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Der Schultheiß war nicht ganz so schlimm wie er aussah. In ruhigen Zeiten wäre er ein polizeimäßig rechtschaffener Mann gewesen, der nichts Schlimmes gethan hätte, damit ihm nichts Schlimmes wider führe. Aber für die Zügellosigkeit der Kriegsjahre langte seine Sittlichkeit nicht. Er ließ sich gehen und fiel so aus einer Lumperei in die andere. Dennoch wußte er seine Haltung als gestrenger Dorfregent lange zu bewahren. Indem er anderen imponierte, schaffte er sich Mut, und indem er andere abstrafte, machte er sich selber warm für Tugend und Gerechtigkeit.
Als der Glöckner mit seinem Genossen hinweggegangen war, fand der Schultheiß bald die Fassung wieder. Es ward ihm ganz lächerlich, daß er sich von den beiden Burschen so hatte erschrecken lassen. Ein verwünschtes Ding war es nur, daß ihm der lüderliche Vers fortwährend im Kopf summte, den ihm der Glöckner zu Ohren gesungen, als selbiger von der Leiche seiner Frau kam:
»Und als mein' Frau gestorben war,
Da legt' man sie aufs Stroh,
Ich sollte drüber weinen
Und war doch gar so froh!«
Da sich der Schultheiß ins Bett legte, war es ihm, als sei ein wahrer Hexenspruch in dem Vers. Hundert- und tausendmal mußte er ihn in verzweifelter Lustigkeit vor sich hinsingen und konnte nicht einschlafen. Er wollte sich auf ernstere Gedanken bringen; aber die waren so unheimlich wie die lustigen. Binnen vierzehn Tagen sollte er zur Rechenschaft gefordert werden über sein Richteramt. So hatte der Pestmann prophezeit. Damit hatte er ihm doch wohl auf diese Frist den Tod verheißen, und der Pestmann mußte sicherlich kompetent sein in diesem Stück. »Aber wenn ich auch demnächst zum Teufel fahren müßte, in den nächsten vierzehn Tagen thue ich es nun erst gerade nicht, dem Pestmann zum Trotz!« So sprach der Schultheiß zu sich selbst. Dann ward er aber plötzlich wieder sehr nachdenklich. Wenn diese Hitze, die ihn durchglühte, schon das Fieber der Krankheit wäre? Er hielt gar oft die Hand an die Stirn und den Puls – der ging zwar etwas rascher, doch nicht so rasch, wie ihn das Fieber, sondern nur wie ihn das böse Gewissen zu treiben pflegt – und fragte sich, ob er denn wirklich schon von der Pest befallen sei? und dazwischen sangen ihm unheimliche Stimmen aus jeder Ecke der Kammer in hundertfachem Chor den Vers entgegen:
Und als mein' Frau gestorben war,
Da legt' man sie aufs Stroh –«
Doch der Schultheiß war kein Schwachkopf, der vor Angst krank wird. Er kämpfte sich tapfer durch die wüste Nacht, und als er sich des anderen Morgens nicht den Schlaf, sondern bloß die Ermattung aus den Augen wusch, wusch er auch die bösen Träume aus seiner Seele.
Er wollte auf andere Gedanken kommen und ging darum in die große Ratsstube, die zu Zeiten auch als Gerichtsstube diente, um dort zu arbeiten. Ueber der Thür stand nach der Sitte der Zeit ein alttestamentlicher Spruch, der war dem Schultheißen seit den Kindertagen wohlbekannt; doch gar lange hatte er die Steinschrift nicht wieder gelesen. Jetzt blieb er stehen und las:
» Sehet zu, was ihr thuet: denn ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er sitzt mit euch im Gericht.« 2. Chron. 19, 6.
