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Buchschmuck

III.

So ist's recht, ihr Burschen. Jetzt noch ein paar Bänke aus dem Konfirmanden-Schulzimmer, dann haben wir Plätze genug für die ganze Gesellschaft! – Ist die Milch schon im Haus, Alwine?«

»Fufzeh Liter, se kocht als«, antwortete aus der Küche die tiefe Stimme der alten Haushälterin.

Wie ein Feldherr stand Pfarrer Mangold mitten auf der geräumigen Diele und betrachtete mit Befriedigung sein Werk. Nun mochten die Wandervögel kommen; alles war zu ihrer Aufnahme bereit.

Die Änderungen, die sich sein Hauswesen gefallen lassen mußte, waren allerdings etwas umständlicher gewesen, als er es sich gedacht hatte. Wurden die freiwilligen Hilfskräfte aus der Nachbarschaft nicht bei Schritt und Tritt beobachtet, dann machten sie mit Sicherheit alles falsch, und so hatte er tüchtig mit Hand anlegen müssen. Denn der alten Alwine durfte er diese Arbeit nicht zumuten. Die mußte ohnedies ihre alten Glieder heute ganz anders regen als sonst.

Es war ihm nicht entgangen, daß sie ihm manchmal verwundert nachblickte und den Kopf schüttelte. Wie sollte sie sich auch erklären, daß der sonst so ernste Theodor Mangold seit einigen Tagen förmlich verjüngt schien, in seinem Zimmer Lieder sang, die nicht im Gesangbuch standen und sich auf die Wandervögel so freute, daß sie selbst sogar allmählich davon angesteckt wurde und nur der Form halber noch ein wenig brummte, wenn von ihnen die Rede war.

Der junge Pfarrer rieb sich die Hände und lachte stillvergnügt in sich hinein. Er wußte, warum es in ihm sang wie nie zuvor, und war nur froh, daß er die Predigt schon tags zuvor niedergeschrieben und seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Heute wäre es ihm nicht gelungen, die dazu nötige Sammlung zu finden.

Als die Burschen das Haus verließen, zündete Alwine in der Küche die Lampe an, denn es war allmählich dunkel geworden.

»So spät schon?« fragte Mangold und sah nach der Uhr. »Wie schnell die Zeit vergangen ist! Halb fünf vorbei! Spätestens in einer Stunde werden sie bei uns sein.«

»Nu laafe die Stadtkinner bei Nacht un Newwel dorch de Wald! Wann se nur net de Weg verfehle!« sagte Alwine besorgt und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Keine Gefahr!« lachte der Pfarrer. »Der Himmel ist sternklar und der Schnee leuchtet. Sie brauchen sich bloß auf der Landstraße zu halten, wenn es ihnen im Walde nicht ganz geheuer erscheint. – Übrigens kann ich ihnen ja auch entgegengehen. Ein Gang durch den Winterabend mit knirschendem Schnee unter den Füßen hat seinen besonderen Reiz.«

»Dees is Geschmacksach«, sagte Alwine achselzuckend. »Soll ich 's Laternche in die Reih mache?«

»Laß nur, ich finde mich auch so zurecht.«

In seinen Mantel gehüllt, der schon viele Winter gedient hatte, die dicke Pelzmütze auf dem Kopfe und einen derben Stock in der Hand, ging er mit freundlichem Gruß zur Tür hinaus.

Die lange Ortsstraße war zu dieser Stunde schon menschenleer. Nur vereinzelte Laute zeigten an, daß in den zu beiden Seiten die Straße begrenzenden Gehöften nicht alles Leben erstorben war.

Ehe der Pfarrer sich auf den Weg machte, blieb er kurze Zeit vor seinem Hause stehen, teils um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, teils aus alter Gewohnheit. Denn es machte ihm Freude, auf diese Laute zu horchen, die über die dunklen Dächer schwebten und die Stille belebten.

Am anderen Ende des Dorfes schlug ein Hund an; hin und wieder brüllte eine Kuh; ferne Harmonikaklänge und eine Singstimme drangen an sein Ohr, dazu das melodische Plätschern des Laufbrunnens, der seit vielen Generationen unter der Jahrhunderte alten Linde unaufhörlich sein kristallklares Wasser in den wappengeschmückten Sandsteintrog fließen ließ, und die Quelle des Baches bildete, dem der Ort seinen Namen verdankte.

Erst wenige Fenster waren erleuchtet, denn die Wallersbacher Bauern waren nicht reich und sparten das teure Petroleum, wenn nicht die Arbeit seinen Verbrauch rechtfertigte.

Auf dem Wege durch das Dorf hörte Mangold aus mehreren Häusern Melodien dringen; dann verlangsamte er den Schritt und lächelte vergnügt vor sich hin, wenn er jemand erkannte, der sich auf die kommenden Ereignisse vorbereitete. Wußte er doch, daß die Burschen und Mädchen es als eine Ehrensache betrachteten, beim Wettgesang mit seinen Gästen gut abzuschneiden. Er selbst hatte sie viele alte Volkslieder gelehrt und durfte es seinem eigenen Wirken zuschreiben, wenn städtische Gassenhauer bei seinen Pfarrkindern keinen Eingang fanden.

Daß viele seiner Amtsgenossen nicht mit ihm einverstanden waren, weil er im Kirchengesangverein, den er selbst leitete, ohne Bedenken auch zuweilen Liebeslieder singen ließ, machte ihm keinen Kummer. Gesungen wurden solche Lieder doch, da wollte er wenigstens dafür sorgen, daß die guten bevorzugt wurden. Seine Vorurteilslosigkeit, die sich auch bei anderen Gelegenheiten äußerte, hatte ein so gutes persönliches Verhältnis zwischen ihm und seinen Gemeindeangehörigen geschaffen, daß diese trotz seiner jungen Jahre nicht allein mit der seiner Stellung schuldigen Achtung, sondern auch mit herzlicher Verehrung zu ihm aufsahen.

Und dieses Bewußtsein entschädigte ihn vollständig für den Mangel an anregender Geselligkeit, wie sie ein größerer Ort geboten hätte. War er doch selbst unter Bauern groß geworden und städtische Vergnügungen nie gewohnt gewesen. –

Während er zwischen den verschneiten Äckern kräftig ausschritt und halb unbewußt eine Melodie summte, die sich im Dorfe an ihn gehängt hatte und nicht mehr losließ, malte er sich in hellen Farben die Zukunft aus. Was würde Alwine für Augen machen, wenn er ihr eines Tages sagte, daß ihr Wunsch in Erfüllung gegangen sei und ihr nun bald von jungen Kräften ein Teil der Arbeiten abgenommen werden sollte! Heiß schoß ihm das Blut zum Herzen, als er sich ausrechnete, daß vielleicht schon zu Ostern, ein wenig mehr als einem Vierteljahr, der schönste Abschnitt seines Lebens beginnen könnte …

Wie der Schnee unter den Stiefeln knirschte! Selten hielt der Winter mit solcher Macht und so früh wie in diesem Jahre im Odenwald seinen Einzug. Aber die Wallersbacher zürnten ihm nicht, denn die Wintersaat lag wohlverwahrt unter einer dicken Schneedecke, und in den Öfen prasselte das Buchenholz, das die Ortseingesessenen alljährlich aus dem Gemeindewald erhielten.

Theodor Mangold freute sich über das echte deutsche Weihnachtswetter. Er dachte daran, wie er die Feiertage verleben wollte, und dieser Gedanke gab ihm eine innerliche Wärme, gegen die die Winterkälte nicht aufkommen konnte.

Das schnelle Gehen bergan war es nicht allein, was ihm plötzlich so starkes Herzklopfen verursachte, daß er am Rande des Hochwaldes stehenbleiben mußte. Dort unten lag sein Dörfchen, in lautloser Stille, als ob es in einen tiefen Winterschlaf versunken wäre; mitten darin das große Haus, das bald zwei glückliche Menschen beherbergen sollte!

In voller Hingabe an ein unbeschreibliches, überströmendes Glücksgefühl breitete er weit die Arme aus, und dann quoll ein Jubelschrei aus seiner Brust, der weit über das Tal hallte und ein so lautes Echo weckte, daß er, wie bei einem Unrecht ertappt, erschrocken zusammenfuhr und unwillkürlich um sich blickte, ob auch niemand gesehen habe, ein wie törichter Mensch er, der Herr Pfarrer, sein konnte.

Sekundenlang blieb alles still. Aber was fiel dann dem Echo ein? Statt zu schweigen, nahm es seinen Ruf wieder auf und zwar – um das Wunder voll zu machen – vielstimmig und in ganz unähnlichen Tonarten.

Der einsame Wanderer war so mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen und hatte die Umwelt und den Zweck seines abendlichen Spazierganges so vollständig vergessen, daß er in der ersten Überraschung unwillkürlich an den Rodensteiner und seine wilden Gesellen dachte, die in dieser Gegend noch zuweilen nachts in den Lüften ihr Unwesen treiben sollten.

Aber er konnte nicht lange im Zweifel bleiben, daß es keine Spukgestalten, sondern Wesen von Fleisch und Blut waren, die die Stille mit ihrem Leben füllten.

Als wie auf Verabredung die Zurufe plötzlich verstummten, schrie er aus Leibeskräften: »Heil!« in den Wald; und »Heil!« klang es deutlich zurück.

Nun wußte er, wer ihm antwortete. Schneller schritt er aus, und wenn er hier auf der Landstraße auch nicht zu befürchten brauchte, die Wandervögel zu verfehlen, wechselte er doch mit den rasch Näherkommenden noch manchen Willkommensgruß, bis ihre Gestalten sich aus dem Dunkel lösten, und er an der Spitze des Trupps Ingeborg Buchner erkannte.

»Wir hatten uns schon mehrmals laut bemerkbar gemacht, ehe wir Ihren Ruf hörten«, berichtete sie fröhlich, indem sie dem Pfarrer die Hand schüttelte.

Mangold behielt für sich, wo seine Gedanken weilten, als er seinen Jubelschrei in die Nacht sandte und begrüßte herzlich die anderen Kinder seines Wiesenborner Amtsbruders, die ihm ebenfalls die Hände entgegenstreckten. Liselotte versicherte mit verdächtigem Eifer, daß sie noch gar nicht müde sei, schien aber trotzdem sehr befriedigt, als sie auf ihre Frage erfuhr, eine wie geringe Marschleistung nur noch von ihr verlangt wurde.

»Und dies sind die andern Wandervögel«, stellte Ingeborg summarisch ihre Wandergenossen vor, die im Halbkreis stehend stumm und mit unverhohlener Neugier das Gesicht ihres Obdachgebers zu erkennen suchten, und nur auf dieses Zeichen gewartet zu haben schienen, um ihn auch ihrerseits wie einen alten Bekannten zu begrüßen.

Die Aussicht auf das nahe Quartier wirkte merklich belebend auf die Kleinen wie die Großen. Sie hatten unterwegs durch eine Schneeballschlacht ihre überschüssigen Kräfte verausgabt, und die wollten nun wieder ergänzt werden.

Die frische Winterluft hatte so appetitanregend gewirkt, daß alle eine empfindliche Leere in ihrem Innern verspürten und zunächst nur nach leiblicher Stärkung verlangten. Ingeborg verteilte die Rollen für den Einkauf von Milch und Brot, und die Verhandlungen hierüber wurden unter allgemeiner Teilnahme mit einem Ernst behandelt, der der Wichtigkeit der Angelegenheit entsprach.

Eine Weile hörte Mangold mit stiller Freude zu. Als er dann aber der hungrigen Gesellschaft ankündigte, daß abgekochte Milch und frische Brötchen bereits darauf warteten, die mitgebrachten Mundvorräte zu ergänzen, war er ganz beschämt über die Begeisterung, mit der man ihm dankte.

»Aber ich habe doch ausdrücklich geschrieben, daß wir Wandervögel gewohnt sind, uns alle Mahlzeiten selbst zu besorgen, und nur um die Erlaubnis bitten, den Herd zu benutzen!« wendete Ingeborg der Form halber mit schwachem Vorwurf in der Stimme ein. »Und jetzt haben Sie sich für uns noch in Unkosten gestürzt!«

»Nur aus Egoismus!« rief der Pfarrer lachend. »Würde der Proviant im Dorf eingekauft und abgekocht, dann ginge die schönste Zeit verloren. Meine Bauern sind nicht gewohnt, die Nacht zum Tag zu machen, wie es in der Stadt üblich ist, und ich will sie nicht dazu verleiten. Spätestens um zehn Uhr liegt bei uns jung und alt in den Federn. Durch meine kleine Eigenmächtigkeit konnte ich den Beginn unserer musikalischen Abendunterhaltung auf sieben Uhr festsetzen. Sie mögen sich bis dahin ausruhen und zu neuen Taten stärken, und nachher bleiben uns noch einige schöne Stunden für Spiel und Gesang.«

Diese Anordnungen fanden natürlich allgemeine Zustimmung. Während bis dahin alle in einem großen Trupp marschiert waren, um sich kein Wort der Unterhaltung entgehen zu lassen, bildeten sich jetzt allmählich wieder kleinere Gruppen. Die Mädchen drängten sich so in die Nähe des Pfarrers, daß die Buben das Feld räumten und zurückblieben.

Während nun vorn Mangold das Wort führte und, um den Ehrgeiz der Wandervögel zu wecken, die Sangeskunst seiner Pfarrkinder lobte, bildete im Hintergrund seine eigene Person den Gegenstand der Unterhaltung.

»Wenn er sich weiter von einer so guten Seite zeigt, müssen wir anstandshalber morgen vormittag in seine Kirche gehen«, sagte ein großer Junge zu seinem Nachbar.

»Mich bringen keine zehn Pferde hinein«, gab Rübezahl, der es gehört hatte, laut zur Antwort.

»Um eine Predigt zu hören, brauchen wir nicht in den Odenwald zu gehen, das können wir in der Stadt besser haben«, stimmte der lange Heiner zu, um sich bei dem Roten wieder in Gunst zu setzen. Der hatte nämlich Ingeborgs Wunsch erfüllt, und den wilden Burschen unterwegs energisch in die Schranken gewiesen.

»Ich möchte lieber die gute Gelegenheit ausnutzen und Schneebilder skizzieren«, sagte auch der Maler. »Diesen Rauhreif können wir nämlich in der Stadt nicht gebessert haben«, fügte er, gegen den Heiner gewendet, hinzu.

