das Wort von Novalis nicht.

(Er hat sich ausgeschrieben, dachte er.)

Christof versuchte nicht, sich verständlich zu machen.

Beim Abschied begleitete er seine Gäste ein Stück Wegs, um ihnen sein Gebirge zu zeigen. Aber er ging nicht sehr weit mit. Vor einer Wiese redete der Musikkritiker von Pariser Theaterdekorationen, und der Maler notierte sich die Farbtöne, ohne Nachsicht für ihre ungeschickte Verbindung, die er im Geschmack sehr schweizerisch fand wie eine Rhabarbertorte sauer und flach, im Hodlerschen Stil; übrigens trug er der Natur gegenüber eine Gleichgültigkeit zur Schau, die nicht gänzlich erheuchelt war. Er tat, als sähe er sie nicht.

»Die Natur! Was soll das heißen? Kenne ich nicht. Licht, Farbe, na ja. Die Natur ist mir höchst schnuppe.«

Christof schüttelte ihnen die Hand und ließ sie gehen. Alles das beunruhigte ihn nicht mehr. Sie standen am andern Abhang der Schlucht. Es war gut so. Er würde zu niemandem sagen:

»Nehmt denselben Weg, damit ihr zu mir kommt.«

Das schöpferische Feuer, das ihn während Monaten durchglüht hatte, war erloschen. Aber Christof bewahrte in seinem Herzen die wohltuende Wärme. Er wußte, das Feuer würde wieder aufflammen, wenn nicht in ihm, so rings um ihn her. Wo immer es wäre, er würde es mit gleicher Kraft lieben; denn es würde immer dasselbe Feuer sein. An diesem Septemberabend fühlte er es in der ganzen Natur.

 

Er stieg zu seinem Haus zurück. Ein Gewitter war niedergegangen. Jetzt schien die Sonne. Die Wiesen dampften. Von den Apfelbäumen fielen die reifen Früchte ins feuchte Gras. Die Spinnennetze, die in den Tannenzweigen hingen und vom Regen noch glänzten, sahen aus wie die altertümlichen Räder der mykenischen Wagen. Am Rande des durchnäßten Waldes ließ der Grünspecht sein abgerissenes Lachen ertönen. Und Myriaden kleiner Wespen, die in den Sonnenstrahlen tanzten, erfüllten das Waldgewölbe mit ihrem langgezogenen tiefen Orgelton.

Christof befand sich in einer Lichtung, in der Senkung einer Gebirgsfalte, einem geschlossenen Tälchen von regelrecht ovaler Form, das die untergehende Sonne mit ihrem Licht überflutete. Rote Erde. In der Mitte ein kleines goldfarbenes spätes Kornfeld und rostfarbene Binsen. Ringsherum ein Waldgürtel, den der Herbst färbte: kupferrote Buchen, gelbe Kastanien, Ebereschen mit korallenfarbigen Beeren, flammende Kirschbäume mit ihren kleinen Feuerzungen, das orangegelbe Blattwerk des Heidelbeergesträuchs, Cedratbäume, braun wie verbrannter Zunder. Ganz wie ein brennender Busch. Und mitten aus dieser flammenden Schale stieg eine Lerche empor, die trunken war von Sonne und Korn.

Christofs Seele glich der Lerche. Sie wußte, daß sie bald niederfallen werde, und das noch viele Male. Aber sie wußte auch, daß sie unermüdlich wieder zum Licht emporsteigen und ihr Tirili singen würde, das zu denen spricht, die dort unten leben unter dem himmlischen Licht.


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