Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Schwester stand mit dem Arzt auf dem kleinen Flur vor dem Parterresaal der Verwundetenbaracke.
»Wie geht's unserm Finsteren?« fragte der junge Doktor im weißen Operationsmantel, mit der unpersönlichen Heiterkeit, die Ärzten und Pflegerinnen im Verkehr untereinander und mit den Patienten zur Gewohnheit geworden ist.
»Wieder etwas Temperatur, der geistige Zustand derselbe, schwere Depression. Antwortet kaum auf eine teilnehmende Frage. Reden Sie doch mal mit ihm, Herr Doktor . . .«
»Ja, das will ich, Schwester . . . Sonderbar, gerade den Gebildeten unter den Verwundeten geht es oft so besonders hart an, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Man sollte meinen . . .«
»Sie haben eben die größere Denkfähigkeit, um sich alle Schwierigkeiten der gehemmten Zukunft deutlich vorzustellen,« antwortete die Schwester. »Haben Sie mal auf die ausgearbeitete Stirn unseres Finsteren geachtet?«
»Was Ihnen noch alles auffällt bei Ihrer Arbeitslast, Schwester . . . Na, werde mir unsern Mann mal vornehmen.«
Der junge Arzt öffnete die Glastür. Aus langen Reihen weißer Eisenbetten grüßten ihn die Augen von bärtigen und unbärtigen, jungen und alten Männerköpfen. Feine wie stumpfe, törichte wie kluge Gesichter wendeten sich ihm erwartungsvoll zu. Sie alle, diese Krieger, welche ihr Leben rücksichtslos dem Tode entgegengeworfen hatten, waren nun in qualvollen Tagen und schlaflosen Nächten so mürbe geworden, daß sie von einem blonden, fröhlich blickenden jungen Manne im weißen Kittel sehnsüchtig irgendeine Linderung ihrer Leiden, irgendeinen Trost für unerträgliche Pein des Körpers oder der Seele erwarteten.
Der Arzt ging von Bett zu Bett, scherzte, munterte auf, interessierte sich für einen Skat, der in einer Ecke im Gange war, für eingetroffene Briefe wie für die Fiebertabellen zu Häupten der Verwundeten und für ihre Verbände. Einem jungen Bengelchen mit blassem Kindergesicht, der, aus tiefem Schlaf erwachend, ihn verwirrt anschaute, strich er zärtlich, wie einem jungen Bruder über den kurzgeschorenen Kopf. »Weiterschlafen, – ruhig weiterschlafen!«
Der »Finstere«, von dem die Schwester geredet, war schon ein Mann in reifen Jahren. Die Stirne kahl und hoch, ein hageres, scharf ausgeprägtes Gesicht mit großer Hakennase und dunklem Bartgestoppel um das energische Kinn. Der Stumpf des rechten Armes, von dicken Verbänden umwunden, hing in einer Schwebevorrichtung.
»Damit können wir jetzt aufhören,« sagte der Arzt. Er löste mit Hilfe der Schwester die Binden und Gehänge. »Es hat keinen Zweck mehr. Die Heilung schreitet ja gut voran. Die Schmerzen sind wohl erträglicher, seit wir uns zu dem letzten Schritt entschlossen haben? – – Was?«
Ein bitterer Zug, der ein Lächeln vorstellen sollte, verzog den Mund des Mannes. Er brummte etwas Unverständliches.
»Nun heißt es nur, auch den Allgemeinzustand heben,« fuhr der junge Arzt fort. »Dazu können Sie selbst ein gutes Teil beitragen, lieber Herr! Sich keinen Zukunftssorgen hingeben – – wird schon alles wieder werden! Der Staat sorgt für seine Verteidiger – –, na und einem Manne wie Sie wird es ja nicht schwer werden, wenn's sein muß, sich in einen andern Beruf einzuarbeiten . . . Sie leben doch – – werden wieder gesund . . .«
Ein Blick aus dem fahlen Gesicht traf den Tröster, scharf, durchdringend, ein Blick von so machtvollem Hohn, daß er verlegen schwieg.
»Lassen wir die Zukunft,« sagte der Verstümmelte herrisch. »Wäre es nicht möglich, mir ein Einzelzimmer zu geben? Die Schwester meinte, oben sei eins frei geworden . . . Wenn Sie das einrichten könnten, war' ich Ihnen dankbar.«
»Gewiß, gewiß – – das läßt sich tun! Nur, ich weiß nicht, ob Ihnen jetzt die Einsamkeit frommt. Hier haben Sie doch Zerstreuung, Ablenkung . . . Sie liegen unter Kameraden, die alle von der gleichen Idee beseelt sind! Durchhalten! Durchhalten!!« Als der andre nicht antwortete, fuhr er zögernd fort: »Könnte nicht jemand von Ihrer Familie Sie mal besuchen?«
»Ich habe keine Familie,« sagte der Mann schroff. »Bitte nur um das Einzelzimmer. Sind besondere Kosten zu entrichten, so kann ich dafür aufkommen.«
Der junge blonde Mediziner nickte eifrig.
»Ich werde es besorgen,« sagte er in einem Ton, der plötzlich bescheiden und beinahe schüchtern geworden war. »Schwester, – – der Patient hier soll auf Nummer sechsunddreißig umgebettet werden. Sie könnten das in die Hand nehmen, nicht wahr?« Er ging hinaus, die Schwester folgte ihm.
»Was ist der Mann eigentlich, – – ich meine, seiner bürgerlichen Stellung nach?« fragte er draußen.
»Ich glaube, Künstler, Maler, oder so etwas. Er redet nie über sich. Man kommt ihm nicht näher. Aber trotzdem, ich denke oft: er ist wer!«
»Mein Gott,« murmelte der Doktor bekümmert, »wenn man immer wüßte – – es ist so schwer . . .«
Er seufzte, nickte der Schwester zu und schritt eilig durch den Garten, der die verschiedenen Baulichkeiten umgab, seinen Rundgang zu vollenden.
Franz Rolfers lag wieder mit geschlossenen Augen. Er litt die seltsamen Schmerzen in seinem Armstumpf, diese aufregenden Empfindungen, als tue noch jeder Nerv des entfernten Gliedes bis zu den Fingerspitzen weh. Mit krankhafter Neugier folgte er den verschiedenen Anfällen seiner Körperpein, nur um sein Denken nicht auf das dunkle Loch zu richten, das ihm die Zukunft bedeutete. Um ihn her waren Beine zerschmettert, Gedärme zerrissen, Lungen durchbohrt, Schädel zertrümmert worden . . . alles hätte er mit Mut und Freude erlitten. – – Nur nicht die Augen, – – nicht Hand und Arm. Doch gerade das – – das Schwerste wurde von ihm gefordert.
Im Grunde lag so wenig daran, wenn auf dieser zertrümmerten Welt einige Bilder nicht gemalt wurden . . . In der Theorie war ihm das klar – – selbstverständlich klar.
Als er im Begriff stand, sich als Freiwilliger zu melden, war ihm die Möglichkeit in der Phantasie aufgestiegen – – er hatte sie mit Gewalt erdrosselt, sie in den tiefsten Schacht des Bewußtseins hinabgeschleudert, sie dort eisern gefangen gehalten.
Danach wurde alles Erleben ein unwahrscheinlicher, greller tosender Traum.
– – Das Zeitungsblatt mit der Kunde der Mobilmachung . . . – Er sah es zuweilen vor sich, wenn er des Nachts erwachte. Fühlte wieder genau, wie alles sich für ihn abgespielt hatte. – Das Boot des norwegischen Fischerjungen, das an der einsamen Schäreninsel, wo er malte, allabendlich angelegt hatte, ihm seine Korrespondenz zu bringen. Die Tage zuvor nur eine Empfindung von Ungeduld, von Ärger: »Widerlich, diese Menschenbande, die nicht Ruhe halten kann . . .« Und: Sie werden sich am Ende schon irgendwie vertragen. Es ist ja immer so. Vor allem, sich nicht stören lassen in der Arbeit . . . Nun schrie ihm der Fischer in einer fremden Sprache das Ungeheure entgegen und schwenkte die Drucksachen wild in die Lüfte.
. . . Zunächst ein Verstummen – ein Versagen jeglichen Gefühls. Plötzlich diese fürchterliche Selbstverständlichkeit des Unbegreiflichsten. Im rasenden Wirbel tausendfältiger blitzartiger Gedankenbilder als Kern im Mittelpunkte seines Ich die dunkle verworrene Empfindung: Dich geht das alles doch nicht an . . .
Rolfers hatte niemals gedient. Militärisches Wesen lag völlig außerhalb seiner Lebenssphäre. Weit hinter dem erzgrauen Meer mochte das Entsetzen wüten – wenn er wollte, konnte er morgen weiter arbeiten wie gestern und alle Tage zuvor. Niemand würde ihn hier in seiner Nordlandeinsamkeit hindern.
Auf dem schwarzen sonndurchwärmten Granitfelsen saß er abends, schaute über die wogenden Gewässer, die von lila und flaschengrünen Streifen durchzogen waren und in einem milchigen Weiß verdämmerten. Geruhsam klatschte das Wasser regelmäßig gegen den Stein, den die Umwälzungen von Urwelten aus der Tiefe emporgehoben hatten.
Da kam es plötzlich . . .: Aus dem langsamen Näherrollen der fernen großen Wellen wurde ein Heranwogen endloser Massen von Feinden . . . Aus den tückischen Stimmen der Tiefe drang das böse Gemurmel ihres Hasses in sein Bewußtsein. Er schaute die wimmelnde Menge frecher Hohngesichter, wie er sie auf den Boulevards von Paris geschaut . . . Und umringt von ihnen ein Weib . . . gewaltig – überlebensgroß an Formen und Gestalt . . . Doch auf dem Antlitz Angst und Not . . . Er sah ihre Arme verzweifelt gen Himmel gereckt, sah ihre Gewänder wehen in der Eile der Flucht . . . Aus dem blutigen Rot des Abendhimmels drangen Scharen neuer Feinde gegen sie vor: Kalmückengesichter, verzerrt von einer dumpfen tierischen Wut . . . Kosakenpeitschen wurden gegen sie geschwungen, sausten klatschend über ihre edle Stirne, daß Blut herniedertroff und sie zusammenbrach vor Schmerzen . . . Und die Meute gräßlicher Gestalten raste über sie dahin, immer teuflischer, immer grauenvoller an Aussehen und Gebärden . . . Schwarze Rauchgespenster wälzten sich über den Himmel, Feuergarben schossen auf . . . Ein Lachen, wie er es nie gehört . . . War es um sie geschehen? Die Angst erstickte ihn, er rang nach Luft, das Herz schlug mit gewaltigen Schlägen, die Brust war ganz erfüllt von diesem Pochen und Hämmern . . . Gott – Gott – sie erhob sich – blutend, zerfetzt, taumelnd, mit Kot und Schweiß bedeckt – Sie sah auf ihn – auf ihn, Franz Rolfers – aus unergründlichen Augen . . . Wie seine Mutter auf ihn geschaut, als sie sterben mußte . . .
Eine Stunde später waren seine paar Malergerätschaften zusammengepackt, der alte Fischer, bei dem er wohnte, mit dem Glanz eines Goldstückes und der Macht seiner herrischen Person bestochen, ihn hinüberzurudern zum Festland. Das Boot glitt durch die helle nordische Nacht, in der alle Zauber göttlicher Friedensschönheit über den Wassern ruhten. Rolfers sah sie nicht mehr. Aber öde Heideflächen, durch Ginster und Wacholdergestrüpp, durch Birkenwälder und Felsenwildnisse stundenweit zur nächsten Bahnstation gelaufen. In atemloser Hast den Schnellzug genommen – hinein gestürmt in den sich heimwärts ergießenden Schwall von Reisenden. Angehörige aller europäischen Völker in engsten Räumen zusammengepreßt einer neuen Trennung der Stämme entgegenreisend, einer Scheidung, die erfolgen mußte mit der Schärfe und Grausamkeit chemischer Scheidungen . . . Gepäckstücke waren sie alle, nichts weiter, die befördert wurden, liegen blieben, weitergeschafft wurden, ohne jede Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse wie Essen, Schlaf, Kleider gegen Frost und Nässe, Schutz gegen Sommergluten. Nur weiter, weiter zwischen schluchzenden Frauen, schreienden Kindern, finster gefaßten oder aufgeregt redenden Männern – bis man in einer unbegreiflichen Weise zum Ziele kam und die deutsche Grenze überschritt.
