Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Zwölftes Kapitel.

Die Unähnlichkeit der beiden Frauen trat von Tag zu Tage mehr hervor. Hugo litt darunter. Selbst körperlich war es ihm nicht mehr möglich, sich noch Illusionen zu machen. Janes Gesicht hatte einen Ausdruck von Härte und zugleich von Ermüdung angenommen. Eine Falte zog sich unter ihren Augen hin und warf gleichsam einen Schatten über das allzeit weiße Perlmutter ihrer Augäpfel und die jettfarbenen Pupillen. Auch war sie wieder auf den Einfall gekommen, sich ganz wie zur Zeit ihres Theaterlebens die Backen zu pudern, die Lippen zu schminken und die Augenbrauen zu schwärzen.

Vergebens hatte Hugo versucht, sie von diesem Sichanmalen abzubringen; es paßte so wenig zu dem einfachen, keuschen Gesicht, an das er immer dachte. Jane wurde höhnisch und ironisch, hart und ausfallend. Da gedachte er im stillen der Toten und ihres sanften Wesens, ihrer gleichmäßigen Gemütsstimmung, ihrer sanften, edlen Worte, die wie Blätter von ihrem Munde fielen. Zehn Jahre der Gemeinschaft und kein Streit, keines jener schwarzen Worte, die aus dem Grund einer aufgerührten Seele wie Schlamm aufsteigen.

Die Unähnlichkeit der beiden Frauen trat von Tag zu Tage schärfer hervor. Nein, so war die Tote nicht! Diese handgreifliche Erkenntnis wurmte ihn und unterdrückte alles, was er sich bisher zur Entschuldigung seines Abenteuers gesagt hatte. Er begann dessen ganze Erbärmlichkeit einzusehen. Ein Schamgefühl, fast ein Gefühl der Schande ergriff ihn; er wagte nicht mehr an sie zu denken, die er so beweint hatte, und fühlte ihr gegenüber mehr und mehr seine Schuld.

Die Zimmer, welche die Erinnerungen an sie verewigten, betrat er kaum noch und nie ohne Verwirrung. Der Blick ihrer Bilder beunruhigte ihn; es war ein vorwurfsvoller Blick, den er auf sich gerichtet fühlte. Und das Haar lag nach wie vor fast verlassen in seinem Glaskasten, und die dünne Asche des Staubes bildete eine graue Schicht darauf.

Mehr denn je fühlte er seine Seele erweicht und zerfahren. Er ging aus, kehrte zurück und verließ seine Wohnung aufs neue, als würde er von ihr zu der Janes gehetzt. Ihr Gesicht lockte ihn, solange er ihr fern war, und er wurde von Reue, von Gewissensbissen und Selbstverachtung gepeinigt, wenn er wieder bei ihr war.

Auch in seinem Haushalt herrschte beständige Unordnung. Nichts mehr von Pünktlichkeit und Zeiteinteilung. Er gab Anordnungen und änderte sie wieder, bestellte sein Essen ab. Die alte Barbe wußte nicht mehr, wie sie sich die Arbeit einteilen und worauf sie sich bei ihren Einkäufen richten sollte. Voller Trübsal und Ungeduld betete sie zu Gott für ihren Herrn, jetzt, wo sie den Grund wußte.

Denn oft wurden Rechnungen und Quittungen präsentiert; sie lauteten auf bedeutende Summen für die Einkäufe dieser Person. Barbe, die sie in Abwesenheit ihres Herrn in Empfang nahm, war starr über die endlosen Toiletten und Putzwaren, die kostspieligen Schmucksachen und Dinge aller Art, die Jane auf Kredit nahm. Sie brauchte und mißbrauchte den Namen ihres Liebhabers fortwährend in allen Läden der Stadt und kaufte mit einer Verschwendungslust, die des Geldes spottet.

Hugo gab allen ihren Launen nach, und doch wußte sie ihm keinen Dank dafür. Sie ging vielmehr immer häufiger aus, blieb bisweilen gar den ganzen Tag lang fort und den Abend dazu, verschob das Zusammensein mit Hugo auf den nächsten Tag und fertigte ihn mit eilig hingekritzelten Billetts ab.

Sie behauptete jetzt, einige Bekanntschaften gemacht zu haben. Sie hatte Freundinnen. Sie konnte doch nicht ewig so allein leben. Eines Tages teilte sie ihm mit, daß ihre Schwester in Lille erkrankt sei; sie hatte ihm bisher nie etwas von ihr gesagt. Sie müßte zu ihr, behauptete sie, und blieb einige Tage fort. Als sie wiederkam, fingen dieselben Künste wieder an; sie verzettelte ihr Leben, blieb häufig fort, ging aus, kurz, es war ein Hinundher wie bei einem Fächer, eine Ebbe und Flut, zwischen der Hugos Dasein einherschwankte.