»Ich gehe mit meinen Schwestern auf alle Fälle in die Kirche«, sagte Alexander fest. Er hatte die Freude, daß mehrere sich ihm anschlossen, die aus Furcht vor dem Spott ihrer Kameraden bisher geschwiegen hatten.

»So ist's recht«, rief Rübezahl, und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. »Wenn ihr und die Mädchen morgen die Zahl der Gläubigen erhöht, dann freut sich der Pfarrer und merkt nicht, wenn ein paar andere solange Schlitten fahren, zeichnen oder spazierengehen. So ist jeder zufrieden, und das ist die Hauptsache.«

Ein feiner zwölfjähriger Knabe, der zu gewissenhaft war, vom Pfade der Pflicht abzuweichen, andererseits aber lieber einen Schneemann gemacht hätte, statt in der Kirche still zu sitzen, entschloß sich nach einigem Zögern, auf die einfachste Weise diesen Gewissenskonflikt zu lösen. Ohne seine Absicht zu verraten, pirschte er sich mit Hilfe einiger Rippenstöße zwischen den Mädchen hindurch an den Pfarrer heran, und fragte treuherzig:

»Herr Pfarrer, müssen wir morgen in die Kirche gehen?«

»Müssen?« entgegnete Mangold freundlich. »Nein, niemand zwingt euch, in die Kirche zu gehen. Natürlich würde es mich freuen, wenn viele von euch jungen Menschen das Bedürfnis hätten, dem Schöpfer der herrlichen Natur, die gerade ihr Wandervögel so in vollen Zügen genießt, aus tiefstem Herzensgrund zu danken. Aber ich weiß wohl, daß viele Menschen, die im täglichen Verkehr für jede Kleinigkeit ›danke‹ sagen, sich ruhig mit den schönsten Gottesgaben überhäufen lassen, ohne je mit warmem Herzen des gütigen Gebers zu gedenken. Gehörst du junger Wandervogel zu diesen, dann glaube nicht, mir einen besonderen Gefallen zu tun, wenn du dich morgen den Kirchgängern anschließt. Treibt dich aber ein dankerfülltes Herz in unser kleines Gotteshaus, dann wirst du sicherlich in dem erhebenden Gefühl erfüllter Kindespflicht den Rest des Tages doppelt genießen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er nach diesen Worten sein Gespräch mit den Mädchen fort.

Der Junge ging noch eine Weile schweigend neben ihm her, blieb dann aber unauffällig zurück. Seine Entscheidung kostete ihm nicht mehr den geringsten inneren Kampf. Ihm war zumute, als ob er eine Feigheit gutzumachen habe, und als seine Kameraden ihn wieder eingeholt hatten, sagte er so laut, daß es alle hören mußten: »Du, Alexander, ich gehe auch morgen in die Kirche.«

Niemand bemerkte, wie rot er dabei wurde; war er doch entschlossen, die Worte des Pfarrers zu wiederholen, wenn man ihn verspotten würde.

Aber die älteren verabredeten gerade eine Schneeschuhfahrt, und das war ihnen viel zu wichtig, als daß sie über eine so uninteressante Ankündigung noch ein Wort verloren hätten. –

* * *

»Meine Stiefel sind zerrissen,
Meine Hosen sind entzwei.
Und da draußen aus der Landstraß',
Da singt der Vogel frei …

Rübezahl stimmte bei der ersten Hofraite dieses Lied an und zupfte dazu mit seinen steif gefrorenen Fingern die Saiten einer Gitarre. Nun nahmen auch die Müdesten noch einmal alle Kraft zusammen, und luftig hallte die Weise in die Häuser.

Wie ein großes Wecken ging es durch das langgestreckte, verschlafene Dorf. Die Alten drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt und konnten doch nichts erkennen; die Jungen dagegen sprangen hinaus, schlossen sich dem Zuge an und gaben ihm bis zum Pfarrhaus das Geleit.

»Die Wandervögel sind da!«

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde. Jeder fügte seine eigenen Beobachtungen hinzu, und wer nicht aus eigener Anschauung berichten konnte, malte die Beschreibung seines Gewährsmannes noch ein wenig aus. So kam es, daß in der letzten Hütte am andern Ende des Dorfes der alte Schneiderjockel sich die Wandervögel als eine Art Zigeuner vorstellte, die ohne festen Wohnsitz von Ort zu Ort zogen, ihr Hab und Gut auf dem Rücken trugen, als fahrende Musikanten ihr Brot verdienten und im übrigen dem lieben Herrgott den Tag stahlen. Und er begriff nur nicht, wie der Pfarrer dazu kam, solche Landstreicher zu beherbergen. –

Die alte Alwine kam nicht aus dem Staunen heraus. Sie hatte sich vorgestellt, daß nach dem Eintreffen der vielen Gäste erst recht die Arbeit für sie beginnen werde; statt dessen stand sie mit leeren Händen unter der fröhlichen Schar und kam sich beinahe überflüssig vor. Denn die Wandervögel hatten kaum das Haus betreten, so befolgten sie auch schon die Aufforderung ihres Wirtes und taten ganz so, als ob sie hier zu Hause wären. Ingeborg überwachte die Verteilung der bereitstehenden Milch und hatte große Mühe, ihre Autorität über die Buben zu behaupten, die mit wahrem Heißhunger den großen Korb voll frischer Brötchen umdrängten und alle die ersten sein wollten, denen Eva und die dicke Adelheid die Trinkbecher voll warmer Milch schöpften. Aber zuerst kamen die Jüngsten an die Reihe, und dann gab es auch einige unter den Buben, die ihre Beute ritterlich den Mädchen überließen.

Dem Pfarrer und der Haushälterin wäre nichts zu tun übrig geblieben, wenn sie nicht selbst das Bedürfnis gehabt hätten, hier und dort helfend einzugreifen. Mangold strahlte über das ganze Gesicht bei dem Anblick der frischen Jugend, die sich nach dem Marsch in der Winterluft in dem warmen Raum so wohl fühlte.

Die alte Alwine schien alle Mühe vergessen zu haben und gar nicht die kleinen Wasserlachen auf ihrem sonst so peinlich sauber gehaltenen Fußboden zu beachten, die sich unter dem derben Schuhzeug überall bildeten. Ein mütterlich sorgendes Gefühl zauberte einen weichen Ausdruck in ihre groben Züge, wenn sie mit den Kleinsten sprach. Nach den ersten Minuten war sie offenbar schon vollständig mit dem Besuch ausgesöhnt.

In einer Beziehung wich die Vorstellung des Schneiderjockels nicht weit von der Wirklichkeit ab: Wer sah, wie diese Gesellschaft, in kleine Gruppen verteilt, es sich auf dem Boden von Diele und Küche bequem machte, konnte wohl an ein Zigeunerlager denken.

Was die Rucksäcke an eßbaren Dingen bargen, blieb nicht länger persönliches Eigentum, sondern wurde, so gut es ging, redlich verteilt. Ohne mit der Wimper zu zucken, opferten der kleine Friedel und seine Schwester Gretel zwei große Tafeln Schokolade, die, von Mutterhänden gespendet, zu ihrer eigenen Überraschung sich in ihren kleinen Rucksäcken vorfanden. Zwar erhoben sich einige mitleidige Stimmen gegen einen so weit gehenden Kommunismus. Doch die Kinder selbst wollten von einer Bevorzugung nichts wissen. Sie brauchten auch nicht lange zu widersprechen, denn Rübezahl zerbrach schon mit seinen roten Händen die Tafeln in viele kleine Stücke, und sagte ungerührt: »Erstens muß schon den Kleinen in Fleisch und Blut übergehen, daß bei uns alle Freuden gemeinsam genossen werden. Sagt doch auch das Sprichwort: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Zweitens würden sich die Kinder an zu viel Süßigkeit vielleicht den Magen verderben, und mein Verantwortlichkeitsgefühl treibt mich, das zu verhüten. Und drittens gelüstet's mich gerade, ein Stück Schokolade in meiner Milch aufzuweichen und ihr so einen etwas pikanteren Geschmack zu geben, als sie von der Kuh mitbekommen hat.«

Seine Gründe schienen von allen als stichhaltig anerkannt zu werden, denn als er nun unter allgemeinem Lachen und Necken die kleinen Stücke herumreichte, wies niemand seinen Anteil zurück. Die Kleinen beeilten sich, seinem Beispiel zu folgen. Sie brockten ihr Brötchen in die hellbraune Flüssigkeit und priesen beim Auslöffeln ihren Kameraden, wie herrlich es schmecke. So schmausten Buben und Mädchen in schönster Eintracht um die Wette, bis einer nach dem andern seine Unfähigkeit bekannte, noch das Geringste mehr in sich hineinzustopfen.

Der Pfarrer hatte mit innigem Behagen zugeschaut und, von einer Gruppe zur anderen gehend, sein eigenes einfaches Abendbrot verzehrt. Bei seiner natürlichen, offenen Art, die sich von jeder Bevormundung fern hielt, dauerte es nicht lange, bis das Eis gebrochen war, und ihm alle wie einem alten Freunde ungezwungen von ihren eigenen Angelegenheiten erzählten.

Liselotte, die ihre Müdigkeit überwunden hatte und eine der Lebhaftesten wurde, berichtete wichtig, welch langer Anstrengungen es bedurft hatte, Tante Minchen umzustimmen. Von Gretel unterstützt, flocht sie dabei ihrem großen Freund die langen Haare in kleine Zöpfchen, und wollte sich schier totlachen, als ihm die Rattenschwänzchen um den Kopf baumelten. Der Maler hielt geduldig still und offenbarte in seinen Scherzen mit den lustigen Dingern sein eigenes heiteres Kindergemüt.

Aber er konnte auch ernst sein. Eine religiöse Überzeugung hätte er nicht nachdrücklicher verteidigen können als seine Ansichten über das Alleinseligmachende der vegetarischen Lebensweise. Mit großer Wichtigkeit setzte er Mangold auseinander, daß in Nüssen, Datteln, Feigen, getrocknetem Backobst und ähnlichen Eßwaren, die er mit sich führte, alle Stoffe enthalten seien, deren der menschliche Körper zu seiner Ernährung bedürfe. Zu seinem großen Schmerz war es ihm noch nicht gelungen, auch nur einen seiner Kameraden zu dieser Lebensweise zu bekehren.

›Welch Glück!‹ dachte Mangold bei seinen Worten. Denn des Malers magere Gestalt und blasse Gesichtsfarbe stachen auffällig von den muskulösen Körpern, der gesunden Hautfarbe und den keck in die Welt blitzenden Augen seiner männlichen und weiblichen Wandergenossen ab.

»Wie gehts eigentlich meinem Freund Körner? Seine Gastrolle in Wiesenborn ist wohl bald ausgespielt?«

Ingeborg fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, als der Pfarrer unvermittelt diese Worte an sie richtete. Die ganze Zeit hatte sie sich schon gewundert, daß Mangold noch nicht nach dem Vikar gefragt hatte, und trotzdem wurde sie verwirrt, als sie nun von dem Mann sprechen sollte, zu dem immer wieder ihre Gedanken zurückkehrten, so große Mühe sie sich auch geben mochte, sie von ihm abzulenken.

Aber Mangold merkte ihre Verlegenheit nicht. Bei den vielen neuen Eindrücken war ihm auch nicht aufgefallen, daß das schöne, große Mädchen oft wie verträumt starr vor sich blickte und an den sie umschwirrenden Gesprächen nur teilnahm, wenn eine direkte Anrede sie dazu nötigte.

Es gelang ihr schnell, ihrer Bewegung Herr zu werden. Ahnungslos, wie Mangold war, hörte er nicht, wie ihre Stimme anfangs leise zitterte, als sie die Grüße des Vikars bestellte und hinzufügte, wie bald schon die Trennung bevorstand.

»Also Stadtpfarrer wird er schon!« rief Mangold, ohne übermäßig erstaunt zu scheinen. »Bei seiner Protektion konnte es ja kaum ausbleiben, daß ihm die besten Stellen in den Schoß fallen mußten. Übrigens wundert mich, offen gestanden, wie gut er sich in die ländlichen Verhältnisse eingelebt hat; wenigstens schrieb er mir neulich recht befriedigt über seine Tätigkeit. Schwer genug mag's diesem überkultivierten Städter geworden sein.«

»Ich habe mich schon manchmal darüber gewundert, daß zwei so verschiedene Menschen wie Sie beide so gute Freunde werden konnten«, sagte Ingeborg ruhig, als er schwieg. Anfangs hatte sie ein baldiges Ende dieser Unterredung herbeigesehnt. Als sie aber merkte, daß sie nicht mehr Gefahr lief, sich zu verraten, drängte es sie, mehr über den Mann zu hören, dem sie zürnen wollte, und den sie doch lieben mußte.

»Gegensätze ziehen sich bekanntlich an«, antwortete Mangold lächelnd. »Bei unserem ersten längeren Gespräch merkten wir natürlich schon, wie grundverschieden wir waren, ja, es schien anfangs, als ob unsere Ansichten über die meisten Fragen schnurstracks auseinandergingen. Aber jeder von uns fühlte, daß der andere aus einer tiefen Überzeugung heraus sprach, und da wir beide uns voll heiligen Eifers auf unser künftiges Amt vorbereiteten und das Gute auch beim Gegner suchten, ließen wir unsere verschiedenen Weltanschauungen miteinander ringen und sind dabei gute Freunde geworden. – Aber wie wäre es, wenn Sie mir nun Ihre wahre Meinung über meinen Freund verrieten? In der langen Zeit, die er mit Ihnen unter einem Dach lebte, konnten Ihnen gewiß weder seine guten, noch seine schlechten Eigenschaften verborgen bleiben. Es sollte mich nicht wundern, wenn …« er stockte, aber sein neckender, doch zugleich forschender Blick verriet deutlich, was er meinte.

Ingeborg war bis zu den Haarwurzeln errötet, und es konnte diesmal auch dem Pfarrer nicht verborgen bleiben, wie sie gegen eine tiefe innere Bewegung kämpfte und nach Worten rang.

Er war nicht gewandt genug, seine Überraschung zu verbergen und, ohne eine Antwort abzuwarten, dem Gespräch eine harmlose Wendung zu geben.

