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Drittes Kapitel.

Langsam schlug Clarencé den Rückweg ein. Einige Aussprüche Lauriers gingen ihm im Kopfe herum, und mehrmals sprach er den Satz halblaut vor sich hin: »Ihr seid die Urheber der Sinnes- und Herzenstäuschungen.«

Hatte sein Freund ihm damit nicht die endgültige Antwort auf die ihn beunruhigende Frage entgegengeschleudert? Drückten diese Worte nicht mit fürchterlicher Klarheit die traurige Wirkung einer Herz und Sinne betörenden Dichtung aus, deren süßes Gift sich unbewußt zuerst in die Seelen der Leser und dann in ihre Handlungen schleicht?

Wir sind die Urheber der Sinnes- und Herzenstäuschungen – das heißt, deutlicher ausgedrückt: wir fügen den gewöhnlichen Verirrungen und Sorgen des Lebens noch neue, eingebildete Schmerzen und Aufregungen hinzu. Unsre schönen Dichterworte mit ihrem trügerischen Sinn verschieben die einfachen, gesunden Begriffe der Menschen. Mit unsern erdichteten Erzählungen stellen wir armen, unwissenden Wesen Vorbilder auf, die sie verwirren und sie, im stolzen Gefühle ihres vermeintlichen Heldentums, zu verzweifelten Handlungen treiben.

Immer tiefer versenkte sich Clarencé in diese trüben Gedanken, die von der Allgemeinheit allmählich auf sein eigenes Leben zurückkamen, das ihm nun in neuem Lichte erschien. Voll Bangigkeit fragte er sich, ob nicht die Kette seiner Handlungen gleichfalls von der Täuschung beherrscht sei, wovon seine Schriften überflössen.

Wie immer in Stunden trüber Stimmungen und Zweifel trieb es ihn auch jetzt unwillkürlich zu Claudine, die ein kleines Häuschen bewohnte, das, von einem winzigen Garten umgeben, zwischen den Mietshäusern der Rue de Balzac eingezwängt lag. Sein ganzer mit ihr durchlebter »Roman« zog an seinem Geiste vorüber, und mit dem plötzlich in ihm aufsteigenden Wunsche, auch daran ändern und verbessern zu können, so wie er es noch bei der »Löwenbraut« hätte tun können; versenkte er sich prüfend in jede Einzelheit. Trug dieser »Roman« jene vornehmen Merkmale, die ein gelungenes Werk – es mochte nun geschrieben oder erlebt sein – auszeichnen? Oder war es am Ende auch, so wie »Liebe und Tod«, von jener ungesunden Herzens- und Sinnestäuschung durchtränkt, die die kleine Céline in den Tod getrieben und Lauriers häusliches Glück zerstört hatte?

* * *

Zehn Jahre war es her, seitdem sich sein »Roman« entsponnen hatte, der, obwohl für niemand ein Geheimnis, von der Welt doch stillschweigend übersehen wurde, da sie das Verhältnis wegen seiner langen Dauer gewissermaßen als sanktioniert betrachtete.

