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Den nächsten Morgen, gegen zehn Uhr, als gerade Egon Kleinthal sein Bureauzimmer betreten hatte, stürzte sein Kanzleidiener mit allen Zeichen hochgradiger Erregung in das Zimmer.
»Herr Doktor, es ist jemand dagewesen, der Sie sprechen wollte.«
»Ach nein! Das wird wohl nicht stimmen,« lächelte Egon vor sich hin. Dann wurde er plötzlich ernst, überlegte und konnte doch nicht umhin, zu fragen: »Wer war es denn?«
»Eine Dame!«
»Nanu? Die hat sich jedenfalls in der Adresse geirrt oder hat mich mit einem meiner Kollegen verwechselt.«
»Nein, Herr Doktor, sie will ausgerechnet mit Ihnen sprechen. Sonst wäre sie doch nicht schon dreimal hier gewesen.«
»Heiliger Bimbam! Dreimal!«
»Jawohl. Sie hat mir auch gesagt, daß es sich um eine äußerst wichtige Sache handelt.«
»Teufel! Teufel! Teufel! Das ärgert mich aber, daß ich nicht hier gewesen bin.«
»Diese Dame hat gesagt, sie wird wiederkommen.«
»Donnerwetter, die ist aber beharrlich. Wie sieht sie denn aus? Ist sie jung?«
»Das kann ich gerade nicht sagen, Herr Doktor. Aber sie ist sehr gut angezogen, ordentlich fein. Sie hat mir fünf Groschen gegeben.«
Da ein solches Trinkgeld ihm nicht alle Tage in den Schoß fiel, zog sich der Diener mit stillverzückten Mienen zurück, nachdem er den Auftrag erhalten hatte, die fragliche Dame sofort einzuführen, falls sie von neuem vorsprechen sollte.
Das Erwarten eines Klienten war in diesem Rechtsanwaltszimmer eine solche Seltenheit, daß Egon alle Mühe hatte, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
Während er darüber nachgrübelte, steckte der Kanzleidiener wieder den Kopf zur Türe hinein und rief ihm geheimnisvoll zu:
»Herr Doktor, sie ist draußen.«
Egon »fühlte« sich. Er warf sich in die Brust und sagte mit vornehmer Handbewegung: »Es ist gut, lassen Sie die Dame eintreten und lassen Sie uns dann allein.«
Der Diener verschwand und ließ die mysteriöse Fremde in das Arbeitszimmer seines Herrn.
Sie war äußerst elegant, vielleicht sogar etwas zu elegant für eine so frühe Morgenstunde. Sie war etwa fünfzig Jahre und trotz der Schminke und des Puders hatten ihre Züge immer noch Reste einer früheren Schönheit behalten.
Aus der ganzen Art und Weise ihres Benehmens, zu geben und zu reden, konnte man sich nur schwer ein klares Bild machen, ob man es mit einer wirklich vornehmen Frau oder mit einer etwas zweifelhaften Persönlichkeit zu tun hatte. Egon, dem eine derartige psychologische Kenntnis vollständig abging, fragte sich vergebens, welcher Welt die Betreffende angehören könne. Sie setzte sich auf einen ihr von Egon angebotenen Stuhl und begann auf seinen fragenden Blick mit etwas süßlich singender Stimme:
»Ich komme, Herr Rechtsanwalt, um Sie, den ich außerdem schon seit langem kenne, um einige Ratschläge in einer äußerst delikaten Angelegenheit zu bitten.«
»Sie kennen mich?« fragte Egon erstaunt.
»Allerdings nur vom Sehen. Ich wohnte Ihnen nämlich gerade gegenüber. Diese herrliche Wohnung, zwei Treppen mit sieben Fenstern Front – ich zahle beinahe viertausend Mark Miete – das ist nämlich meine Wohnung. Ich habe beobachtet, daß leider nicht zu viel Konsulenten zu Ihnen kommen. Und das tat mir so leid. Bei den berühmten Rechtsanwälten vertrödelt man sein halbes Leben in den Wartezimmern, und, wenn sie uns dann vorlassen, hören sie uns bloß zwischen Tür und Angel an. Außerdem habe ich noch einen Grund, vielleicht den wichtigsten von allen. Sie gestatten mir doch, Ihnen unumwunden meine Gedanken klarlegen zu dürfen?« fragte die etwas redselige Dame.