»Da scheine ich ohne Absicht recht indiskret gewesen zu sein!« sagte er in bedauerndem Ton. »Ich hatte natürlich keine Ahnung …«

»Von was?« fuhr ihm Ingeborg rasch gefaßt mit abweisender Miene ins Wort. Ihr Stolz empörte sich gegen die Vorstellung, daß Mangold der Wahrheit auf die Spur sein könnte. Um dem entgegenzuwirken, fügte sie mit gezwungenem Lachen hinzu: »Wenn Sie etwa von der üblichen Voraussetzung ausgingen, ein Vikar müsse in einem töchterreichen Pfarrhause notwendigerweise sein Herz verlieren, dann kann ich Ihnen nur die Versicherung geben, daß Ihr Freund bei uns seine Freiheit nicht einbüßen wird. Wie Sie nur auf solchen Gedanken kommen konnten!«

»Vielleicht nur, weil es so natürlich gewesen wäre«, antwortete Mangold leise.

»Glauben Sie wirklich?«

Ingeborg hatte vollkommen ihre Sicherheit wiedergewonnen und sah ihm so ruhig in die Augen, daß er wirklich schwankend wurde, ob seine schnell aufgestiegene Vermutung nicht einer Täuschung entsprungen sei.

»Als Freund hätte ich ihm nichts Besseres wünschen können«, antwortete er mit ehrlicher Überzeugung.

Jetzt konnte Ingeborg sogar wieder lachen.

»Ein wie schlechter Menschenkenner Sie sind!« spottete sie. »Ein so schrecklich korrekter Mann sollte mit mir dauernd glücklich werden? Können Sie sich Ihren Freund und mich als Ehepaar vorstellen?«

Nichts in ihren Mienen verriet, mit welcher Spannung sie seiner Antwort entgegensah, wie sehnsüchtig ihr Herz ein einfaches, überzeugtes »Ja« erwartete.

Mangold rechnete nicht damit, daß auch einem aufrichtigen Mädchen sofort die ganze Verstellungskunst ihres Geschlechtes zur Seite steht, wenn es gilt, ein sorgsam gehütetes Herzensgeheimnis gegen das Eindringen der Außenwelt zu verteidigen.

Bedächtig wog er seine Antwort ab und sagte dann zögernd: »Ich weiß wohl, der beste Mann und die beste Frau bilden nicht notwendigerweise das beste Ehepaar. In Ihrem Fall käme es zu einem glücklichen Zusammenleben ganz darauf an, wie weit ein jeder Teil den Ansichten und Gewohnheiten des andern Konzessionen machen würde. Ich glaube aber …«

»Da kommen schon Ihre Burschen und Mädchen!« unterbrach ihn Ingeborg hastig. Sie klatschte in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen, und wies dann ihre Schar an, die Ordnung wieder herzustellen.

Der Pfarrer schüttelte verwundert den Kopf. Ingeborg schien ihm heute merkwürdig verändert.

Das nun entstehende Durcheinander, bei dem er ordnend eingreifen mußte, ließ ihm aber keine Zeit, länger bei diesem Gedanken zu verweilen.

* * *

Ein stämmiger Bursche, der schon mehrmals seinen Kopf durch den Türspalt gesteckt hatte, wurde von unsichtbaren Gewalten so energisch vorgeschoben, daß er sich plötzlich zu seiner eigenen Überraschung inmitten der Wandervögel befand, während von draußen unter lautem Kichern die Tür wieder zugezogen wurde. Als er so den Rückzug abgeschnitten fand, faßte er sich ein Herz und sagte in sichtlicher Verlegenheit: »N' Owend beisamme.«

»Guten Abend!« rief ihm der Pfarrer entgegen. »Wo bleiben denn die andern?«

»Die traue sich net«, antwortete der Bursche grinsend. Dabei fiel ihm ein, daß er in der Eile seinen Hut auf dem Kopf behalten hatte. Mit einer hastigen Bewegung entblößte er seinen strohgelben Haarwuchs, der mit Hilfe von Wasser an Stelle von Pomade sorgfältig gescheitelt war und im Licht der Hängelampe glänzte. Dann wandte er sich um und ging zur Haustür.

Die Nächststehenden hörten ihn hinaussprechen:

»Der Parrer frägt, worim ihr dumme Ludersch net neikumme tät!«

Auf diese freundliche Aufforderung schoben sich die Burschen durch die Öffnung, brummten einer wie der andere »'n Owend beisamme«, blieben aber in einem dichten Knäuel ganz nahe an der Tür stehen. Dann folgten die Mädchen und versteckten sich hinter ihren männlichen Begleitern. Aber während diese so ernste Gesichter zeigten, als ob sie zu einem Begräbnis geladen seien, drang ein unterdrücktes Lachen und Flüstern aus den hinteren Reihen.

Unwillkürlich hatten sich auch die Wandervögel zusammengeschlossen. So musterten sich die beiden Gruppen, bis der Pfarrer alle zum Sitzen einlud.

Die alte Alwine mußte nachhelfen, so schwerfällig stellten sich die jungen Dorfbewohner dabei an.

»Die wo im Herbst die Äppel aus'm Pfarrgarte gestohle hawwe, warn dabei net so blöd«, rief sie mit vielsagenden Blicken einigen Burschen zu, die wie angewurzelt stehen blieben und mit offenen Mündern um sich gafften.

Als endlich die Wallersbacher auf den Bänken des Konfirmandenzimmers glücklich untergebracht waren, saßen sie so stocksteif da, als ob sie in den Glaubensartikeln mit allen »Was ist das?« geprüft werden sollten, und im voraus sicher wären, kein Wort davon behalten zu haben. Die Wandervögel dagegen ließen sich nicht lange nötigen und improvisierten Sitzgelegenheiten, als die vorhandenen Bänke und Stühle nicht ausreichten.

Nun bot der Hausherr seinen Gästen in schlichten Worten ein herzliches Willkommen.

»Der Wandervogel«, wendete er sich dann an seine Mitbürger, »ist über ganz Deutschland verbreitet und vereinigt viele Tausend Buben und Mädchen, die aus den dumpfen Städten in die Berge und Wälder ziehen, um in fröhlichen Wanderfahrten ihre Gesundheit zu kräftigen, sich an der schönen Gottesnatur zu freuen und dabei die Bewohner der verschiedenen Gegenden ihres Vaterlandes in ihrer Eigenart kennen zu lernen. Ihr stellt euch die Städter gewöhnlich als Stubenhocker vor. Viele Erwachsene sind durch ihren Beruf an das Zimmer gefesselt, aber hier unsere Wandervögel mögen euch zeigen, daß in der Jugend der Sinn für eine gesunde, natürliche Lebensweise, die sie vor Verweichlichung schützt, noch lebendig ist. Die Wandervögel sind Singvögel, das werden sie euch beweisen. Aber ungleich den gefiederten Sängern begnügen sie sich nicht damit, ihre eigenen Lieder in die Lüfte zu schmettern, sondern sie lernen gern auf ihren Ausflügen neue Weisen kennen, tragen sie von Ort zu Ort und haben auf diese Art schon manches halbvergessene Volkslied wieder zu Ehren gebracht. So wollen sie auch heute in Wallersbach Lieder aus fernen Gegenden unseres Vaterlandes zum besten geben und dafür hören, was bei uns gesungen wird. Und nun, ihr Wallersbacher Burschen und Mädchen, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel und spitzt die Ohren, damit, wenn uns die Wandervögel wieder verlassen haben, ein Paar schöne Lieder, die ihr noch nicht kanntet, in eurem Gedächtnis haften geblieben sind.«

Als er schwieg, entstand eine feierliche Stille. Die Wallersbacher ließen kein Auge von Ingeborg, Rübezahl und dem Maler, die mit wichtigen Mienen leise aufeinander einsprachen. Auch in ihren Gefährten schienen die Worte des Pfarrers etwas wie das Bewußtsein einer ernsten Aufgabe geweckt zu haben. Selbst die Kleinsten verhielten sich still und erwarteten gespannt, auf welches Lied zunächst die Wahl fiel.

Bald pflanzte sich ein Flüstern durch ihre Reihen, das von der kleinen Gruppe ausgegangen war. Ein Neuling, der den Wortlaut noch nicht sicher im Kopf hatte, schlug verstohlen ein Liederheft auf. Die vorher gestimmten Gitarren wurden ganz leise nachgeprüft.

Alle blickten auf den Maler, der den Ton angab. Er nickte und dann erklang mit hellen Stimmen das alte Soldatenlied:

Wir fahren durch die Felder,
Durch Heide, Moor und Wälder,
Durch Wiese, Trift und Au,
So weit der Himmel blau.
Wir schütteln ab die Sorgen,
Was kümmert uns das Morgen?
Im Rücken laßt den Tod,
Das andre walte Gott.

Wie dabei die Augen der Sänger und Sängerinnen glänzten!

Nun belebten sich aber auch die Züge der Dörfler. Und als das Lied zu Ende war, brauchte sie niemand erst nach ihrem Urteil zu fragen; laut klatschten sie mit ihren arbeitgewohnten Händen Beifall.

Aber Mangold wollte sie zum Sprechen bringen und fragte ein Mädchen, das ihre prachtvollen, dunklen Zöpfe um den Kopf geschlungen trug:

»Nun, Katrin, wie war's?«

»Ei, arg schee, Herr Pfarrer«, antwortete die Kleine verschämt und fügte, allen Mut zusammennehmend, nach einer kleinen Pause hinzu: »Sie solle noch mehr singe!«

»Ei, sag's ihnen doch selbst«, lachte Mangold.

Doch da hielt sich die sonst so kecke Katrin mit beiden Händen den Mund zu und verstummte. Einige Burschen aber nahmen die Aufforderung auf und riefen durcheinander: »Mehr, – wos annerscht, – noch aans!« hinüber.

»Was soll's denn sein?« fragte der Maler und trat zu ihnen.

»Was Lustiges!« riefen die Burschen, und »Was Trauriges!« die Mädchen.

»Die Damen haben den Vorrang«, entschied Rübezahl, aus dessen Mund sich diese höfliche Redensart besonders schön anhörte; »also erst ›Was Trauriges!‹ für die Mädchen.«

»Und nachher seid ihr an der Reihe«, übertönte Liselottes helles Stimmchen die übrigen.

Der Zwischenraum zwischen den beiden Lagern wurde von Minute zu Minute kleiner, und es bedurfte keiner Vermittlung mehr, sie einander näherzubringen. Bei den Mädchen standen die Wiesenborner Pfarreskinder und unterhielten sich im reinsten Odenwälder Dialekt. Das weckte sofort Vertrauen, und auch die schwarze Katrin ließ sich nun willig in das Gespräch ziehen.

Aber der Maler schlug schon ungeduldig einige Akkorde auf seiner Zupfgeige an und bestimmte das folgende Lied. Klagend ging die Weise:

Mei Mutter mag mi net,
Und kein Schatz han i net,
Ei warum stirb i net?
Was tu i do?

Der Pfarrer betrachtete mit stiller Freude die ernsten Gesichter der jungen Sänger und Sängerinnen, die so andächtig und mit voller Hingabe sangen, als ob die Klage des einsamen Mädchens ihnen selbst tief ins Herz schnitte.

Aber auch die Zuhörer schienen tief ergriffen zu sein. Als der letzte Ton verklang, verhielten sie sich zunächst ganz ruhig, dann seufzte ein Mädchen tief auf und sagte: »Ach wie schee!«

»Ich hätt net gedacht, daß die Stadtleut so singe könnte«, faßte ein Bursche die Meinung zusammen. Seine Kameraden stimmten ihm lebhaft zu, und Mädchen wie Burschen waren sich einig, daß sie dieses Lied lernen wollten.

Die Wandervögel strahlten.

»Nun noch der Tod von Basel«, schlug Rübezahl vor. Das war nämlich sein Lieblingslied.

Diesmal wartete niemand, bis der Maler das Zeichen gab, sondern alle sangen frisch drauf los:

Als ich ein Junggeselle war,
Nahm ich ein steinalt Weib,
Ich halt' sie kaum drei Tage,
Da hat's mich schon gereut.

Beim letzten Vers summten schon die Wallersbacher die Melodie mit, und als es zu Ende war, wiederholten sie unter fröhlichem Lachen:

Das junge Weiberl, das ich nahm,
Das schlug mich nach drei Tag',
Ach lieber Tod von Basel,
Hätt' ich meine alte Plag'!

»Das hat aber mal eingeschlagen!« rief stolz der Maler Ingeborg zu.

In dem Lärm war eine Verständigung kaum möglich. Sie lächelte müde und nickte nur. Den Tod von Basel hatte sie nicht mitgesungen; die traurige Weise von vorhin hatte sich in ihrer Brust festgesetzt, und trotz ihres tapferen Widerstrebens so auf ihre Stimmung gedrückt, daß sie am liebsten der lauten Lustigkeit den Rücken gewendet hätte.

Den Wallersbachern boten die Konfirmandenbänke bald nicht mehr genug Bewegungsfreiheit. Als erst ein Bursche das Beispiel gegeben hatte, wählte sich jeder einen Platz, wo es ihm beliebte.

Stadt und Land waren nicht länger getrennt. Die jungen Dorfschönen schrien zwar laut auf, als der rote Rübezahl mit seinen langen Beinen über die hinterste Bank stieg und sich unversehens auf einen freien Platz in ihrer Mitte niederließ. Doch war ihr Schreck nur geheuchelt; keck flogen Rede und Antwort hin und her, und es dauerte nicht lange, so wagte auch schon die schwarze Katrin, den Eindringling wegen seines langen Schopfes zu necken. Eine Weile suchte er sich tapfer zu wehren; als seine Nachbarinnen aber nicht aufhörten, über ihn zu kichern und sich gegenseitig heimlich in die Seite zu stoßen, wurde es ihm unbehaglich zumute, und gern benutzte er die Gelegenheit, sich wieder unter seine Kameraden zu mischen, sobald der Pfarrer die einheimischen Sänger und Sängerinnen aufforderte, den Städtern zu zeigen, daß ihnen ebenfalls ein sangesfreudiges Herz vom Himmel verliehen worden sei, und sie diese kostbare Gabe wohl zu hüten verständen.

