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Wir fanden ihn, nämlich Hieronymus Edelmann, auf einer spanischen Insel vor, wo er schon seit Jahren sein Wesen trieb. Wie er dahingekommen war? – Gott, wie man eben irgendwohin kommt, dachten wir anfangs. Und später wußten wir überhaupt nicht mehr, was von der Sache zu halten sei.
Jedenfalls war er jetzt da, und keiner von uns war in der Lage gewesen, sich seiner Bekanntschaft zu entziehen.
Er pflegte, sobald ein Schiff ankam, an Bord zu erscheinen, nach Landsleuten oder anderen Fremden auszuspähen und ihnen dann ungesäumt seine Visitenkarte zu überreichen. Diese Visitenkarte bestand aus seiner Photographie in Postkartenformat mit der schön stilisierten Unterschrift: Hieronymus Edelmann und wirkte durch ihre von allem Hergebrachten abweichende Beschaffenheit etwas verwirrend, um so mehr, als die Photographie ihm durchaus nicht ähnlich sah. Sie war auch nicht nach der Natur aufgenommen, sondern, wie er sofort erläuterte, nach einem gemalten Porträt aus früheren Jahren, welches ihn mit mäßig entwickeltem Bart und in einem auffallend karierten Anzug darstellte, so auffallend kariert, daß der Beschauer alle weiteren Einzelheiten, wie zum Beispiel die Gesichtszüge, erst in zweiter Linie zu erfassen vermochte. Der Anzug war sicher schon längst aufgetragen oder ausrangiert, und sein Besitzer hatte sich inzwischen einen ungeheuren roten Bart wachsen lassen, der fächerförmig zugeschnitten war. Die einzige Ähnlichkeit bestand nunmehr in einem schwarzgefaßten Monokel, von dem er sich niemals trennte und das der Porträtist mit peinlicher Naturtreue versinnbildlicht hatte.
So kam es, daß der Ankommende ohne Ausnahme im ersten Moment etwas stutzig wurde und ratlos dastand. Hieronymus aber wußte sofort Rat, blickte ihn siegreich durch sein Monokel an und brachte die Bekanntschaft durch einige aufklärende Worte weiter ins Rollen.
Er bemerkte, daß er schon lange hier lebe und mit besonderem Vergnügen allen neuen Gästen behilflich sei, sich zu orientieren. – Ob man schon ein Hotel gewählt habe? Nein? Nun, dann könne er das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« unbedingt empfehlen, wo er selbst wohne und man gut untergebracht sei.
Das Resultat war fast immer das gleiche – noch halb betäubt von der Seefahrt, überwältigt von der außerordentlichen Erscheinung und Handlungsweise dieses Herrn, büßte man jede weitere Selbstbestimmung ein und endete im Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«.
Dort angelangt, fuhr Hieronymus Edelmann in der gleichen überzeugenden Weise fort, sich zu betätigen, stellte neuangekommene und schon vorhandene Gäste einander vor, und zwar geschah das so, daß jeder den anderen für einen alten Bekannten des gemeinsamen Schutzpatrons hielt und der Verkehr von vornherein unter falschen Voraussetzungen begann.
Überhaupt entwickelte sich hier alles unter mehr oder minder falschen Voraussetzungen. Das Logierhaus selbst war ein ziemlich fragwürdiger Aufenthalt – eine zweistöckige alte Baracke mit giebelartigem Aufbau, stand es am Abhang unweit des Meerufers und hatte infolge irgendwelcher Terraineigentümlichkeiten die Gewohnheit, von Jahr zu Jahr tiefer einzusinken, so daß die Fenster des Erdgeschosses sich immer mehr dem Boden näherten. Uns konnte das ja gleichgültig sein, denn wir gedachten nicht, ewig hierzubleiben, aber der Besitzer, ein vierschrötiger Holländer mit schiefen blauen Augen, umkreiste das Gebäude des öfteren mit sorgenvoller Miene und konstatierte dann, seit letztem Frühjahr sei es wieder um einige Zoll gesunken.