Da fuhr dem Schultheißen ein Schreck durch die Glieder; denn mit dem Spruch ging ihm der andere Spruch durch den Sinn, den ihm Grete vor dem Sterbehause und gestern der Glöckner zugerufen: »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't.« Und nun war auch der Spuk der Nacht für den ganzen Tag wieder losgelassen im Kopfe des Schultheißen. Der leichtfertige Vers, der ihn gestern im wachen Traum gequält, und der bedenksame Spruch klangen ihm fort und fort im Ohr zusammen wie Glockengeläute, das nicht stimmen will. Am Abend sagte der gemarterte Mann zum Ortsknecht, seinem einzigen Vertrauten: »Es läutet mir im Kopf mit zwei Glocken, die wollen nicht rein miteinander klingen; es ist ein Geläut, das mich in des Teufels Kirche ruft!« Als die Abendglocke vom Löhnberger Kirchturme in das friedliche Thal hinaustönte, wollte es dem Schultheißen fast den Kopf zersprengen, so daß er die Ohren in ein Kissen steckte. Denn der alte Veit war es ja, der die Glocke zog, und es war dem Schultheißen, als riefe ihm der Glöckner fortwährend durch den Gesang der Glocke zu: »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't.« Und da die Abendglocke längst verstummt war, mußte der Schultheiß den Spruch doch noch lange nach dem Taktmaß und Tonfall des Geläutes vor sich hin singen.
Am folgenden Morgen bemerkte der Ortsknecht dem Schultheißen: der Herr sehe sehr blaß und hohläugig aus. Da flog es dem Schultheißen rot wie Scharlach über das überwachte Gesicht, und er gab dem Ortsknecht eine Ohrfeige dafür, daß derselbe rot und weiß nicht unterscheiden könne.
Nach einer Weile zog er den Knecht ans Fenster, deutete auf einen Tannenbaum, worauf ein Rabe saß, und fragte, wie ihm das Geschrei klinge, das der schwarze Vogel rastlos ausstoße.
Der Ortsknecht sprach: »Der Vogel ruft seinen eigenen Namen – Rab! Rab!«
»Nein,« entgegnete zornig der Schultheiß, »wärest du nicht ein tauber Esel, so würdest du hören, daß dieser Vogel Grab! Grab! ruft. Grab! Grab! schreit er mir schon seit zwei Stunden ins Ohr. Seit zwei Stunden mühe ich mich, ihn zu verjagen; aber je mehr ich scheuche und lärme, um so fester bleibt er sitzen und um so lauter und deutlicher ruft er mir zu: Grab! Grab! Laufe, was du kannst; bringe mir den alten Glöckner hierher und seinen Spießgesellen, den Mann, dessen Namen man nicht nennen darf, den fremden Mann, der mit seinem weißen Käsegesicht dreinschaut wie der Tod von Ypern. Sie sollen den Zauber lösen, den sie auf diesen Vogel gelegt haben, sie sollen mir den Vogel verscheuchen, sie allein können das, oder ich liefere sie an den Brandpfahl als überwiesene Hexenmeister. Ah, der Rabe schreit immer stärker! Ich merke schon, man muß etwas sanftere Saiten aufziehen gegen seine Gebieter. Ich verspreche ihnen sicheres Geleit – hörst du! – nur den Raben sollen sie mir zur Ruhe bringen. Alle Gunst und Freundlichkeit sei ihnen gewährt – den verfluchten Spitzbuben – allein es ist besser, in die Suppe geblasen, als das Maul verbrannt – nur den schwarzen Vogel sollen sie fortjagen. Oder vielleicht hat es gar dem Pestmann gefallen, sich selber in diesen Raben zu verwandeln? Dann würde ich Euch raten, hochansehnlicher Herr im schwarzen Rock, Euch mit mir gütlich auszugleichen, zu schweigen und abzuziehen. Obgleich ein großer Zauberer, könntet Ihr doch über kurz oder lang einmal in meine richterlichen Hände fallen – auch die besten Schwimmer ersaufen zuweilen – und da wäre dann ein Dienst des anderen wert!«
So sprach der Schultheiß nicht im Fieber, nicht übergeschnappt, sondern bei klaren Sinnen; nur das böse Gewissen ließ jetzt auch die Pulse seines Geistes etwas rascher gehen, wie schon seit vorgestern abend die Pulse seines Leibes.