Die Frage, was zuerst gesungen werden sollte, war rasch entschieden. Die Mädchen wollten zeigen, daß auch ihre Kehlen imstande seien, gefühlvolle Töne hervorzubringen, und stimmten lebhaft für das im ganzen Odenwald und weit darüber hinaus beliebte »Mariechen saß weinend im Garten!«

Eine große Ziehharmonika trat an die Stelle der Gitarren und Mandolinen. Sie spielte die ersten Takte vor, dann fiel der zweistimmige Chor ein, in gemessenem Tempo, und die Töne durch gefühlvolles Schleifen miteinander verbindend, wie es sich für eine so wehmütige Geschichte geziemt.

War dieses Lied auch den Wandervögeln nicht unbekannt, so kargten sie doch nicht mit ihrem Beifall. Kaum war es verklungen, so stimmte die sangesfreudige Jugend auch schon ein anderes an, diesmal lachenden Mundes ein Schelmenliedchen:

Und alleweil rappel's am Scheuertor,
Und alleweil rappel's am Haus,
Und alleweil ist mein Schätzel draus,
Und alleweil muß ich mal naus.

Der Pfarrer brauchte sich nicht mehr darum zu sorgen, ob sich seine Gäste auch gut unterhielten. Im Fluge verging ihnen die Zeit. Fast ohne Pause wechselten ernste und heitere Lieder miteinander ab, und die fröhliche Gemeinschaft erzeugte bald eine so gehobene Stimmung, daß sogar urwüchsig laute Jauchzer von Zeit zu Zeit das Stimmengewirr übertönten. – –

»Aber warum singen Sie denn nicht mehr mit?« wendete sich Mangold an Ingeborg. Er hatte jetzt mit Verwunderung bemerkt, daß sie, die sonst in lustiger Gesellschaft eine der Fröhlichsten war, sich heute auffallend still verhielt und oft in Gedanken versunken stumm vor sich hin blickte, wenn ihre Gefährten sangen.

Zu lügen war ihr so ungewohnt, daß sie nicht erst Kopfschmerzen oder große Müdigkeit vorschützte, sondern ehrlich bekannte:

»Das Singen macht mir heute keine Freude. Ich dachte gerade daran, wie schön es jetzt draußen sein müßte in der stillen Winternacht.« – Als sie in seinen Zügen ein trauriges Erstaunen las, fügte sie schnell hinzu: »Gelt, Sie halten mich für schrecklich undankbar, weil ich das sage, nachdem Sie sich so viel Mühe um uns gegeben haben. Aber …«

»Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen,« unterbrach er sie freundlich, »denn auch mich treibt der Wunsch, allein zu sein, oft in die stille Natur, – – besonders in letzter Zeit habe ich mich da oft lange den glücklichsten Vorstellungen hingegeben. Ach, Fräulein Ingeborg, ich merke, ich bin ein großer Egoist. Ich brauche eine Menschenseele, in die ich mein übervolles Herz ausschütten kann, und jetzt, wo ich sehe, daß Sie doch nicht innerlich an dem edlen Wettstreit des jungen Volkes teilnehmen, ist mein erster Gedanke, Ihnen heute noch zu sagen, was mich lange schon bewegt, aber erst morgen, wenn ich gelegentlich mit Ihnen allein wäre, über meine Lippen kommen sollte. Wollen Sie mich anhören?«

Ingeborg war von seiner sonderbar bewegten Sprechweise so überrascht, daß sie ihn, statt zu antworten, nur fragend ansah. Eine bedrückende Ahnung stieg in ihr auf, als Mangold, ohne ihre Zustimmung abzuwarten, nach einem schnellen Blick in der Runde auf eine Ecke des weiten Raumes zuschritt, wo, von der Hängelampe nur mäßig erhellt, zwei leere Stühle standen.

Unsicher folgte sie ihm.

Niemand gab auf die beiden acht. Alle Sänger und Sängerinnen hatten sich gerade zu einem gemeinschaftlichen Vortrag vereinigt und für nichts anderes Augen.

›Wenn er mich nur nicht um etwas bittet, was ich ihm nicht geben kann‹, war Ingeborgs einziger Gedanke.

Als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, fest entschlossen, das Gespräch abzubrechen, sobald sich ihre Vermutung im geringsten bestätigen sollte, wagte sie kaum ihn anzusehen, so deutlich fühlte sie wieder seine so merkwürdig glänzenden Augen auf sich ruhen.

Mit leiser, bebender Stimme fuhr er fort:

»Fräulein Ingeborg, ich kann keine großen Umschweife machen. Seit langer Zeit ist mein Herz von dem liebsten und schönsten Mädchen erfüllt, das ich je kennen gelernt habe, ich wagte aber nicht zu hoffen, je ihre Liebe zu erringen. In der letzten Zeit litt ich so unter der Ungewißheit, daß ich mich entschloß, eine Entscheidung herbeizuführen, wie sie auch fallen mochte. Heute endlich …«

»Um Gottes willen, sprechen Sie nicht weiter!« unterbrach Ingeborg mit fliegendem Atem. Sie hatte sich schnell erhoben und abwehrend die Hände vor sich gestreckt. Dabei zitterten ihre Knie, daß sie sich an den alten Schrank lehnen mußte, um von einer plötzlichen Schwäche nicht zu Boden gezogen zu werden.

Verständnislos blickte der Pfarrer zu ihr auf. Dann dämmerte in seinem Gehirn der wahre Zusammenhang. Ein schalkhaftes Lächeln zuckte über sein Gesicht, als er ruhig fortfuhr:

»Heute endlich wurde ich aus den peinigenden Zweifeln erlöst. Magda, die älteste Tochter meines Amtsbruders Bender, die Sie ja auch kennen, beantwortete meine Frage, ob sie sich vorstellen könnte, an meiner Seite glücklich zu werden, mit einem freudigen »Ja«. Übermorgen darf ich sie in meine Arme schließen. – Sehen Sie, dieses beseligende Geheimnis konnte ich einfach nicht länger für mich behalten.«

Ingeborg war es bei diesen Worten, als ob eine zentnerschwere Last von ihrer Seele fiele. Gleichzeitig geriet sie aber wegen ihrer voreiligen Unterbrechung in eine tödliche Verlegenheit, und sie wagte kaum den Kopf zu erheben, als sie nun ihre herzlichsten Wünsche aussprach.

Doch Mangold verlor kein Wort über den Zwischenfall. Er war glücklich, einen Menschen zu haben, mit dem er von seiner Auserwählten sprechen konnte und wurde nicht müde, in den leuchtendsten Farben sein künftiges Leben auszumalen.

Ingeborgs anfängliche Verlegenheit verwandelte sich beim Zuhören allmählich in einen Groll gegen Tante Minchen. Hätte ihr diese nicht so oft Mangold angepriesen, dann wäre sie sicherlich nicht so leicht darauf gekommen, seine Worte auf sich selbst zu beziehen.

In angeregtem Plaudern saßen die beiden wähl eine Viertelstunde abseits von ihren Schutzbefohlenen, die sich ohne sie nicht weniger gut unterhielten. Erst die Frage der alten Haushälterin, ob es nicht Zeit für die Äpfel und Apfelsinen sei, mahnte den Pfarrer an seine Gastgeberpflichten.

»Ist's denn schon so spät?« fragte er verwundert.

»Zehn vorbei«, antwortete Alwine mit einem Blick auf die große Wanduhr. »Auch für das Christbäumchen wär's bald Zeit.«

»Das hätte ich wirklich vergessen!« rief Mangold, und sprang erschrocken in die Höhe. »Reiche du das Obst herum und lasse mich für das andere sorgen.«

»Eine Überraschung?« fragte Ingeborg neugierig, als die Alte gegangen war.

Der Pfarrer schüttelte lachend den Kopf.

»Ich möchte zum Schluß nur daran erinnern, daß das liebe Weihnachtsfest vor der Tür steht und den Abend, mit einem schönen Weihnachtslied ausklingen lassen. Ich ließ mir heute schon mein Bäumchen bringen, und habe es schnell geputzt, damit es uns mit seinem Kerzenschein die rechte Weihnachtsstimmung verleihe. Wollen Sie mir helfen?«

»Wie lieb Sie an alles gedacht haben, innigsten Dank für all Ihre Güte!« sagte sie aus vollem Herzen und reichte ihm ihre Hand. Nachdem sie jetzt nicht mehr an Tante Minchens Anspielung zu denken brauchte, zeigte sie ihm frei die freundschaftliche Zuneigung, die sie immer für ihn gefühlt, doch in der Furcht vor Mißdeutung zurückgehalten hatte.

Und Mangold, der in seiner glücklichen Bräutigamsstimmung für jedes warme Wort doppelt empfänglich war und am liebsten die ganze Welt an seinem Glück hätte teilnehmen lassen, ließ ihre Hand erst los, nachdem er, einer plötzlichen Eingebung folgend, einen feurigen Kuß darauf gedrückt hatte. Und dann geriet er über seine eigene Kühnheit in eine so komische Verwirrung, daß Ingeborg, die im ersten Augenblick nicht wußte, wie ihr geschah, herzlich lachen mußte.

Da blickte er scheu um sich, ob auch niemand die Überschwänglichkeit bemerkt habe, und als er sah, wie die Buben und Mädchen den eben von Alwine hereingebrachten Obstkorb umdrängten und ihre Augen allein auf die leuchtenden Früchte gerichtet hielten, ließ er sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken und lachte mit. –

Als sie das im Lichterglanz strahlende Bäumchen mit vereinten Kräften vorsichtig aus dem Wohnzimmer auf die Diele trugen, begrüßte ein langgezogenes, vielstimmiges »Ah« die hübsche Überraschung. Die Kleinsten jubelten laut und klatschten wonnetrunken in die Hände.

Pfarrer Mangold hatte richtig gerechnet. Der Anblick des Weihnachtsbaumes genügte, um alle jungen Herzen sogleich in die Stimmung des schönsten Festes zu versetzen und wie selbstverständlich Weihnachtslieder auf die Lippen zu bringen. Wer den Anfang machte, wäre schwer zu entscheiden gewesen; jemand summte »Stille Nacht, heilige Nacht«, andere sangen erst leise, dann immer lauter mit, und nach wenigen Takten wogten die Töne des lieben Liedes andachtsvoll durch die weite Halle. Diesmal schloß sich Ingeborg nicht aus, sondern verband ihren klangvollen Sopran willig mit den anderen Stimmen.

»Wie schön Sie singen!« rief der Pfarrer am Schluß bewundernd aus.

»Das ist noch gar nichts«, ließ sich sogleich ein helles Stimmchen in der Nähe hören. »Am Weihnachtsabend singen wir zwei Lieder dreistimmig!«

»Sorg' nur, daß du bis dahin deine zweite Stimme nicht vergißt«, rief Eva in erhabenem Ton der vorlauten Sprecherin zu.

Doch die ließ sich heute nicht von der älteren Schwester einschüchtern. Sie war ihrer Sache sicher und erbot sich, es auf der Stelle zu beweisen.

Dieser Vorschlag wurde natürlich von allen mit Begeisterung aufgenommen. Besonders der Pfarrer bat so herzlich, daß Ingeborg, ohne sich lange zu zieren, seinen Wunsch erfüllte. Sie nickte ihren Schwestern zu, die schon auf dieses Zeichen gewartet hatten und ohne eine Spur von Verlegenheit neben sie traten.

Auf einen Wink des Pfarrers zogen sich die Zuhörer zurück und ließen zwischen sich und den drei schmucken Mädchen unter dem Lichterbaum einen freien Raum.

Ingeborg und Eva hingen ihre Gitarren um und schlugen leise die ersten Töne an. Liselotte horchte gespannt hin und nickte, als sie den ihrigen herausgefunden hatte.

Einen Augenblick war es, als ob die vielen Menschen den Atem anhielten, so still wurde es in dem Raum. Dann schwebten drei glockenhelle Stimmen erst leise, dann immer sicherer über die Köpfe hin und verkündeten die frohe Botschaft: Es ist ein Ros' entsprungen.

Waren es die tiefen, inneren Erlebnisse dieses Tages, die Mangold beim Anhören dieses alten Liedes so wundersam ergriffen, daß ihm die Augen feucht wurden? Wie gebannt hielt er auf das entzückende Bild der drei jugendfrischen Gestalten den Blick geheftet. In voller Hingebung ließen sie ihre Stimmen erklingen, vollständig unbekümmert, so vielen Augen und Ohren gegenüberzustehen. Um sich nicht ablenken zu lassen, blickten sie wie auf Verabredung über die Köpfe hinweg in eine unbestimmte Ferne, aus der sie erst zurückzukehren schienen, als nach dem Verklingen des letzten Tones der Pfarrer ihnen dankerfüllt die Hände entgegenstreckte. Und dann erröteten sie alle drei ganz beschämt über die vielen ehrlich gemeinten Lobsprüche, mit denen sie von den Wallersbachern überhäuft wurden. Denn die Wandervögel nickten ihnen nur anerkennend zu und ließen die andern sprechen; doch ihre Mienen verrieten, daß sie auf den Erfolg ihrer Freundinnen so stolz waren, als ob sie selbst daran teil hätten.

»Nun auch noch das zweite Lied!« bat Mangold dringend.

Die Mädchen ließen sich nicht lange nötigen. Die Zuhörer wichen zurück, und sogleich trat wieder Stille ein.

»In dulci jubilo« entströmte diesmal den jungen Kehlen. In köstlicher Frische und Reinheit setzte die Melodie ein; alle drei schienen bemüht, ihr Bestes zu geben, so glänzten ihre Gesichter vor freudiger Erregung. Ohne die geringste Unsicherheit folgten die Begleitstimmen der führenden ersten, und Liselotte bewies glänzend, wie unberechtigt Evas Mißtrauen gewesen war.

Diesmal blieb der Pfarrer lange schweigsam und lächelte nur stillvergnügt vor sich hin, während die andern Zuhörer die Sängerinnen umdrängten. Während er den Tönen gelauscht und die reizvolle Gruppe im Auge behalten hatte, als ob er sie für immer seinem Gedächtnis einprägen wollte, war ein merkwürdiger Plan in seiner Seele lebendig geworden.

»Darf ich einmal sehr unbescheiden sein?«

Die Umstehenden schwiegen respektvoll, als er sich mit dieser Frage an Ingeborg wandte.