Kurze Zeit nach den ersten Erfolgen seiner Theaterstücke hatte Clarencé die Bekanntschaft Frau Bréants gemacht, die, nach kaum einjähriger Ehe von ihrem Gatten verlassen, als geschiedene Frau lebte. Die ihr gesetzlich zukommende Jahresrente hatte sie zurückgewiesen, da sie, wie sie sagte, ihrem Gatten nichts verdanken, ihn überhaupt so rasch als möglich aus ihrem Gedächtnis und Leben streichen wolle. Um sich nun aber einen Lebenszweck zu schaffen und ihre bescheidenen Einkünfte zu vermehren, faßte sie, einem lang gehegten Wunsche nach Unabhängigkeit und Tätigkeit folgend, den Entschluß, ihr bedeutendes musikalisches Talent zu verwerten. Sie war schön, stolz und ein wenig menschenscheu, dabei frei von jeglicher Gefallsucht. Erschien ihr doch die Schönheit, die ihr kein Glück gebracht hatte, eher als ein Hindernis für Frauen, die ehrlich ihr Brot verdienen wollen. Gleich beim ersten Zusammentreffen fiel Clarencé Claudines Wesen auf, das so sehr von dem der Künstlerinnen und Weltdamen, mit denen er bis dahin verkehrt hatte, abstach. Sofort verliebte er sich in sie, verbarg indes anfangs seine Gefühle, deren Macht er sich noch nicht eingestand, hinter einer herzlichen Kameradschaft. Häufig besuchte er die junge Frau, die ihn stets freundlich empfing, und so knüpfte sich allmählich ein Band zwischen ihnen, das sie zuerst selbst kaum fühlten. Clarencé, der schon verschiedene schmerzliche Erfahrungen mit der Liebe gemacht hatte, wiegte sich nur zu gern in die süße Hoffnung ein, daß es nun ewig so zwischen ihnen bleiben werde, verkannte aber dabei seine eigene Natur vollständig. Zudem fachten bald äußere Umstände seine Leidenschaft zu hellen Flammen an. So wenig kokett und so zurückhaltend Claudine auch war, so gab es doch eine Menge junger Herren, die sich um ihre Gunst bemühten, und es kam mehr als einmal vor, daß Clarencé boshafte Zungen in einer Weise von ihr sprechen hörte, die ihn mit machtlosem Zorn erfüllte. In solchen Augenblicken, die seine Liebe nur steigerten, wurde der glühende Wunsch immer unbesiegbarer in ihm, sich zu ihrem rechtmäßigen Beschützer zu machen und sein Leben mit dem ihren zu teilen. Eines Tages gegen Abend traf er bei seinem Besuche einen wegen seiner galanten Abenteuer bekannten Kollegen, namens Bellisle, bei ihr, der, in dem Lehnstuhl sitzend, den Clarencé gewöhnlich innehatte, sich schon ganz wie zu Hause zu fühlen schien, Clarencé, der seinen Zorn kaum zu beherrschen vermochte, wartete in fieberhafter Erregung auf das Weggehen des Eindringlings. Dieser aber plauderte behaglich über alles mögliche und ließ es dabei nicht an verschiedenen verliebten Anspielungen fehlen, während Clarencé, der sich außer stande fühlte, kaltblütig am Gespräche teilzunehmen, hartnäckig schwieg und mit einem Ausdruck nach der Uhr starrte, der zu sagen schien: »Was auch kommen mag, ich bleibe hier.« »Tue das, wenn du willst,« antworteten die höhnischen Blicke des andern, »mir bleibt doch das letzte Wort.« Schließlich aber räumte Bellisle doch das Feld, wenn auch nicht ohne seinem Gegner einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, der diesen erbleichen machte. Kaum hatte sich die Türe geschlossen, so fuhr Clarencé in die Höhe, ging auf Claudine zu, die ihren Gast einige Schritte durchs Zimmer begleitet hatte, und rief mit kaum gezügelter Heftigkeit: »Ich hoffe, daß dieser Mann niemals wieder Ihre Schwelle überschreitet.«

»Aber ich bitte Sie, warum denn?« fragte die junge Frau aufs höchste überrascht.

»Kennen Sie diesen Menschen denn? Wissen Sie nicht, daß eine Frau – eine alleinstehende Frau – einen Mann wie Bellisle nicht bei sich empfangen kann?«

Sie setzte sich, wies mit der Hand nach dem Fauteuil, den Bellisle soeben verlassen hatte, und antwortete, Clarencé scharf ansehend, in sanftem Tone: »Ich dächte doch, mein lieber Freund, daß es meine Sache ist, zu entscheiden, wen ich empfangen darf oder nicht.«

Aufgeregt ging er einigemal im Zimmer hin und her, dann blieb er plötzlich vor ihr stehen und sagte leise mit bebender Stimme: »Noch aus einem andern Grund kann ich Ihren Verkehr mit diesem Menschen nicht ertragen – weil – weil ich Sie liebe.«

Eine leise Röte stieg in ihre Wangen.

