Wilhelm Heinrich Riehl
Die Gerechtigkeit Gottes - Erzählungen
Wilhelm Heinrich Riehl

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Nachwort

Wilhelm Heinrich Riehl, der als humorvoller Mann immer zur Selbstironie bereit war, schrieb über sich: »Ein jeder Mensch reitet seine Steckenpferde; ich habe deren drei: Musik machen, Novellen schreiben und große Fußmärsche unternehmen. Mit diesen drei Dingen hatte ich aber lange Zeit sehr wenig Anklang gefunden: meine Musik wollte niemand hören, auf meinen Gewaltmärschen niemand Schritt mit mir halten, und meine Novellen schrieb ich nur so verstohlen, als ob's eine Sünde wäre.« Denn manche Leute empfanden es als eine Wunderlichkeit, daß ein Professor der Kulturgeschichte und Statistik Novellen schreibe; er hat sein Steckenpferd immer wieder gegen allerlei Leute verteidigen müssen und – ein ganz klein wenig Recht hat er ihnen zwischen den Zeilen doch gegeben. Denn der Alte war sehr klug.

Nein, Leidenschaft und höchster Beruf war ihm das Fabulieren nicht. Aber es war ihm eine sonderlich liebe Beschäftigung, und da er sich ihr hingab, gab er sich ihr auch mit ganzem Gemüte hin. Er war von viel zu tüchtiger Art, als daß er eine Arbeit ohne rechten Ernst und vollen Einsatz seiner Kraft unternommen hätte. Die einsamen Vulkangebirge Raabes, das alpenklare Urgebirge Jeremias Gotthelfs, der stille Rosenhof Stifters, die Paradiesgärtlein Kellers waren nicht seine Welt, er blieb in der wohlangebauten deutschen Mittelgebirgslandschaft. Er kennt wohl das Schauern, aber nicht das Schaudern. Er kennt die mit Schmerzen erkaufte harmonische Heiterkeit, aber nicht den zuckenden Blitz der ewigen Seligkeit mitten in der ewigen Nacht. Und dennoch holen ihn die Olympier, die manchem stolzeren Geist nur zögernd und halb die Hand gewähren, mit Freundlichkeit an ihren goldenen Tisch, und verbergen nichts vor ihm, denn er hat ein reines Herz und irrt sich nie in dem, was sich ziemt.

Riehl fabulierte schon in den Knabenjahren mit jugendlichem Eifer, als er täglich mit den Schulkameraden den langen Weg von Biebrich nach Wiesbaden trabte. Walter Scotts Geschichten brachten dem Jungen frühe Anregungen. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte Riehl seine erste »Novelle« – ohne freilich zu wissen, was eigentlich eine Novelle sei – und machte für die zehn Gulden Honorar eine vierzehntägige Rheinreise.

Was eine Novelle sei, lernte Riehl erst, als er, seit 1854, in München mit Heyse verkehrte. Bei der Frau Staatsrätin Elisabeth von Ledebour, einer weitgereisten, feingebildeten alten Kurländerin, versammelten sich die drei »Ecken« Heyse, Geibel und Riehl, später kam Graf Schack als vierte Ecke hinzu. Sie lasen ihre Arbeiten frisch vom Blatt einander vor und besprachen sie. Hier gedieh der hochgeschätzte Journalist und Professor zu einem sorgsamen Novellenschreiber. In der langwierigen Genesungszeit nach einem Typhus im Winter 1855/56 vollendete er seinen ersten Novellenband, die »Kulturgeschichtlichen Novellen«, die sein literarisches Antlitz für das Lesepublikum (wie es so oft geht) ein für allemal fest umrissen. Die beiden ältesten Stücke, die er darin aufnahm, sind »Der Stadtpfeifer« und »Meister Martin Hildebrand«, sie wurden schon 1874 geschrieben.