Von Militärbehörde zu Militärbehörde. Hier zurückgewiesen, dort vertröstet, – endlich doch eingestellt. Kriegsfreiwilliger, wie Tausende von andern Männern und jungen Knaben. Eingeordnet in die ungeheure, bewunderungswürdig genau arbeitende Maschine des deutschen Heerwesens.
Es folgte die Drillzeit als gemeiner Soldat, schwer und peinlich für ihn und noch für manchen der gepflegten, verfeinerten, nicht mehr jungen Männer. Die ausbildenden Feldwebel schwelgten in dem Machtbewußtsein ihrer Herrschaft über die Fülle von Kraft, Geist und gelassener Vornehmheit, die ihnen so plötzlich zur Verfügung gestellt wurde. Aufgaben, für die in gewöhnlichen Zeiten Jahre vorgesehen waren, mußten in Wochen bewältigt werden. Ohne Roheit, ja Grausamkeit in der Behandlung war das kaum zu schaffen. Rolfers kam seine körperliche Abhärtung, seine Gelenkigkeit, die auf hundert abenteuerlichen Studienfahrten erworben war, zugute. Übrigens ging alles Denken unter in dem wilden finsteren Verlangen: nur an den Feind heran . . . Nur ihn endlich fassen dürfen . . . Hinaus – hinaus ins Feld, an die Front . . .!
– – Der Rausch des Abschieds, Blumen und Tränen, Singen, Jubeln, flatternde Tücher, winkende Hände, brausende Musik . . . Rolfers marschierte, von einigen Schülern begleitet, die dem gleichen Los mit Ungeduld entgegenfieberten, im Strom der Tiefbewegten dem Bahnhof zu. Ein Gefühl in ihnen allen . . . Das Persönliche in dieser Stunde völlig ausgelöscht – himmelhoch aufschlagend die Flamme eines Wollens in Millionen . . . Das Erlebnis von ungeheurer Wucht für ihn, den Einsiedler, der im Kampf um seine Kunst auf innere Menschengemeinschaft längst verzichtet hatte. Heut empfand er das Untertauchen im Gefühl aller als etwas Köstliches, als einen hehren und flüchtigen Besitz.
Er kannte sich. Bald genug würden Kritik und Zweifelsucht und das innerliche Zurückweichen vor der Masse wieder sein Los sein. Das begann schon während der langen Eisenbahnfahrten unter all den schwitzenden, stinkenden Männern mit ihren plumpen Späßen, ihren törichten Unterhaltungen, mit dem sich fortgesetzt wiederholenden Singen, Schreien, Begrüßen an den Bahnhöfen. Doch herrschte ein Unbekanntes in ihm. Es war die Überzeugung von der völligen Nichtigkeit alles dessen, was er selbst als Franz Rolfers fühlte und dachte. Das waren nur noch übriggebliebene Fetzen aus einem abgetanen und gestorbenen Leben. Es war ihm selbst so gleichgültig wie den andern.
Nur vorwärts, vorwärts zu dem ersehnten, ertrotzten Ziel! –
Märsche von rasender Eile, bei denen die Glieder zu zerbrechen drohten vor Schmerzen, bei denen der Schweiß am Körper niedertroff und ihn in ekle Dünste hüllte, bei denen man mit entzündeten Augenlidern im Sonnenbrand, unter dicken weißen Staubschichten, Staub in der ausgetrockneten Gurgel, die gleich Feuer brannte, endlose blendend helle Landstraßen entlang trabte. Dann wieder in finsteren Regennächten durch unergründlichen zähen Schlamm vorwärts torkelnd, kaum den Vordermann zu unterscheiden vermögend und doch mit ihm die dumpfe letzte tierische Gier teilend: sich ausstrecken – schlafen – fressen . . .
Manchem zarten Jungen liefen die Tränen stromweis über die Backen in Überreizung, in Aufbietung der letzten Anstrengung, die der Körper herzugeben vermochte. Niemand achtete darauf, es war alles gleich – nur vorwärts – vorwärts – vorwärts!
Der Hunger wühlte und riß in den Eingeweiden, quälte die erschöpfte Phantasie mit sonderbaren Bildern. Die Not des Vaterlandes versank in trüben Nebeln. Hartnäckig stiegen alberne Vorstellungen auf. Rolfers' Sehnsucht kreiste um ein lindes Leinenlaken, er beschäftigte sich mit einer Daunendecke von violetter Seide, kühl und zart anzufühlen, in die er einst nach anstrengender Bergbesteigung in dem Landhaus einer Freundin die Glieder hatte hüllen dürfen. Er sah das Monogramm, das er einmal gezeichnet, in dem Überschlag, die Freiherrenkrone über den Buchstaben . . . Schwerer roter Burgunder glühte in großen Kristallkelchen – immer hatte er eine Vorliebe gehabt für edles Kristall und alte Spitzen auf den Tischzeugen – er spürte den Geschmack des Weines auf der Zunge – Fasanenpastete reichte der Diener . . . Er roch den feinen Duft der Trüffeln – widerlich, daß man von den dummen Erinnerungen nicht loskam –
»Verflucht feine Klöße konnte meine Olle kochen,« hörte er eine brummige Stimme hinter sich . . . »ick sage schon, wenn ick davon 'ne Schüssel hier hätte – mit Speckstippe . . . Dunnerschlag ja . . .!«
– – Franz Rolfers mußte lachen – laut und erlösend. Hatte er das Menschliche je so stark in seiner Macht erkannt?
Es kam keine große Schlacht für sie, keine der gewaltigen Taten mit Niederwerfung, Umklammerung, Vernichtung des Feindes – mit schmetternden Siegesfanfaren und brausenden Hurras auf den leichenübersäten Feldern.
Das war andern Kameraden beschieden, nicht gerade seinem Regiment. Lange bekamen sie keinen Feind zu Gesicht. Doch auch über ihren Köpfen vernahmen sie die kleinen Vögel, die so seltsam fein und scharf sangen, wenn man sie am Ohr vorüberfliegen hörte . . . Hier – dort streckte einer den Arm in die Luft, taumelte ein paar Schritte vorwärts – sank in sich zusammen.
Die erste Zeit im Schützengraben . . . Strenges Verbot zu feuern, nachdem einige der in den Gräben vor dem ihren liegenden Kameraden getroffen worden waren. Untätiges Liegen. – Warten. – Tage und Nächte hindurch. Die Granaten krachten, platzten, rissen lebendige Menschen zu einem Klumpen von Blut, Fleischfetzen, zuckenden Gliedmassen zusammen. Knattern, Sausen, Brüllen, Dröhnen, Donnern – die Luft auf Meilen ringsum von Getöse erfüllt. Ein Heulen in letzter Todesqual – Angstgekreisch aus rasenden Schmerzen – obszöne Scherze – krampfiges Gelächter – betende Hilferufe, abgelöst von starrem Schweigen hinter zusammengebissenen Zähnen, während die Granaten in ihren Reihen wüteten in der stockrabenschwarzen Finsternis. Rolfers lag, wie die Nachbarn, das Gesicht in den nassen Lehm gedrückt, den Tornister zum Schutz auf den Nacken gerückt. Plötzlich fühlte er sich erwachen, nachdem er wie in einem tiefen Schlund untergesunken – erkannte, daß er geschlafen hatte, mitten im Tosen und Krachen der explodierenden Geschosse. An seiner Seite, zur Rechten, zur Linken ein schweres Schnarchen anderer toderschöpfter Männer. Er – Franz Rolfers, der seinen Namen in die Ewigkeit zu schreiben beabsichtigte – nur einer von vielen – vom Todesgrauen in Bleischlaf gestürzt – wie der Metalldreher dort, der Schusterjunge hier, der den Knabenkopf schlaftrunken an seine Schulter drängte.
Als der Morgen dämmerte, der Befehl zum Angriff an sie gelangte, stieß er das heisere wilde Hurra aus verdorrter Kehle gleich den andern, sprang, schlich, stürzte, sprang wieder in weiten Sätzen, wie sie die Sehnen nur leisten konnten, über die glitschigen Lehmschollen, die faulenden Blätter der Rübenfelder. Springen, sich niederwerfen, wieder springen mit dem schweren Tornister auf dem Rücken, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett schwingend, – ja, wie sie brüllten – schrien, tobten – die Gesichter blaurot – die Augen aus den Höhlen gequollen, kein menschlicher Ausdruck mehr – vom Blutrausch ergriffen, eine Schar von Teufeln, von Vernichtern . . . Und im Nebel auftauchend die blutigroten Flecken der Franzosenhosen – die feindlichen Gestalten, die sich, schreiend, kreischend wie sie selbst, ihnen entgegenstürzten – im grauen klatschenden Regen . . . Im Nahkampf sich packten mit Fäusten und Kolbenhieben und Messern, und der Stahl der Bajonette sauste in weiches Menschenfleisch, und Blutfontänen spritzten in die Lüfte, die Knochen krachten, die Augen sprangen aus den Höhlen – die Nase füllte sich mit dem Gestank des Todes . . . Keiner – nicht Freund noch Feind – mehr Mensch mit menschlichen Schicksalen und Leiden – nur noch ungeheure Gewalten, in wütender Wollust und grausiger Umarmung gegeneinander ringend – in jedem Blutstropfen nur noch das Leben des Vaterlandes spürend . . .
– – Vernichtet, zerstampft mußte sie werden, die feindliche Gewalt, wie Hirnmasse und Schädeldecken zerstampft wurden in den grausamen Kämpfen . . . Rolfers raste, tobte, schoß, schlug, haute um sich, brüllte und würgte im Wahnsinn der Kampfgier gleich den andern. Vernichtet mußte sie werden, die französische Kultur, die er studiert, zergliedert, an der er gelernt, die er geliebt hatte wie wenig Dinge auf Erden. Notwendigste Ergänzung des eigenen Besitzes war ihm Frankreich gewesen in Zeiten, die undenkbar ferne schienen . . . Welch ein wahnsinniger Traum . . .
– – Viele Nächte in Kellern oder zerschossenen Bauernhütten, wo man in der nächsten Sekunde in Flammen eingehüllt sein konnte, mit Gestank und Ungeziefer, zwischen einer feindlichen Bevölkerung, von der man sich aller Greuel und jeder Heimtücke zu versehen hatte. Ihm kam die Kenntnis der Landessprache mit allen Provinz- und Volksausdrücken zugute – er hatte einst viel gemalt in diesen Gegenden. Nun konnte er Händel schlichten zwischen den Leuten und den Kameraden, die bis zur gegenseitigen Raserei ausarteten und oft nur aus Mißverständnissen hervorwuchsen. Die Einwohner, besonders Frauen und Kinder, faßten trotz seines kurz angebundenen Wesens ein wenig Vertrauen zu ihm, er sah hinein in das grenzenlose Elend, das der Krieg über alle diese Familien brachte. Und konnte nicht mehr herzerleichternd mit den Kameraden schimpfen: dreckige, verruchte Bestien! Mit starrem Schmerz fühlte er nur: auch sie morden ja für den einen göttlichen Begriff: Vaterland – Heimat!
Unter den eignen Landsleuten nahm er dieselbe Stellung ein wie überall sonst zwischen Menschen: er genoß Achtung, ja zuweilen Verehrung, ohne geliebt zu werden. Trotz all des tief Gemeinsamen, was ihn mit den Kameraden verband, blieb eine kühle Ferne zwischen Rolfers und den Mannschaften. Das änderte sich auch nicht durch die brüderliche Teilung von Liebesgaben, durch die Trauer um Gefallene, durch die Schulter an Schulter bestandenen Gefahren. Rolfers war keine Natur, die sich warm erschließen konnte, oder die Öffnung andrer Herzen zu erwecken vermochte. Früher hatte er diesen Mangel schmerzlichst beklagt, später nahm er ihn als unabänderlichen Teil seines Wesens. Dürstete ihn nach Erhebung, so wandte er sich an die Natur. Sie sprach zu ihm, wie nur zu Auserwählten, er war ihr ein Liebhaber, dem sie intimste Reize erschloß, den sie trunken machen konnte mit einem Zauber, der andern vorenthalten blieb. Zwar beobachtete Rolfers, daß auch unter Offizieren wie Soldaten manche während dieses Feldzuges die Rückkehr in den Zustand des wilden Urzeitmenschen mit einer tiefen Lust genossen. – Würde solche erstaunliche Veränderung Früchte tragen in einem Frieden, der höchst unwahrscheinlich ferne, unerreichbar schien? . . . Würde sie als wertvolle Vereinfachung von Sitten und Empfindungen eine Neugestaltung überfeinerter Kultur bewirken können? Oder würde sie mit allen Erlebnissen dieser innerhalb der schauerlichsten Todesbezirke vertrotzten Zeit in die dunkeln Gründe, die unter dem wachen Bewußtsein schlummern, zurückgeworfen und dem Vergessen überantwortet werden?