Der Ortsknecht kam mit der Meldung zurück, daß der Glöckner samt seiner Tochter und dem Pestmann spurlos verschwunden seien. Von der ganzen Sippschaft sei nur noch Konrad, der Schmied, zu haben, der fest im Turme sitze. Ob er den Schmied nicht bringen solle, damit er als künftiger Schwiegersohn des alten Hexenmeisters den Raben verscheuche.
Der Schultheiß erwiderte aber rasch und fest: »Nein; der Schmied bleibt sitzen. Um seinetwillen schreit der Rabe nicht. Er hat das Feuer vor der Morgenglocke angezündet; er büßt seine gerechte Strafe.«
Noch am selben Tage sprachen die Löhnberger Bauern von nichts anderem, als daß der alte Veit und der Pestmann dem Schultheißen prophezeit haben, binnen vierzehn Tagen müsse er um seiner Sünden willen an der Pest sterben.
Allein so scharf man auch von Stund' an des Schultheißen Mienen und Reden bewachte – er schien so sorglos zu leben wie einer. Nur der Ortsknecht konnte von anderen Dingen berichten, und die kranke Gesichtsfarbe, die eingefallenen Wangen mochten erraten lassen, wie es dem Schultheißen in einsamen, unbewachten Stunden und in den schlaflosen Nächten zu Mute sei. Im Amte begann der Mann strenger, gerechter, exemplarischer zu werden als je vorher; und die Löhnberger meinten, hätte man ihrem Schultheißen nur von Anfang an die Pest verheißen, dann würden sie das beste Regiment im ganzen Land gehabt haben.
Je mehr die Frist der vierzehn Tage ablief, um so größer ward die Selbstquälerei des Schultheißen. Vor dem letzten Tag fürchtete er sich am meisten. Denn obgleich mit jedem glücklich überstandenen Tage die Wahrscheinlichkeit größer ward, daß die ganze Prophezeiung Trug gewesen, so wurde doch auf der anderen Seite die Möglichkeit der Erfüllung auf einen immer kleineren und bestimmteren Zeitraum zusammengedrängt. Wir sind alle zur Todesstrafe verurteilt, aber für die höchste Seelenqual, die wir dem gröbsten Verbrecher diktieren, halten wir es dennoch, die Todesstunde bestimmt voraus zu wissen.
Der Schultheiß zweifelte zuletzt gar nicht mehr, daß ihn in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten Tag die Pest befallen werde. Er beschloß darum, sich für diese Nacht wenigstens in die festeste Citadelle vor der gefürchteten Feindin zurückzuziehen. Die Citadelle glaubte er in dem Gemeindebackofen gefunden zu haben. Schwitzen ist ein Universalmittel des Bauern; besonders hielt man es für ein gutes Präservativ wider die Pest. Mit dem Angstschweiß hatte es der Schultheiß schon seit dreizehn Nächten genügend versucht; er wollte jetzt zur eigentlich medizinischen Schwitzkur schreiten.
Den Tag über – es war Montag – hatten die Ortsbürger ihr Brot für die Woche gebacken, so daß der Ofen die Nacht hindurch noch eine gewaltige Wärme hielt. Aber ganz allein die Nacht im Backhause zu verbringen, wagte der Schultheiß schon nicht mehr. Er weihte daher seinen letzten Freund, den Ortsknecht, in das Geheimnis ein, befahl ihm, Mantel und Hellebarde zu nehmen und die Nacht im Backhause Schildwacht zu stehen.