Er wartete nicht erst eine Antwort ab. In einem Ton, der deutlich verriet, wie sehr ihm am Herzen lag, was er sagte, fuhr er mit glühendem Eifer fort:

»Sie haben uns eine große, reine Freude mit Ihrem Singen gemacht, eine Freude, die ich gern einer viel größeren Zahl meiner Gemeindeglieder zukommen lassen möchte. Und als ich darüber nachsann, wie das geschehen könnte, sah ich Sie im Geist vor dem Altar unserer kleinen Kirche. Bringen Sie es über sich, nein zu sagen, wenn ich Sie recht herzlich bitte, morgen den Gottesdienst durch ihre beiden Lieder zu verschönen? Wollen Sie zur Feier des vierten Advents beitragen?«

Liselchen nickte eine so energische Zusage, daß alle lachen mußten.

»Ich danke dir«, sagte Mangold freundlich und streichelte ihren blonden Lockenkopf. »Doppelt gibt, wer schnell gibt.« Dann wartete er gespannt, was ihre beiden Schwestern antworten würden.

Die waren von dem unerwarteten Vorschlag so verblüfft, daß sie nicht gleich wußten, was sie sagen sollten.

»Aber wir haben keine andern Kleider bei uns und können doch unmöglich in unseren roten Sweatern vor der Gemeinde singen«, wandte endlich Eva zaghaft ein.

»Die sind doch ganz neu!« protestierte die Kleinste lebhaft.

»An der Kleiderfrage lasse ich meinen schönen Plan nicht scheitern«, sagte der Pfarrer mit ruhiger Beharrlichkeit. »Weihnachten ist ein Freudenfest, die farbenfrohen Kleider passen also zu der Stimmung, die in dieser Zeit in uns lebendig sein soll. Wenn das Ihre einzigen Bedenken sind …«

»Wir geben schon nach!« rief Eva lachend, und auch Ingeborg bestätigte mit froher Miene ihre Bereitwilligkeit, seine Bitte zu erfüllen.

Der Pfarrer bedankte sich wie für ein großes Geschenk. Und während seine Gäste sich Äpfel, Birnen und Nüsse gut schmecken ließen, summte er leise vor sich hin und hielt sich für den glücklichsten Menschen unter der Sonne.

Hätte er nicht selbst das Signal zum Aufbruch gegeben, so wären die Wallersbacher Burschen und Mädchen gern noch viel länger in der Gesellschaft der jungen Städter, die so gar nicht stolz waren, sitzen geblieben. Aber das Schönste muß ein Ende haben. Der Pfarrer sprach allen aus der Seele, als er in einem Abschiedswort sagte, daß dieser Abend bei jedem der Teilnehmer unvergessen bleiben werde.

Dann führte er in einem kurzen Gebet die Gedanken zu dem Spender alles Guten und wünschte danach allen eine gute Nacht.

Nun begann ein fröhliches Händeschütteln, bei dem er noch einmal mit Befriedigung feststellte, wie schnell die gemeinsame Freude an der Musik Stadt und Land einander nahe gebracht hatte.

Als die Einheimischen das Haus verlassen hatten, nahm die alte Alwine die Mädchen mit sich nach oben. Mangold führte die Buben in das Konfirmanden-Schulzimmer, wo gut gefüllte Strohsäcke in Reih und Glied auf dem Boden lagen.

Eine Zeitlang schaute er noch zu, wie die Ältesten dafür sorgten, daß alle bequem liegen konnten und warm zugedeckt wurden, und erst als er die Gewißheit hatte, daß seine Gäste mit dem improvisierten Lager zufrieden waren, zog er sich zurück.

›Sie haben keine Ursache, mich zu beneiden‹, dachte er, als er auf dem alten Sofa im Wohnzimmer ausgestreckt lag. So hart hatte er es sich nicht vorgestellt. Doch diese Unbequemlichkeit vermochte seine glückliche Stimmung nicht zu beeinträchtigen. Er ließ noch einmal alle Ereignisse dieses Tages an seinen Augen vorüberziehen, und es waren beseligende Vorstellungen, die sich daran knüpften.

Ehe diese in schöne Träume übergingen, lagen die Wandervögel schon längst in tiefem Schlaf.

* * *

»Se reiche net, se reiche net!« raunte beim Frühstück Alwine dem Pfarrer zu, als er sich gerade im Stillen darüber freute, wie heißhungrig seine jungen Gäste über die frischen Brötchen herfielen, die er trotz eines schwachen Widerspruchs der Führerin wieder gespendet hatte.

»Dann hole doch schnell noch fünfzehn oder besser zwanzig«, gab er lachend zurück. Er fühlte sich so reich und glücklich, daß er sich über die Kosten, die ihm der Besuch der Wandervögel verursachte, nicht die geringsten Gedanken machte. Die alte Haushälterin dagegen zuckte mit den Schultern und brummte etwas Unverständliches vor sich hin, als sie langsam davonschlürfte, um den Auftrag auszuführen. Ihr Herr würde sich schön wundern, wenn er nachher im Haushaltungsbuch die Ausgaben für diese beiden Tage wiederfände. Und dabei hatte er ihr anfangs auseinandergesetzt, daß die Wandervögel für ihre Verpflegung selbst sorgten und nur um ein Obdach für die Nacht bäten!

Wenigstens hatten sie sich Proviant für das Mittagessen mitgebracht. In zwei großen Kesseln waren schon Suppentafeln mit nahrhaften Zutaten eingerührt worden, und Milchreis sollte die Ergänzung bilden. Alwine erbot sich, während des Gottesdienstes auf das Essen zu achten, was von den beiden, von Ingeborg ausgewählten Köchen mit großem Dank angenommen wurde, da sie nur sehr ungern darauf verzichtet hatten, die Wiesenborner Pfarrerstöchter in der Kirche singen zu hören.

Die Unterhaltung der verschiedenen Gruppen drehte sich natürlich hauptsächlich um dieses große Ereignis. Bei Tageslicht betrachtet war Ingeborg der Plan des Pfarrers doch gar zu ungewöhnlich erschienen, und sie hatte nochmals Vorstellungen gegen ihn erhoben. Aber Mangold wollte keine davon gelten lassen, und schien sich im Gegenteil wie ein Kind auf den Eindruck zu freuen, den das Terzett auf seine Bauern ausüben sollte.

Da hatte Ingeborg ihren Widerstand aufgegeben.

»Ich habe eine Anzahl Gesangbücher für diejenigen unter euch, die mit uns in die Kirche gehen wollen«, verkündete er eine halbe Stunde vor dem Beginn des Gottesdienstes, als zum erstenmal die Glocken erklangen und die Bewohner der abseits vom Dorf liegenden Gehöfte mahnten, daß es Zeit sei, sich auf den Weg zu machen.

Einer der ersten, die sich meldeten, war Gustav Pieper, der Maler.

»Ich meinte, du wolltest Schneeskizzen machen?« fragte Fink erstaunt.

»Bin heute nicht recht aufgelegt dazu«, kam es leichthin zurück. »Vielleicht geben mir auch die drei Mädchen vor dem Altar Anregung zu einem Bild.«

So gut konnte Rübezahl seine Meinungsänderung nicht bemänteln; aber auch er suchte nach einem guten Grund, sich den andern anzuschließen, denn der beabsichtigte Spaziergang hatte jetzt jeglichen Reiz für ihn verloren. Seine jüngeren Kameraden, die ihm tags zuvor so stolz beigestimmt hatten, verteilten Gesangbücher unter sich, als ob sie nie andern Sinnes gewesen wären. Da wandte er sich zu dem Maler und sagte mit einem herablassenden Lächeln: »Gut, machen wir dem Pfarrer die Freude, seine Predigt anzuhören; auch ich opfere ihm die Stunde.«

Das Lächeln, mit dem sein Freund diese Worte aufnahm, gefiel ihm nicht. Schnell wandte er ihm den Rücken und fragte bescheiden den Pfarrer, ob auch für ihn ein Gesangbuch übrig sei«

»Wie schön, daß Sie alle das Bedürfnis haben, sich meiner Gemeinde anzuschließen«, sagte der ahnungslose Mangold hocherfreut und reichte ihm das letzte Buch. Rübezahl steckte es eilig in die Tasche, murmelte einen kurzen Dank und machte, daß er aus dem Bereich der ihn treuherzig anblickenden Augen kam.

Als wieder die Glocken mit ihren ehernen Stimmen die Luft erfüllten, gingen die Wandervögel sogleich zur Kirche hinüber, um sich einen guten Platz zu sichern. Denn die alte Alwine hatte berichtet, daß die Straße schon schwarz von Leuten sei. Dies stellte sich zwar als eine Übertreibung heraus, doch strömten wirklich so viele Wallersbacher ihrem Gotteshaus zu, wie sonst nur an hohen Feiertagen. Wie ein Lauffeuer hatte sich nämlich im Dorf verbreitet, daß es heute während des Gottesdienstes etwas Besonderes zu sehen und zu hören geben werde.

Unter anderen Umständen hätten vielleicht die merkwürdigen Formen der altersgrauen, ins Grünliche schimmernden Zylinder die Spottlust der Städter erregt. Aber die halb andächtige, halb erwartungsvolle Stimmung, die sich unwillkürlich aller bemächtigt hatte, hielt auch das loseste Mundwerk in ihrem Bann. Dazu wurden sich die Wandervögel bald bewußt, daß ihr eigenes, nichts weniger als feiertägliches Äußere den andern Kirchgängern zu mancher Bemerkung Anlaß gab; so wenig sonntäglich gekleidete Gestalten hatten die noch nie an diesem heiligen Ort gesehen.

Rechts saßen die Männer, links die Frauen. Auch die Wandervögel paßten sich diesem Brauch an, getreu ihrem Grundsatz, die Sitten und Gebräuche der Menschen, mit denen sie auf ihren Fahrten in Berührung kamen, nie wissentlich zu verletzen.

Auf der vordersten Bank, die der Familie des Pfarrers zustand, und sonst nur von der alten Haushälterin benutzt wurde, nahmen die drei Sängerinnen Platz, wie Mangold es mit ihnen verabredet hatte. Ernst und feierlich war ihnen zumute, und ein Gefühl hoher Verantwortlichkeit hatte von ihnen Besitz ergriffen. Selbst Liselotte malte sich nicht mehr aus, wie Vater und Tante Minchen staunen würden, wenn sie dieses große Erlebnis erführen. Andächtig hielt sie die Hände im Schoß gefaltet und sagte sich einmal nach dem andern den Wortlaut der Lieder vor, aus Angst, ihr Gedächtnis könne sie doch noch im entscheidenden Augenblick im Stich lassen. Aber auch Eva und Ingeborg schlug das Herz schneller, obgleich sie ihrer Sache ganz sicher waren. Sie fühlten wohl, daß es etwas anderes war, an diesem heiligen Ort vor der Gemeinde zu singen, als vor den Wandergefährten und dem jungen Volk aus dem Dorf.

Mit dem Eintritt des Pfarrers verstummten die Glocken. Gesenkten Hauptes durchschritt Mangold den Mittelgang zwischen den vollbesetzten Bänken und verschwand in der Sakristei, während die Orgel leise das Vorspiel begann.

Als die Gemeinde in die Melodie einfiel, hoben manche alten Kirchenbesucher die Köpfe, so kräftig übertönten die frischen Stimmen der Wandervögel die schleppende Singweise der Wallersbacher.

Der Pfarrer trat vor den Altar und verlas die Liturgie. Den drei Mädchen klangen die Worte wie eine unverständliche, fremde Sprache ans Ohr. Sie hatten die größte Mühe, ihre Erregung zu bemeistern, und warteten gespannt auf das Zeichen, daß sie die Stufen emporsteigen sollten.

Nun schwieg der Pfarrer und nickte ihnen freundlich zu.

Ein Flüstern lief durch die Kirche. Jung und alt reckte die Hälse, um sich keine Bewegung der drei entgehen zu lassen, die langsam die beiden Stufen zum Altar hinaufstiegen und jetzt der Gemeinde gegenüberstanden, Ingeborg zwischen ihren beiden Schwestern.

Die Wallersbacher taten wohl daran, weit die Augen zu öffnen; ein so liebliches Bild, wie es die drei Schwestern in ihren roten Wämsern darboten, bekamen sie nicht oft zu schauen. Schmerzlich empfand der Maler, daß sein Können nicht ausreichte, die ganze Lieblichkeit der in holder Verwirrung leicht erröteten Gesichter wiederzugeben; trotzdem zog er sein Skizzenbuch hervor, um die Erinnerung an diese Stunde wenigstens durch eine kleine Zeichnung zu vertiefen.

Ein leiser Akkord der Orgel zitterte durch den Raum. Eva und Liselotte blickten zu Ingeborg auf und setzten sicher mit ihr ein.

Schon nach den ersten Takten fiel der letzte Rest von Befangenheit von ihnen ab. Sie waren im ersten Augenblick fast erschrocken, wie viel lauter als in einem Wohnraum hier ihre Stimmen erklangen, freuten sich dann aber, wie mächtig die ihrer Brust entströmenden Tonwellen den weiten Raum ausfüllten, und vergaßen, die Augen zur Orgel erhoben, vollständig, wie viele Blicke auf ihnen ruhten.

Als der erste Vers verklungen war, öffnete sich die Eingangstür so leise, daß nur die Allernächsten auf das schwache Geräusch hin den Kopf wandten. Der einfallende Lichtschein hatte aber auch Ingeborgs Augen abgelenkt, und so sah sie in einem flüchtigen Blick den Zuspätgekommenen eintreten und im dämmerigen Hintergrund neben der Tür stehen bleiben. Seelenruhig hob sie wieder die Augen und sang weiter. Doch die schlanke, dunkle Gestalt hatte sich fest ihrem Gesichtskreis eingeprägt. Ingeborg sah sie mit unverminderter Schärfe vor sich, mußte aber nach einer kleinen Weile wie von einer magnetischen Gewalt gezwungen unwillkürlich wieder zu ihr Hinblicken.

Und dann schoß ihr das Blut zum Herzen, daß ihr Atem zu stocken drohte, und die Stimme fast versagte. Überrascht blickten ihre beiden Schwestern sie an. Aber schon nach einer Sekunde war der Anfall von Schwäche überwunden, und auch der schärfste Beobachter hätte keine Veränderung in ihren wieder der Orgel zugewendeten Zügen entdecken können.