Solchen Gedankengespinsten hing Rolfers gern in müßigen Stunden nach. Antwort konnte er nicht geben, denn noch befand sich alles in strömender Bewegung, in fürchterlicher Aufwühlung von unmöglichen Gegensätzen, in denen zu jeder Stunde Rückfälle in Barbarentum und Tierheit mit den strahlendsten Beweisen höchsten Menschentums zusammenstießen. Gleicherweise bei Freund und Feind.
In all den fremdartigen Lebensumständen geleitete doch ein tiefgewohntes Heiligvertrautes den Kriegsfreiwilligen Franz Rolfers. Gleich den Blutströmen in seinem Adergeflecht, die unempfunden in steter gleichmäßiger Tätigkeit zum Herzen fluteten, von dort wieder zurück den Weg durch Lunge und Körper nahmen, ihn mit tausend geheimnisvollen Kräften nährend, blieb der starke Strom seines Kunstgefühls zu jeder Sekunde in ihm rege tätig. Ohne daß die Gedanken teilzunehmen schienen, wurde die Bildnerkraft seines Innern unaufhörlich getränkt mit Farben, Linien, mit Gruppen und Gebärden von Menschen, die groß, einfach und gewaltig waren, wie er nichts Ähnliches früher je geschaut. Er sah Anstrengung der Muskeln von Pferden und Männern, die alles Glaubhafte weit hinter sich ließen, wenn sie schreiend und fluchend eines dieser modernen Ungetüme von Haubitzen eine Anhöhe hinauf zu zerren suchten oder das Geschütz, den Munitionswagen aus einem Sumpf herausholten. Er sah das rasende Umsichschlagen verendender Rosse und die Todesangst, das eherne Ertragen wütenden Schmerzes in den Gesichtern der sterbenden Menschen, gegen die antike Masken von Kriegern gleichgültig wurden. Alles, alles war zum Äußersten gesteigert: Ausbrüche der Freude, der Wut, der Liebe, der Frömmigkeit und des Hasses, die tief heraufgeholt wurden aus Urschlünden und Abgründen ferner Zeiten, da Mensch und Tier begann zu werden . . . Und wieder Sommer- und Herbstnächte voll der süßesten Schönheit und friedevoller Einsamkeit mit allen Lauten, Tönen, Düften, die ihn zauberisch erquickten, weil sie das Altvertraute mit dem kaum begriffenen Neuen so einfach verknüpften, daß es nun Erfahrung werden durfte, sich in ihm aufspeicherte zu unsichtbarem, machtschwangerem Besitz.
Ein Patrouillengang des Nachts durch ein kleines Waldtal – der Leutnant, er und noch ein paar Kerls. Es hatte am Mittag des Tages eine Schießerei in dem Gelände stattgefunden, die Rothosen waren überwältigt, einige gefangengenommen, die andern hatten sich eilig zurückgezogen. Nun sollten sie auskundschaften, ob die Gegend restlos vom Feind gesäubert war. Man fand nichts Verdächtiges, kehrte, vorsichtig am Waldrand entlang schleichend, zurück. Der Offizier und die Mehrzahl der Leute waren schon ein Stück weit voran, als Rolfers seinen Nebenmann auf ein dunkles Etwas aufmerksam machte, das im tiefen Baumschatten neben ihrem Wege lag.
»Ein Toter oder Verwundeter,« flüsterte er seinem Nachbar zu.
»Ach was, schnell vorwärts,« murrte der »Wir verlieren den Anschluß, und wer weiß, ob die Bande nicht noch im Dickicht hockt.«
Winselnde Wehelaute drangen aus dem Dunkel zu ihnen empor. Das Grausen fuhr Rolfers ins Herz, einen hilflosen Menschen hier liegen zu lassen in der finsteren Regennacht. Er hielt die Mütze vor und leuchtete mit der elektrischen Taschenlaterne dem Verwundeten ins Gesicht. Der hob sich mühsam; schwarze Augen stierten Rolfers an, eine hastige Bewegung – in demselben Moment krachte der Schuß.
Ein dumpfer Schlag durchfuhr Rolfers – er stürzte wie ein Stück Vieh quer über den Franzosen.
Als er erwachte, schien der Mond still durch die Bäume. Er bewegte den Kopf, blickte aus nächster Nähe in ein gelbes Totengesicht. Die Augen, deren Ausdruck voll rasenden Hasses sofort wieder vor sein Gedächtnis trat, lagen grau gebrochen unter nur halb geschlossenen Lidern, der Mund war wie von einem müden Ekel schiefgezogen. Ein knabenjunges, feines Antlitz, von erstem Bartflaum umrandet.
Rolfers suchte sich zu erheben – da packte ihn wütender Schmerz in Arm und Schulter und atemlose Angst . . . War's möglich, war's nur zu denken, daß das Schlimmste getragen werden mußte?
Und er schlug wieder hin, von aller Kraft verlassen – auf den starren Körper des Knaben, der ihm das getan . . . Die Nacht verging in halber Bewußtlosigkeit, in Durstqual und fieberisch gesteigerten Ängsten. Bei grauendem Morgenlicht fanden ihn zwei Sanitätssoldaten, die von den Kameraden ausgeschickt waren, ihn zu bergen.
Der Arm war in Fetzen und Splitter geschossen, von einem dieser heimtückisch im Innern des Körpers platzenden Geschosse.
Im Etappenlazarett wollte man ihn sofort amputieren.
Rolfers widersetzte sich so leidenschaftlich, daß der Stabsarzt begriff, um welchen Wert es sich hier handelte, und versuchte, durch zahllose mühselige Kleinoperationen die Knochensplitter einzeln zu entfernen. Der Mann litt standhaft, was gelitten werden mußte. Die wütenden Schmerzen heimlich zehrender Eiterungen, wilde Fieberzeiten, unterbrochen von dumpfem Morphiumschlaf. Ein Auf- und Abwogen von Hoffnung und Verzweiflung.
In seinen Phantasien verfolgte ihn ein immer wiederkehrendes Bild. Er sah mit peinvoller Deutlichkeit den schlanken jungen Franzosen, auf einem gefällten Baumstamm am Waldrand sitzend, in der lässigen Grazie, die Rolfers an den Pariser Jungen so oft bezaubert hatte, das holde Profil tief gesenkt, von weichen dunkeln Wimpern die bernsteingelbe Wange beschattet, ein lauernd grausames Lächeln um den roten Kindermund, wie er behutsam mit der Feile seines Taschenmessers arbeitete und schabte, den Stahlmantel des blanken Geschosses zwischen seinen Fingern zu spalten, damit es gerade die entsetzliche Wirkung üben sollte, von der in den Schützengräben mit wollüstigem Vergnügen geredet wurde.
Ein erregendes Verlangen plagte Rolfers, diese Gestalt, dieses Antlitz seines Verderbers zu zeichnen, das Gemisch von Überfeinerung und Verruchtheit eines todgeweihten Volkes – aber zugleich versank in ihm die Hoffnung tiefer und tiefer, daß er jemals wieder Stift und Pinsel führen könne.
Der letzte Versuch einer Rettung des Armes sollte durch die Behandlung eines großen Chirurgen in Berlin ausgeführt werden. Der Lazarettzug trug ihn mit vielen Leidensgefährten durchs deutsche Land.
Einmal, während sie, die Einfahrt in einen Bahnhof erwartend, in langsamer Fahrt dahinrollten, hatte Rolfers aus den sonderbaren Fieberzuständen heraus, in denen die Dinge urplötzlich so geheimnisvolle Bedeutungen annehmen können, einen Anblick, der ihn grenzenlos erschütterte.
Auf dem Bahndamm, hoch über dem unten fahrenden Zug, stand eine Frau. Als sie die Soldaten in den Fenstern sah, hob sie ihre beiden Arme steil gen Himmel, faltete die Hände und beugte sich tief, bis zur Erde nieder.
Nie hatte Rolfers eine Bewegung von so viel Größe und Inbrunst geschaut. Ihm war zumute, als grüße in der Gestalt dieser Bauersfrau Germania selbst ihre geopferten Söhne.
Und nun schien es ihm nicht schwer zu vergehen. Er fühlte sich mit einer dunkeln Lust tiefer und tiefer in die Schlünde des Todes hinabsinken, gegrüßt von jener göttlich-hohen, inbrünstig-demütigen Gebärde.
Noch am Abend nach der Ankunft in Berlin erfolgte die Amputation des brandig gewordenen Armes, trotzdem er lallend schrie, ihn sterben zu lassen.
Ohne irgendeine Basis, ohne irgendeine Notwendigkeit, irgendeinen Wunsch, seine künftigen Tage hinschleppen zu müssen . . . Konnte das Pflicht sein? – Unsinn!
Er hatte seine Pflicht geleistet, rücksichtslos, instinktiv, wie alle Volksgenossen. – – Was nun noch kam, ging einzig ihn selbst, Franz Rolfers, an. Er war aus einem Stück der Allgemeinheit wieder zur Einzelperson geworden. Wollte er aus dem Lande der Lebendigen fortgehen, wer durfte ihn hindern? Sobald er das Lazarett als geheilt verlassen würde, mußte die Erlösungsstunde für ihn kommen. Dies hatte er in sich beschlossen und wartete. Mit starrer Geduld, schon entrückt den Interessen der Kameraden.
Barmherzig war er nie gewesen, und in Liebesdiensten für andere sich hinzugeben, diesen letzten Trost der Verstümmelten, das lag ihm nicht. Er haßte Heuchelei – auch gegen sich selbst.
Besuchsstunde. Neben den weißen Betten, auf den kleinen Glastischen Blumen oder Früchte: Trauben, Birnen, Äpfel auf Tellern, in braunen Tüten, weiße Kästchen mit Konfekt, Marmeladetöpfchen, Bücher und Zeitungen. Es staute sich das Mannigfachste. Vor den Betten standen Kinder, Frauen, Mütterchen, Freundinnen, Onkels und Tanten. Ein Lachen, Schwatzen, Scherzen erfüllte den hohen Saal. Verstohlen wischte hie und da eine Frauenhand niederstürzende Tränen von der Wange. Ein altes Jüngferchen, dürftig gekleidet, mit einem lieben Lächeln auf dem Runzelgesichtlein, verteilte Tellerchen mit süßem roten Gelee und weißer Schlagsahne. Jedesmal an sechs Krieger. Für mehr reichten ihre Mittel nicht, bekannte sie ganz offen. Aber sie kam täglich mit neuen Erzeugnissen ihrer Kochkunst. Die Soldaten nannten sie die Lazarettmutter und verstanden sich gut mit ihr. Bisweilen rauschten Damen mit kostbaren Pelzen und Reiherhüten durch das bescheidene Besuchsvolk, schritten von Bett zu Bett, verteilten Zigarren und huldvolle Worte. Die Schwestern mit den weißen Häubchen, den hellen Kleidern eilten hin und wieder, Ordnung zu halten, riefen ein mahnendes Wort, dem lachend gefolgt wurde.
Alles in allem hätte man zwischen zwei und vier Uhr nicht glauben können, welch eine Summe von Elend und Kummer in diesem weißen, von heiterem Stimmenwirrwarr erfüllten Saal ausgefochten wurde.
Rolfers tönten die schrillen Berliner Stimmen verletzend im Ohr. Seine Gefühle waren zwiespältig gemischt aus Anerkennung der herzlichen und opferwilligen Güte, die sich in den kurzen Stunden ringsumher bekundete, und aus einem peinlichen Schmerz über die Anmutlosigkeit der Gebärden, der Erscheinungsform dieser Liebe, über die Torheit der Gespräche, die Zudringlichkeit der Wohltäterinnen.