Das Gemeindebackhaus von Löhnberg lag aber – und liegt noch – außer der Ringmauer am Fuße des Schloßberges neben dem kleinen Weiher, oberhalb dessen die abgebrannte Schmiede gestanden hatte. Der Thürbalken zeigte den Hausspruch:
»Hier wird gebacken Brot und Kuchen
– Den thun die Weibsleut gern versuchen –;
Versuch uns Herr mit keiner Not
Und segne unser täglich Brot.«
Zuerst trat man in eine kleine Backstube, deren Hintergrund dann mit dem Ofen abschloß.
Als es dunkelte und stille geworden war, schlich der Schultheiß mit seinem Begleiter zu diesem einsamen Häuschen. Eine mehr als südländische Hitze glühte noch nach in dem Ofen; denn damals sparte man noch kein Holz; dazu roch der Ofen gar köstlich nach frisch gebackenem Brot.
Nachdem der Schultheiß die verglommenen Kohlen gehörig untersucht hatte, damit er nicht am Ende selber über Nacht gebacken werde, kroch er in den Ofen und schloß die Thür so, daß er nur durch einen kleinen Ritz in die Backstube sehen und notdürftig frische Luft einziehen konnte. Dem Ortsknecht befahl er, nicht vor der Thür, sondern in der Backstube Wache zu halten, auf daß ihn niemand vom Wege aus erspähe. Damit der arme Teufel nicht gleichfalls wenigstens eine Schwitzkur zweiten Grades mitmachen müsse, war ihm erlaubt, die Thür ins Freie offen zu lassen.
Der Mann im Ofen hatte alsbald eine unsägliche Hitze auszuhalten; er schwitzte im voraus zur Präservierung für mindestens zwei ganze Pestepidemien. Dennoch ertrug er diese äußere Hitze leicht. Inwendig dagegen verzehrte ihn eine weit schrecklichere Glut.
»Wenn es schon so heiß ist in diesem ausgebrannten Backofen,« sprach er zu sich selbst, »wieviel heißer muß es dann noch in der Hölle sein!« Der anfangs so süße Brotgeruch deuchte ihm nach einer Stunde schon unerträglich, aber wieviel unerträglicher möge der Geruch erst in des Teufels Backofen werden, wo man tausendmal tausend Jahre nichts als Pech und Schwefel zu riechen bekomme! Zuletzt befiel ihn ein solcher Abscheu vor dem Geruch des Brotes, daß es ihm war, als könne er niemals mehr mit Genuß ein Stück Brot essen, als sei der Segen, der in dem Hausspruch des Backhauses erbeten war, von nun an von seinem Brote genommen. Und er gedachte dabei zum erstenmal so manchen Mannes, der in den letzten Jahren in seiner Gemeinde Hungers gestorben, ohne daß er sein Stück Brot mit ihm hatte brechen mögen.
Der arme Sünder im Backofen versuchte zu beten. Da kam ihm der Gedanke, sein Gebet sei wohl zu vergleichen dem Gesang der drei Männer im Feuerofen, so daß er selber anhub zu singen. Aber der Teufel mußte ihn reiten, daß sein Gesang immer wieder in den Vers überging:
»Und als mein' Frau gestorben war,
Da legt man sie aufs Stroh –«
und sein Gebet und Gesang erschienen ihm wie ein Spott auf die Schrift, denn solche Verse hatten Sadrach, Mesach und Abednego nicht gesungen, da sie im glühenden Ofen Nebukadnezars saßen.
Der Schultheiß schaute, als es mit dem Beten nicht glücken wollte, durch den Ritz hinaus, und durch die offene Thür konnte er sogleich ins Freie sehen. Aber da lagen auch die Trümmer von der Brandstätte des Schmiedes vor seinen Augen, und der leichtfertige Vers des Glöckners samt dem Drohspruch seiner Tochter erschütterten ihm wieder das Gehirn.