»Herr Bellisle hat niemals etwas derartiges zu mir gesagt.«

»Ha,« rief Clarencé leidenschaftlich, »in seinen Augen hätten solche Worte auch nicht den gleichen Sinn gehabt wie in den meinigen. Wenn ein Mann wie er von Liebe spricht, so weiß man, was das sagen will. Ich aber, ich biete Ihnen mein Herz an, mein Leben, alles, was ich bin und habe. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Claudine hatte den Blick von ihm abgewandt und gab sich alle Mühe, ihre Bewegung zu verbergen. Erst als sie sich wieder Herr ihrer Stimme wußte, antwortete sie: »Was Sie da tun, mein lieber Freund, ist sehr edel und großmütig, denn ich bin eine arme Frau, die Ihnen weder Vermögen, noch angesehene Verwandte mit in die Ehe bringen könnte. Vielleicht würden Sie sich sogar mit einigen Ihrer Freunde verfeinden, die sicherlich nicht damit einverstanden wären, wenn Sie eine geschiedene Frau heirateten. Sie würden damit eine große Torheit begehen. Aber es war edelmütig von Ihnen, mir Ihre Hand anzubieten, und ich bin stolz darauf, diesen Wunsch in Ihnen erweckt zu haben. Trotzdem muß ich Ihnen sagen, daß ich den festen, unerschütterlichen Entschluß gefaßt habe, mich nicht wieder zu verheiraten.«

Nun die bindenden Worte einmal ausgesprochen waren, hatte Clarencé auch eine andre Antwort erwartet, denn die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte, der freundliche Blick, mit dem sie ihn in Gesellschaft sowohl, als in ihrem behaglichen Heim begrüßte, der wärmere Ton ihrer Stimme, wenn sie mit ihm sprach – all diese kleinen Anzeichen, die die menschliche Eitelkeit so gern zu ihren Gunsten ausbeutet, berechtigten ihn fast zu einer günstigeren Antwort.

»Ha,« rief er voll Groll und Bitterkeit, »so spricht nur eine Frau, die nicht liebt!«

Claudines Augen, die den seinigen ausgewichen waren, wandten sich jetzt mit sanftem, liebevollem Ausdruck wieder ihm zu. Einen Augenblick noch zögerte sie, nach den rechten Worten suchend, dann begann sie, ihrer Erregung wieder Herr, in ernstem Tone: »Ja, mein Freund, ich werde mich nicht wieder verheiraten, das ist eine fest beschlossene Sache. Glauben Sie ja nicht, daß Groll und Bitterkeit über die unglücklichen Erfahrungen, die ich in meiner Ehe gemacht, mich zu diesem Entschlusse geführt haben. Ich bin nicht so töricht, über alle Männer den Stab zu brechen, weil einer mir Böses getan hat. Nur gegen die Ehe selbst lehne ich mich auf. In meinen Augen ist sie eine soziale Lüge, eine Heuchelei, ein Deckmantel für ein ganzes Heer niedriger Berechnungen. Es gibt ja viele unglückliche Frauen, denen zur Sicherstellung ihres Lebens keine andre Wahl bleibt, als sich unter das Joch zu beugen. Diese müssen sich eben ins Unvermeidliche finden, und ich will sie gewiß nicht verdammen. Ich aber bin, dank des kleinen Vermögens, das mein Vater mir hinterlassen hat, und dank meines geringen Talents unabhängig. Und das will ich bleiben.«

Clarencé glaubte nicht, daß sie im Ernst rede, denn früher schon hatte sie bei Gelegenheit ähnliche Ansichten ausgesprochen, die aber stets nur als momentane Laune von ihm belacht worden waren.

»Was für Ideen!« sagte er. »Sie sprechen ja wie eine Sozialistin. Nun denn, so bleiben Sie eben bei Ihren Ansichten. Ich habe kein Recht, zu wissen, was und wer sich dahinter versteckt.«

»Sie glauben, ich wolle etwas damit verbergen?«

»Wenn Frauen Philosophie treiben,« warf er, unfähig, sich länger zu beherrschen, ein, »so steckt immer etwas dahinter, oder – jemand.«

Claudine aber wurde nicht ärgerlich. Noch immer ruhte ihr Blick voll auf ihm, und dieser Blick war so offen und herzlich, daß Clarencé sich seiner Heftigkeit schämte.