Die Besuchsstunde war jedesmal eine harte Prüfung seiner krankhaft gereizten Nerven. Anfangs hatte er mit einer gewissen Anteilnahme beobachtet. Jetzt lag er mit geschlossenen Augen oder hielt sich eine Zeitung vors Gesicht, um die Aufmerksamkeit möglichst wenig auf seine Person zu lenken. Vor wenigen Tagen war es geschehen, daß eine hübsche, sehr elegante junge Dame bei der Beschäftigung, riesige Stücke Napfkuchen zu verteilen, neben seinem Lager plötzlich gestutzt hatte und dann einen Schrei tat: »Meister –! Ja, Meister Rolfers, sind Sie's oder sind Sie's nicht? Und Berlin weiß nicht, daß Sie hier liegen? Aber das ist ja unerhört – aber da muß ich doch gleich . . . Was kann ich nur für Sie tun?«
»Nichts, gnädige Frau, als zu schweigen!« hatte Rolfers geantwortet. Dies war freilich das stärkste Verlangen, was man an die liebenswürdige Schwätzerin richten konnte. Sie hatte sich auf seinen Bettrand niedergesetzt, hatte dort auf und ab gewippt mit dem Lackschuh – jede Berührung seines Lagers verursachte ihm noch immer unerträgliche Pein – und hatte ihm versichert, daß er ganz der Alte geblieben sei in seiner genialen Grobheit, die nur er sich erlauben dürfe. Darauf machte sie ihm den Vorschlag, seine Überführung in das Privatlazarett ihres Mannes zu veranlassen, wo er alle Bequemlichkeit haben würde und geistige Anregung und ihre eigene, ganz besondere Fürsorge.
Rolfers sah, während die junge Frau so plauderte, auf den blaßroten Mund, dessen feine Linien an den Winkeln ein wenig nach oben gebogen waren, und der unter dem weißen Schleier eigentümlich reizvoll blühte. Es fiel ihm ein, daß er diesen Mund einmal in der Nachtlaune eines Künstlerfestes sehr lange und innig geküßt hatte. Er dachte daran, wie man an Dinge von gestern denkt. Er hatte die junge Dame im Auftrag ihrer Eltern gemalt und guten Erfolg mit dem Porträt gehabt. Es hatte ihm die goldene Medaille eingetragen, und wahrscheinlich wäre ihm auch das reiche Mädchen nicht unzugänglich gewesen, doch nach dem Kuß auf den blühenden blaßroten Mund packte ihn plötzlich ein Grauen vor all dieser wohlarrangierten Bürgerlichkeit, und er hatte sich jäh zurückgezogen. Leicht bewegte Anmut, die war ja nun hier und bat ihm aufs freundlichste ihre Gaben. Wie völlig belanglos schien ihm auch dies und jede Hoffnung, die sich daran knüpfen mochte. – Widerwärtige Vorstellung: des Vaterlandes Not und Triumph zu benutzen, um als Krüppel über einen gesunden, wohlbestallten Professor und Gatten obzusiegen . . .
Der jungen Frau wurde mit einem höflichen Lächeln ablehnend gedankt für all ihre gütigen Pläne. Als trotzdem am folgenden Tage eine Fruchtschale und Rosen von wundervollster Üppigkeit eintrafen, ließ Rolfers Trauben und Blumen unter die Kameraden verteilen. Sein Gesicht wurde nicht einen Augenblick heller. Der Vorgang bestärkte ihn nur in dem Wunsche nach einem abgelegenen Zimmer, wo er für solche Besuche unauffindbar blieb. Die Pflegerinnen meinten seitdem, er habe doch wirklich einen unleidlichen Charakter. Rolfers beobachtete die steigende Kühle ihm gegenüber mit Humor.
Ihm selbst war ruhiger und gelassener, ja zuweilen ganz menschenfreundlich zumute, seitdem er mit sich fertig geworden war und seine Persönlichkeit aus dem Wirbel des Geschehens zurückgenommen hatte, um dieser Zusammensetzung, die sich Franz Rolfers nannte und die nur durch Hand und Arm für die Menschheit Wert gehabt, aus selbstherrlichem Willen ein Ziel zu setzen. Er brauchte sich wahrhaftig nun noch weniger als je zuvor darum zu kümmern, wie er auf seine Umgebung wirken mochte.
»– – Fräulein Niemann ist krank und schickt mich an ihrer Stelle, Sie sollen doch Ihr gewohntes Labsal nicht vermissen,« hörte Rolfers eine weibliche Stimme mehrmals wiederholen. Den Klang kannte er – oder täuschte er sich? Wo mochte es gewesen sein, daß er die Stimme gehört hatte? Sie war weich, ruhig, angenehm . . . Erinnerungen kamen ihm – das war schon die Zeit von vorgestern, als er diese Stimme heller und fröhlicher als heut hatte neben sich schwatzen hören, und leise Liebesworte plaudern . . . Er beobachtete hinter seiner Zeitung verborgen die mittelgroße, einfach gekleidete Frau, die von Bett zu Bett ging, mit den Schüsselchen, die sonst von dem alten Fräulein verteilt wurden.
– – Sie war es wirklich, die kleine Martha, die er einmal liebgehabt . . . wie hübsch sie damals war mit dem blonden krausen Haar und den hellen Augen – lieber Gott – nun sah sie aus wie irgend jemand . . . farblos – das war wohl heut die Formel für sie . . .
Er fühlte nicht das mindeste Bedürfnis nach einer neuen Erkennungsszene – aber im Grunde war es ja vollkommen gleichgültig, und er konnte auch ein paar freundliche Worte mit ihr wechseln, wenn es einmal nicht zu umgehen war.
Die Frau näherte sich seinem Lager und sagte ein wenig verlegen: »Das tut mir nun leid – für Sie habe ich nichts mehr.«
»Der Herr liebt sowieso keine süßen Speisen!« bemerkte bissig eine junge Pflegerin, die vorüberlief.
Rolfers legte die Zeitung beiseite. »Die Schwester hat recht – machen Sie sich also keine Sorge,« sagte er höflich und hielt die Frau, die an seinem Bette stand, im Banne seiner ernsten, etwas strengen Augen. »Wollen Sie mir sagen, was unsrer Lazarettmutter fehlt?«
»Es ist nichts Ernstes – nur eine Erkältung,« antwortete die Frau. Ein Erröten stieg ihr vom Hals hinauf, lief über Wangen und Stirn. Ihre Augen bekamen, während sie Rolfers anschauten, einen hilflosen Blick, der zur Seite irrte, sich wieder auf ihn heftete und aufs neue zu flüchten versuchte. Tränen quollen empor, verhüllten die hoffnungslose Verwirrung gleichsam wie mit einem barmherzigen Schleier, bis sie langsam über die Wangen niedertropften.
»– Ja, Martha.« sagte der Mann sanft, »so steht es nun mit mir.«
Sie nahm hastig ihr Tuch und verhüllte ihr Gesicht.
»Komm, setze dich, es ist nicht gerade nötig, daß die Menschen auf uns merken. Ich bin ja nur einer von den vielen. Komm – Es ist lieb, daß das Wiedersehen dich so mitnimmt. Bei euch Frauen ist es wohl nicht anders . . .«
Martha steckte ihr Tuch ein und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl, den sie ein wenig von seinem Bette fortrückte. Sie blickte ihn mit ihren Augen, die etwas von klarem Wasser hatten und deren Ränder nun leicht gerötet waren, aufmerksam an. »Hast du viel Schmerzen gehabt?« fragte sie leise, und in ihrem Gesicht zuckte noch die Bewegung, die sie bei diesem unvermuteten Wiedersehen befallen hatte.
›. . . Sie ist alt geworden,‹ dachte er. ›Merkwürdig, wie schnell das bei blonden Frauen geht. Wie die Züge sich verändern, alle festen Formen verlieren.‹ – – »Ja, Schmerzen habe ich ordentlich gehabt,« sagte er laut. »Aber das ist ja gleichgültig. Das Schlimmste ist überstanden. – – Wie lebst du, Martha?«
»Wie immer – ich bin bei einem Rechtsanwalt angestellt und habe mein Brot. Wird der Chef eingezogen, weiß ich freilich nicht, wie es gehen soll . . . Aber ich werde wieder etwas finden, mir ist nicht bange,« fügte sie eilig hinzu.
»Und der Junge?«
»Ein großer Kerl – schon in Obertertia.«
»Ich habe mich gefreut, daß du ihn bei dir behalten hast. Hoffentlich wächst er dir nicht zu sehr über den Kopf, quält dich nicht . . .«
»O nein,« entgegnete sie lebhaft, wurde wieder rot, und ihre Augen begannen zu glänzen. »Wir verstehen uns gut. Es ist ein lieber Junge und begabt! Hat für alles Interesse. Das sagen auch die Lehrer.« Kaum hörbar flüsterte sie: »Ich bin dir dankbar, daß ich ihn aufs Gymnasium schicken kann. Von meinem Verdienst ginge es nicht!«
»Das ist doch nur selbstverständlich!« antwortete Rolfers ablehnend, seine Brauen zogen sich zusammen.
Martha Lebus erhob sich sofort. »Ich muß nun gehen,« sagte sie scheu, und der verwirrte Blick machte ihr Gesicht unbedeutend und mitleiderweckend. »Darf ich dich bald einmal wieder besuchen?«
Rolfers lächelte und hielt ihr seine linke Hand entgegen, die sehr bleich und durchsichtig geworden war, wie die Hand einer leidenden Frau.
»Gewiß, Martha, das ist hübsch. Komm nur!«
Sie hatte seine Hand gefaßt, hielt sie vorsichtig und wagte nicht, sie zu drücken.
»Lasse dir dann von der Schwester das Zimmer zeigen, wo ich liegen werde. Du findest mich allein, und wir können freier miteinander plaudern. Lebe wohl, Martha.«
Mit gesenktem Kopf, in gesammelter Haltung ging Martha durch den Saal. An der Tür blickte sie noch einmal zurück und nickte Rolfers zu. Er grüßte mit der linken Hand.
Die Klingel tönte, die Besucher, männliche und weibliche, entfernten sich nach und nach. Kaffeebecher und Semmeln wurden verteilt, dann kam das Glas mit den Fieberthermometern. Es wurde Temperatur gemessen. Der Krankensaal kehrte in seine Abgeschlossenheit und zur alltäglichen Ordnung zurück. Die meisten der Verwundeten waren müde von den ungewohnten Familienfreuden und schlummerten oder ruhten mit geschlossenen Augen. So lag auch Rolfers.
›. . . Es scheint, daß ich noch einmal einen Überblick über mein ganzes Leben bekommen soll,‹ dachte er. ›Ob ich sie auf der Straße wiedererkannt hätte? Arme kleine Martha – Die Zeit ist doch grausam gegen die Frauen‹ . . . Das war Jugend, als sie beide in dem kahlen verstaubten Atelier hausten, die unmöglichsten Gerichte auf dem Spirituskocher fabrizierten, im Sommer auf den Studienfahrten in den unmöglichsten Wirtschaften nächtigten . . . Die Winterabende, an denen man bis zum Morgengrauen mit den Freunden stritt, sich die Köpfe heiß und die Kehlen trocken redete über lauter Kunstfragen, die er heute belächelte. Und Martha in einem von ihm entworfenen Kleidchen, das so schlicht an ihrer schlanken Mädchengestalt niederfiel, ging, von all dem Zigarrendampf wie in einen blauen Nebel gehüllt, hin und wieder und legte Kohlen in das eiserne Öfchen, bis es rot glühte, oder sie braute einen Grog nach dem andern. Er blickte zuweilen aus dem hitzigen Streit der Meinungen hinaus auf ihre ruhigen weichen Bewegungen, die ihn unsäglich rührten. – – Wie vorsichtig sie heute den Stuhl gesetzt hatte, sein Lager nicht zu berühren . . .
Warum hatte er sie am Ende verlassen? Er konnte sich keiner bestimmten Ursache für den Bruch mehr erinnern. Es war wohl auch eigentlich kein Bruch gewesen. Mehr ein Fortgleiten von ihr auf dem Flusse seiner Entwicklung.
Als das Kind erwartet wurde, verhinderte sie ihr Zustand, ihn auf der sommerlichen Studienfahrt zu begleiten. Und er kehrte im Herbst nicht zurück zu ihr. Das Atelier als Kinderstube eingerichtet – was er an ihr geliebt, die schlanke behende Linie ihrer Gestalt ohnehin zerstört – all das Armselige, Lächerliche einer Familienwirtschaft ohne Geld . . . Es graute ihm davor. – Er fühlte sich nicht im mindesten reif für die Pflichten eines Vaters.
Das schrieb er ihr, als er allein nach Paris ging. Sie nahm es gelassen und natürlich. Ihr Leben richtete sie mit der Verständigkeit zurecht, die seine Verliebtheit allzuoft gestört, die ihn leicht ein wenig gelangweilt hatte. Andere Frauen kamen in sein Leben, und der Dämon seiner Kunst herrschte immer stärker über ihn. – Die regelmäßigen Zahlungen für den Jungen, die von ihm erhöht wurden, als er besser verdiente, ließ er durch seinen Bankier übermitteln. Er selbst wollte möglichst wenig und selten an diese Jugendepisode gemahnt werden.
