Wilhelm Heinrich Riehl
Der stumme Ratsherr
Wilhelm Heinrich Riehl

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Drittes Kapitel.

Am anderen Morgen stand Meister Richwin mit dem ersten Dämmerlichte auf, wie er's vordem gar nicht gepflegt hatte, denn er war ein Langschläfer. Er wollte aber Thasso stufenweise an einen ruhigen Gang durch die Straßen gewöhnen, noch ehe sie von Menschen und Pferden wimmelten. Den Hund am Stricke, durchzog er die ganze Stadt. Sowie das Tier auf einen Reiter oder Fußgänger spannte, faßte es auch Augenblicks seinen richtigen Peitschenhieb. Vorher hatte Thasso bei seinen Missetaten zwar immer sichtbar Reue empfunden, zur Buße dagegen durchaus keine Lust gezeigt. Jetzt kam Reue, Buße und Sühnung alles mit einemmale. Richwin fand diese Frühstunde wie gemacht zu unbelauschter Dressur. Mit den wachsenden Februar- und Märztagen stand er daher immer früher auf und war stets schon vor der Sonne mit Thasso auf den Beinen.

Ging er an einer offenen Kirchentüre vorbei, so zog er den Strick besonders fest und ließ einen mahnenden Streich auf Thassos Rücken fallen. Denn der Hund hatte bis dahin eine besondere Lust, in die offenen Kirchen zu laufen und die Gemeinde anzubellen, und je lauter ihn sein Herr zurückrief, um so toller schlug er Lärm. Das verlernte er jetzt gänzlich. Wenn nun Meister Richwin so vor die offene Türe kam und hörte, wie innen die Frühmesse gelesen wurde, so blieb er wohl auch eine Weile andächtig im Portale stehen – denn wegen des Hundes wagte er sich nicht hinein – und nahm sich ein Stück Morgensegen mit. Bis dahin war er ein seltener Gast im Gotteshause gewesen; bald aber glaubte er nun, der Tag sei gar nicht recht begonnen ohne die Frühmesse unter der Kirchentür, auch gehe der Hund nachher immer viel ruhiger.

Als der Meister zum erstenmal von dem Morgengang nach Hause kam, schien ihm der Tag doch sehr lang, der ihm früher, als er noch lange schlief, so kurz gedeucht hatte. Zum Zeitvertreib ging er darum mit Thasso in die Werkstatt, wo zur Stunde schon fleißig gearbeitet werden mußte. Es sah aber noch gar still aus, denn Gesellen und Lehrlinge verließen sich auf den gesunden Schlaf des Meisters und kamen, so spät es ihnen beliebte. Wie staunte und wetterte der Meister über den Unfug, und wie ärgerten sich die Gesellen, als er Tag für Tag immer früher in die Werkstatt trat! Die Reiter und Spaziergänger schwuren dem unbändigen Thasso nicht mehr den Tod, aber die Gesellen hätten den gebändigten Thasso jetzt gerne vergiftet, denn sie merkten wohl, daß er allein schuld sei an den frühen Besuchen des Meisters.

Aber Richwin hielt den Hund Tag und Nacht bei sich nach dem ganz richtigen Grundsatze, daß man ein Tier nur dann gut erziehen und treu gewöhnen kann, wenn man stets mit ihm zusammen lebt.

Dieses Zusammenleben hatte im Verkaufsgewölbe freilich seinen besonderen Haken. Trat nämlich ein Käufer ein, so fuhr Thasso bellend unter der Bank hervor; wollte aber jemand den gekauften Pack Waren mitnehmen und weggehen, so war der Hund gar nicht zu halten, er achtete Kauf offenbar für Diebstahl und packte den harmlosen Kunden so fest, daß ihn nur der Herr selber mit Not wieder befreien konnte. Meister Richwin als Erzieher betrat hier den Weg der Milde. Denn sollte er dem Hunde seine beste Tugend, die Wachsamkeit, ausprügeln? Nein! Er wollte ihn nur unterscheiden lehren, was Käufer und was Diebe sind. Kam also ein Käufer, so reichte ihm Richwin äußerst freundlich die rechte Hand, indes er mit der linken die knurrende Bestie streichelte, und bot dann auch weiter im Gespräch seine heiterste Laune, seine lichteste Miene auf, damit der Hund sehe, daß es hier einem Geschäftsfreund und keinem Diebe gelte. Und ging der Kunde mit den gekauften Waren hinweg, so duldete es Meister Richwin anfangs gar nicht, daß er seinen Pack selber zur Türe trug – denn Thasso stand schon zähnefletschend auf dem Sprunge –, sondern nahm ihm denselben höflichst ab und trug ihn über die Schwelle, mit manchem verstohlenen Rückblick nach dem Vierfüßler. Die Leute aber staunten das Wunder an und begriffen's nicht, wie der gröbste Kaufmann über Nacht zum höflichsten geworden sei, der stolzeste zum dienstfertigsten.