In der Einleitung zu jenem Novellenband, den er beziehungsvoll »Aus der Ecke« nannte, schrieb er 1874 rückblickend: »Nachdem ich die wahre Natur der Novelle erkannt hatte, beschloß ich, fünfzig Novellen zu schreiben zu einem Gesamtwerk, welches eine ernste Lebensaufgabe umschlösse, und auf Grund dessen man mich einen Novellisten nennen könnte.« Und später: »Mein Plan war, als Novellist einen Gang durch tausend Jahre der deutschen Kulturgeschichte zu machen, vom neunten Jahrhundert bis ins neunzehnte.« Im Jahre 1888 schrieb er die letzte der fünfzig Novellen, dann nicht eine einzige mehr. (Er starb 1897.) Man muß also Riehls Novellen als ein im großen (wenn auch nicht in den einzelnen Stücken) planvolles Ganzes auffassen. Es ist charakteristisch für dieses Gesamtwerk, daß es zur gleichen Zeit entstand wie Gustav Freytags große Zyklen. (Bilder aus der deutschen Vergangenheit 1859-1867. Die Ahnen 1872-1880). Riehl greift in den Problemen tiefer, ist im Aufbau kunstvoller und hat in der Zeichnung die feinere Künstlerhand gegenüber dem (ebenfalls von Scott beeinflußten) Freytag der kulturhistorischen Zyklen, bei ihm kommt auch der anspruchsvollere Leser auf seine Kosten.

Riehl hat in der Vorrede des Bandes von 1888 den Plan einer historischen Anordnung seiner Novellen vorgelegt, worin sieben Zeitalter zu sieben Bänden geordnet sind: Älteste Zeit (hauptsächlich Karolingerzeit), Romanisches Mittelalter, Reformation und Renaissance, Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Rokokozeit, Zeit der französischen Revolution, Neuzeit. Die Bände sind dem Umfang nach freilich sehr ungleich, die Frühzeit würde nur vier, die Rokokozeit aber vierzehn (zum Teil umfängliche) Geschichten bringen. Das mag – neben dem Wunsch, die gewohnten Zusammenhänge nicht zu zerreißen und die alten Buchtitel nicht verschwinden zu lassen – der Grund dafür gewesen sein, daß die schöne Gesamtausgabe von 1923 auf die Neuordnung verzichtet hat. Auch hat sich der künstlerische Stil in der Zeit von 1854 bis 1883 erheblich gewandelt, so daß bei einer kulturhistorischen Anordnung Stücke von ästhetisch sehr verschiedener Art und ungleichem Wert hart nebeneinander stehen würden. Denn daß Riehl in den mehr als drei Jahrzehnten künstlerisch und menschlich gewachsen ist, ergibt sich unzweifelhaft, wenn man die Werte in der Reihenfolge ihrer Entstehung durchgeht. Nicht nur, daß der Umfang der einzelnen Novellen wächst, der Aufbau wird differenzierter, die »Moral« weniger handgreiflich. Das eigentlich Kulturgeschichtliche und Anekdotische tritt gegenüber den psychologischen und ethischen Problemen an Interesse zurück. Es liegt ein grundsätzliches Bekenntnis darin, wenn Riehl, der zuerst das Kulturgeschichtliche stark betonte, die letzte seiner Novellen überschreibt: »Die Gerechtigkeit Gottes«. Damit bezeichnet er das Problem, das hinter den ernsteren seiner Geschichten stand; es ist hier das beherrschende Problem geworden. Die zeitgeschichtliche Einkleidung (Zeit Rudolf von Habsburgs) ist in der Tat unwesentlich, die Schicksalsfrage und die Antwort ist die Hauptsache: Alles äußere Geschehnis ist rätselhafter Zufall; aber vor der »Zuversicht der Gerechtigkeit Gottes (man betone: vor der Zuversicht, nicht: vor der Gerechtigkeit), vor dieser Zuversicht, die da glaubet, was sie nicht sieht, verlieren die Rätsel dieser Welt ihr Grauen, die Rätsel unseres eigenen Lebens und Sterbens. (Sie werden nicht lösbar, aber sind nicht mehr grauenvoll)... Wo wir gehen und stehen auf dieser Erde, wohin wir fliehen und wohin wir auch versinken mögen, wir bleiben doch immer – unter dem Himmel.« Das ist das Höchste, was Riehl im Leben erreichte, und es ist Optimismus. Dies war der zuversichtliche Ausdruck eines aufstrebenden, optimistischen Zeitalters. Genau zur selben Zeit schrieb Raabe den »???Lar«. Aber im selben Jahre noch begann Raabe das erste der beiden großen Gegenbilder (deren eines nicht ohne das andre verstanden werden kann): »Stopfkuchen« und »Die Akten des Vogelsang«.