Martha Lebus hatte Rolfers vorgelesen mit ihrer angenehmen Stimme, die er gerne hörte. – Es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, daß sie täglich am Nachmittag für einige Stunden bei ihm war, Aufträge für ihn besorgte, Briefe für ihn schrieb, ihm in mancherlei Weise zur Hand ging. Sie tat dies alles in einer selbstverständlichen schlichten Weise, so daß es ihm nicht in den Sinn gekommen wäre, ihre Dienste abzulehnen.
Sie nannte Richard oft und erzählte diesen oder jenen Zug von dem Knaben. Es war ersichtlich, ihr ganzes Denken und Fühlen beschäftigte sich mit ihm. Rolfers hörte höflich zu, ohne wärmere Anteilnahme zu zeigen. Trotzdem fragte sie endlich zaghaft, ob sie den Jungen nicht einmal mitbringen dürfe.
Die Frage berührte ihn peinlich. – Sein Sohn? – Ein Stück seiner eigenen Persönlichkeit zu einem fremden Leben erwacht? Keine Gewohnheitskette verband ihn mit diesem Begriff. Keine Überrraschung prägte ihn als ein neues Ereignis in sein Geschick. Er hatte ja immer gewußt, daß da irgendwo ein Sohn von ihm lebe und von der Mutter sicherlich gut und tüchtig erzogen würde.
Er antwortete auf Marthas Frage nur mit einer verneinenden Bewegung. Als er die traurige enttäuschte Miene sah, mit der sie den Kopf zur Seite wandte, von ihm fort, dauerte sie ihn.
»Martha – Kind – was hat es denn für einen Sinn? Der Junge wird kaum sehr freundliche Gefühle für mich haben können.«
»Darum eben dachte ich . . .,« stotterte sie verlegen.
»Ihr Frauen denkt immer, das Unmögliche geht – weil ihr es wünscht. Wozu den armen Kerl quälen mit unangenehmen Situationen? Ja, – wenn er nie von mir gehört hätte . . . Aber er ist doch wohl alt genug, um sich bereits Gedanken über seine Herkunft gemacht zu haben. Wenn nicht – desto besser für ihn. Ist er auch nur neugierig, mich zu sehen?«
»Neugierig schon . . .«
»Ich bin aber kein Tier aus dem Zoologischen Garten, um die Neugier eines Buben zu befriedigen!« sagte Rolfers schroff.
Martha ließ das Thema fallen und fragte leise, ob sie das Schachbrett bringen dürfe. Sie setzte ihm die Figuren handlich für die Linke zurecht und winkte ihm mit freundlichem Lächeln zu beginnen.
›Jetzt hätten die meisten Frauen einen Auftritt gemacht mit Tränen und Vorwürfen,‹ dachte Rolfers. ›Ob das Leben sie so gleichgültig hat werden lassen? – Früher konnte sie doch genug Temperament aufweisen – Oder nennt man das nun weibliches Heldentum?‹
Er war den ganzen Nachmittag grantig und grob mit ihr, als treibe ihn ein Dämon, sie zu reizen. Doch blieb sie freundlich, war nur stiller als sonst.
›So bezwingt sich eine Frau nur, wenn sie ein bestimmtes Ziel verfolgt,‹ überlegte Rolfers in den schlaflosen Nachtstunden, in denen die Gedanken ungestört nach allen Seiten wandern und Umschau halten konnten. ›Der Plan ist durchsichtig und nicht einmal unpraktisch. Ich bin hilflos, pflegebedürftig . . . Sie sieht, daß mir ihre Dienste nicht unangenehm sind . . . Wollte ich überhaupt leben – warum dann nicht ebensogut Martha wie irgendeine andere bezahlte Kraft – die schließlich dieselben Wünsche und Pläne haben würde – und ohne ihre Berechtigung. Sie will mich einfangen – zweifellos – das Muttertier kämpft für ihr Junges. Wie so eine Frau, die doch ein feines Empfinden hat – tausendmal bewies sie es –, Stolz, Scham, verletzte Eitelkeit einfach erwürgt, wenn das alles dem Fortkommen ihres Jungen im Wege steht!
Rolfers dachte dem ruhig, doch nicht ohne Rührung nach. Es war eine gleichmütig-philosophische Rührung.
Lieben kann sie mich kaum noch – so wenig, wie ich sie noch liebe. Das Aufflackern solcher Gefühle, die einmal ausgeschöpft und ausgelebt wurden, kommt wohl überhaupt nur in Romanen vor. Von dieser Seite würde also keine Hinderung eines friedlichen Zusammenlebens zu befürchten sein . . .
Er faßte noch einmal eine mögliche Zukunft ins Auge. Zerlegte sich einen Tag, der noch zu leben sei – ohne Arbeit, ohne Wirken, ohne den tiefen Rausch des Schaffens . . . zerlegte ihn in seine einzelnen Bestandteile und erkannte schaudernd, daß für solches im Jahre 365 mal sich wiederholendes Martyrium seine ethische Kraft bei weitem nicht ausreichen würde.
Wie in das Glück eines süßen Betäubungstrankes versanken seine Sinne in den dunkeln Abgrund des Nichtseins. Die Phantasie, angefüllt mit den Farben und Formen des Lebens, legte sich in diesem Abgrund gleichsam zum Schlaf zurecht und zog die dunkeln Schleier des Vergehens über die Unruhe des Gestaltens. Eine ziehende Sehnsucht nach Tod ergriff stärker als jemals sein ganzes Wesen und löste seine Spannungen, seine Begierden und Ehrgeize, spülte sie gleichsam hinweg, wie Meereswogen die Bauten von Kindern im Sande auflockern und verspülen, daß der Boden glatt, weiß, unberührt daliegt, wie am ersten Schöpfungstag.
Als Franz Rolfers am nächsten Morgen erwachte, blieb ihm als Ergebnis aller Nachtträume noch die Absicht, einen Rechtsanwalt kommen zu lassen und sein Testament aufzusetzen. Die Hälfte dessen, was die wachsende Anerkennung der Welt ihm als Verdienst gebracht hatte, sollte Martha und dem Jungen, der denn doch von seinem Blut und Wesen ein gut Teil in sich tragen mußte, die Zukunft sichern, dem Jungen vor allem die Möglichkeit einer weiteren Ausbildung geben. – Die andere Hälfte wollte er zu jeweiligen Unterstützungen an junge Künstler von Begabung, die durch den Krieg gelitten hatten, angelegt wissen. Obschon er bei der Vorstellung eines stillen Ringens um so etwas wie Kunst in diesen wilden Zeitläuften ein ingrimmiges Lächeln nicht unterdrücken konnte.
Aus solchen Erwägungen und Absichten fragte er Martha, als sie das nächste Mal zu ihm kam, ob Richard schon irgendwelche Lust zu einem Beruf zeige.
»Er wird Maler wie du,« antwortete sie ohne sichtliche Freude oder Abneigung.
»Ein zeitgemäßer Plan,« höhnte Rolfers. »Waffenfabrikant soll er werden. Etwas anderes wird in den nächsten fünfzig Jahren bei uns kaum in Ehren stehen. Natürlich hast du dem Bengel die Kateridee beigebracht?«
»Ich habe nichts davon und nichts dazu geredet,« sagte Martha.
Aber Rolfers fuhr im gleichen gereizten Tone fort: »Ihr Frauen seid unbegreifliche Geschöpfe. Ich erinnere mich gut, daß du meine Kunst im Grunde immer haßtest – wenn du es auch ziemlich geschickt verbergen konntest. Bei Gelegenheit brach's doch durch. Ganz elementar. War ja auch für dich eine fragwürdige feindliche Macht. Wäre ich einfacher Bürger gewesen, hätte ich doch schwerlich so gehandelt, wie ich eben handelte . . . na, lassen wir das. Nun willst du in einer Art von sentimentaler Erinnerung den Bengel in etwas hineinzwingen, was ihm vermutlich nicht im mindesten liegt. Wo bleibt da deine vielerprobte Verständigkeit? Wie alt ist der Bub eigentlich? Zwölf Jahr'?«
»Nein – vierzehn,« berichtigte sie mit zitterndem Munde.
»Ach, so alt schon . . .? Ja – verzeih – ich habe Tage und Jahre niemals nachgezählt!« Sie hob die Augen und sah ihn schweigend an, mit einem eigentümlich hoffnungslosen Blick. Franz erwiderte den Blick ernst und ruhig.
»Wir wollten von dem Jungen sprechen,« sagte er nach einer Weile kühl. »Du hast mir neulich angedeutet, daß er nicht gerade von liebevollen Gefühlen gegen mich beseelt ist, was ich ihm wahrhaftig nicht verdenken kann.«
»Ich habe immer versucht, gerecht zu sein, wenn ich von dir sprach,« verteidigte sich Martha.
»Das traue ich dir zu. Aber der Junge müßte doch ein Schlappinsky erster Güte sein, wenn er nicht einen ehrlichen Haß gegen mich hätte – Teufel auch! Denke ich mich an seine Stelle . . . Kennt er denn Bilder von mir?«
»Außer der Pastellzeichnung, die du von mir gemacht hast und die bei uns hängt, keine. Er war auch nie zu bewegen, in die Nationalgalerie zu gehen und die ›Düne im Sturm‹ zu sehen, die sie dort von dir angekauft haben.«
»Ja – dann verstehe ich aber noch weniger . . .«
»Er will auch gar nicht Maler werden. Er haßt alle Künstler – ›verachtet‹ sie, wie er sich ausdrückt. Er hat ja nie einen gesehen und gesprochen –,« fügte sie mit einem kleinen Lachen ein . . . »Er will Jura studieren und Rechtsanwalt werden – weil er gehört hat, die verdienten unter den Juristen am meisten Geld . . .«
»So so – also doch ein Berliner Kind der Neuzeit.«
»Er will dir dann die Kosten für seine Erziehung mit Zinsen zurückgeben, hat er mir gesagt,« antwortete die Mutter und reckte sich in die Höhe.
»Donnerwetter! Das ist ungewöhnlich!« rief Rolfers verblüfft.
»Er will dir nichts zu verdanken haben!«
»Famos – famos! – Mir scheint, er wird mir doch einiges zu verdanken haben, was er mir nicht gut zurückgeben kann!«
»Ja, einen harten Willen hat er!«
»Also – was ist's dann mit dem Gefasel von der Künstlerschaft?«
»Ich sagte ja nicht, er will Maler werden, sondern er wird es werden. Ich muß dir einmal seine Mappen mit Skizzen bringen. Die sollst du wenigstens sehen!«
»Ja, tue das – morgen! Der Junge interessiert mich nun doch,« rief Rolfers, und seine dunkeln Augen sprühten Feuer.
Als Martha am folgenden Tage mit der gefügen Mappe aus grauem Pappkarton bei Rolfers eintrat, fand sie ihn zu ihrem Erstaunen außer Bett, rasiert, das Haar kurz geschnitten, wie er es zu tragen liebte, statt des blau- und weißgestreiften Lazarettanzuges hatte er die feldgraue Uniform angelegt. Der rechte Ärmel hing lose herab. Das Gesicht war noch schmaler als sonst, der feine Knochenbau des Kopfes erschien nur wie von ganz dünner wachsgelber Haut überzogen, unter der jede Form sich scharf und hart abzeichnete. Er hatte am Fenster in einem Korbstuhl gesessen und erhob sich, als Martha nach flüchtigem Klopfen eintrat. Er kam ihr entgegen, ein Lächeln auf den Lippen, ein freundliches Glänzen in den tief unter den vorspringenden Brauen in braunen Schatten liegenden Augen.
Der Frau schossen die Tränen unter die Wimpern. Sie fühlte mit jäher Gewalt: Das ist nicht mehr der Verwundete, der Vaterlandsverteidiger, dem sie unpersönlich diente, das ist der Mann, den sie geliebt hat – der für sie der Inbegriff aller geistigen Herrscherkraft immer geblieben ist. Und wie er ihr die Hand reichte, diese arme verwaiste Linke, beugte sie sich in einem heftigen Impuls nieder und küßte sie.
Sie stand rot und heiß und schämte sich, denn es war ja das Unpassendste, was sie hätte tun können. Doch verstand er sie, und wenngleich das Lächeln von seinem Gesicht verschwand und es noch um einen Schatten bleicher wurde, sagte er doch kein mahnendes oder bewegtes Wort, er tat, als bemerke er den Vorgang gar nicht, oder als scheine er ihm etwas Naheliegendes, Selbstverständliches.