In der Verzweiflung wollte er ein Gespräch mit seinem Wächter, dem Ortsknecht, anknüpfen, der wider die Wand der Backstube gelehnt regungslos dastand, als sei er eingeschlafen. Der Schultheiß sagte ihm freundliche Worte und suchte recht zuthunlich aus seinem Backofen heraus zu plaudern. Aber der Kerl gab keine Antwort. Der Schultheiß erhob seine Stimme immer lauter, rief ihn bei Namen – keine Antwort erfolgte. Da sprang er endlich in heller Wut aus seinem Backofen hervor, doch auch nicht ohne Angst, der Teufel möge seinem Spießgesellen bereits zum Vorspiel den Hals umgedreht haben. Doch als er ihn am Mantel faßte und aufrütteln wollte, blieb der Mantel in seiner Hand, und der Stock, daran der Mantel gehangen, fiel um, und der Hut, der auf dem Stock gesessen, rollte zur Erde, und nur der Spieß blieb fest stehen, denn der Ortsknecht hatte ihn tief in den Boden eingestochen, als er sich davonschlich, um sich zu Hause ins gute Bett zu legen und dem unheimlichen Schultheißen nur Hut, Mantel und Spieß zur Schildwacht zurückzulassen.
Der Schultheiß aber kroch ganz gebrochen in seinen Backofen zurück und schloß die Thür so fest, daß er schier hätte ersticken mögen, und schaute auch nicht mehr zum Ritz hinaus. Der Ortsknecht war der einzige gewesen, dem er sich stets huldvoll erwiesen, vordem ein Bettler, der ihm nun sein ganzes Wohlergehen zu danken hatte. Und dieser einzige schlich sich feige davon, wo sein Gönner die erste kleine Aufopferung von ihm forderte, und ließ ihm eine Vogelscheuche statt eines hilfreichen Freundes zurück! Da schaute der Schultheiß zum erstenmal seine eigene Herzlosigkeit wie im Spiegel; denn sein eiskalter Egoismus war die Quelle seiner schwersten Sünden gewesen. Er hätte weinen mögen darüber, daß ihm ein so lumpigter Gesell wie der Ortsknecht die Freundschaft gekündigt, und es war ihm, als stehe er jetzt schon vor dem Gericht, welches ihm der Pestmann verheißen hatte. Jetzt fühlte er erst, wie es seiner Frau mochte gewesen sein, da er sie in ihrer letzten Not verlassen.
»Aber soll ich denn dafür,« so dachte er dann wieder, »sogleich mit dem Leben daran? Laufen doch so viele größere Spitzbuben im Lande herum, die keineswegs mit der Pest gestraft werden, die alt werden wie Methusalem! Ist Gottes Gerechtigkeit wie der Menschen Gerechtigkeit, die den kleinen Dieben eiserne Ketten anlegt, den großen goldene? Nein, an mir ist noch lange nicht die Reihe, daß ich für meine Sünden den Tod erleiden müßte! Weil Gott gerecht ist, darum kann er mich jetzt noch nicht vor sein Gericht fordern.« So appellierte der Schächer an Gottes Gerechtigkeit, um der Gerechtigkeit Gottes zu entrinnen, und mit diesem tröstlichen Gedanken über seine noch zurückstehende Anciennität unter den mitlebenden bösen Subjekten versank der in seinem Backofen fast bis zur Ohnmacht erschlaffte Mann endlich in tiefen Schlaf.