Wie töricht ich bin, daß ich ihn in einem wildfremden Menschen zu erkennen glaube, dachte sie erschrocken. Aber es half ihr kein Kämpfen mehr, und es war zwecklos, daß sie die Augen schloß, – Arnold Körners Gesicht stand vor ihrer Seele und ließ sich durch keine anderen Vorstellungen verdrängen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie nach Beendigung des Liedes wieder ihren Platz auf der Bank einnehmen durfte, und Mangolds Stimme aufs neue die eingetretene Stille belebte. Aber seinen Worten konnte sie auch jetzt nicht folgen. Und dabei wußte sie doch aus des Vikars eigenem Munde, daß er Wiesenborn an diesem Tag nicht verlassen wollte.

Ort und Zeit vergessend, blickte sie sinnend zu Boden, und Eva mußte sie anstoßen, als der Pfarrer für das zweite Lied eine Unterbrechung eintreten ließ. Da fuhr sie wie aus einem Traum erwachend in die Höhe und schloß sich ihren Schwestern an.

Bevor sie sang, wollte sie sich von ihrem Irrtum überzeugen, aber der Platz neben dem Eingang war jetzt leer.

Das Lied »In dulci jubilo« Paßte durchaus nicht zu ihrer augenblicklichen Stimmung. Und doch strahlten die drei Stimmen eine Freude aus, die sich den Zuhörern tief in die Herzen senkte und selbst die daraus folgende Predigt beeinflußt zu haben schien. Nur Ingeborg wußte, aus welchem besonderen Grunde es heute Mangold so leicht wurde, von der höchsten Freude zu sprechen, die den Menschen widerfahren sei. Sie hörte aus seinen Worten deutlich das überströmende Glück seines eigenen Herzens hervorklingen und den Wunsch, die ganze Gemeinde daran teilnehmen zu lassen. Ja, er hatte wohl Ursache, so begeistert und dankerfüllt von einer gnadenbringenden Weihnachtszeit zu sprechen!

Der Gottesdienst war zu Ende, und unter den brausenden Klängen der Orgel strömte die Menge dem Ausgang zu. Die drei Mädchen schlossen sich den Wandervögeln an, die ihnen schon jetzt zuflüsterten, wie schön ihr Gesang gewesen sei. Aber auch die Wallersbacher lächelten ihnen freundlich zu, die Männer mit Wohlwollen, die alten Frauen mit Rührung im Blick, und auch sie schienen alle dankbar und zufrieden zu fein.

»Da steht ja unser Vikar«, sagte plötzlich Eva in höchstem Erstaunen und hielt Ingeborgs Arm fest.

»Wo? Wo?« fragte Liselotte aufgeregt. Eva zeigte es ihr.

Nun wußte Ingeborg, daß sie sich doch nicht getäuscht hatte. Mit erzwungener Ruhe folgte sie mit den Augen der angegebenen Richtung und begegnete den auf sie gerichteten Blicken des Vikars. Er nickte ihr kaum merklich zu und blieb ruhig stehen, da der Weg ins Freie an seinem Platz vorbeiführte.

»Tante Minchen hat ihn mit ihrer dummen Angst um Liselotte doch noch dazu gebracht, Kindermädchen zu spielen«, flüsterte Eva spöttisch ihrer Schwester zu.

Ingeborg zuckte die Schultern. Einen besseren Grund fand sie nicht, doch eine innere Stimme sagte ihr, daß nach der gestrigen Unterredung Tante Minchens Sorge allein ihn wohl kaum veranlaßt hätte, seinen Entschluß zu ändern und ein für beide Teile peinliches Zusammensein herbeizuführen.

Bei dem langsamen Vorwärtsschreiten hatte sie wenigstens Zeit, sich zu sammeln. Gleich den vor ihr gehenden Schwestern reichte sie ihm zur Begrüßung die Hand und sah ihn dabei ruhig an. Sie hörte ihn auch sagen, daß er zu Mangold in die Sakristei wolle, und im nächsten Augenblick waren sie schon wieder durch den vorwärtsdrängenden Menschenstrom getrennt. –

»Körner! Das ist aber eine Überraschung!« rief der Pfarrer, als er seinen Freund erblickte, und streckte ihm beide Hände entgegen. »Was hat dich denn heute so früh auf die Beine gebracht? Oh, ich blinder Hesse, daß ich noch lange frage! Also …?!« Unter verschmitztem Augenzwinkern drohte er ihm mit dem Finger.

Der Vikar lächelte gequält bei dieser lebhaft hervorgesprudelten Begrüßung.

»Du scheinst ja heute sehr gut aufgelegt zu sein!« sagte er statt einer direkten Antwort. »Übrigens hätte es sich schon gelohnt, wegen deiner Predigt einmal früher aufzustehen. Das war ja wirklich, als wenn der Geist über dich gekommen wäre! Ich habe dich heute von einer Seite kennen gelernt, die mir ganz fremd war. Du wirst mir hoffentlich nicht übel nehmen, wenn ich offen bekenne: eine Adventspredigt in dieser warmen Begeisterung hätte ich dir nicht zugetraut. – Aber warum lachst du denn fortwährend? Ich spreche nur meine innerste Überzeugung aus.«

»Ich wäre der undankbarste Mensch unter der Sonne, wenn ich nicht nach Kräften loben und preisen wollte«, antwortete Mangold, und seine Augen strahlten. »Aber wenn du von dem heutigen Gottesdienst sprichst, ist es nicht mehr als recht und billig, daß deine Wiesenborner Freundinnen ein besonderes Lob für ihre stimmungsvolle Unterstützung abbekommen. War's nicht eine gute Idee von mir, das reizende Kleeblatt aufzufordern? Du hast sie doch noch singen gehört?«

»Meine Wiesenborner Freundinnen!« wiederholte Körner in bitterem Ton und verzog das Gesicht. »Nun kann ich mir allerdings deine Stimmung erklären.«

Mangold kniff die Augen zusammen, sah ihn sekundenlang forschend an und rieb sich dann mit vergnügtem Schmunzeln die Hände.

»Man könnte meinen, du seist eifersüchtig, alter Freund. Gönnst du mir nicht einmal für so kurze Zeit die Freude, Buchners liebe, schöne Kinder bei mir zu haben?«

»Wer spricht denn davon?« erwiderte der Vikar abweisend. Er empfand aber in demselben Augenblick, daß er einen falschen Ton angeschlagen hatte und fügte mit einem gezwungenen Lächeln hinzu: »Du weißt, daß ich dir von Herzen alles Gute gönne.«

»Ja, das weiß ich, alter Freund, und darum will ich dir auch nicht länger die große Neuigkeit vorenthalten, die mir auf der Zunge brennt, solange ich dich vor mir sehe. Setz dich oder halte dich fest, denn es ist etwas Überwältigendes. Seit gestern bin ich verlobt. – Aber mein Gott, was ist dir? Du bist ja ganz weiß geworden!«

Besorgt griff er den Vikar beim Arm, als ob er ihn vor dem Zusammenbrechen bewahren wollte.

Alle Farbe war aus Arnold Körners Gesicht gewichen. So elend fühlte er sich plötzlich, daß er den scherzhaft gemeinten Vorschlag befolgen und sich auf die Lehne eines neben ihm stehenden Stuhles stützen mußte. Aber sogleich nahm er alle Kraft zusammen und reichte Mangold die Hand. »Ich habe es geahnt, – werde glücklich mit ihr«, kam es abgerissen von seinen Lippen. Er wollte noch mehr sagen, aber sein Freund drückte ihn auf den einzigen Stuhl der Sakristei nieder und nahm selbst auf der Tischkante Platz.

»Lieber Körner,« begann Mangold nach einigen Sekunden, in denen er in stummem Staunen den vor ihm Sitzenden kopfschüttelnd betrachtet hatte, »hier ist etwas nicht in Ordnung. Oder sollte es wirklich an mir liegen, daß die beiden ersten Menschen, die ich an meinem Glück teilnehmen lassen will, bei der Ankündigung meiner Verlobung beinah von Sinnen kommen? Sähst du nicht so jämmerlich drein, dann würde ich es als einen guten Scherz betrachten. Als ich nämlich gestern vor Fräulein Ingeborg mein Herz ausschütten wollte, hatte sie nach den ersten Worten nichts Eiligeres zu tun, als mir einen Korb zu geben und du …«

»Verzeih, ich verstehe nicht«, unterbrach der Vikar verwundert. »Du sagtest doch erst, daß du dich mit ihr verlobt habest?«

»Ich mich mit Fräulein Ingeborg verlobt haben?« wiederholte Mangold in hellem Staunen und sah sein Gegenüber starr an. »Entschuldige das harte Wort, bist du verrückt oder weiß ich nicht mehr, was ich sage?«

Eine Weile blickten sich die beiden mit halbgeöffnetem Mund sprachlos an, dann brach Mangold in ein fröhliches, durch die Heiligkeit des Ortes nur wenig gedämpftes Lachen aus.

Aber der Vikar runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Mit wem in aller Welt hast du dich denn eigentlich verlobt?« fragte er endlich, wie aus einem Traum erwachend.

»Mit Fräulein Magda Bender, der ältesten Tochter unseres Amtsbruders Bender, wohnhaft zu Büdingen in Oberhessen, wo ich mir ihr Jawort morgen mündlich bestätigen lassen werde«, deklamierte Mangold feierlich. – »So, nun erkläre mir auch gefälligst, warum dich diese Nachricht so erschüttert hat.« Er wollte noch hinzufügen, daß das Lächeln, das jetzt des Vikars Lippen umspielte, nicht auf übergroße Intelligenz schließen lasse, widerstand aber mannhaft der Versuchung, seine überlegene Stellung auszunutzen und sich jetzt für manche boshafte Bemerkung zu rächen, die er während der gemeinsamen Studienzeit geduldig eingesteckt hatte.

Als Körner, beharrlich schweigend, aufstand und sich dem Ausgang zuwandte, schlug ihn der Pfarrer auf die Schulter und sagte mit gutmütigem Lächeln:

»Armer Kerl, ich habe dir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber nun kannst du beruhigt sein und wieder hoffen. Es liegt mir natürlich fern, mich in deine Herzensangelegenheiten eindrängen zu wollen, aber du hast dich selbst genug verraten, und ich müßte ja vollständig blind sein, wenn mir jetzt noch nicht klar wäre, wie alles zusammenhängt. – Gib mir mal deine Hand und laß dir von mir herzlich Glück wünschen.«

Der Vikar schüttelte den Kopf und sagte mit zusammengekniffenen Lippen: »Laß bitte, es nützt ja doch nichts.«

Aber der andere hatte schon die widerstrebende Rechte ergriffen und preßte die gepflegte Hand kraftvoll in seiner derben Bauernfaust.

»Seit wann bist du denn solch Kopfhänger, Körner? Oder weißt du, daß sie einen anderen liebt?«

»Bis vor fünf Minuten glaubte ich es zu wissen. Aber nachdem du mir gesagt hast, daß sie dir infolge eines Mißverständnisses einen Korb gab …«

»Also mich hast du als gefährlichen Rivalen betrachtet! Mach' mich doch nicht eingebildet!« lachte Mangold. »Sonst kommt niemand in Frage? Etwa einer der langhaarigen Freunde?«

»Ich glaube nicht.«

»Das wär' auch nicht mein Geschmack gewesen«, sagte Mangold befriedigt. »Sicher sind's ja gute Kerle, aber als Wandergenossen für den langen Lebensweg würde ich an Ingeborgs Stelle, – du erlaubst doch die Vertraulichkeit, – dich entschieden vorziehen. – Sag mal, woran fehlt's nun noch eigentlich?«

»An der Hauptsache. Sie liebt mich nicht«, entgegnete der Vikar bitter.

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Gestern erst. – Das heißt, nicht so in dürren Worten, aber doch in einer Weise, die keinen Zweifel aufkommen lassen konnte.«

»Was dich aber nicht hinderte, heute schon bei Nacht und Nebel ihrer Spur zu folgen. Armer Kerl!«

»Tu mir den einzigen Gefallen und höre endlich auf zu grinsen«, sagte Körner mit einer ungeduldigen Bewegung in abweisendem Ton. »Du bist viel zu glücklich, als daß dir mein Leid nahegehen könnte. Ich nehme dir das nicht übel, aber um geduldig deine Scherze anzuhören, dazu ist mir die Sache zu ernst.«

Da legte ihm der Pfarrer die Hand auf die Schultern, sah ihm frei in die Augen und sagte ruhig:

»Kannst du wirklich glauben, ich hätte jetzt nicht nur den einzigen Wunsch, dich ebenso glücklich zu sehen, wie ich es bin? Allerdings nehme ich deinen Fall nicht so tragisch wie du selbst. Ein warmes Interesse für dich ist jedenfalls vorhanden, sonst hätte sie sich gestern abend nicht so lang und breit von dir erzählen lassen. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir allerhand ein, was sich günstig deuten ließe. Sie war auffallend still und nahm an der allgemeinen Fröhlichkeit sehr geringen Anteil. Ihre Gedanken waren offenbar nicht dabei.«

»Nett von dir, daß du mir gut zureden willst«, entgegnete der Vikar mit einem gequälten Lächeln und machte sich frei. »Willst du mir nicht zum Trost sagen, daß ihre Gedanken bei mir waren, und nur ihre Sehnsucht mich herzog?«

Der Pfarrer wiegte den Kopf hin und her und meinte lächelnd:

»Wer weiß, ob nicht etwas Wahres dabei ist, nur daß die Sehnsucht von beiden Seiten wirkte. – Mensch, dir muß geholfen werden! Jung Verlobte sind bekanntlich die eifrigsten Ehestifter. Laß mich nur machen, dann …«

»Um Gottes willen, laß die Finger davon!« rief Körner entsetzt. »Du bist ein seelenguter Mensch, aber hierbei ist mehr erforderlich als der gute Wille. Übrigens wäre es vergebliche Liebesmühe, wie ich dir schon sagte. Du hast mich einen Augenblick schwach gesehen, aber das gibt dir nicht das Recht, mich als einen Menschen zu behandeln, der unfähig ist, seine Angelegenheiten selbst zu Ende zu führen.«

»Den Ton kenne ich«, sagte Mangold ruhig. »Da du es so ausdrücklich wünschst, werde ich dich natürlich allein handeln lassen. Aber du kannst mir doch nicht verwehren, wenn ich auf eigene Faust ganz diplomatisch in Erfahrung zu bringen suche, ob nicht doch ein verborgener Funke in ihrem Herzen für dich glimmt.«

»Wird sie dir gerade verraten«, brummte Körner und zuckte die Achseln.