Mit der Zeit schöpfte er doch etwas Verdacht; er paßte ihr auf und schweifte abends um ihr Haus wie ein Nachtgespenst, das in dem schlummernden Brügge umging. Er lernte das heimliche Auflauern kennen, das Atemanhalten und Stehenbleiben, die kurzen Klingelzüge, deren Klang in den schweigenden Gängen erstirbt, das nächtliche Postenstehen im Winde, wo man bis spät in die Nacht vor einem erleuchteten Fenster harrt, und an dem Schirm der Vorhänge zieht fortwährend ein chinesisches Schattenbild vorbei, von dem man jeden Augenblick fürchtet, daß es sich verdoppelt...

Es handelte sich nicht mehr um die Tote: es war Jane, die ihn nach und nach mit ihren Reizen ganz bestrickt hatte, und die er nun zu verlieren zitterte. Es war nicht mehr ihr Antlitz allein, es war ihr Fleisch, ihr ganzer Körper, dessen Vision vor seinen glühenden Sinnen stand, während er da unten in der Nacht nur den huschenden Schatten auf den Falten des Vorhangs gewahrte... Ja, er liebte sie, denn er war eifersüchtig auf sie, eifersüchtig bis zur Qual, bis zum Weinen, wenn er sie so abends überwachte, während die Mitternachtsschläge der Glockentürme und der feine unaufhörliche nordische Regen ihm ins Gesicht schlugen, als müßten die Wolken hier ewig in kalte Tropfen zerstäuben. Und er stand und lauerte, er ging hin und her auf einem kleinem Raume, wie auf einer eingezäunten Wiese, und sprach dabei ganz laut vor sich hin, wirre Worte, wie ein Schlafwandler. Er stand und ging, trotzdem der Regen immer stärker wurde, ein geschmolzener Schneefall, ein Wolkenbruch, und dazu der Schlamm auf der Straße, die ganze niederziehende Trübsal des Winterendes.

Er lechzte nach Wissen, nach Aufklärung, er wollte sehen...O welche Herzensangst! Und welch eine Seele mußte doch in diesem Weibe wohnen, das ihm so wehe tat, während die andere, die Tote, so gut war! In diesen Augenblicken höchster Bekümmernis glaubte er sie aus der Nacht emportauchen zu sehen; er fühlte, wie ihre mondmilden Augen voller Mitleid auf ihm ruhten.

Hugo ließ sich nicht länger betrügen. Er hatte Jane auf Lügen ertappt, Tatsachen zusammengehalten; er sah sich bald vollends aufgeklärt, als die anonymen Karten, nach edler Provinzialsitte, in sein Haus zu regnen begannen – lauter Schmähungen, höhnische Bemerkungen, Einzelheiten über ihre Betrügereien und all die Ausschreitungen, die er bereits geahnt hatte... Man gab ihm Beweise, nannte Namen. Das war also das Ende dieses Verhältnisses mit einem hergelaufenen Weibe, zu dem er sich durch einen anfangs so entschuldbaren Grund hatte hinreißen lassen. Was sie betraf, so wollte er einfach mit ihr brechen! Aber wie konnte er sich selbst wieder achten, wie sollte er seine Trauer, die er selbst ins Lächerliche gezogen, seinen frommen Kult, seine heilige Verzweiflung, die zum öffentlichen Gespött geworden war, wieder aufnehmen?

Eine tiefe Traurigkeit ergriff ihn. Jane war für ihn auch zu Ende; es war, als ob die Tote zum zweiten Male stürbe. O, was hatte er von diesem närrischen, trügerischen Weibe nicht alles schon erduldet!

Zum letzten Male ging er am Abend zu ihr: er wollte Abschied nehmen und sich von der Last des Schmerzes befreien, der sich um ihretwillen in seiner Seele häufte.

Ohne Zorn, mit unendlicher Betrübnis, erzählte er ihr, daß er alles erfahren hätte, und als sie ihn von oben herab ansah, mit gehässiger Miene, und die trotzige Antwort gab: »Was? Was sagst du?« da zeigte er ihr die Erklärungen, die Schandbriefe...

»Bist du so einfältig, etwas auf anonyme Briefe zu geben?«

Sie schlug ein grausames Gelächter an und zeigte ihre weißen Raubtierzähne, die zum Beutemachen geschaffen waren.

»Deine eigene Aufführung hatte mich schon genug erbaut,« bemerkte Hugo.

Eine plötzliche Wut überkam sie; sie ging hastig auf und ab, knallte die Türen und peitschte die Luft mit ihren Röcken.

»Schön, wenn es nun wahr wäre?« platzte sie heraus.