Wir, die Opfer des Hieronymus, bewohnten im linken Flügel, den wir selbstbewußt das Europäerviertel nannten, das Parterre. Über uns hauste ein älterer Franzose, Monsieur Mouton, der das bescheidene Hafenstädtchen behandelte, als ob es Paris sei. So kam er nie vor drei Uhr nach Hause, schlief dann bis zum Nachmittag, worauf er in den Garten herunterkam und hinter seinem »Matin« verschwand, bis die Stunde des Aperitifs heranrückte. Dann ging er wieder in die Stadt, flanierte und trank Absinth. Außerdem besaß er einen lebenden Ameisenbär, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete. In derselben Gegend des Hauses gab es noch eine betagte Amerikanerin, die, wie man allgemein annahm, ebenfalls alkoholischen Sitten huldigte. Auch sie ging gerne abends aus; wie sie behauptete, um einen ihr verwandten Lord zu besuchen, der hier eine Villa bewohnte. Bei der Rückkehr kam es häufig vor, daß sie sich mitten auf der Treppe niederließ und erklärte, sie habe das Recht zu sitzen, wo sie wolle. Wurde das aus Gründen der Verkehrsstörung bestritten, so wich und wankte sie nicht, und es kam zu lebhaften Szenen zwischen ihr und dem Hauspersonal. Der linke Flügel oben war in geheimnisvolles Dunkel gehüllt, hatte einen abgetrennten Vorplatz, eine besondere Treppe nach der Gartenseite, und man wußte nicht recht, was dort vorging.
Und zuletzt, zuoberst, hoch über alledem in den Giebelräumen lebte und wirkte Hieronymus Edelmann.
Er hatte alle möglichen Interessen, unter anderem auch zoologische, und schwärmte für seltene oder absonderliche Tiere. Stundenlang konnte er sich in seinen Brehm vertiefen und sich in Wünschen ergehen, dieses oder jenes Ungeheuer zu besitzen und durch Züchtungsversuche noch seltsamere Exemplare zu erzielen. Einstweilen war ihm das noch nicht geglückt, er beschränkte sich also darauf, in einem Schuppen neben dem Gartenhaus Meerschweine zu halten und Mr. Mouton glühend um seinen Ameisenbären zu beneiden. Immerhin erwartete er auch von seinen Meerschweinchen mehr, als man im allgemeinen von solchen zu erwarten pflegt. Er stellte nämlich die Theorie auf, wenn man ihnen volle Freiheit ließe, würden sie sich vielleicht zu einer ganz neuen Art entwickeln und eventuell sogar mit anderen Tieren kreuzen. Sie rannten deshalb frei im Garten herum, man stolperte beständig über sie, aber sie veränderten sich nicht im mindesten, blieben immer unter sich und brachten nur wieder ganz gewöhnliche Meerschweinchen zur Welt.
Aus diesen und anderen Einzelheiten ersah man bald, daß ihm ein unruhiger und phantastischer Geist innewohnte, und da, außer den Meerschweinchen, ihn schon manches andere enttäuscht haben mochte, sann er auf immer neue Wege, sich schöpferisch zu betätigen. So hatte er sich hier auf dieser Insel niedergelassen und das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« zu seinem engeren Wirkungskreise erwählt. Er war sozusagen die Seele des Hauses, organisierte durch ständiges persönliches Eingreifen den Fremdenverkehr und in gleicher Weise das tägliche Leben zwischen den sinkenden Mauern, organisierte die persönlichen Beziehungen, die infolge seiner Organisation entstanden, sowie die Beziehungen zwischen dem Wirt und den Gästen. Seine lange, etwas schlottrige und ziemlich nachlässig bekleidete Gestalt mit dem ungeheuren, fächerförmigen Bart, und niemals ohne Monokel, fuhr je nachdem die Treppen hinauf oder hinunter, erschien in unserer Mitte oder verschwand daraus und stürzte hastigen Schrittes nach dem Hafen, sobald ein Schiff sich näherte. Bei schlechtem Wetter umgürtete er sich zu diesem Zweck mit einem unwahrscheinlich kurzen Lodencape, das ihm nur bis an die Hüften reichte, und schlug sich ein winziges mesquines Hütchen auf den Kopf – bei Sonnenschein dagegen einen Tropenhelm, wie überhaupt die Einzelheiten seiner Toilette eine gewisse wilde Dissonanz ergaben, deren er selbst sich wohl nicht bewußt war.