»Da hast du die Mappe,« sagte er, »das ist ja gut – ich hatte beinahe Furcht, der Bengel würde sie nicht herausrücken.«
»Er weiß gar nicht, daß ich sie nahm.«
»So – desto besser. Willst du mir den kleinen Tisch hier ans Fenster rücken, bitte – da haben wir noch Licht. Und setze dich neben mich, mir die Blätter zu geben. Danke – ja – so ist's gut. Das ist ja eine Menge! Fleißig scheint er zu sein.«
Schweigend vertiefte er sich in die Arbeiten seines Sohnes, die nun die Mutter mit Fingern, die zuweilen nervös zitterten, vor ihn hinlegte. Kohle- und Rötelzeichnungen, dann ausgeführtem Aquarelle, auch einige Versuche in Öl. Landschaftsstudien, ein einzelner Baumstamm mit ein paar Blumen darunter, ein Stückchen Ährenfeld, ein toter Vogel. Eine ganze Reihe von Versuchen, seiner Mutter Gesicht zu fassen, Studien nach ihrer Hand. Skizzen von abziehenden Soldaten, von Pferden und Munitionswagen, von Fliegern und Flugzeugen, wie er sie in Johannisthal beobachtet haben mochte. Auch reine Bewegungsstudien, nur in ein paar Linien für das Gedächtnis festgehalten.
»Doll – ganz doll,« murmelte Rolfers ein paarmal. »Was der Kerl riskiert – eine unverschämte Keckheit –« Er schüttelte den Kopf, hielt ein Blatt lange vor sich hin. »Wieder mal recht kindlich – Dieses hier ist mißlungen, – das auch, – das – – nee, wahrhaftig, er fängt die Geschichte nochmals an . . . Armer Kerl, der mag sich innerlich gebost haben. – – Dies ist nun geradezu unglaublich –! Dieser Sinn für Raumverteilung – Köstlich – jetzt kommen wohl die Schulzeichnungen? So 'n ganz andres Kaliber! Na ja – hier schludert er richtig und macht so was für den Lehrer zurecht. Ia. Selbstverständlich! Schweinerei!«
Rolfers nahm einen Bleistift und zeichnete mühsam mit der Linken eine »4b« neben die Schulnote.
»Meinst du nicht auch, daß er Talent hat?« fragte Martha zaghaft.
Er hob den Kopf, sah sie mit einem seiner scharfen Blicke an.
»Talent – Talent hat heut jeder Lausejunge – fragt sich, ob er den Charakter hat, ein Könner zu werden!«
Rolfers zog zwei Blätter aus den übrigen hervor.
»Donnerwetter – was ist denn hier – freie Phantasien . . .« Mit den Seitenstreifen von Postmarken waren sie zusammengeheftet und trugen die Unterschriften: »Der Schlafende« – »Der Erwachte«. In kühnen kräftigen Strichen grundiert, dann mit Wasserfarben leicht getönt, zeigten sie eine ganz eigentümliche und persönliche Technik. Eine Bank auf einer Anhöhe unter einem Baum, der ungefähr eine Eiche vorstellen mochte. Hier saß ein nackter Mann, einen alten ungefügen Kavalleriesäbel über den Knien, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, in Schlaf versunken. Vor sich eine helle Landschaft, mit Obstbäumen, grünen und gelben Feldern, einem zierlich ausgetuschten Dörfchen im Hintergrunde. Zur rechten Seite ganz vorn, wie alte Meister zuweilen kleine Gruppen von Gestalten primitiv einfach nebeneinander stellen, ein paar Kinder, die mit langen Schilfkolben, sogenannten Bumskeulen, Soldaten spielten. Das zweite Blatt zeigte dieselbe Landschaft verfinstert und wildverstört, das Dörfchen in gelb und roten Flammen, die Obstbäume ausgerissen und durcheinander geschleudert, quer durch das Bild raste im Hintergrunde ein Eisenbahnzug. Die Eiche war vom Sturm durchwühlt, der Mann hatte sich erhoben und schritt in scharfer Silhouette mit mächtigem Schritt die Anhöhe hinab, den Säbel gewaltig schwingend. In der Ecke die Kinder streckten hilfeflehend die Arme nach ihm aus.
»– – Wo hat der Kerl nur die Studien zu dem Akt gemacht?« fragte Rolfers lebhaft . . . »Das ist ja famos! die Gelöstheit der Glieder im Schlaf – die Macht des Schreitens – das ist einfach verblüffend – die Majestät der aufgereckten Haltung – das soll erst mal einer von uns Älteren rauskriegen, was dem Bengel da geglückt ist . . . Ha – hier kommen die Studien – wahrhaftig, leicht macht er sich nichts! Also – die Badeanstalt!«
»Ja – von dort kam er immer zu spät heim – da hat er Stunden und Stunden verhockt – und wie viel Schelte hat er gekriegt, bis ich die Sachen entdeckte.«
Rolfers vertiefte sich mit zusammengefaßter Aufmerksamkeit in die Skizzen.
»Durch die Profilstellung hat er sich geholfen. – Na ja – Anatomie fehlt noch – aber die Auffassung der menschlichen Gestalt . . . merkwürdig – höchst merkwürdig.«
Plötzlich lehnte er sich zurück und lachte herzlich.
»Der Bengel will Rechtsanwalt werden – richtig so 'ne ausgeklügelte Chose –! Na, wenn von Deutschland nur zwei Steine aufeinander bleiben, sitzt der noch drauf und zeichnet die Verwüstung ab! – – – –
Du – schade eigentlich, daß du ihm gesagt hast . . . wüßte er nicht, daß ich sein Vater bin, – den Kerl hätte ich gern zum Schüler gehabt – aus dem ließe sich was machen . . . Teufel ja – das könnte mich reizen . . .«
Marthas Blick glitt über ihn hin – er fühlte ihn, sah auf, traf den Ausdruck eines erschütterten Mitleids in ihren Zügen.
»– Ja – du hast ja recht . . . ich hatte vergessen . . .«
Heftig stieß er den Stuhl zurück, sprang auf, schritt mit starken Schritten im Zimmer hin und her und setzte sich plötzlich taumelnd auf den Bettrand, weiß, hohläugig – mit gezerrten Zügen, wie ein Sterbender anzuschauen.
Martha lief, ihm von dem Wein einzuschenken, der in der Nähe stand. Er trank das Glas leer und belebte sich allmählich wieder. Die Frau stand neben ihm und strich ihm zaghaft tröstend über das Haar. Er lehnte den Kopf an ihren Arm, schloß die Augen und murmelte: «Wie gut du bist. Aber geh jetzt – ruf mir die Schwester – ich muß mich hinlegen – man ist ja zu nichts mehr nütze.«
»Du wirst dich schon erholen. Du bist doch auf dem besten Wege . . .«
»Ach, Marthchen – erholen . . . wozu . . .?«
Er starrte in Gedanken vor sich nieder, während sie die Blätter wieder in die Mappe legte, die Bänder zuknüpfte, ihren Hut aufsetzte, sich still und gehorsam zum Fortgehen anschickte.
»Sag' dem Jungen vorläufig nichts davon, daß ich die Zeichnungen gesehen habe,« sagte Rolfers, »wenn sich's tun läßt.«
»Gewiß nicht – obschon es ihn natürlich doch beglücken würde – aber es war ja eigentlich ein Vertrauensbruch, daß ich sie ohne sein Wissen mitbrachte.«
Sie lächelten sich zu, Vater und Mutter des Knaben.
»Ich denke, den Vertrauensbruch können wir verantworten,« sagte Rolfers.
Wieder tauchte Rolfers ein in den schweren Kampf, der in Dunkel und Stille ausgefochten werden mußte und zu keinem Siege, zu keiner Klarheit führte. Scharf und hart, wuchtiger als je zuvor erhob sich in ihm, während er die Zeichnungen seines Sohnes betrachtete, das Gefühl der Schuld gegen die Kunst, die er durch seine Teilnahme am Krieg auf sich geladen hatte. Darüber kam er nicht hinweg. Er wußte, daß er im gleichen Falle wieder genau so handeln würde, wie er gehandelt hatte. Aber das Wissen nahm das Schuldgefühl nicht von ihm. Zwei Mächte rangen um seine Seele – gleich an Kraft und gleich in ihrer unerbittlichen Forderung an den Menschen, mußten sie sich ewig feindlich einander gegenüberstehen: das Individuelle und das Soziale. – Aber er hatte sein Leben und seinen Dienst dem Individuellen verschrieben. Er hatte um dieses Dienstes willen, um der Steigerung seiner einen persönlichen Kunst willen, tausendmal zuvor am Sozialen gesündigt, hatte es tausendmal verneint – weil er an die ewige Herrlichkeit seiner Göttin mit blindem Fanatismus geglaubt hatte . . . Und war er nicht im Recht? Lebte sie nicht in gewaltiger Jugend und Schöne hinaus über alle Kriege, über alle blutrünstigen Zerfleischungen und Wahnsinnsanfälle des Menschengeschlechtes – war sie nicht unvergänglicher als alle Vaterländer und alle nationalen Ideen? Die Staaten zerfielen – die Rassen veränderten sich und versanken im Strom der Entwicklung, neue tauchten auf mit neuen Forderungen und Idealen – die Kunst lächelte ernst und heiter hinweg über sie alle. Unschuldsvoll und frisch wie ein eben geborenes Kind begann sie in den ungeschickten Versuchen dieses Knaben die Welt aufs neue zu erobern – die selbe Welt, in der ihre höchsten Offenbarungen rücksichtslos zerstampft und verwüstet dem Sozialen zum Opfer fielen.
Rolfers wußte, warum er sterben wollte: In seiner völligen Opferung sah er einzig die Sühne für eine Schuld, die er hatte auf sich nehmen müssen. Ein Mann, der einheitlich gelebt, ganz nur besessen von einer einzigen Idee – der kann nicht mit zerklüfteter Seele armselig dumpf sich hinessen, hinschlafen durch die Jahre. In dem ganzen weiten Krankenhaus, das angefüllt war bis unter das Dach mit den mannigfachen Opfern dieses Weltkrieges, gab es wahrscheinlich nicht einen Mann, der ihn ganz verstanden hätte. Wohl ihnen, daß die soziale Kraft in ihnen allen so übermächtig geworden war – wie hätten sie anders ihr Riesenwerk vollbringen können? Mehr und mehr hatte sich doch Rolfers unter ihnen wieder als der Einsame gefühlt, der er immer gewesen.
Nur heut war ein Funke in ihm aufgesprüht, der eine flüchtige leuchtende Verbindungsbahn geschaffen hatte zwischen ihm und einem andern menschlichen Wesen. Mochte das sein Sohn dem Fleische nach heißen oder nicht – gleichviel – da war ein Geschöpf auf Erden, in dem triebhaft, noch traumgebannt derselbe hartnäckige Wille lebte, der ihn erfüllte – ein Wille, den er aufstacheln, bewußt machen, auf dasselbe Ziel richten konnte, das auch das seine gewesen war. – Und das Mitleid einer Frau sagte wortlos grausam: Was kannst du noch geben? . . . Marthas Mitleid brannte ihn wie glühend Eisen, das sich tiefer und tiefer in sein Wesen bohrte. Seine innerste Kraft bäumte sich auf gegen das Mitleid – in sich spürte er ein wildes Tier, das die Zähne fletschte, sich aufreckte, die Pranken hob: Wage es, mich mit diesem Blick des Mitleids anzuschauen, verfluchtes Weib! Wie er sie haßte, weil sie seine Schwäche gesehen hatte! Wie sich die Flamme seines Lebenswillens von Minute zu Minute stärker entfachte, wenn er sich ihres barmherzig-wehmutsvollen Blickes erinnerte . . . Da – da – bei dem Knaben! Da war Sühnung und neuer Beginn! Er ahnte, daß in ihm das Unvereinbare zu verknüpfen sein werde. Je schwerer der Weg, auf dem er nicht selbst ein Kämpfer in den ersten Reihen vorwärts schreiten sollte, auf dem er nur noch geduldiger Lehrer – Weiser – Hüter sein durfte – desto eigensinniger sein Verlangen, das Ungewohnte zu ertrotzen.
Martha hatte bereits durch die Oberschwester erfahren, daß Rolfers in den nächsten Tagen entlassen würde. Die Trennung stand vor der Tür, schneller, als sie es erwartet hatte.
»Was wirst du nun beginnen? Bleibst du in Berlin?« so fragte sie beklommen, weil sie sich nicht stärker über seine Genesung zu freuen vermochte.