»Halten Sie mir meine Überraschung zu gute,« sagte er mit leiser Stimme, »denn wenn ich auch Ihre freisinnige Denkungsart schon kannte, so hielt ich Sie bis jetzt doch nicht für eine Frauenrechtlerin.«

»Das bin ich auch nicht,« entgegnete sie, den Kopf schüttelnd. »Ich will mich nur nicht jener sozialen Einrichtung – nennen Sie sie Gewohnheit, oder Gesetz, oder Sakrament – fügen, unter der ich so viel gelitten habe. Mehr wollte ich nicht sagen, etwas andres steckt nicht hinter meiner Weigerung.«

Und in dem Wunsche, ihn von Grund aus zu überzeugen, fügte sie noch hinzu: »Nichts und niemand, ich schwöre es Ihnen.«

»O,« rief Clarencé, »Sie brauchen keinen Eid abzulegen, das verlange ich durchaus nicht. Da Sie sich Ihre volle Freiheit zu bewahren wünschen, haben Sie auch das Recht, Ihre Geheimnisse für sich zu behalten.«

Er erhob sich und fuhr stehend in abgerissenen Sätzen fort: »Ja, ich weiß wohl, Sie sind ein starker, energischer Charakter, Sie sagen es nicht nur, sondern Sie beweisen es auch. Eine Entgegnung auf Ihre kluge Beweisführung gibt es aber nicht, und so bleibt mir nichts andres übrig, als Ihnen lebewohl zu sagen. – Selbstverständlich werde ich meine Besuche bei Ihnen einstellen, denn ich liebe Sie zu sehr, um Ihr Freund bleiben zu können. Auch ich will offen sein: Für mich wäre eine Freundschaft zwischen uns von jetzt an ebenso eine Heuchelei, wie für Sie die Ehe. Ich will diese Freundschaft nicht. Ich will es nicht mit Ihnen erleben, wenn bei Ihnen die Stunde kommt, wo Sie sich selbst und Ihre Ansichten Lügen strafen – und sie wird kommen, meine liebe Freundin. Wohl bin ich überzeugt, daß Ihr Entschluß heute aufrichtig ist, aber eines Tages, da wird er in sich selbst zusammenfallen. – Was Sie heute für mich nicht tun wollen, weil Sie mich nicht lieben, das werden Sie später für denjenigen tun, dem Sie Ihr Herz geschenkt haben. Dann werden Sie die Nichtigkeit Ihrer heutigen Bedenken einsehen und ihm freudig ihre Unabhängigkeit opfern.«

»Sie rechtfertigen Ihren Ruf als ein Kenner der Frauen,« antwortete sie mit halbem Lächeln.

Clarencé bemerkte nicht, daß ihr liebevoll nachsichtiger Blick den leisen Spott, der in ihren Worten lag, wieder gutmachen sollte.

»Nun verhöhnen Sie mich auch noch! Aber Sie haben ganz recht, eine Liebe, die man nicht teilt, ist ja auch nur etwas Lächerliches. Ich werde es schon über mich vermögen, Ihnen nicht mehr unter die Augen zu treten.«

Damit verbeugte er sich und reichte ihr die Hand. Die junge Frau aber hielt ihn zurück.

»Warten Sie,« sagte sie leise.

Langsam verstrichen einige Augenblicke – einer von jenen Augenblicken, da ein Entschluß in unsrer Seele zur Reife gelangt. Halb abgewendet, das Kinn in die Hand und den Ellbogen auf die Lehne des Fauteuils gestützt, saß sie da.

»Sie wird ihre Ansicht ändern,« dachte er.

Claudine aber schlug jetzt die schönen Augen, in denen eine Träne glänzte, zu ihm auf und sagte langsam und feierlich: »Ich bin entschlossen, mich nicht wieder zu verheiraten, mein Freund. Das soll aber nicht heißen, daß ich Sie nicht liebe. – Ja, ich liebe Sie und will Ihnen angehören – Sie sehen, daß auch ich großmütig sein kann.« –

Clarencé konnte es sich lange Zeit nicht vergeben, daß er Claudine verkannt hatte, diese dagegen trug ihm in ihrer tiefen Liebe seine böse Gedanken nicht nach. Ein Band bildete sich zwischen ihnen, das sich während zehn Jahren des innigsten, von keinem Mißverständnis getrübten Zusammenlebens immer fester knüpfte. Frau Bréant übte bald jenen gewaltigen Einfluß auf Clarencé aus, den edle Frauen dadurch vor allem auch auf die bedeutendsten Männer gewinnen, daß sie geliebt werden und dieser Liebe würdig sind. Ihr schuldete er den hohen Schwung seiner Schöpfungen, das Gleichgewicht seines Lebens und so viel Glück und Heiterkeit, als seine ruhelose Dichterseele überhaupt erhoffen konnte. Dankbar erkannte er dies an, und diese Dankbarkeit wirkte veredelnd auf seine Liebe. Noch niemals waren sie einander überdrüssig geworden, und obwohl nicht ein Tag verging, an dem sie sich nicht sahen, wurden sie doch nie müde, sich immer näher kennen und lieben zu lernen.