Hatte sich Riehl mit zunehmendem Alter mehr und mehr in das Schicksalsproblem vertieft, so hatte er doch nicht damit begonnen. »Lebensrätsel« hieß der letzte Sammelband, der erste aber »Kulturgeschichtliche Novellen«. Sein Fünfzig-Novellen-Werk war nicht entworfen als ein Werk deutscher Weltanschauung, sondern deutscher Kulturgeschichte, freilich einer ideendurchwebten Geschichte. Im Vorwort des ersten Bandes von 1856 weist er seinen Novellen einen Platz zwischen dem historischen Roman und der historischen Tragödie an. In der Tragödie sei alles der Idee untergeordnet, der Dichter dürfe frei mit den Personen und Tatsachen umspringen. Im historischen Roman dürfe er das nicht. Darum seien weltgeschichtliche Personen, deren Charakter »im historischen Bewußtsein der Nation feststeht«, für den historischen Erzähler nicht verwendbar. Man müsse Personen und Handlung selbst erfinden oder aus den wenig bekannten Winkeln der Spezialgeschichte hervorholen, da nur solche Gestalten noch »bildsam« seien. Riehl erstrebt in seinen Novellen die Vereinigung der inneren Wahrheit einer Idee mit der »genrehaften Treue des historischen Kostüms«. Die Idee aber ist, durchaus im Sinne Rankes, »historische Idee«. Aber da sie eben Idee ist, handelt es sich im Grunde um mehr als irdische Geschichte. So dämmert schon im Vorwort von 1856 der Satz auf, daß die Novelle in ihrem »Kern« »jenes höchsten sittlichen Inhaltes voll ist, der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen läßt«. Hier liegt der Keim zu dem, was in der letzten Novelle beherrschend hervortritt. Und alles, was zwischen der ersten und letzten Novelle liegt, ist, indem das Anekdotische und Kulturgeschichtliche unwesentlicher und die Idee immer wesentlicher wird, nichts andres als ein Reifen der edlen Frucht der Lebensweisheit.

Riehl hat wenig aus »Chroniken« geschöpft. Die Anregung zu einer Geschichte erhielt er nur zuweilen aus Geschichtsquellen, und dann war es nicht das Anekdotische, sondern der Konflikt und dessen Idee, was ihn reizte. Ein Beispiel: Der »stumme Ratsherr« von Wetzlar, der gezähmte Hund Thasso ist, wie der Dichter selbst betont, eine freie Erfindung: Riehl selbst ist das Urbild Gerhard Richwins, der Hund Thasso ist keineswegs in Wirklichkeit 1368 in das hochgieblige Haus des Wollwebers gekommen, sondern er ist kein anderer als des Autors ungezogener Rattenfänger. War Riehl doch ein Freund der Hunde, die zu preisen ihm Herzenssache war. So hat Riehl auch nicht während der Arbeit aus Büchern zusammengetragen, sondern die Phantasie frei schalten lassen. Sie gab ihm Stoffes genug und von zehn Ideen wurde, wie er selbst schätzt, nur eine durchgeführt. Damit hängt es auch zusammen, wenn die Geschichten, die in früheren Zeiten spielen, weniger reich im kulturgeschichtlichen Kostüm sind als die Geschichten des Barock, Rokoko und der jüngsten Vergangenheit.