Da brauste aber einmal just im bedenklichsten Zeitpunkt das wilde Heer der Kinder durch die Halle. Jetzt war alle Mühe vernichtet, Thasso fuhr wie besessen zwischen die Kinder und dann zwischen die Beine der Käufer, als wolle er die verhaltene Lust nun doppelt zügellos genießen. Den Kindern bekam's übel. Mit furchtbarem Schelten wurden sie hinauf zur Mutter geschickt und die beiden Knaben schon anderen Tages dem Schulmeister zur schärferen Zucht übergeben. Auch das Lungern und Balgen auf der Gasse ward ihnen strengstens untersagt. »Sie haben den Hund zu tausend Unarten verführt«, meinte Meister Richwin, »und wie kann man überhaupt, umtobt von so wilden Kindern, einen jungen Hund erziehen?« Er beschloß, von nun an seinen bösen Rangen den Daumen scharf aufs Auge zu drücken, damit der Hund Ruhe habe und unverführt bleibe.

Frau Eva mußte dem Mann ihre Freude über alle die Verwandlungen aussprechen.

»Es ist doch ein rechter Segen«, sagte sie, »daß du morgens wieder zur Messe gehst.«

»Jawohl, Eva! der Hund liegt wie ein Standbild, wenn ich unter dem Portale knie.«

»Die Kunden mehren sich wieder, seit du so freundlich geworden.«

»Jawohl, Eva! der Hund knurrt nur noch ganz leise, er bellt nicht mehr im Kaufladen und denkt nicht von weitem ans Beißen.«

»Die Kinder bessern sich zusehends, seit du sie kürzer hältst.«

»Freilich, Eva! das war dem Hunde grundverderblich, daß er immer das böse Spiel der Kinder sah.«

»Und wie tut mir's wohl, Gerhard, daß du jetzt wieder so manches freundliche Wort mit mir redest!«

»Ei freilich, liebe Eva! da du jetzt so freundlich von dem Hunde gesprochen« – sie hatte keine Silbe von ihm gesagt –, »wie sollte ich dir's nicht danken?«

Frau Eva dachte für sich: »Meister Richwin erzieht den Hund und ahnet nicht, daß noch viel mehr der Hund den Meister Richwin erzieht«, und warf zum erstenmal einen freundlichen Blick auf Thasso und streichelte ihn. Das besiegelte den neuen Hausfrieden.

Aber trotz der großen Fortschritte, die Thasso machte in seines Herren Zucht und seiner Herrin Gunst, brachen doch manchmal die alten Tücken wieder hervor. Dabei waltete aber ein seltsamer Instinkt des Tieres: es schien die Zünftler von den Patriziern zu unterscheiden, und wenn es ja seinem Mutwillen wieder einmal freien Lauf ließ, so war er gewiß gegen einen Patrizier gerichtet. Wie es Hunde gibt, die keinen Bettelmann und Landstreicher ohne Gebell vorüber lassen, so konnte Thasso keinen geputzten, stolz schreitenden, ritterlich reitenden Patrizier sehen, ohne daß sich der alte Adam in ihm regte.

Nach dem Feierabend pflegte Meister Richwin durch die nunmehr von Menschen wimmelnden Straßen zu gehen, damit der Hund, des Strickes frei, bewähre, was er in der einsamen Frühstunde, angefesselt, gelernt hatte. Thasso schleicht ganz sittsam in den Fußstapfen seines Herrn. Da schreitet ein Junker aus den Geschlechtern tänzelnd und geziert über den Marktplatz; flugs springt Thasso zu ihm hinüber, kein Rufen, kein Pfeifen hilft, wie im Rausch hat er alle Lehren des nüchternen Morgens vergessen und kriecht erst, demütig wedelnd und um Verzeihung bittend, zu dem wütenden Meister zurück, nachdem er den bis zum Fuß niederfallenden langen Ärmel des Patriziers mitten entzwei gerissen.

