Rainer Maria Rilke
Das Buch der Bilder
Rainer Maria Rilke

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Sturmnacht

Der Gott erschrak in seiner Einsamkeit.
Er sah tief unten in der grauen Zeit
den Herbsttag gehn. Der war so greisenhaft,
als reichte nicht zum Abendrande weit
der matte Pfeil vom Bogen seiner Kraft.
Oft stand er still und starrte nach den Hügeln,
und endlich sank er matt ins arme Gras;
und wie der giere Geier auf das Aas,
so fiel auf ihn mit schweren, schwarzen Flügeln
die nasse Nacht, die seine Seele fraß.

Die schwarze Nacht saß auf dem toten Tag,
und Gott erschrak:
sein Blick ging lange in dem Dunkel irr;
und als er trat aus Wolken und Gewirr,
fand er die Ferne nicht, nicht Flut noch Feld:
die schwarze Nacht fraß an der ganzen Welt.

Da ahnte Gott, der schauernd niederblickte,
wie unter diesem schweren Schwingenschlag
die weite Welt erstarrte und erstickte
so wie ein Tag.

Und plötzlich wußte er: Er liebte sie.
Doch reglos schattend blieb das Nachtgefieder,
als von dem Rand der leeren Himmel nieder
sein Wille schrie . . .

Aber der Gott wird größer im Grimme;
wenn er einmal sein einsames Leid
in die erwachenden Weiten schreit,
ist der Sturm seine Stimme.
Und dann reißt sein wehendes Wort
von den Monden die Wolken fort:
und so sah er im Schimmer thronen
lauter ähnliche Ewigkeiten,
sah die Sterne der Stille wohnen
und die Welten im Wandel schreiten.

Und sein Bangen fand alles geborgen
in dem leise liebkosenden Licht, –
aber über dem Gestern und Morgen
schwieg die Nacht, und sie rührte sich nicht.

Und da war der Gott wie ein Kind,
und er wurde vor Weinen blind,
und durch den wimmernden Wind
griff er mit hilflosen Händen:
ob sie im Äther die Ufer fänden,
welche die Spitzen der Türme sind.
Sein Weinen verwaiste und rief:
»Ist denn die Welt so tief, so tief,
daß der Gott, der Sommer und Sonnen sann,
der in alle Gedanken tauchte,
den Rauch, der um ihre Gipfel rauchte –
ihren Atem – nicht einmal erreichen kann?
Ist dort kein Garten, der Blüten weht,
kein lauschendes Leid, kein waches Gebet,
keine Stille, die mich versteht?«
– – – – – – – – – – – –
Auf Erden war nur ein winziges Licht,
das in dem samtenen Dunkel dicht
an der Wiege des Kindes wachte
und an sein ärmliches Dasein dachte,
als die Stimme des Sturmes klang.
Da wurde dem Funken so heimwehbang,
daß er aus blinkendem Becher sachte
wie der Quell aus dem Felsen sprang
und, die Falten des Vorhangs entlang,
wünschend nach allen Wänden griff,
bis sich berstend die Balken bogen, –
und auf hohen, lodernden Wogen
trieb die Wiege, das schlummernde Schiff.

Da regt sich die Welt. Von den Hängen hebt
scheu sich die Nacht vor dem siegenden Scheine.
Es lächelt der Gott; er weiß nur das eine:
Sie lebt!


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