Sein Freund ließ sich durch dieses abweisende Wesen nicht abschrecken, wußte er es doch richtig zu deuten. Er fühlte, wie der andere nach einer Bestätigung lechzte und nur wieder einmal auch ihm gegenüber zu stolz war, sein innerliches Ringen einen anderen Menschen sehen zu lassen.

* * *

Als die beiden jungen Seelsorger aus der Kirche ins Freie traten, schallten ihnen laute, jugendfrohe Stimmen zu den Ohren und sie wurden Zeugen einer lustigen Schneeballenschlacht, die sich auf der Dorfstraße zwischen der Wallersbacher Jugend und den Wandervögeln abspielte.

Knaben und Mädchen beteiligten sich mit dem gleichen Eifer am Schleudern der harmlosen Geschosse, und lauter Jubel erscholl, wenn diese trafen. Den meisten Lärm aber vollführten die gellenden Stimmchen von Liselotte, ihrer Freundin Gretel und dem kleinen Friedel, für deren Kräfte die Entfernung von der feindlichen Partei zu groß war, und die sich nun abseits vom tobenden Kampfgetümmel gegenseitig mit dem spröden Schnee bewarfen. Sie ließen sich nicht die Zeit, ihn fest zu ballen, und so sprühten ihre Geschosse schon in der Luft auseinander und hüllten die kleinen Gestalten in eine weiße Wolke ein, so daß bald drei kleine, jauchzende Schneemänner einander zu bekämpfen schienen.

Die beiden Männer blieben unter dem Portal stehen und genossen eine Zeitlang das lebensvolle Bild.

Sobald Arnold Körner Ingeborg entdeckt hatte, die in der vordersten Reihe kämpfte, wandte er kein Auge mehr von ihrer biegsamen Gestalt. Es schien, als ob sie durch die körperliche Betätigung die Last ihrer Gedanken von sich abschütteln wollte, mit solchem Eifer beteiligte sie sich an dem lustigen Treiben.

»Ich freue mich schon darauf, wie die junge Gesellschaft nach dieser Appetitanregung beim Essen einhauen wird«, sagte der Pfarrer, nachdem die beiden eine Weile stumm zugeschaut hatten. »Heute mittag lasse ich mich von ihnen bewirten; du wirst selbstverständlich auch eingeladen. Daß Alwine die Aufsicht über die Kochtöpfe übernommen hat, ist mir eine rechte Beruhigung. In unserem Alter ist man gegen angebrannte Speisen leider empfindlicher als ein echter Wandervogelmagen.«

Durch ein geschicktes Führen des Gespräches gelang es ihm, den Gedanken seines Freundes eine andere Richtung zu geben. Ein theologischer Streitfall, der gerade die Spalten der Fachblätter füllte, brachte zu Mangolds stiller Befriedigung Körner sogar in Harnisch, so daß sie in einer hitzigen Diskussion begriffen das Pfarrhaus erreichten, beide Arme schwer beladen mit Gesangbüchern. Denn als der gutmütige Mangold beim Vorbeigehen einem Mädchen ihr Buch abnahm, weil es beim Schneeballwerfen hinderte, hatten ihm auch die übrigen Wandervögel einer nach dem anderen schon bei dieser Gelegenheit sein Eigentum mit bestem Dank zurückerstattet. Er ließ es lachend geschehen und gab die Hälfte seinem Freunde weiter.

Die Wandervögel hatten versprochen, um zwölf Uhr pünktlich zur Stelle zu sein, und sie hielten Wort. Ehe die Turmuhr zum letzten Schlag ausholte, drängte sich schon die lärmende Schar mit leuchtenden Gesichtern zur Tür herein.

Im Nu waren alle mit dem eigenen Eßgeschirr bewaffnet, und ein paar frische Jungen drückten sogleich ihre Ungeduld aus, indem sie mit dem Löffel auf dem Metallteller trommelten und damit einen Höllenlärm vollführten.

Sie durften sich nicht lange an dieser Musik erfreuen.

»Müßt ihr denn gar so deutlich zeigen, daß ihr in den Flegeljahren steckt?« donnerte Ingeborg sie an. »Wir sind doch hier nicht im Wald! Zur Belohnung dürft ihr nachher die Kessel reinigen.«

Damit ging sie in die Küche, wo gerade der Maler und Rübezahl, mit großen Schöpflöffeln bewaffnet, die Verteilung begannen.

Die Missetäter machten lange Gesichter, wagten aber nur schwach zu protestieren. Denn Gehorsam gegen alle Anordnungen des Führers oder der Führerin ist eine der ersten Wandervogelregeln. Außerdem waren ihre Kameraden viel zu froh, die unbeliebte Arbeit nicht selbst ausführen zu müssen, als daß bei diesen auf die geringste Unterstützung zu hoffen gewesen wäre.

»Deine Gäste tun wahrhaftig genau so, als ob sie hier zu Hause wären«, sagte der Vikar, nachdem er eine Weile mit mißbilligenden Blicken das Durcheinander beobachtet hatte. »Auf dich scheint man überhaupt keine Rücksicht zu nehmen, von mir ganz zu schweigen.«

»Das ist ja gerade, was ich will!« triumphierte Mangold, »und ich freue mich diebisch, daß sie mich gar nicht wie eine Respektsperson behandeln. Ich habe ihnen mein Haus zur Verfügung gestellt, und das soll keine Phrase sein. – Schau, schon bekommt der Kritiker den Mund gestopft.«

Eva kam auf sie zu und balancierte zwei wohlgefüllte Suppenteller zwischen ihren Kameraden hindurch, die teils noch umherstanden, teils sich nach Indianermeise auf den Boden gelagert hatten. Mit einem schalkhaften »Guten Appetit!« stellte sie die Teller auf das Tischchen, an dem die beiden Männer Platz genommen hatten. Man sah ihr ordentlich an, wie sie darauf lauerte, was der Vikar zu dieser Art von Sonntagsschmaus sagen werde. Aber sei es, daß der bloße Anblick der grauen Suppe ihn sprachlos machte, sei es, daß er keinen Hunger spürte, – er dankte nur und enthielt sich jeder Bemerkung, so daß Eva enttäuscht zurückging.

»Ich möchte wissen, warum er überhaupt hergekommen ist«, sagte sie in der Küche zu Ingeborg. »Jetzt macht er ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Ich wette, Tante Minchen hat ihn klein gekriegt, und jetzt ärgert er sich über den verlorenen Sonntagnachmittag. In der Bahn bekommt er's von mir zu hören, der Pantoffelheld!«

Ingeborg antwortete nicht. Da sah Eva sie von der Seite an und fuhr unwillig fort: »Ich habe wohl bemerkt, wie du gestern den ganzen Abend lang Trübsal geblasen hast, und jetzt machst du wieder gerade solch Gesicht, – das schönste Gegenstück zu dem seinigen.«

»Sprich doch nicht solchen Unsinn«, erwiderte Ingeborg in ungewohnt barschem Ton.

Da merkte die Jüngere, daß die Verstimmung ihrer Schwester eine tiefere Ursache haben müsse. Am liebsten hätte sie gleich zu erfahren gesucht, was in ihr vorging; aber von verschiedenen Seiten wurde ihre Hilfe lebhaft begehrt, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als eine günstigere Gelegenheit abzuwarten.

Ingeborg sah wohl, wie Eva langsam den Kopf schüttelte, als sie nach der Tür ging, und noch einmal ihr erstauntes Gesicht zurückwandte, ehe sie die Küche verließ. Sie tat aber, als merke sie nichts, und wer zusah, wie sie unter dem jungen Volke Ordnung hielt und helfend eingriff, konnte gar nicht auf die Vermutung kommen, daß ihre Gedanken mit all dem nicht das geringste zu tun hatten und sich nur mit der einen Frage beschäftigten: Warum ist er doch noch gekommen?

Mangold überlegte unterdessen, wie er es anstellen müßte, um eine Zeitlang mit Ingeborg allein zu sein. Volle drei Stunden hatte er noch Zeit zu handeln, dann mußten seine Gäste abmarschieren, um den Fünfuhrzug zu erreichen. Denn die Bahnstation lag eine Stunde weit von Wallersbach entfernt.

Aber wie er es auch anstellen mochte, der Vikar wich ihm nicht von der Seite. Mit Schrecken sah er den Zeiger der Wanduhr unerbittlich vorrücken. Kam ihm nicht der Zufall zu Hilfe, dann blieb ihm keine Gelegenheit, sein diplomatisches Geschick zu erproben.

Ob er solches überhaupt besaß, hätte er selbst nicht zu entscheiden gewußt. Doch das war jetzt seine geringste Sorge. Er, der meist lange zauderte, wenn es galt, in seinem eigenen Interesse zu handeln, war voller Selbstvertrauen, wenn er eine Möglichkeit sah, andern zu helfen. Er vergaß in diesem Augenblick vollständig, wie lange er selbst gebraucht hatte, um ein Glück zu ergreifen, das schon lange auf ihn gewartet hatte. Ihn trieb nur der Wunsch, diesen beiden Menschen, die ihm für einander geschaffen schienen, zu helfen, und in froher Zuversicht zweifelte er nicht daran, daß es ihm gelingen müsse. –

»Du wirst müde sein. Lege dich doch nach dem Essen eine halbe Stunde aufs Ohr«, redete er seinem Freund eindringlich zu. Aber der sträubte sich beharrlich und versicherte, daß er nicht im geringsten ruhebedürftig sei.

Pfeifen und Rufen der Dorfjugend lockte die Wandervögel bald wieder ins Freie. Auch Ingeborg schloß sich ihnen an, denn mit ihnen Frohsinn zu heucheln schien ihr nicht so schwer, wie dem Vikar gegenüberzusitzen und an einem Gespräch über gleichgültige Dinge teilzunehmen.

So blieben die beiden Männer im Wohnzimmer zurück und sahen durch das Fenster, wie die Kleinen Schneemänner bauten, die Größeren aber in einiger Entfernung eine neue Schneeballenschlacht ausfochten.

Alwine hatte zur Feier des Tages einen besonders starken Kaffee gebraut und kredenzte ihn in großen, geblümten Tassen; Mangolds beste Zigarren sandten feine, blaue Ringe in die Luft; der altväterische Hausrat strömte Gemütlichkeit aus, und besonders die bequemen, ledergepolsterten Lehnstühle schienen einzuladen, dieses Gefühl in beschaulichem Nichtstun auszukosten.

Auf den Vikar blieb die behagliche Umgebung wirkungslos. Als ob er fürchtete, Mangold würde ein Stocken des Gespräches benutzen, sein Leid mit unzarten Fingern zu berühren, benutzte er eine Frage nach seinen wissenschaftlichen Arbeiten, um ausführlich darüber zu berichten.

Sein Gegenüber hörte indessen nur mit halbem Ohr zu. Dem sang das eigene junge Glück Jubellieder in der Brust, und sein Mund wäre davon übergeströmt, wenn er nicht die traurigen Augen vor sich gehabt hätte, die oft sehnsüchtig durch das Fenster blickten. –

Als die Trennungsstunde immer näher rückte und der Pfarrer keine Möglichkeit sah, Ingeborg wenn auch nur wenige Minuten lang unauffällig von den übrigen abzusondern, entschloß er sich, seine Gäste bis zur Bahn zu begleiten und unterwegs die Gelegenheit zu einer Unterredung, wenn nötig durch List, herbeizuführen.

Auf ein Zeichen der Führerin wurde das Spiel unterbrochen. Nach wenigen Minuten waren alle marschbereit; Ingeborg überzählte die Häupter ihrer Schutzbefohlenen, und dann setzte sich die fröhliche Schar in Bewegung.

Die alte Haushälterin blickte ihr nach, bis auch die dicke Adelheid als letzte um die Ecke gebogen war. Mit prüfenden Hausfrauenaugen schaute sie dann befriedigt um sich. Die Arbeit, die ihrer wartete, war geringer, als sie sich vorgestellt hatte; denn die Wandervögel hatten es als Ehrensache betrachtet, vor dem Abmarsch gründlich aufzuräumen und kein schmutziges Geschirr zurückzulassen. Wollten doch zwei Übereifrige sogar den Fußboden aufwaschen, der allerdings sehr reinigungsbedürftig aussah. Aber dagegen hatte die alte Alwine selbst Einspruch erhoben.

»Muß i denn, muß i denn, zum Städtle hinaus«, klang ihr noch in den Ohren, und ein gutmütiges Lächeln glitt über ihre groben Züge. Sie hatte wohl bemerkt, wie die übermütige Jugend bei den Worten »und du mein Schatz bleibst hier« sich lachend nach ihr umwandte und an die Worte Bemerkungen knüpfte, die sicherlich keine Schmeichelei für sie enthielten. Aber das ging ihr nicht nahe. Sie hatte den Spöttern mit dem Finger gedroht, doch lachend das Zuwinken erwidert. –

Die Marschordnung kam den Absichten des Pfarrers entgegen; Ingeborg bildete mit den Kleinsten die Nachhut. So konnte es nicht auffallen, wenn er mit ihr zurückblieb.

Nur mußte Körner abgelenkt werden. Mit Hilfe einiger Tafeln Schokolade versprach Alexander hoch und heilig, dem Vikar nicht von der Seite zu weichen und ihn so viel zu fragen, daß er vollständig in Anspruch genommen wäre.

Und der Plan gelang. Es gab so viel Dinge zwischen Himmel und Erde, über die sich der wißbegierige Junge gern erzählen ließ, daß es ihm an Fragen nicht fehlte. Zwar mußte er zweimal das Thema wechseln, ehe der Vikar anbiß. Aber dann bemerkte Mangold mit Genugtuung, daß in seinem Freund die Lust am Belehren das Übergewicht gewann, und er zu einer eingehenden Erklärung ausholte. Da blieb er selbst unmerklich zurück und wartete, bis Ingeborg ihn erreichte.

Als er nun neben ihr dahinschritt, merkte er erst, daß die übernommene Aufgabe doch nicht so einfach war, wie er sie sich vorgestellt hatte. Aber er war fest entschlossen, diese günstige Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. Nachdem er eine Weile vergebens nach einem geeigneten Übergang gesucht hatte, ließ er alle Diplomatie beiseite und begann unvermittelt:

»Mir ist heute morgen eine furchtbar komische Geschichte passiert, die muß ich Ihnen noch erzählen. Gestern habe ich es fertig gebracht, mir als Bräutigam noch einen Korb zu holen …«

»Wie schlecht von Ihnen! Jetzt wollen Sie mich zum Schluß noch necken«, unterbrach ihn Ingeborg errötend. »Natürlich haben Sie das Mißverständnis brühwarm dem Vikar erzählt.« Sie blickte ihn fragend an.