Des anderen Tages schickt Meister Richwin dem Geschädigten seinen eigenen Prunkrock mit den langen Ärmeln zum Ersatz. »Wie konnte ich solch ein Geck sein«, rief er aus, »ein so widersinniges Kleid zu tragen? Müssen die langen, flatternden Tuchstreifen, müssen die hundert Bänder und Flitter nicht jeden Hund herausfordern, daß er daran zupfe?«

Meister Richwin begann einen stillen Grimm auf die Kleiderpracht und andere Hoffart der Geschlechter zu werfen und ging von da an nur noch im schlichtesten bürgerlichen Gewand.

Dazu dünkte ihm, die Patrizier hätten ganz besonders höhnische Blicke, wenn er mit seinem Zöglinge an der Schnur durch die Gassen schritt, oder wenn der entfesselte Thasso wieder einmal die Ohren verstopfte und durch Steinwürfe an seine Pflicht gemahnt werden mußte. Wie spöttisch hatte nicht neulich jene vornehme Jungfrau gelächelt, als Meister Richwin sie mit tiefer Verbeugung grüßte, indes der Hund am Strick unwiderstehlich zum nächsten Eckstein hinüberzog, so daß die Verbeugung sich fast zum Fußfall gesteigert hätte? Und waren die edeln Herren nicht allezeit am gröbsten, wenn Thasso ja noch einmal an ihren galoppierenden Pferden hinaufsprang? Wie duldsam nahmen das dagegen die friedlichen Schrittes einher reitenden Zünftler auf!

So vollbrachte Thasso auch hier, was keinem anderen gelungen war: an der Hundeschnur zog er seinen Herrn ganz leise von der Neutralität zur Partei der verbittertsten Zünftler hinüber.

Das wurde fest und fertig, als die Wetzlarer Kaufleute und Handwerker auf Ostern 1368 zur Frankfurter Messe gingen. Sie bildeten einen stattlichen Trupp, der geschlossen zusammenhielt bei der Fahrt durch die Wetterau, wegen räuberischer Angriffe. Die Geschlechter waren vordem auch mitgeritten in der Reiseschar ihrer Stadt, und Meister Richwin auf seinem stolzen Rappen hielt sich sonst lieber zu den vornehmen Leuten als zu den Zunftgenossen, die zu Fuß oder auf langsamen Kleppern die Nachhut bildeten. Heuer aber ließ er den Rappen zumeist bei seinen Saumtieren und ging zu Fuß unter den Zünftlern. Denn Thasso lief zur Seite, und vom Roß herab hätte er den Hund doch nur in halber Zucht halten können. Die Zunftgenossen aber freuten sich gar sehr über die neue leutselige Art des Meisters, der den schönsten Rappen beim Troß führen ließ, um mit ihnen zu Fuß zu gehen. Da fiel gar manches Schmeichelwort, und die Reden der Volksmänner, die früher bei Richwin gar nicht verfangen hatten, fanden jetzt die beste Statt in seiner Seele. Und als der Zug an der Friedberger Warte hielt und herab sah auf die Türme von Frankfurt, da war Meister Richwin eingeweiht und eingeschworen in den Bund der Zünfte wider die Geschlechter. Johannes Kodinger, der Hauptmann des Geheimbundes, schüttelte ihm dankend die Hand und rief: »Ach Meister, wie seid Ihr ein besserer Mann geworden, ja erst jetzt ein ganzer Mann, und das in der kurzen Zeit von Aschermittwoch bis Ostern!«

Gerhard fuhr auf wie aus einem Traum und erwiderte: »Ei, freilich! Ich wußte wohl, daß der Hund von edler Art sei, und daß ihm nur die rechte Zucht fehle. Ja, Meister Kodinger, es geht nichts über eine gleichmäßige, ausdauernde und feste Schule, die bändigt selbst eine Bestie. Aber Thasso kann nun freigesprochen werden von der Lehre, und das soll geschehen, sobald wir nach Wetzlar heimgekehrt sind.«


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