* * *

An diesem Tage nun hatte Clarencé, ehe er sich zur Probe begab, bei seiner Freundin das Gabelfrühstück eingenommen.

»Du kommst doch nachher wieder und erzählst mir, wie es gegangen ist?« hatte sie ihn beim Abschied gefragt.

»Nein, heute nicht. Diese langen Sitzungen gehen mir auf die Nerven, da will ich dich lieber mit meiner schlechten Laune verschonen.«

Sie erwartete ihn an diesem Abend also nicht, um so mehr aber würde sie sich wie immer gefreut haben, wenn er unverhofft gekommen wäre. Ihr, der ruhig und klug Erwägenden, Vernünftigen und stets Nachsichtigen würde es gewiß bald gelingen, seine schmerzlichen Bedenken zu verscheuchen. Voll Teilnahme würde sie mit ihm den Freund beklagen, den auch sie kannte, und über dessen »allzu überschwengliche Phantasie« sie häufig spottete. Ja, in der Tat, er kam zu ihr wie ein eingebildeter Kranker zu einem vertrauenerweckenden Arzte, dessen Worte allein schon genügen, die Schwermut zu verscheuchen. Clarencé war es, als werde ihm beim Anblick des Häuschens bereits etwas leichter ums Herz.

»Du bist es! Was für eine freudige Überraschung! – Aber was gibt's?« fügte sie beim Anblick seiner verstörten, schmerzlich bewegten Züge hinzu. »Warst du mit dem Fortgang des Stückes nicht zufrieden?«

»Ach, das Stück kommt nicht in Betracht,« rief er und erzählte seine Erlebnisse und Gedanken.

Claudine war eine vortreffliche Zuhörerin. Mit ihrem hübschen, sprechenden Gesicht, dem fein geschnittenen Munde, der gedankenvollen, von üppigen dunkeln Haaren umrahmten Stirne, mit der heiteren Ruhe des klaren Blicks und der kraftvollen Anmut in der Haltung erinnerte sie an jene entzückende Polymnia, in die der antike Geist all seinen geheimnisvollen Zauber gelegt hat. Dabei war sie von ungemein rascher Auffassungsgabe, und dieses mit wärmster Teilnahme gepaarte Verständnis sprach aufs lebhafteste aus ihren schönen Augen. In den stillen, ungestörten Plauderstunden mit ihr war es ihm immer, als vertraue er seine Gedanken einem getreuen Echo an, das ihm diese Gedanken geläutert, gemildert und verschönt zurückgab. Auch jetzt, während seiner Erzählung, empfand er diesen beruhigenden Einfluß. War er doch sicher, von den schönen Lippen das Wort der Befreiung zu hören, das er in sich selbst nicht finden konnte.

»Die armen Menschen!« rief Claudine, von tiefstem Mitleid überwältigt. »Wie entsetzlich, so ohne Abschied zu sterben! Welch schreckliches Ende eines schönen Traumes! Und er mit seinem Gemüt! – Nicht wahr, du wirst dich liebevoll seiner annehmen, ihn nicht allein lassen. Man braucht so viel Teilnahme bei einem solchen Kummer, und seine ganze Umgebung wird seinen Schmerz nur erhöhen. Du mußt häufig zu ihm gehen, ihn trösten –«

»Gewiß, ich werde tun, was in meiner Macht steht – aber wie wenig vermag ich!« Leise fügte er hinzu: »Was vermögen überhaupt Worte! Man richtet viel mehr Schaden damit an als Gutes. – Das ist mir heute so recht klar geworden, als ich mein Trauerspiel neben jenem armen Mädchen liegen sah. Ich fühlte mich fast verantwortlich – jawohl, verantwortlich für dieses Unglück.«