Als nun unsere Zahl auf etwa sechs Personen verschiedenen Geschlechts angewachsen war und keine weiteren Fremden ankamen, veranstaltete Hieronymus Edelmann eine Art Sitzung, um uns in einen seiner Lieblingspläne einzuweihen. Da war eine barmherzige Schwester und ein junger Kaufmann, die beide aus Afrika kamen, um sich von dem dortigen Klima zu erholen, da war ein Assistenzarzt mit angegriffener Lunge, welcher ebenfalls Erholung suchte, ferner ein Herr aus Bacharach am Rhein, den der junge Kaufmann dieser Herkunft halber »den Loreley« getauft hatte, und eine kleine Turnlehrerin, die man das Trapezmädel nannte.
Es war Abend, wir saßen im Garten um einen großen, runden Tisch mit Windlichtern, wehrten uns gegen die vielen Mücken, und Hieronymus Edelmanns Monokel blitzte überzeugend durch die Nacht, während er eine zündende, aber etwas konfuse Ansprache hielt. – ja, er gedachte, wie das in unserem Jahrhundert üblich geworden, auch an seinem Teile zur Veredlung des Menschtums und der Lebensführung beizutragen und meinte einen guten Modus dafür gefunden zu haben. Es galt vor allem, die geeigneten Menschen zu finden und Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Hier habe er schon vorgearbeitet, indem er einem Korrespondenzverein beigetreten sei und uns alle ebenfalls als Mitglieder angemeldet habe. Die Zwecke des Vereins seien ursprünglich rein praktische gewesen – wechselseitige Auskünfte über die Lebensbedingungen an diesem oder jenem Ort, berufliche und andere Fragen. Dann aber hatte Hieronymus organisatorisch eingegriffen und das Gebiet erweitert, so daß jetzt auch Ansichten, Meinungen, persönliche, erotische und dergleichen mehr unter den Mitgliedern erörtert wurden. Er selbst zum Beispiel korrespondierte mit einer stellenlosen Gesellschaftsdame in Sevilla über freie Liebe und hatte sie bereits von der Notwendigkeit dieser Institution überzeugt ... Eben jetzt wolle er nach dem Festland fahren, sie persönlich kennenlernen und womöglich mit hierherbringen. Sein Monokel strahlte bei diesem Gedanken, und er ließ uns immer tiefer Einblicke in seine Ideenwelt tun. Der Verein, ja der Verein sei eigentlich nur Mittel zum Zweck. Er brauche ein großes Menschenmaterial, um eine engere Auslese zu treffen und dann – es fielen einige bedenkliche Worte: Freiheit, Schönheit, Ausleben, die in seinem Munde doppelt beängstigend wirkten – kurz, er wollte in diesem Sinne einen Bund gründen, derselbe sollte »Der Flammenbund« genannt werden und allen Beteiligten ungemeines Vergnügen bereiten.
Nachdem er geendet, sah er sich Beifall und Zustimmung heischend im Kreise um, äußerte noch, er habe bereits mit dem Wirt gesprochen, um einen Teil des Hauses für seine Zwecke zu mieten, hieb sich dann den Tropenhelm aufs Haupt und enteilte zum Hafen, um seine Reise aufs Festland anzutreten. Es war soeben gemeldet worden, das Schiff fahre statt morgen schon heute nacht ab.
Die Statuten des Korrespondenzvereins hatte er uns zurückgelassen. Wir ersahen daraus, daß der Verein tatsächlich existierte. Da war vor allem eine Liste der Mitglieder, neben jedem Namen eine Reihe von kabbalistischen Zeichen – Strichen, Kreuzen, Sternen usw. Verstand man diese, so wußte man sofort, wofür das betreffende Mitglied sich interessierte, was es wünschte und erstrebte. Auf einem Fragebogen, der jedem Neueintretenden zur Ausfüllung zuging, wurde das näher erläutert. Da wurde zum Beispiel gefragt, mit wem man zu korrespondieren wünsche – Mit Herren? Mit Damen? – oder mit beiden? Und worüber? Wofür man sich in erster oder auch in zweiter Linie interessiere? Etwa für Philosophie? – Ethik? – Nacktkultur? – Los von Rom-Bewegung? – Friedensbestrebungen? Reform der Ehe? – Wandervogelbewegung? und so fort – eine Fülle von hübschen und anregenden Dingen.
Seufzend legten wir das Zeug aus der Hand und gingen schlafen.