»Ich bin vollständig sicher, daß er Sie nicht damit necken wird«, erwiderte Mangold und blinzelte ihr verschmitzt zu. »Sollte er sich aber doch unterstehen, es zu tun, dann brauchen Sie nur daran zu erinnern, wie er selbst die Nachricht von meiner Verlobung aufnahm, und er wird beschämt schweigen.«

»Was sagte er denn?« entfuhr es Ingeborg fast wider ihren Willen.

»Zuerst gar nichts. Aber lassen Sie mich der Reihe nach erzählen. Gestern wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen, und da genügten meine wenigen einleitenden Worte, das schönste Mißverständnis heraufzubeschwören. Das wollte ich heute vermeiden. Ich erklärte also meinem Freunde Körner stolz: ich habe mich verlobt. Meinen Sie nun, er wäre überrascht und erfreut gewesen, wie man das von einem guten, alten Bekannte doch wohl mit Recht erwarten kann? Fiel ihm nicht ein. Als ob ich dem größten Unglück entgegenginge, drückte er mir mit Leichenbittermiene teilnahmsvoll die Hand, und der Glückwunsch, den er dann folgen ließ, war von einem tiefen Seufzer begleitet. War das nicht sehr merkwürdig?«

Eine unbestimmte Ahnung, daß Mangold nicht ganz ohne Absicht dies erzählte, legte sich ihr Plötzlich beklemmend auf die Brust. Sie konnte jedoch nicht erkennen, auf was er hinauswollte und wartete gespannt auf die Lösung.

Da er schwieg und offenbar eine Äußerung von ihr erwartete, sagte sie mit gezwungener Lustigkeit:

»Als Anekdotenerzähler kenne ich Sie ja noch gar nicht, Herr Pfarrer. Etwas anders als Sie mir es ausmalen wird's aber schon gewesen sein.«

»Im Gegenteil, – ich habe sogar noch nicht alles gesagt«, versicherte Mangold mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Denken Sie nur, er wurde ganz blaß dabei und mußte sich setzen, so nahe ging ihm die Neuigkeit. Ich hatte nämlich nicht sogleich den Namen meiner Braut genannt, und er schien es für ganz selbstverständlich zu halten, daß sie, – nun werden Sie lachen, – Ingeborg Buchner heiße.«

Nein, sie lachte nicht. Mangold hatte sie während seiner letzten Worte scharf im Auge behalten, um keine Miene und Bewegung sich entgehen zu lassen, die sie verraten könnte.

Er hätte sich die Mühe sparen können, denn diesem Überfall gegenüber hielt ihre Selbstbeherrschung nicht stand. Ein Zittern lief durch ihren Körper, und er sah, wie die raschen Atemzüge ihre junge Brust hoben und senkten. Wie festgebannt blieb sie stehen, und unfähig, ein Wort hervorzubringen, starrte sie ihn wie zu Tode getroffen mit weitgeöffneten Augen flehend an. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und begann herzzerbrechend zu schluchzen.

Mangold hätte sich am liebsten selbst auf der Stelle geohrfeigt. Sein erster klarer Gedanke war: der blinde Hesse! was sich nebst einigen andern wenig schmeichelhaften Bezeichnungen auf den Vikar bezog. Dann kam die Sorge, ob auch die Kinder nichts merkten. Aber die stampften schon zehn Schritte voraus durch den Schnee, und schwatzten eifrig durcheinander. Auch hüllte der anbrechende Winterabend alles mit einem grauen Schleier ein und ließ schon auf kurze Entfernungen die Gesichter nicht mehr deutlich erkennen.

»Fräulein Ingeborg,« begann Mangold kläglich, »ich konnte ja nicht voraussehen, daß meine Worte Ihnen so nahe gehen würden. Jetzt sehe ich erst, wie unrecht es von mir war, zu scherzen, wo …«

Ingeborg schüttelte krampfhaft den Kopf und brachte ihn durch eine abwehrende Handbewegung zum Schweigen.

»Ich hätte Sie auslachen sollen,« kam es tonlos von ihren Lippen, »aber da war etwas, das grausam weh tat. Nun geben Sie mir aber bitte Ihr Wort, daß kein Mensch je etwas hiervon erfahren wird; ich müßte mich ja zu Tode schämen.«

Sie lächelte ihn unter Tränen an und hielt ihm ihre Hand entgegen, die er schnell ergriff.

»Aber nur als Zeichen, daß Sie mir nicht böse sind, – nicht um mein Wort zu geben«, fügte er in einem frohen Ton hinzu, der sie stutzen ließ. »Meine Einkleidung der merkwürdigen Begebenheit war vielleicht ein Fehler, zugetragen hat sich aber alles genau so, wie ich es Ihnen berichtete, Fräulein Ingeborg.« Er hielt ihre Hand fest umschlossen und sprach eifrig weiter. So gingen sie dicht nebeneinander den andern nach.

»Es kann ja nicht sein, Sie müssen sich irren!« wehrte sich Ingeborg gewaltsam gegen die glückverheißenden Worte, die Mangold nun in so froher Überzeugung hervorsprudelte, daß ein Zweifel kaum möglich war.

»Aber was mühe ich mich denn hier noch lange ab«, unterbrach er sich plötzlich mitten im schönsten Redestrom. »Wenn Sie mir nicht glauben, dann will ich nur schnell die sicherste Bestätigung holen.« Und ehe sie ihn zurückhalten konnte, stürmte er davon und ließ sie in unbeschreiblicher Verwirrung allein zurück.

»Du, Körner,« sagte Mangold, als er nicht ohne Mühe den Vikar zur Seite gezogen und seinen Arm untergefaßt hatte, »nimm mir's nicht übel, aber du bist wirklich ein Kamel!«

»Erlaube mal,« kam es gereizt zurück, »an Offenheit hast du es mir gegenüber nie fehlen lassen, aber dies …«

»… wirst du selbst mir aus tiefstem Herzensgrund bestätigen, noch ehe wir den Bahnhof erreichen. Jetzt rede nicht und tu nur, was ich dir sage. Ich will versuchen, hier vorn deine Beschreibungen und Erklärungen nach bestem Willen zu ersetzen. Ganz am Ende des Zuges wird nämlich eine Erklärung von dir erwartet, die nur Wert hat, wenn du sie selbst abgibst. O Mensch, o Mensch, wie blind warst du, – und wie freue ich mich!« Damit kniff er seinem Freund als Ausdruck seiner Gefühle so kräftig in den Arm, daß Körner schmerzvoll zusammenzuckte und, sich mit einem Ruck losreißend, ärgerlich sagte:

»Ich glaube, du bist ganz toll geworden!« Aber sogleich fuhr er in größter Erregung fort: »Bitte, sage mir auf Ehre und Gewissen: phantasierst du, oder ist's Wahrheit, was mir so unwahrscheinlich klingt? Bist du sicher, daß …«

»Ich bin sicher, daß sie dich für ein Scheusal hält, wenn du sie noch länger weit hinten auf der Landstraße allein die Nachhut bilden läßt, und daß ich ihr Gesellschaft leiste, wenn du dich nicht beeilst.«

»Ich kann's ja nicht glauben!« hörte Mangold ihn noch sagen. Und als er sich nach einigen Schritten umblickte, rieb er sich froh die Hände und lachte leise vor sich hin. Denn der Vikar ließ nicht allmählich die Wandervögel an sich vorbeimarschieren, sondern hatte entschlossen kehrt gemacht und verschwand schon mit großen Schritten in der Dämmerung. –

Alexander und seine Kameraden hatten begründete Ursache, sich über die Zerstreutheit des Pfarrers zu wundern. Dessen Gedanken waren bei zwei Glücklichen, die nicht vieler Worte bedurften, um dem langen Mißverstehen ein Ende zu machen, und gar nicht mehr begriffen, wie es nur so lange hatte dauern können. Hand in Hand folgten sie der singenden Schar, und immer wieder suchten sich ihre Augen in seligem Entzücken. –

Als die Bahnhofslichter aufleuchteten, hielt es Mangold nicht länger an der Spitze des Zuges aus.

»Ohne mich liefen die beiden jetzt noch mit blutenden Herzen nebeneinander her«, sagte er sich stolz, und leitete daraus die Berechtigung ab, als erster an dem jungen Glück teilzunehmen.

Er wurde schon erwartet. Körner schloß ihn mit einem unterdrückten Jubelschrei in die Arme, und Ingeborg streckte ihm beide Hände entgegen.

»Dank für alles. Sie lieber Freund«, sagte sie leise, und blickte ihn dabei so selig an, daß er fühlte: dieser Tag hatte sein Leben um eine Freundin bereichert, die bei der Erinnerung an den schönsten Augenblick ihres Lebens stets dankbar seiner gedenken würde.

Und bei dem Anblick der in stummem Entzücken neben ihm gehenden überglücklichen Menschenkinder dachte er froh, daß auch auf ihn selbst das Glück schon wartete, und wenige Stunden später es nichts mehr auf der Welt geben würde, um das er irgend einen Menschen zu beneiden hätte. Klingender Jubel füllte auch fein Herz, und die Sehnsucht nach der fernen Geliebten wuchs ins Unermeßliche. –

Was nützten alle guten Vorsätze, dem jungen Volk heute noch nichts zu verraten, wenn die glänzenden Augen laut verkündeten, was der Mund verschwieg?!

Daß die Führerin erst abwechselnd mit dem Pfarrer und dem Vikar, dann mit beiden zusammen so weit zurückblieb, war doch nicht ganz unbemerkt geblieben. Rübezahl und der Maler, die sich ärgerten, daß ihre Freundin sich ihnen ganz entzog, hatten schon die Köpfe zusammengesteckt und Vermutungen ausgetauscht, die der Wahrheit bedenklich nahe kamen.

So waren Eva und Alexander nicht die einzigen Wandervögel, denen im kleinen Wartesaal beim Schein des hellen Glühlichtes die große Veränderung in dem Gesichtsausdruck der beiden auffiel. Was bedeutete ferner das beständige Lächeln des Pfarrers, und warum wanderten seine Blicke unaufhörlich zwischen Ingeborg und dem Vikar hin und her?

Fast eine Viertelstunde fehlte noch bis zum Abgang des Zuges, und die drei ungeübten Schauspieler mußten bald erkennen, daß es ihnen nicht gelang, ihre Rolle erfolgreich durchzuführen.

»Darf ich's verkünden?« fragte schließlich Mangold. »Bis Wiesenborn haben's die Schelme doch heraus, und da möchte ich doch gerne auch sehen, wie es aufgenommen wird.«

Nachdem sich Ingeborg durch einen raschen Blick überzeugt hatte, daß keine fremden Fahrgäste anwesend waren, nickte sie ihm zu.

Auffallend schnell verstummte jedes Gespräch, als er sich nun erhob und für einen Augenblick um Rühe bat. Doch kaum hatte er die beiden Namen genannt, so erfüllte ein Freudengeheul das kleine Gebäude, daß die Beamten eiligst herbeistürzten, um zu sehen, was es gäbe.

Aber sie drohten nicht mit Strafparagraphen. Lachend schauten sie den urwüchsigen Freudenbezeugungen zu.

Rübezahl und der Maler tanzten wie besessen von einem Bein aufs andere, brüllten »Heil« und warfen ihre federgeschmückten grünen Filzhüte in die Luft. Ihre Kameraden zögerten natürlich keinen Augenblick, es ihnen getreulich nachzumachen.

Auch die Mädchen ließen ihren Gefühlen freien Lauf, wurden aber eher des Schreiens müde und befolgten das Beispiel von Eva, Liselotte und Alexander, die sogleich auf ihre Schwester losgeschossen waren und sie stürmisch umhalsten und küßten.

Die glückliche Braut konnte kaum zu Atem kommen, so schnell wechselten die zärtlichen Gratulanten einander in ihren Armen ab. Auch der Friedel bekam einen herzhaften Kuß auf seinen roten Mund. Als sich dann aber auch die andern Jungen herandrängten, wehrte sie lachend ab. Die mußten sich mit kameradschaftlichen Händedrücken begnügen, äußerten aber auch hierbei soviel warmes Gefühl, daß Ingeborg noch am. folgenden Tag die Hand weh tat.

Arnold Körners Augen strahlten wie Sonnen, als er für alle Glückwünsche herzlich dankte. Eva kostete es durchaus keine Überwindung, in etwas gemäßigten Formen Liselottes Beispiel zu befolgen, die dem künftigen Schwager jauchzend um den Hals geflogen war. Und selbst Alexander, der sich sonst immer schimpfend durch die Flucht rettete, wenn seine Schwestern ihr zärtliches Getue, wie er es verächtlich nannte, an ihm auslassen wollten, ließ heute alle Liebkosungen geduldig über sich ergehen.

Schnell war jetzt die Viertelstunde verronnen, und bald hieß es, von dem gastfreien Wallersbacher Pfarrer Abschied nehmen. Alle umdrängten ihn, um ihm noch einmal für all seine Freundlichkeit zu danken.

Beim Anblick der frohen Gesichter brauchte er nicht daran zu zweifeln, daß das begeisterte Lob, wie schön es bei ihm gewesen sei, aus vollen Herzen kam. Aber auch er konnte aus voller Überzeugung versichern, daß diese beiden Tage zu den schönsten seines Lebens gehörten. –

Als der Zug sich in Bewegung setzte und Mangold allein auf dem Bahnhof zurückblieb, grüßte ihn noch aus den davonrollenden Wagen vierter Klasse ein letztes donnerndes »Heil!«

»Heil und Gottes Segen euch allen!« erwiderte er leise, und wandte sich zum Gehen.

Einsam schritt er durch den dunklen Winterabend seinem großen, stillen Pfarrhaus zu. Aber es war ihm, als ob unterwegs viele gute Geister ihn umschwebten und Zwiesprache mit ihm hielten, so erfüllt war er von dem inneren Reichtum, den diese beiden Tage über sein einsames Leben ausgeschüttet hatten.

Und ein heißes Danklied stieg aus seinem Herzen zu dem sternübersäten Himmel empor.

Buchschmuck


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