»Du?«

»Für dieses und für viele andre unglückliche Folgen, die vielleicht eingetreten sind, und von denen ich nichts weiß. Der arme Laurier, dem es natürlich nicht einfiel, mir einen Vorwurf zu machen, hat doch so ganz das Richtige damit getroffen, daß er mich unter die Urheber der Sinnes- und Herzenstäuschungen rechnet. Die Tatsache lehrt mich heute, daß er recht hat, denn die Gedanken, die wir mit der Absicht in die Welt hinausstreuen, müßigen Menschen die Zeit zu vertreiben und sie zu rühren, verfliegen nicht wie unfruchtbarer Staub, sie sind im Gegenteil Samenkörner, die je nach dem Boden, auf den der Wind sie hinweht, Keime treiben. Nun gibt es aber auch Keime giftiger Pflanzen, und die unbedachten Hände, die solchen Samen ausstreuen, machen sich eines Unrechts schuldig.«

Aufmerksam lauschte Claudine, aber ihr Lächeln war verschwunden. Mit verschleiertem Blick suchte sie nach einer Antwort auf diese Äußerungen, deren gefährliche Folgen sie ahnte, ohne sie widerlegen zu können. Endlich sagte sie in zögerndem Tone: »Das sind nutzlose Selbstquälereien. Das Werk eines Dichters steht als etwas Selbständiges da, ohne Beziehung zu wirklichen Ereignissen, auch wenn zwischen beiden eine Ähnlichkeit zu finden ist.«

»Ja,« antwortete Clarencé, »gerade so wie das Gift unabhängig von demjenigen ist, der sich damit vergiftet.«

Der paradoxe Vergleich reizte Claudine, und lebhaft erwiderte sie: »Wieder das häßliche Wort Gift, womit du die schönsten Errungenschaften des menschlichen Geistes beschimpfst. Hat nicht auch die Poesie ihre Existenzberechtigung? Ihr Dichter haucht den in euren Seelen wohnenden Bildern Leben ein. Was kann man mehr von euch verlangen, als daß ihr uns diese Bilder mit voller Aufrichtigkeit, ohne Entstellung vorführt, so wie eure innern Augen sie erblicken? Dann nur würdet ihr ein Unrecht begehen, wenn ihr diese Bilder aus irgend einem niedrigen Beweggrund ändern wolltet. Versenkt ihr euch aber mit ganzer Seele in ihren Anblick und wendet ihr eure ganze Kraft an, sie treulich wiederzugeben, so erfüllt ihr euren Beruf. Wer macht den Fluß für die Landschaften verantwortlich, die er im Vorüberfließen wiederspiegelt?«

Auch Clarencé schwieg einen Augenblick nachdenklich, um nach dem schwachen Punkt in dieser Auffassung seiner Kunst zu suchen, der er trotz ihrer Schönheit nicht beizupflichten vermochte.

»Meine Seele,« sagte er langsam, »ist kein Wasser, das seiner selbst unbewußt dahinfließt. Sie kann begreifen, urteilen und vergleichen. Mir ist die Gabe zu teil geworden, Leidenschaften zu schildern und die Menschen damit zu rühren. Daß dies eine herrliche Gabe ist, weiß ich wohl! was aber dann, wenn sie nun Unheil anrichtet? Höre weiter: unsre Werke sind Poesieen, die Früchte unsrer Einbildungskraft. Dabei hält aber jeder von uns seine geistigen Produkte für wahr, und kein höheres Lob gibt es für uns, als wenn auch andre uns darin beistimmen. Aber, großer Gott, was ist das für eine Wahrheit? Angenommen, irgend ein harmloser Mensch verpflanzt diese anscheinend naturgetreuen Darstellungen ins wirkliche Leben, nimmt sich unsre Helden zum Vorbild, impft sich deren Gefühle ein und versucht, sein Leben so zu führen, wie es in unfern Schauspielen oder Büchern geschildert wird, was dann? Ich habe allerdings niemals jemand aufgefordert, dies zu tun, niemals die in meinen Stücken vorkommenden Personen als Vorbilder empfohlen, mich nie als Seelenleiter aufgespielt. Dafür aber habe ich die Liebespaare, die ich der Öffentlichkeit übergab, nach bestem Können idealisiert und versucht, Liebe und Teilnahme für sie zu erwecken. Ich habe sogar ihre Schmerzen und Leiden hin und wieder so anziehend geschildert, daß vielleicht in manchem Leser die Sehnsucht nach ähnlichen Schmerzen erwacht ist. Was ich an Talent mein eigen nenne, habe ich angewandt, um die Liebe in allen ihren Phasen zu preisen. Ich habe sie in eine ideale Welt erhoben, wo sich die Grenzen von gut und bös verwischen, und sie so dargestellt, daß sie als Gipfelpunkt, als höchstes Ziel des Lebens erscheint.«