Die Sonne stand schon hoch, als der Ortsknecht atemlos zurückgelaufen kam ins Backhaus, die Ofenthür aufriß und ein über das andere Mal schrie: »Herr Schultheiß! Die Herren aus der Stadt sind gekommen, um wieder einmal einen Rugtag in Löhnberg abzuhalten. Binnen einer halben Stunde sollt Ihr auf dem Rathaus erscheinen, auch die Gemeinde schnell zusammenrufen lassen zum Ruggericht.«
Der Schultheiß, der eben noch vom jüngsten Gerichte geträumt, wachte auf wie zum neuen Leben, da er nur vom Ruggericht hörte. Wäre der treulose Ortsknecht mit einer anderen Botschaft gekommen, so hätte er ihm den Schädel eingeschlagen; jetzt mochte er ihm fast um den Hals fallen vor Freude. Die Nacht war vorüber, er war nicht pestkrank; die Weissagung des Pestmannes erfüllt, er war vor sein Gericht gefordert. Er lachte über sich selbst, obgleich der sonst so starke Mann vor Schwäche kaum aus dem Backofen kriechen konnte. War nicht heute St. Bartholomäi, wo alljährlich das Ruggericht in Löhnberg abgehalten zu werden pflegte? Das konnte man auch ohne Prophetengabe wissen. Aber das Herkommen war durch Krieg und Pest in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten, und der Schultheiß hatte am wenigsten an den Bartholomäustag gedacht. Vor einem Gericht von irdischen Richtern fürchtete er sich aber nicht; die Richter, dachte er, sind alle nicht besser wie ich, und keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus. Darum freute er sich des Rugtages, als sei derselbe ein Blitzableiter für den Donnerschlag des geweissagten himmlischen Gerichts.
Die Männer vom Ruggericht, Amtleute, Schultheißen, Heimberger und Geschworene, saßen bereits im Ratszimmer, als der Schultheiß von Löhnberg eintrat, verstört in Gesicht und Kleidung und die ganze Stube mit frischem Bratgeruch erfüllend. Die wenigen Gemeindemitglieder, welche die Schrecknisse der letzten Jahre überlebt hatten, fanden bequem Platz in dem kleinen Raum. Das Ruggericht hatte vor versammelter Gemeinde die Thätigkeit der Ortspolizei zu prüfen und sowohl regelmäßig in bestimmten Terminen als auch unversehens solche Visitationen anzustellen, dann aber auch Vergehen, die über die Zuständigkeit der Schultheißen hinausgingen, zur Aburteilung zu bringen. Während der Pest hatte man das Rügen und Aburteilen unserem Herrgott allein überlassen, drum sah es das Volk als ein Zeichen der verschwindenden Krankheit an, daß jetzt auch die Amtleute sich wieder herauswagten zum Rügen.
So elend der Schultheiß aussah, stand er doch fest an seinem Platze und stellte seinen Mann mit gewohnter Gravität.
Der geschworene Schreiber verlas die sechzehn Rugartikel, in welchen gefragt wurde, ob einer in der Gemeinde sei, der gestohlen oder betrogen oder Gottes Wort verachtet habe und was sonst überhaupt zu den Polizeivergehen gehörte. Auf jeden Artikel mußte der Schultheiß Antwort geben, und der Schreiber nahm sie zu Protokoll.
Schon war der sechzehnte und letzte Artikel verlesen, der die selbigesmal für die Löhnberger sehr unverfängliche Frage enthielt, ob jemand in der Gemeinde sei, der verbotene, ehrenrührige Bücher verbreitet habe, und die Gemeinde wollte auseinandergehen, indem man die Schlußformel der Rugartikel für einen leeren Schnörkel anzusehen gewohnt war, als der Amtmann Stille gebot und dem Schreiber befahl, auch den Schlußparagraphen langsam und vernehmlich vorzulesen.
Derselbe lautete: »Würde sich aber bei Unseren Schultheißen und Heimbergern einige Parteilichkeit befinden, oder daß sie jemand mit Wissen fälschlich in Recht und Ehren gekränkt, so wollen Wir selbige mit sonderlichem Ernst hierumb ansehen und zur Rechenschaft ziehen lassen.«
Als der Schreiber diese Worte verlesen, öffnete der Amtsdiener einen Weg durch die versammelten Bauern und führte den Schmied in die Ratsstube und den Glöckner mit seinem Kind, der Grete.