Riehl durchdachte den Konflikt, den er gestalten wollte, aufs klarste und baute danach in antithetischem Fortschritt die Handlung auf. Die Kapiteleinteilung läßt den Aufbau markant hervortreten. Wie er die Geschichten »komponiert«, sagt er im Vorwort von 1880: »Bei der Gliederung der Kapitel verfahre ich architektonisch-musikalisch, als ob es Tonsätze wären, und baue den Gesamtplan am liebsten auf zwei thematische Motive, im doppelten Kontrapunkt, wie aufmerksame Leser schon längst entdeckt haben.« Man kann bei Riehl ein musikalisches und ein zeichnerisches Element unterscheiden. Das musikalische gibt die Stimmung an (und damit das »Lesetempo«). Weit mehr aber tritt das zeichnerische Element hervor. Riehl nennt seine Geschichten gelegentlich Holzschnitte. Die beiden Bände »Geschichten aus alter Zeit« wollte er ursprünglich »Holzschnitte« überschreiben (aber der Verleger hielt den Titel für »zu kühn«); nun aber widmete er sie Ludwig Richter als dem Meister des Holzschnittes. In der Widmung sagte er: »Wer aber wirklich erzählt (nicht schildert), der sucht vor allem die feste, reine Linie der Handlung, deutet Licht und Schatten bloß an, läßt Schmuck und Beiwerk und die weite Fernsicht des Hintergrundes mehr erraten, als daß er sie ausspräche. Sein höchstes Ziel steht dahin, außen grob und inwendig fein zu sein, außen sparsam und innen reich. In diesem Vorbilde begegnen sich die deutsche ›Geschichte‹ und der echte Holzschnitt.« Aber es ist nicht der alte deutsche Holzschnitt der Heiligen Dorothea von 1400 oder des Augsburger Kalenders von 1487, auch nicht der Dürerschen Offenbarung oder des Holbeinschen Totentanzes, sondern der Holzschnitt der romantisch-idealistisch-bürgerlichen Zeit mit seiner gemütvollen, feinsinnigen Sauberkeit.

Es liegt in Riehl die Tendenz zu einem Ludwig Richter der Erzählung. Aber bei Richter war die quellende Gemütskraft stärker, Riehls Phantasie hingegen war von bewußter Intelligenz beherrscht. Das Musikalisch-Stimmungsgemäße ist bei ihm nicht blut- und glutvoll (auch nicht in Stifterscher Verhaltenheit), die Farbe ist gleichsam aquarellmäßig zart. Die Linien aber sind zugleich fein, fest und klar. Wenn uns diese Novellen nach längerer Zeit ins Unbestimmte des Gedächtnisses versinken, so bleibt nicht ein Ton, sondern eine Linie zurück. Nicht ein Brausendes oder Grauenvolles oder Funkelndes, sondern die Linien des Konfliktes bleiben unvergeßlich haften. Mit dem starken Einschlag der Intelligenz hängt die moralisch-pädagogische Neigung Riehls zusammen, die auch in den Geschichten durchbricht, obwohl er nicht belehren, sondern vor allem Handlung geben will. Es handelt sich bei ihm immer um die Erziehung der Menschen. Alle »Zufälle« sind im Grunde weise Fügungen der »Gerechtigkeit Gottes« (»Ein religiöses Gemüt kennt keinen Zufall; denn der Zufall ist ihm gerade das Notwendigste, über unserem freien Willen stehend,– im Willen Gottes, das kleine Rätsel im großen Welträtsel.«) und haben den Sinn, die Menschen besser, weiser, reifer zu machen. Darum kann man jeder Riehlschen Novelle eine Moral entnehmen, sie ist zuweilen im Aufbau der Erzählung geradezu durch Kennworte markiert.

Der starke Zuschuß von Intelligenz ist es auch, der dem an sich naturwüchsigen und mutterwitzigen Humor Riehls oft die Färbung einer überlegenen, wohlwollenden Ironie verleiht. Etwa: »Zum großen Künstler gehört seit Beethoven unbedingt ein Stück Märtyrertum, und wer ein solches erlebt hat, dem dichten es später seine Biographen an.« Oder: »Und die moderne Kunst soll aufregen, das bloß Anregende gehört dem verblaßten Klassizismus. – Die Kunstqual ist der wahre Kunstgenuß.« Diese innere Haltung, in der sich Kritik mit gelassener Anerkennung des Unvernünftigen, ja, mit einer gewissen Liebe zu dem Unvernünftigen verbindet, gehört zu den liebenswürdigsten Erscheinungen geistiger Bildung. Diese spezifische Art der Ironie waltet auch in Riehls Wertschätzung der eigensinnigen Käuze, der Pedanten usw., und sie ist wohl die Ursache, daß er eine gewisse Vorliebe für das Rokoko hat; wenigstens scheint mir, daß die Rokoko-Geschichten mit besonderer Hingebung und ausgezeichnetem Humor geschrieben sind.