Fragend schlug Claudine die großen Augen zu ihrem Freunde auf, und ihre Stimme hatte ihre ruhige Heiterkeit verloren, als sie antwortete: »Nun, und ist das denn nicht auch die höchste Wahrheit?«

In diesem Augenblick mußte sie wohl etwas von den geheimen Vorgängen ahnen, die sich seit einiger Zeit in Clarencés Innerem abspielten, denn plötzlich waren sie beide weit entfernt von dem ihnen so nahe gegangenen traurigen Ereignis sowohl, als von der sie scheinbar beschäftigenden Streitfrage, Sie dachten nur noch an sich und ihre eigenen Gefühle und Sorgen. So gut verstand Claudine seine Empfindungen, daß sie unwillkürlich und um vielleicht einer enttäuschenden Antwort zuvorzukommen, den allzu bestimmten Wortlaut der Frage verbesserte: »Oder doch wenigstens eine große Wahrheit? Du selbst hast ja daran geglaubt, ebenso wie ich, und ich hoffe, du tust es noch immer. Wenn deine Werke diese Wahrheit predigen, so kommt es daher, weil dein Leben – unser Leben davon erfüllt ist. Haben denn wir die Helden nachgeahmt, oder sind wir ihr Vorbild gewesen? – Unser freier Wille war es, uns außerhalb der Gesetze und menschlichen Vorschriften zu lieben, und heute wie gestern sage ich, daß hierin kein Unrecht liegt. Unrecht wäre es nur, wenn wir unsrer Liebe untreu würden. Weder deine Bücher, noch dein Leben – unser Leben,« verbesserte sie sich von neuem – »dienen hiefür als Beispiel.«

»Du hast recht,« murmelte Clarencé bestürzt und unruhig.

»Solltest du dieses Leben bereuen?« fragte Claudine, die in seinem Herzen wie in einem offenen Buche zu lesen vermochte.

Clarencé aber ergriff die Hand seiner Freundin und sagte mit leisem Zweifel im Ton: »Nein, wir haben kein Unrecht begangen, denn wir waren ja beide frei und haben niemand mit unsrer Liebe gekränkt, niemand betrogen. Und doch, kam dir niemals der Gedanke, daß es besser für uns wäre, uns den allgemeinen Gesetzen unterzuordnen?«

Verneinend schüttelte Claudine den schönen, stolzen Kopf und ihr Gesicht nahm einen eigensinnigen, verschlossenen, fast harten Ausdruck an, während Clarencé in immer eindringlicherem Tone fortfuhr: »Wir entbehren zum Beispiel das Glück, Kinder zu haben, denn so kühn wir auch der Welt, dem Herkommen und den allgemeinen Vorschriften getrotzt haben, der Mut, eine Familie zu gründen, hat uns doch gefehlt. Ist das nun nicht eine Inkonsequenz, und woher kommt sie?«

Anstatt auf seine Frage einzugehen, entzog Claudine ihm langsam die Hand und murmelte leise: »Wie du dich verändert hast!«

Diesmal war sie es, die mit ihrer Überzeugung ins Wanken geriet, denn auch in ihr, wie sie es im Herzen einer jeden Frau getan hätten, hatten diese Worte eine schmerzliche Saite berührt.

Clarencé aber fuhr eifrig fort: »Nein, ich habe mich nicht verändert, wenigstens nicht in dem Sinn, wie du glaubst. Ich mache nur neue Entdeckungen auf meinem Lebenswege. So fühle ich zum Beispiel von Tag zu Tag mehr, daß meine Person als einzelnes Individuum von nur geringem Wert ist, daß ich nur ein Ring an der großen menschlichen Kette bin und nur als solcher Bedeutung habe. Eine Ansicht, Claudine, die wir nicht kannten, als wir, uns selbst genug, unsern Liebesbund schlössen. Nein, verändert habe ich mich nicht, aber ein Licht ist mir aufgegangen, mit dem ich jetzt meine Werke beleuchte, und ich kann nichts in ihnen finden, was den Menschen Nutzen gebracht hatte.«

»Wie manches liebende Herz ist durch deine Worte bis in den tiefsten Grund erschüttert worden!«