Der alte Veit trat gegen den Protokolltisch vor und sprach: »Mit Verlaub! Ich klage unseren Schultheißen an, daß er mein Kind mit Wissen falsch verurteilt und in seinen Ehren gekränkt hat.«
Der Schultheiß fuhr vom Stuhl auf und rief: »Man lasse diesen Menschen nicht zur Klage, der ein verfluchter Wahrsager und Hexenmeister ist, reif zum Verbrennen!«
Veit aber trat keck ganz nahe vor den Wütenden und sprach kalt: »Herr Schultheiß, ich will Euch einen Spruch sagen, den führen sonst die Hexenmeister nicht im Munde: Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!«
Da brach mit einem Schlage die Selbstbeherrschung des Schultheißen zusammen, und das Geheimnis seines gemarterten Geistes lag offen am Tage. »Schafft mir diese drei Gesichter fort!« rief er, wie im Fieber erglühend und zitternd. »Schon seit vierzehn Tagen verfolgen mich diese Fratzen und das vierte bleiche Totengesicht dazu, und wo ich mich hinwende, da steht der alte Veit, der Hexenmeister, und ruft mir seinen verruchten Spruch ins Ohr!«
Die Geschworenen sahen sich bei diesem Auftritte staunend an. Da aber der Schultheiß, wie von einem Wutanfalle übermannt, nicht nachließ mit Schreien und Toben wider den Glöckner, so hieß ihn der Amtmann in ein Seitenstübchen führen, bis er wieder zur Ruhe gekommen sei.
Dann befahl er dem Glöckner, wahrhaftig, daß er's beschwören könne, zu erzählen, was er wisse. Veit berichtete in schlichten Worten, wie der Schultheiß so schändlich die kranke Frau von sich gestoßen, Grete aber aus freier Christenpflicht der verlassenen Base sich angenommen und deshalb den Konrad dahin vermocht habe, die Esse vor der Zeit zu heizen.
Er berichtete dann die Wahrheit wegen der silbernen Armspangen, sprach von des Schultheißen unehrenhafter Neigung und seiner Rachsucht und stellte den ganzen Vortrag mit so beweglicher Treuherzigkeit, daß er auch noch andere Leute als die Geschworenen dieses Ruggerichts hätte überzeugen müssen.
Dann aber wandte er sich gegen die Bauern und sagte mit erhobener Stimme, ihnen habe er noch etwas ganz besonderes Neues zu berichten. Ihm selber würde es niemals gelungen sein, die Schliche des Schultheißen vor dieses Gericht zu bringen; ein Besserer habe ihm dazu geholfen, das sei der Mann, den sie den Pestmann genannt. Der sei sein und Gretens bester Zeuge gewesen, der habe nach Dillenburg Kunde gelangen lassen von dem Wesen, welches der Schultheiß in Löhnberg treibe; auf das Betreiben von des Pestmanns hohen Gönnern und Freunden habe sich das Gericht zum erstenmal wieder aufgemacht gen Löhnberg. Keiner in dieser Stube, auch die Herren Amtleute nicht, wisse genau, wer der Pestmann eigentlich sei; er selber allein wisse es, freilich erst seit gestern. Und dann erhub der Alte seine Stimme immer mächtiger und fing an zu reden wie ein Prediger. »Viele Kranke, Gefangene, Hungernde, Verlassene lagen in diesen Zeiten an den Straßen, die Priester kamen und gingen vorüber, die Leviten und gingen vorüber, wie im Evangelio. Nur dieser einzige Mann kam aus fremdem Land in unsere Gegend, und da er all das Elend sah, jammerte ihn dessen, und er verband unsere Wunden, goß Oel und Wein darein; er heilte die Kranken, tröstete die Sterbenden und begrub die Toten. Wo die Pest war, da war auch er, darum nanntet ihr ihn den Pestmann. Aber nicht gebracht hat er die Pest, sondern bekämpft hat er sie und hat sein Leben eingesetzt bei diesen Werken der Barmherzigkeit. Und dieser