»Aber natürlich, meine Gnädigste!«
»Also, mein lieber Nachbar, Sie sind so jung, Sie sind arbeitsam, Sie wollen doch jedenfalls auch – – Geld verdienen?«
»Und dabei eben will ich Ihnen behilflich sein.«
»Ich kann mir nichts Besseres wünschen, meine gnädigste Frau,« erwiderte Egon lächelnd, »nur müßte ich vor allem wissen, was ...«
»... was mich zu Ihnen führt. Ganz natürlich. Es handelt sich nämlich, – Gott, wie soll ich das nur sagen? – Es handelt sich um eine Mission, mit der ich Sie betrauen wollte. Ich habe nämlich zu Hause eine ganze Anzahl eigentümlicher Briefe, wirklich ganz eigentümliche, welche imstande sind, den Schreiber derselben ziemlich stark zu kompromittieren. Und wenn ich daraus Kapital schlagen könnte – du lieber Gott, die Zeiten sind heutzutage so schlecht –« Egon unterbrach sie ziemlich schroff, erhob sich und erwiderte kühlen Tones:
»Bitte sich nicht weiter zu bemühen, meine Gnädigste. Ich verstehe vollkommen, wo hinaus Sie wollen. Sie haben sich doch jedenfalls bei mir in der Adresse geirrt. Ich pflege mich mit dergleichen Geschäften nicht abzugeben. Ich will gern annehmen, daß Sie die Tragweite Ihrer Worte nicht bedacht und nicht beabsichtigt haben, mich zu beleidigen. Also lassen wir's dabei bewenden.«
Anstatt jedoch aus der Fassung zu geraten, lächelte die Besucherin so sanft sie konnte, und betrachtete überaus liebenswürdig den so tugendhaften Rechtsanwalt:
»Ach, welch jugendlicher Sanguismus!« sagte sie ihm. »Sie regen sich da auf, ohne auch gar die mindeste Veranlassung dazu zu haben. Ich komme, Sie bloß um einen Rat zu bitten und zu wissen, was ich tun soll. Und Sie weisen mich sofort schroff von sich, ohne mir auch nur Zeit zu lassen, mich zu erklären. Und ich wollte gerade Ihnen so wohl. Sie waren mir so sympathisch. Ich hatte sogar die Absicht, nachdem wir geschäftlich miteinander gesprochen hätten, Sie zu bitten, öfter zu mir zu kommen. Sie würden sich dort nicht langweilen. Mein Haus ist äußerst unterhaltend und sogar belehrend. Es besuchen mich nicht nur die feinsten Damen und Herren, sondern auch sehr viel Fremde. Natürlich nur anständige Leute. Ich würde in meinen Salons auch nicht den leisesten unpassenden Ton gestatten, was jedoch nicht verhindert, daß man sich bei mir immer köstlich amüsiert. Wir halten nämlich spiritistische Soireen ab, die sogar für jeden Laien von großem Interesse sind.«
Während sie sprach, überlegte sich Egon, ob er in diesem Falle nicht die beste Gelegenheit hätte, in jene Kreise zu kommen, die er – im Interesse Rudolfs – aufsuchen sollte. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß diese würdige Matrone ein Mitglied jener zweifelhaften Gesellschaft sein dürfte.
Nachdem er einige Augenblicke lang sein Rechtsgefühl und alle moralischen Prinzipien, die in ihm lebten, unterdrückt hatte, wandte sich Egon plötzlich an sein Gegenüber:
»Wollen Sie mir gütigst den Fall eingehender schildern, gnädige Frau? Es ist möglich, daß ich Sie nicht richtig verstanden habe.«
Die Dame lächelte eigentümlich. Sie glaubte, daß Egon die Aussicht, mit schönen Frauen zusammenzukommen, derart verlockte, daß er ihnen sein Rechtsgefühl und seine Bedenken gern zum Opfer brachte. – Denn wie hätte sie auch den wirklichen Grund seines veränderten Entschlusses erraten können?
Sie überlegte einige Augenblicke, schien etwas zu zögern, um sich jedoch schließlich wie zu einer Beichte aufzuraffen:
»Ich weiß nicht, ob Sie mich auch richtig verstehen werden, Herr Doktor, denn sehr oft geben die Worte unsere Gedanken nicht treulich wieder. Ich ersuche Sie aber, vollkommen überzeugt zu sein, daß meine Grundsätze äußerst ehrbare und meine Absichten vollkommen lautere sind. Es handelt sich also bloß darum, ein System ins Werk zu setzen, das ich Ihnen, wenn Sie wünschen, entwickeln werde. Uebrigens ist es durchaus moralisch.«
»Darf ich um Ihr moralisches System bitten.«
»Immer anständig bleiben, niemals jemandem etwas Böses zufügen, jedoch scharf auf jene aufpassen, die Unrechtes tun; zu versuchen, ihre Vergehen so viel als möglich zu erforschen, ihre negativen Eigenschaften zu beobachten, nötigenfalls auch ihre Verbrechen zu entdecken, falls sie solche begangen haben, und aus alledem für seine Person Vorteile ziehen. Was in aller Welt wäre daran rechtswidrig? Nichts, da man weder etwas gegen die Gesetze, noch gegen die Tugend unternimmt. Man zieht bloß aus seiner Beobachtung, aus seiner Entdeckung einigen Nutzen. Das ist bloß Gerechtigkeit; denn jede Mühe verlangt ihren Lohn. Habe ich nicht recht?«
»Ja, ja, ja, gewiß!« zwang sich Egon zu antworten.