»Ja, und vielleicht war diese Erschütterung bei vielen so groß, daß sie ohne diese Gemütserschütterung heute noch in Ordnung und Zufriedenheit leben würden.«

»Ordnung und Zufriedenheit! Ihr Lob willst du nun singen? Ist nicht die leiseste Begeisterung, die uns daraus aufrüttelt, edler als sie? Ordnung und Zufriedenheit! Hast du den Aufschrei deines Lieblingsdichters, den du so oft anführtest, denn vergessen? ›Man lebt doppelt in den Flammen‹?«

»Wenn er sich nun aber wie ich getauscht hätte?«

Eine lange Pause trat ein.

Endlich nahm Clarencé in dumpfem Tone das Wort wieder auf.

»Verzeih, wenn ich dir wehgetan habe, Claudine, aber mein Unrecht wäre noch größer, wollte ich dir das verheimlichen, was meine Seele bewegt. Es ist besser, ich spreche aufrichtig mit dir, wie ich es immer getan habe, seitdem ich dich kenne und liebe. Und wenn ich nun dasselbe Licht, von dem ich eben sprach, erhebe und damit mein Leben – unser Leben betrachte, so frage ich mich, ob unser Beispiel nicht auch gefährlich ist, wie jede Lebensführung und jedes Werk, wodurch die Menschen von der Einfalt, Mäßigung und den durch Erfahrung bewährten Gesetzen unsrer Vorfahren und von dem breiten Wege der großen Menge abgelenkt werden können. Diese Frage quält mich unbewußt schon seit einiger Zeit, doch erst durch den Tod der armen kleinen Unbekannten und durch die Verzweiflung meines Freundes habe ich ihre traurige Erklärung gefunden. Kannst du meine Gefühle verstehen?«

Eine Träne glänzte in den Augen der jungen Frau, während sie antwortete: »Nein, mein Freund, zum erstenmal verstehe ich dich nicht.« Dann fügte sie, sich gleichsam entschuldigend, hinzu: »Was kann ich dafür, wenn jenes Licht, von dem du sprichst, auf meinem Wege nicht scheint? Ich bin noch immer der Ansicht, daß deine Werke schöne Schöpfungen sind, auf die ich stolz bin. Ich halte deine Liebe noch immer für eine schöne Liebe, und ich bereue nichts, weil ich dich liebe. Wenn ich einen Wunsch habe, so ist es nur der, dich gegen diese Hirngespinste ankämpfen zu sehen, die dich in deinen Augen herabwürdigen.«

Clarencé antwortete nicht, und lange saßen die beiden, in tiefe, sich in der Stille bekämpfende Gedanken versunken, nebeneinander.

Sie dachte: »Wenn er ein solches Heer fernliegender Dinge aufrührt und sich mit Menschenwohl, Gesetzen und Pflichten abquält, so ist das gewiß ein Zeichen, daß er mich nicht mehr liebt.«

»Sollten wir,« so dachte er, »an jenem Wendepunkt des Lebens angelangt sein, wo sich die Verirrungen des Herzens und der Vernunft zu rächen beginnen? Wenn wir uns nun selbst betrogen hätten! Wenn wir uns nicht mehr verstehen konnten?«

Um diese bösen Fragen zu verscheuchen, rief er die trauten Erinnerungen an die schöne Zeit ihrer Liebe, an ihr langes, inniges Zusammenleben und vollkommenes geistiges Ineinanderaufgehen zu Hilfe. Dann rückte er näher zu Claudine heran und zog sie liebevoll an seine Brust.

»Liebst du mich noch?« Und erfüllt von dem Wunsche, an die ewige Dauer ihrer beiderseitigen Liebe zu glauben, schmiegte sie sich leidenschaftlich an ihn und stammelte aus tiefster Seele: »Ach, ich!«

Zärtlich drückte Clarencé die Lippen auf die schönen, tränenüberströmten Augen, aber selbst in diesem Augenblick, wo die alte Liebe mit ihrer ganzen Macht sein Herz bewegte, vermochte er sich nicht von den bedrückenden Erlebnissen dieses schweren Tages zu befreien.

Ja, ja, er befand sich in der Tat an einem Wendepunkt seines Lebenspfades. Ein finsterer Wald beschattete diesen, und der rechte Weg war nicht zu finden!


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