Und nach einem Augenblick: »Übrigens habe ich das Leben hier satt. Ich gehe fort.«

Hugo hatte sie unverwandt angesehen, während sie so sprach. Das Lampenlicht erhellte ihr Gesicht, ihre schwarzen Augensterne und ihr gefärbtes Goldhaar, das so falsch war wie ihr Herz und ihre Liebe! Nein, das war nicht mehr das Gesicht der Toten! Zitternd stand sie in ihrem Frisiermantel vor ihm, mit entblößter röchelnder Kehle – sie, in deren Armen er gelegen; und als sie ihm ins Gesicht schrie: »Ich gehe fort!« – da schlug seine ganze Seele um und versank in unendliche Finsternis... In diesem feierlichen Augenblick fühlte er, daß er sie nicht nur wegen der Selbsttäuschung und des Zaubers der Ähnlichkeit, sondern auch mit seinen Sinnen geliebt hatte – eine späte Leidenschaft, ein trauriger Oktober, dem ein Zufall das Fieber wieder aufblühender Rosen geschenkt hatte!

Alle seine Gedanken wirbelten ihm im Kopfe herum; er wußte nur noch das eine, daß er litt, daß er krank war, und daß er nicht mehr leiden würde, wenn Jane nicht mehr mit Fortgehen drohte. So wie sie war, genügte sie ihm immer noch. Innerlich schämte er sich seiner Feigheit, aber er konnte nicht mehr ohne sie leben... Überdies – wer weiß? Die Welt ist so schlecht, und sie hatte nicht einmal versucht, sich zu rechtfertigen.

Ihn befiel plötzlich eine unendliche Wehmut, daß dieser Traum nun zu Ende sein sollte, denn er fühlte, daß sein letztes Stündlein gekommen wäre. Die Aufkündigung von Liebesbeziehungen ist ja stets wie ein kleiner Tod, auch hier gibt es ein Scheiden auf Nimmerwiedersehen. Aber es war nicht nur die Trennung von Jane, noch die Zertrümmerung des Spiegels, dessen Widerschein ihn heute mehr denn je ergriff, es war vor allem der schreckliche Gedanke, der ihm drohte: jetzt wieder allein zu sein, allein mit der Stadt, ohne ein Wesen zwischen ihr und ihm. Er hatte sich freilich aus eigenem Willen hier niedergelassen in diesem untröstlichen Brügge mit seinem melancholischen Grau. Aber die Last des Schattens, den die Türme warfen, war zu schwer! Und Jane hatte diesen Schatten so lange von seiner Seele ferngehalten; er war es nicht mehr anders gewöhnt. Jetzt würde er ganz von ihm zugedeckt werden! Er würde in seiner Einsamkeit ein Raub der Glocken werden! Er würde noch vereinsamter sein als vordem, als wäre er zum zweiten Male Witwer geworden! Auch die Stadt würde ihm noch erstorbener erscheinen...

Hugo stürzte wie betört auf Jane zu und ergriff ihre Hand. »Bleib! Bleib! Ich war toll« ... flehte er mit weicher, wie von inneren Tränen erweichter Stimme.

Als er am Abend auf dem Heimweg wieder an den Grachten entlang ging, da empfand er eine unbestimmte Unruhe, eine Furcht wie vor einer ungewissen Gefahr. Todesgedanken bestürmten ihn. Die Tote stand vor seinen Augen. Sie schien wiedergekehrt und schwebte vor ihm her, in den Nebel gehüllt, wie in ein Leichentuch. Hugo fühlte sich ihr gegenüber schuldiger denn je. Plötzlich tat sich ein Wind auf und seufzte in den Pappeln der Uferborde. In dem Kanal, an dem er entlang ging, wurden die Schwäne von qualvoller Unruhe ergriffen, diese schönen, hundert und mehr Jahre zählenden Schwäne, die nach der Sage von einem alten Wappen herabgekommen waren und von der Stadt immerwährend erhalten werden mußten zur Sühne für die ungerechte Verurteilung eines edlen Herrn, der sie in seinem Wappen führte.

Die Schwäne also, die sonst so weiß und so ruhig auf dem Wasser schwammen, bäumten auf und zogen lange Wasserstreifen durch das schwarze Band des Kanals. Sie schienen in fieberhafter Bestürzung auf einen der Ihren zuzustreben, der mit den Flügeln schlug und, wie auf sie gestützt, sich aus dem Wasser aufreckte wie ein Kranker, der in plötzlicher Beängstigung aus seinem Bette will.

Er schien zu leiden und stieß klagende Laute aus. Nach einem letzten, mächtigen Aufschrei verklang sein Ruf in der Ferne. Es war eine leidende, fast menschliche Stimme, ein wirklicher, abgesetzter Gesang ...

Hugo blieb verwirrt vor diesem geheimnisvollen Schauspiel stehen und lauschte. Er gedachte des alten Volksglaubens. Ja, der Schwan hatte gesungen! Er sollte also sterben, oder doch witterte er den Tod in der Luft!

Hugo schauderte. Galt ihm das schlimme Vorzeichen? Der grausame Auftritt mit Jane, ihre Drohung, fortzugehen, hatten ihn für schwarze Vorahnungen nur zu empfänglich gemacht. Was war es, das nun wieder für ihn zu Ende ging? Für was legte diese abergläubische Nacht ihre schwarzen Trauerkleider an? Sollte er zum zweiten Male Witwer werden?


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