»In Berlin? Auf keinen Fall!« antwortete Rolfers heftig. »Sich hier als Krüppel anstaunen zu lassen – nein, das wäre das letzte, was ich ertragen könnte. Ich habe in Holstein so ein kleines Häuschen – dorthin will ich mich verkriechen. Es gehörte früher meinem Freunde Pötsch. Du hast ihn doch auch gekannt – den Pötsch, der die Moorbilder malte – immer mit derselben Birkengruppe. Sie steht nicht weit von dem Anwesen. Und einmal habe ich zu ihm gesagt: Kerl, ehe du nicht von der Birkengruppe fortkommst, eher kommst du auch nicht weiter mit deiner Malerei. Na – und daraufhin habe ich ihm die Geschichte abgekauft. Ich wollte einen Ort haben, um meinen Kram, Bücher, Bilder und Skizzen sicher unterzubringen. Ein altes Ehepaar hält mir die Sache in Ordnung, der Mann besorgt den Garten, die Frau kocht, wenn ich dort bin. Es war selten genug bei meinem Wanderleben. Ja – nun wollte ich dich bitten, den Brief an Lütjes zu schreiben, sie sollen die Zimmer in Ordnung bringen und einheizen und Vorräte anschaffen, damit wir's gemütlich finden, wenn wir hinkommen.«
Martha blickte hastig auf.
»Ich wollte dir den Vorschlag machen, mich für eine Weile zu begleiten.«
»Aber der Junge?«
»Der kommt natürlich mit!«
»Er muß doch in die Schule!«
»In der nächsten Stadt ist ein Gymnasium. Lütje fährt ihn hin, bis er die alte Liese selber regieren kann. Der Sohn vom Doktor muß in seinem Alter sein. Die Jungens können sich zusammentun. Das wäre kein Hinderungsgrund.«
»Ja, das ließe sich machen,« antwortete Martha – »Nur . . .«
»– Du hast mir neulich angedeutet,« sagte Rolfers bedächtig, »daß deine Stellung durch den Krieg in Frage gestellt ist. Ich muß jemand haben, der mir hilft. Es ist doch auch geschäftlich immerfort etwas zu erledigen. Deine Art kenne ich einmal. Es ist eine rein praktische Frage. Nimm sie auch so. Vielleicht hast du selbst schon an etwas Ähnliches gedacht?«
»Zuweilen habe ich daran gedacht,« gestand die Frau zögernd.
»Also! – Ohne Verbindlichkeiten für die Zukunft, so wenig von deiner wie von meiner Seite.«
»Nein.« rief Martha hastig. »Es geht doch nicht! Ich kann mich nicht dazu entschließen!«
»Sage mir offen deine Gründe – wir reden ruhig darüber.«
»Du wirst lachen, wenn ich sage: mein armes eingeschränktes Leben ist mir wert geworden. Ich mag's nicht aufgeben. Wie es war, war's harmonisch – friedlich.«
»Kann unser Zusammenleben nicht auch friedlich sein? Ich hoffe es. Für Kampf bin ich nicht mehr gestimmt – wenigstens nicht für einen Kampf mit dir!«
»Ach, Franz – das sagt man so. Nachher ist's doch anders. Jeder will etwas für sich und der andre weiß nichts davon und will das Gegenteil. Und so quält man sich . . .«
»Wir müssen eben nicht zu viel wollen – wir beiden Alten,« sagte Rolfers und lächelte in sich hinein, wie Martha fand, ein wenig kühl und spöttisch.
»Mit dem Jungen ist's anders. Der soll nur wollen! Für ihn fällt doch manches Gute dabei heraus. Die neue Umgebung – Ein frisches Stück Welt . . . Etwas sperren wird er sich anfangs . . .«
»Wenn ich ihm sage, er soll es mir zuliebe tun, dann tut er alles,« antwortete Martha in glücklichem Mutterstolz.
»Damit sprichst du sehr viel aus, Martha,« sagte Rolfers. »Ein besseres Erziehungsergebnis haben, glaube ich, auch die größten Pädagogen niemals angestrebt. Ich wünsche dir Glück dazu! – Nun wollen wir den Brief an Lütjes aufsetzen . . . Es sind zwei hübsche Zimmer mit Morgensonne da, die sollen sie für dich und Richard herrichten! Paß auf – es gefällt dir, mal wieder auf dem Lande zu sein!«
»Es wird mir schon gefallen,« sagte Martha Lebus, und über ihr Gesicht verbreitete sich eine junge frohe Heiterkeit.
Die erste Begegnung von Franz Rolfers mit seinem Sohn fand bei der Abreise in Berlin statt. Sie begrüßten einander auf dem Bahnhof wie zwei Fremde, die durch äußere Zufälle gezwungen sind, miteinander zu verkehren. Während der Fahrt beachtete Rolfers den Knaben kaum, der hartnäckig aus dem Fenster schaute. Er ließ es ruhig geschehen, daß Richard ihn, wenn die Gelegenheit eine Anrede forderte, »Herr Professor« oder »Herr Rolfers« nannte. Es widerstrebte ihm durchaus, Ansprüche auf irgendwelche Vaterrechte zu erheben, er, der seine Vaterpflichten, solange es ihm bequem gewesen war, gänzlich außer acht gelassen hatte. Er hätte auch kaum gewußt, wie er Vaterwürde darstellen sollte.
Zunächst enttäuschte ihn Richards Äußeres ziemlich stark. Er hatte unwillkürlich ein Abbild der eigenen Persönlichkeit erwartet, nur mit dem Reiz der Jugend neugeschmückt –: eine schlanke geschmeidige Gestalt, ein feines, durchgeistigtes Gesicht. Aber der Junge war nur eben mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, und bewegte sich linkisch ungeschickt. Er schlug wohl ganz in die Familie der Mutter, mit der etwas breiten wendischen Nase. Von ihr selbst hatte er das gute Lächeln, das eigentümlich sonnig zuweilen über sein stubenblasses Gesicht flog, wenn er zu ihr sprach. Rolfers bemerkte mit Vergnügen, daß er ihr eifrig die Tasche abnahm und sich ihr in jeder Weise gefällig erwies. Das war ihm vorläufig wertvoller, als hätte sich Richard ihm gegenüber allzu dienstbeflissen gezeigt. Er achtete den Stolz seiner Zurückhaltung.
Bei der langen Schlittenfahrt über die sturmumsauste Landstraße und später durch die tiefen, von Buschwerk begrenzten und geschützten Hohlwege, die Knicks der holsteinischen Gegend, weilte sein Auge doch häufig beobachtend, nachdenklich auf der kleinen Gestalt, die ihm gegenüber in einen Lodenmantel gewickelt, die graue Sportmütze über die Ohren gezogen, auf dem schmalen Rücksitz das Gleichgewicht zu halten suchte, und sich nicht rührte, wenn dem Professor die schützende Decke herabglitt, von Martha immer wieder festgestopft werden mußte. Rolfers hatte vorhin einen hellen Blick aus dem wenig hübschen Knabengesicht blitzen sehen, den er gern einmal aufgefangen hätte. Aber Richard vermied es energisch, seinem Auge zu begegnen.
– Ob das störrische junge Kalb wirklich die Kraft haben wird, mich in diesem grauenvollen Leben festzuhalten? dachte der Mann. Einen zähen Kampf wird's kosten, es nur zutraulich zu machen. Das mochte ihn immerhin ein paar Monate fesseln. Bis dahin würde man auch wissen, ob Deutschland in seinem Gigantenkampf Sieger bleiben würde. Ehe man nicht diese eine von allen Gewißheiten mit sich nehmen konnte, eher hätte man doch nicht von hinnen gehen können.
So zog denn eine schweigsame Gesellschaft in das am Ende des Dorfes gelegene Landhaus. Seine Fenster blickten über einen schmalen Vorgarten und einen Sandweg auf eine kleine beschneite Wiese, die von hohem Heckengestrüpp umgeben war. Einzelne Schneeklumpen hingen wie weiße Blumen in dem dürren Geäst. Das Haus wagte keineswegs den Anspruch einer modernen Villa. Es war einfach ein niederes Kätnerhaus mit einem höheren, mehrere geräumige Zimmer und eine Glasveranda enthaltenden Anbau. Zottiger Efeu, der alles überwuchs, verband die beiden Gebäude zu grüner Einheit. Rolfers führte Martha in die für sie bestimmten Zimmer und ergötzte sich an ihrer durch Befangenheit schimmernden Freude über die hübschen, behaglich eingerichteten Räume. Unterdessen hatte sich Richard von den Erwachsenen entfernt und streifte schon durch den Garten. Hier standen Gruppen von edlen Tannen, hohen Lebensbäumen und immergrünen Stechpalmengebüschen. Inmitten eines Rasenplatzes hob ein Tulpenbaum seinen glatten, buntgefleckten Stamm und die schöngebaute Krone vornehm, ungehemmt in die winterlich graue Schneeluft. Am Ende des parkartigen Teiles lagen Gemüsebeete, von gradlinigem, buchsbaumumsäumtem Weg durchschnitten. Hinter der abschließenden Tannenhecke begann gleich das Torfmoor. Das frühere Kätnerhaus barg nur die Küche und zwei Wohnräume für das Ehepaar Lütje. Vor seiner niederen Tür gab es noch einen uralten moosbewachsenen Ziehbrunnen. Jenseit des Hofes fand er den Stall für das braune Pferd, für ein paar Schweinchen, für Hühner und Enten, deren Zucht das besondere Tätigkeitsfeld der alten Frau mit dem schwarzen Tuch um die weißen Scheitel und dem winzigen Zäpfchen am Hinterkopf zu sein schien, denn sie kam, während Richard dort stand, mit einem Napf voll Futter für das Federvieh und nickte dem Jungen freundlich zu, während er aufmerksam das eifrige Getümmel der Hennen um die ausgestreuten Körner beobachtete. In der Scheune stand zwischen Hafersäcken, Zaumzeug und Gartengerätschaften ein leichtes Sommerwägelchen. Lütje putzte den Schlitten, der sie von der Bahnstation hergeführt hatte.
– – Es war Martha Lebus keineswegs leicht gefallen, ihren Sohn zu einer Übersiedelung in Rolfers' Haus zu bewegen. Sie mußte sich fragen, ob sie ihren Einfluß auf ihn nicht bedeutend überschätzt habe. Er war empört und zürnte tief mit seiner Mutter, daß sie hinter seinem Rücken die alten Beziehungen wieder angeknüpft und sogar gepflegt hatte. Er nannte sie schwach und erbärmlich, von Rolfers auch nur ein Stück Brot anzunehmen! Was –? sie sollten ihm so geradehin gehorchen, dem Manne, der sie schmählich verlassen hatte, nun er sie herrisch wieder zu sich rief, weil er sie gerade brauchte? Richard berauschte sich förmlich an zornigen höhnischen Worten, – seine Mutter hatte ihn noch niemals zuvor so leidenschaftlich bewegt gesehen. Aber sie hatte ja ein mächtiges Gegengewicht gegen alle seine heftigen Reden: die Dankbarkeit, die man den verwundeten Helden des Vaterlandes schuldig sei, und vor der jede, aber auch jede persönliche Empfindlichkeit zu schweigen habe. Vor diesem Einwurf mußte er verstummen, hier lag der Grund, der ihn mit einemmal bewog, sich nicht länger zu widersetzen. Keinesfalls wollte er sich aber durch die größere Bequemlichkeit der Lebensführung, oder durch reichlicheres und feineres Essen und solche Erbärmlichkeiten verführen lassen, aus herber Abgeschlossenheit herauszutreten. Das sollte sich dieser Professor nur nicht etwa einbilden. Mit so kindischen Mitteln war er nicht zu fangen. Übrigens handelte es sich seiner Ansicht nach wohl nur um die Mutter. Er wurde als lästiges Anhängsel eben geduldet. Beides schien ihm gleich empörend. Er beobachtete Rolfers mißtrauisch, konnte aber nichts andres bemerken als eine gleichmäßige Höflichkeit im Betragen gegen die Mutter. Donnerwetter, wär's anders gewesen, er war zu manchem fähig und hätte diesem Professor schon seine Meinung sagen wollen! Es würgte ihn zuweilen fast, wenn er sah, wie Martha dem Mann mit liebevoller Demut diente – ihm hilfreich zur Hand ging, ihm das Fleisch zubereitete, das Obst schälte, den Wein einschenkte. Durch diese innerliche Wut bestärkte Richard sich dann wieder recht in dem Vorsatz, sich nicht gehen zu lassen, auch von den guten Speisen, die ihm vorzüglich schmeckten, nie zum zweitenmal zu nehmen, überhaupt nur gerade so viel, wie er notdürftig gebrauchte, zu essen. Leicht wurde ihm das nicht immer, denn die starke Luft dieses zwischen zwei Meeren gelegenen Landstriches brachte ihm einen ungeahnten gesunden Appetit, und der Professor wie die Mutter waren so grausam, ihm noch tüchtig zuzureden.