Aber die Intelligenz Riehls ist weit entfernt von dem, was wir heute Intellektualismus zu nennen pflegen. Denn Riehl wurzelt fest im Volke. Auch in seinen geistigsten Regungen ist noch Saft und Kraft der Erde. In dieser Verbindung der Erdhaftigkeit, Volksmäßigkeit und gepflegter Geistigkeit liegt der eigentliche Wert nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch der literarischen Arbeiten Riehls. Treibt ihn der Geist zu thesenhafter Formulierung allgemeiner Erkenntnisse, so nimmt der Ausdruck unwillkürlich etwas Sprichworthaftes an, die logische Formulierung hat eine gewisse Beimischung von Mutterwitz. Die Riehlschen Erkenntnisse sind immer so fest geformt, daß man sie sozusagen in die Hand nehmen kann; sie zerreißen nicht alsbald in ein lockeres Gewebe von Beziehungen, sie zerrinnen nicht wie ein Nebel ins Gestaltlose.

Weil Riehl sich nicht gern in unbestimmten Allgemeinheiten umhertreibt, sondern greifbare, individuelle Gestaltungen und Prägungen liebt, befriedigt er sich nicht in theoretischen Abhandlungen, sondern schreibt Geschichten. Wissenschaft und Kunst sind bei ihm in ihrer alten Verflochtenheit beisammen. Er hat, wie Goethe, eine Abneigung gegen das Spezialistentum und schätzt, wie Goethe, den Dilettanten um der Ganzheit des Geistes willen. Das sinnenfrische Gefühl für alles Ursprüngliche, Individuelle, Gebildliche bewahrt Riehl vor erdenferner Verstiegenheit. Er ist, auch als Novellist, durch und durch gesund. Daher sind die kurzen allgemeinen Betrachtungen, die er hin und wieder in die Erzählung einfließen läßt, sinnenfrisch und erdenwahr. Seine theoretischen Erkenntnisse sind immer auch zugleich gesunde Volksweisheit.

So steht Riehl mitten inne zwischen Romantik und Naturalismus. Er ist nicht Romantiker, denn er bleibt in der alltäglichen Erdenwirklichkeit. Er ist nicht Naturalist, da ihm die Realitäten nicht maßgeblich sind. Aber von beiden steckt etwas in ihm: die Achtung vor der Wirklichkeit, die Überordnung der Idee. Er ist ethischer Realist.

Wenn wir nun versuchen, die innere Gesamthaltung des Geschichtenerzählers Riehl zu charakterisieren, so gibt er selbst uns dafür das Wort: Feierabend. Am Feierabend kommt das arbeitende Volk zu sich selbst, da ruht die Hand, und der Geist wird wach in Geschichten und Betrachtungen. Im »Feierabend« liegt zugleich das Besinnliche, Beruhigte, Weise des Alters. Nicht Sonntag – das würde nicht zutreffen auf Riehl, er ist nicht sonntäglich wie Keller. Aber »Feierabend« trifft das Richtige. Schon 1874 schrieb Riehl: »Ich erzähle Geschichten am liebsten aus einer Zeit, die selbst bereits Geschichte geworden. Denn die Geschichte breitet Frieden und Versöhnung über den Kampf, und ich möchte nicht im Byronschen Sinne aufregen, sondern im Goetheschen anregen, wenn ich erzähle.« Seinen vorletzten Novellenband nennt er »Am Feierabend«, und er begründet den Titel damit, daß er »die Stimmung des heiteren Behagens, der tiefinneren Versöhnung, des reinen, klaren Abendfriedens« erstrebe. Zuletzt schreibt er zusammenfassend 1888: »Ich erzählte alle meine Novellen in Feierabendstimmung und wünsche, daß sie diese Stimmung beim Leser erwecken möchten. Ich huldige nämlich der seltsamen Ansicht, daß die Kunst uns mit uns selbst und mit Gott und der Welt versöhnen solle, indem sie uns in allen Dissonanzen des Lebens doch zuletzt die hohe Harmonie von Gottes schöner Welt zu Gemüte führt, daß sie also nicht berufen sei, uns niederzudrücken, indem sie uns quält, sondern uns zu erheben, indem sie uns erfreut.«

Die fünfzig Novellen Riehls, welche die deutsche Welt umspannen, sind Feierabendbücher nicht für einsame Menschen nur, sondern vor allem für Familien, die mit verständigem Nachdenken, mit Freude an kunstvoller Arbeit, mit reinlichem Gemüte und einigem Behagen zu lesen lieben.

Dr. Wilhelm Stapel


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