einzige, der uns alle zu Schanden machte, war kein Priester und kein Levit, er war ein Samariter. Der Pestmann war ein – Jesuit; er schrieb sich Rutgerus Hesselmann. Aus Westfalen ins Hadamarische berufen zur Bekehrung treuer protestantischer Christen, wußte er ein besseres Amt zu üben, indem er Buße predigend und Hilfe spendend auf dem Westerwald und im Lahngrund umherzog, und wo er einen Verlassenen fand, da fragte er nicht, ob derselbe lutherisch sei oder päpstlich. Wo er eine Leiche am Wege liegen sah, lutherisch oder päpstlich, da lud er sie ganz allein auf seine Schultern und grub ihr eine Ruhestatt in geweihter Erde. Einen Jesuiten wie diesen gibt es in der Welt nicht wieder. Statt den Haß zu predigen, wirkte er Werke der Liebe. Wider die Pest und den Hunger und die Verzweiflung führte er sein Schwert gewaltiger, als je ein anderer Jesuit das seinige wider Luther, Zwingli und Calvin geführt. Zum Lohn für sein Rittertum holte er sich zuletzt selber die Pest. Gestern ist der, den ihr den Pestmann nanntet, droben in Rennerod an der Pest gestorben. Lutherische und Katholiken standen an seinem Bett, und treue protestantische Pfarrer klagten um den Jesuiten. Das ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter, wie sie im Evangelio geschrieben steht, und hier wie dort ruft euch Jesus am Schlusse zu: So gehet hin und thuet desgleichen!«
Als der Glöckner geendet, war es still in der Ratsstube wie in der Kirche. Es war, als beteten sie alle für den verstorbenen Jesuiten.
Endlich befahl der vorsitzende Amtmann, nun den Schultheißen wieder vorzuführen. Als man die Thür des Seitenstübchens öffnete, fand man ihn regungslos am Boden liegen. Er war vom Schlage getroffen. Nicht an der Pest hatte er sterben sollen. Seine eigene Leidenschaft und sein böses Gewissen hatte ihn erwürgt, da der hartherzige Mann eben an der Thür auf die begeisterten Worte des Glöckners vom barmherzigen Samariter horchte. Der Zufall hatte es gefügt, daß das Gemach, wohin man ihn in der Eile gebracht, das Armensünderstübchen gewesen, und die Bauern behaupteten, dort als in des Teufels Hauptquartier habe der Teufel selber dem Schultheißen den Hals umgedreht.
Der Glöckner prophezeite von Stund' an nicht mehr; aber als der weise Patriarch von Löhnberg war er von da immer höher geachtet in der Gemeinde und brachte sein Alter noch weit über fünfundsiebzig Jahre. Nur eine seiner Prophezeiungen ging noch in Erfüllung: das Feuer bei dem Brande des Schmieds hatte in der That die Pest verzehrt. Nach der Schultheißin starb niemand mehr in Löhnberg an der Pest. Bessere Zeiten kamen wieder, Friede, Gesundheit und Gedeihen. Die Ueberlebenden waren geläutert durch das Feuer der Trübsal; der Tod der zu Grunde Gegangenen war für sie ein Opfertod gewesen, daraus ein neues Leben sproß.
Am schönsten Maientage standen Konrad und Grete vor dem Altar. Da rief der Pfarrer warnend und ermutigend allen Versammelten das Wort ins Gedächtnis. »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!« und eingedenk der Werke der Barmherzigkeit, die der Schmied und seine Braut in den Tagen der schwersten Bedrängnis geübt, predigte er nachgehends über den Text vom barmherzigen Samariter. Da ward auch des Rutgerus Hesselmann nicht vergessen.
Der alte Veit aber zog an diesem Tage mit seinem nervigen Arme gar mächtig die Kirchenglocken, und niemals sollen sie wieder so voll und schön in das stille Lahnthal hinausgeklungen haben.