»Nun, ich sehe, Sie sind der Mann, den ich brauche. Anfangs hatten Sie mich allerdings ein klein wenig erschreckt. Nein, nein, Gott sei Dank! Sie sind der Mann, wie ich ihn mir gedacht habe. Sie werden mir zu einem Vermögen verhelfen und ich Ihnen zu dem Ihrigen. Inzwischen will ich aber nicht dulden, Herr Doktor, daß Sie so weiter als Einsiedler und Wilder leben. Sie müssen heraus, Sie müssen sich in der Welt zeigen, mich besuchen kommen – oft, recht oft. Es ist doch so einfach und so leicht für Sie! Sie brauchen nur über den Damm zu gehen, um bei mir zu sein. Ich will Ihnen dann gute Ratschläge erteilen.«
Egon verbeugte sich stumm.
»Nein, wirklich! Sie sollen mein Haus als das Ihrige ansehen. Sie werden sich wirklich wohl fühlen dort. – Ach, da fällt mir eben ein, daß ich zu heute Abend einige liebe Freunde zu mir gebeten habe. Nur ganz wenige. Ich hasse die vielen Menschen. Bloß intime Freunde, vornehme, entzückende und hochachtbare Menschen. Denn darauf gebe ich am meisten. Zum Beispiel Herr von Amadini. Kennen Sie ihn vielleicht?«
»Ich habe nicht den Vorzug.«
»Ein Gentleman durch und durch, vom allerältesten Adel. Der richtige, moderne Lebemann, der größte Gesellschafter und Kurmacher bei den Damen, den Sie sich nur denken können,« lachte sie, wie man über einen lacht, mit dessen Schwäche man Mitleid hat. »Deshalb kommt er auch so gern zu mir. Bei mir verkehren ja so viele herrliche Frauen. Gerade heute werden Sie bei mir die wunderschöne Judith von Rastori treffen, eine der verführerischsten Frauen der Gegenwart. Doch richtig, sie kennt Sie ja! Sie hat Sie bereits bemerkt.«
»Mich?«
»Jawohl, von meiner Wohnung aus. Ihre Fenster standen gerade offen, und da hatte ich erst kürzlich Judith dabei überrascht, wie sie Sie durch ein Opernglas beobachtete. Sie ist verheiratet, aber ihr Mann ist ununterbrochen auf Reisen, augenblicklich in der Türkei, glaube ich, Sie wurde mir vom Grafen von Straußberg vorgestellt, der sie in seinen väterlichen Schutz genommen hat. Auch kann Ihnen seine Bekanntschaft außerordentlich nützen. Da er alle Augenblicke in Geldverlegenheit ist und von seinen Gläubigern ziemlich hart bedrängt wird, wird er Ihnen gewiß auf meine Bitte hin seine Prozesse übertragen. Ich rechne also darauf, daß Sie heute Abend kommen, lieber Doktor.«
Sie war eben im Begriff, nach der Tür zu gehen, als sie plötzlich stehen blieb:
»Gott, was bin ich zerstreut – ich habe Ihnen nicht einmal meinen Namen genannt! Ich heiße Frau Anastasia von Keßler-Arolstein, für meine Freunde jedoch bloß Stasia von Keßler-Arolstein. Also – – auf Wiedersehen!«
Sie ließ ihn allein, ganz benommen von ihrem lebhaften Wortschwall, ziemlich mutlos über sein beabsichtigtes Abenteuer und doch begierig, mit eigenen Augen jene Welt kennen zu lernen, von der er so viel gehört, die er jedoch nie gesehen hatte. – –
Unwillkürlich eilte er, sobald er allein war, an das Fenster und riß es auf, als ob er sein Zimmer lüften wolle. Was war das nur für ein gräßliches Weib gewesen! Und die lebte hier in seiner Nähe – ihm gerade gegenüber!
Er sah nach den Fenstern, die mit eleganten Stores verhängt waren.
Und in diese Welt sollte er heute Abend – unerfahren, unbeholfen, wie er war? Daß hinter diesen »harmlosen« spiritistischen Séancen und dem Salon dieser Person mehr stecke, als bloß harmlose Geselligkeit, war ihm natürlich sofort klar geworden. Sein ganzes Gefühl bäumte sich gegen diesen Besuch auf – nicht etwa aus Besorgnis, daß ihm etwas passieren könnte, sondern lediglich, weil er mit Recht vermutete, daß die Freunde dieser Dame auch nicht um vieles moralisch höher stehen würden, als Frau von Keßler-Arolstein, welcher Name ihm etwas sehr theatralisch vorkam.
Immerhin aber bot diese Bekanntschaft ihm Gelegenheit, in Kreise zu kommen, die er sonst nicht hätte betreten können – ohne Einführung. Und fand er daselbst auch nicht die gesuchten Mörder der Mutter Rudolfs, so konnte er vielleicht einem Nest von Hehlern, Erpressern, Hochstaplern auf die Spur kommen, das er schonungslos zur Anzeige bringen würde, sobald er nicht fand, was er finden wollte.
Deshalb entschloß er sich schweren Herzens, der Einladung dieser Person Folge zu leisten.