Vieles reizte auch seine Neugier in den Zimmern, die wohl ländlich einfach, doch mit selbstverständlichem künstlerischen Geschmack eingerichtet waren und manches merkwürdige Stück an volkstümlichen Schnitzereien und Webearbeiten, an seltsamen alten Büchern und fremdländischen Gegenständen enthielten. Hundertmal wollte ihm eine Frage nach Ursprung und Herkunft, nach Beziehung und Verwendbarkeit der Dinge über die Lippen springen und er mußte energisch die Zähne zusammenbeißen, um sich nicht gehen zu lassen. Am schlimmsten war es immer, wenn am frühen Nachmittag mit Geklirr und Gerassel die altertümliche Postkutsche durchs Dorf wackelte und Lütje geschickt wurde oder er selbst dahin stürmte, die neuen Zeitungen zu holen, und er dann nicht mit Mutter und dem Professor reden konnte über all die ungeheuren Taten, die draußen geschahen, sondern so stumm und abseits stehen mußte. Es war schon mit solchen Gelübden eine bittere Sache!
Dann wieder sagte er sich, daß er sich mit dem Manne doch nie verstehen würde. Für einen, der dabei gewesen, schien er Richard viel zu ruhig, ja von einer bittern, harten Gleichgültigkeit, die den Jungen empörte. Er konnte, wenn beängstigende oder glorreiche Nachrichten kamen, die gedruckten Blätter schweigsam beiseite legen und ohne ein Wort zu reden halbe Stunden lang vor sich nieder starren. Das war dem Jungen unheimlich.
Am liebsten trieb er sich draußen im Garten und Hof, in Stall und Scheune herum. Da fand er eine höchst anziehende Welt. Mit dem alten Lütje hatte er sich schnell angefreundet und ließ sich von ihm nicht nur in holsteinischem Plattdeutsch, sondern auch im Füttern und Aufzäumen der Liese unterrichten. Verwundert stand er vor dem Ziehbrunnen, schaute, von Märchenschauern durchströmt, in seine enge dunkle Tiefe, auf deren Grunde das Wasser leise glänzte, und lachte, wenn der hohe ungefüge Schwengel bewegt und die vor Alter kohlschwarzen Ledereimer an einem Strick herabgelassen wurden, um gefüllt, langsam wieder heraufzusteigen. Eiskalt und klar war das Wasser und schmeckte ein wenig nach Stahl, als käme es aus dem geheimnisvollen Mittelpunkt des Erdinnern und trüge etwas von Urkraft in sich. – Es war ihm täglich ein neues Entzücken, früh im Dunkelgrau des Wintermorgens sich auf den Bocksitz des kleinen Korbwagens zu schwingen und unter Leitung des alten Kutschers die Zügelführung zu lernen, mit der Peitsche zu schnippen, die vorsichtige Liese zu schnellster Gangart anzuspornen und mit einem kühnen Bogen vor der altertümlichen Wirtschaft des Städtchens vorzufahren, wo die Liese untergestellt wurde, während er selbst sich den Wissenschaften zuwandte, die ihn zu dieser Zeit freilich das am wenigsten Wissenswürdige von allen guten Dingen der Erde dünkten. Auch die Schuljungen langweilten ihn. Mit der schweren verschlossenen, etwas hinterhältigen Art dieser niederdeutschen Bauern- und Gutsbesitzersöhne wußte er nicht viel anzufangen. An Lebenserkenntnissen war er ihnen weit voran. Machte er eine Bemerkung, die ihm selbstverständlich schien, so begriffen sie ihn gar nicht, steckten hinter seinem Rücken die Köpfe zusammen und lachten. Auch wenn er begeistert neu entdeckte, was ihnen Altgewohntes war, und es nun plötzlich von einer ganz andern Seite beleuchtete und betrachtete, die ihnen gesucht und sonderbar vorkam. Hellauf loderte seine Freude an allem, was sich bewegte, wuchs, lebendig war in Tier- und Pflanzenwelt. Er konnte versunken stehen und den gefleckten Kühen nachschauen, die am Morgen durch die stillen Stadtstraßen getrieben wurden, und darüber den Schulanfang versäumen. Er brachte am liebsten selbst jeden Tag den Schweinen das Futter und sah ihre gierigen Rüssel wühlen. Er starrte mit einer Eindringlichkeit seiner hellen dunkelbewimperten Augen in das faltige scharfgeschnittene Gesicht eines Bauern, daß der Alte verlegen und geärgert sich brummend umwandte, als könne dieser Knabenblick ihm etwas von seinen Geheimnissen stehlen, auf unbegreifliche Weise ans Licht bringen, wieviel Geld er auf der Sparbank liegen hatte, oder sonst Dinge ergründen, die nicht jeder zu wissen brauchte.
Rolfers hörte im Nebenzimmer oft mit Vergnügen auf die frische Stimme, die so übersprudelnd eifrig, von lautem, herzlichem Lachen unterbrochen, der Mutter berichtete, was Richard Ungewohntes und Kurioses begegnet war. Er hütete sich, die beiden durch sein Erscheinen zu jähem Verstummen zu bringen. Es war ihm Bedürfnis, viel allein zu sein, die Schmerzen, die ihn noch häufig plagten, mit sich selbst abzumachen, auch wollte er Mutter und Sohn Gelegenheit geben, ohne seine störende Gegenwart in Haus und Garten heimisch zu werden. Das mußte wohl geschehen, ehe er daran denken durfte, die trotzige Abgeschlossenheit, in der sich der Junge sichtlich gefiel, geradezu anzugreifen. Zuweilen aber wurde er ungeduldig.
Ihn, der keineswegs Anlage zu Gefühlsseligkeit hatte, bewegte es dennoch eigenartig, wenn er durchs Dorf zur Post ging oder sonst einen Geschäftsweg besorgte, und die Landleute, die niemals, und am wenigsten in dieser Gegend zur Höflichkeit neigen, beim Anblick seines leer niederhängenden Ärmels mit linkischer Ehrfurcht die Mützen zogen. Die Jungen standen stramm, schrien Hurra, wo er vorüberging, oder sprangen herzu, ihm hilfreich eine Tür, ein Gatter zu öffnen. Frauen traten näher, fragten, wo er sich »das« geholt – und »Ihrer« sei auch dabei, und wann er meine, daß der Friede käme, als habe die Tatsache seiner Verwundung genügt, ihn mit hellseherischen Kräften auszurüsten. Andre brachten ihm die letzten Äpfel, die ersten frischen Eier ins Haus oder ein altes Huhn zu einer kräftigen Fleischbrühe. Rolfers hatte niemals viel Verkehr mit den Dorfleuten gepflegt – er hatte vor allem frei und unbelästigt in seinem Häuschen leben wollen – er wußte auch jetzt gut genug, daß diese Zeichen von Liebe und Freundlichkeit kaum seiner Person galten, sondern aus einem warmen Empfinden der Dankbarkeit gegen die Schützer des Vaterlandes gegeben wurden. Dennoch taten sie ihm seltsam wohl und verbanden ihn fester mit den Menschen, die um ihn her unter den alten grünbemoosten hohen Strohdächern wohnten. Sein Gruß wurde herzlicher. Hier und da blieb er selbst stehen, mit den Alten, die auch die Söhne an der Front hatten, eine Zwiesprache anzuknüpfen, nach Briefen zu fragen, Erklärungen zu geben, soweit er es vermochte, Nachforschungen über Verwundete und Vermißte in die richtigen Wege zu leiten. Ging er aus dem Haus, fühlte er sich unter Freunden, und es bedrückte ihn nachgerade mit einer unerträglichen Spannung, daß der eigene Sohn in ihm nur den »Feind« zu sehen vermochte. Dabei war es weniger Richards unfreundliches und kaltes Wesen, was ihn bekümmerte, sondern vielmehr die Unfähigkeit des Jungen, sich aus dem Persönlichen zu einer höheren und stärkeren Anschauungswelt aufzuschwingen.
Vom Kommandeur seines Regimentes war ihm schon in Frankreich bei einer Gelegenheit, in der die Kompagnie sich ausgezeichnet hatte, das Eiserne Kreuz zugesagt worden. Dann kam seine Verwundung mit dem hierdurch bedingten mehrfachen Wechsel des Ortes. Rolfers glaubte die Angelegenheit längst vergessen und tat auch keine Schritte, sie wieder in Erinnerung zu bringen. Da wurde ihm das Kreuz durch den Oberst seines Regimentes im Auftrage des Generals doch noch übersandt. Er ging hinüber in das gemeinsame Eßzimmer, wo er Martha und Richard hörte, um der Frau das Ehrenzeichen zu bringen und sie zu bitten, ihm das schwarzweiße Bündchen im Knopfloch zu befestigen. Dabei wußte er genau, er tat dies nur für den Knaben.
Richard kam näher, nahm das Kreuz, während es auf dem Tisch lag, in die Hand und blickte nachdenklich darauf nieder. Doch legte er es dann wieder hin, warf einen scheuen glänzenden Seitenblick auf Rolfers und beschäftigte sich mit etwas anderm, ohne ein Wort herauszubringen.
»Du bist doch ein rechter Stoffel,« schalt Martha. »Kannst du nicht dem Onkel Glück wünschen?« Sie hatte den Ausweg dieser Bezeichnung für die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen gefunden.
»Na, das hat doch beinahe jeder,« knurrte der Junge als Antwort. »Was ist denn da weiter dabei!«
»Richard, wie kannst du nur so ungezogen sein – ich muß mich ja für dich schämen,« rief die Mutter und hatte Tränen in der Stimme.
»Laß nur Martha,« sagte Rolfers ruhig. »Er hat ja ganz recht. Es ist wirklich nichts andres als ein Erinnerungszeichen, daß man seine Pflicht getan hat. Man hat noch andre.«
Richard zog die Mundwinkel verächtlich herab. Er hatte sicher erwartet, etwas Pathetisches aus Rolfers' Mund über das Eiserne Kreuz zu hören, hatte sich bereits innerlich dagegen gewappnet, und es kränkte ihn, daß nun nichts dergleichen kam.
»Der Kerl hat natürlich nicht das mindeste patriotische Gefühl,« so ging es durch des Knaben Hirn. »Pfui, wie widerwärtig ist mir diese herablassende Kälte!«
Und er schlenderte hinaus zu seinem Freund Lütje, die Tür mit beträchtlichem Knall zuschlagend.
Rolfers trat neben die Mutter und strich leise über ihr Haar. Es war die erste sanfte Berührung, seit sie zusammen hausten.
»Geduld, Kind,« sagte er. »Schnell gehen solche Eroberungen niemals. Auf eine gute Portion kindischer Ungezogenheit habe ich mich gefaßt gemacht. Das tut gar nichts zur Sache. Nur bitte ich dich, schilt den Jungen nicht, sonst wird er vollends verstockt.«
Martha seufzte. Sie litt unter der Beklommenheit, die von ihrem Zusammenleben nicht weichen wollte. Es hatten sich eine Fülle von Hoffnungen in ihrem Herzen geregt, und nun schien keine zur Blüte kommen zu wollen. Sie hatte recht behalten mit ihren Befürchtungen. War es nicht tausendmal gemütlicher gewesen, als sie und ihr Junge in der zweizimmrigen Berliner Gartenwohnung fröhlich hausten und sich lieb hatten? Was trug das Opfer, das sie mit ihrer Seele Verzeihung dem Manne – und wie sie hoffte, auch ihrem Knaben – gebracht hatte, nun für Früchte? Keinem von ihnen schien etwas Gutes daraus zu erwachsen. Jede beliebige Hausdame oder Pflegerin konnte das leisten, was sie für Franz Rolfers tat. Wenn er nicht mehr verlangte? Aber er schien sehr genügsam. Ein verschlossener Einsiedler war er geworden in der langen Zeit ihrer Trennung.
– – Oder sollte er doch irgendwo fest gebunden sein. An eine Frau, gegen die er viele und zarte gesellschaftliche Rücksichten zu nehmen hatte? Demütigte sie sich am Ende ganz umsonst? Er schien seine Korrespondenz offen vor ihr auszubreiten, sprach rückhaltlos mit ihr über alle seine geschäftlichen und pekuniären Angelegenheiten. Aber daneben übte er sich doch fortwährend im Schreiben mit der linken Hand. Ersehnte er vielleicht ungeduldig den Augenblick, wo er einem geliebten Wesen endlich die erwünschten Nachrichten von sich selbst ohne die Vermittlung eines Dritten geben konnte?
Hatte er in dem hübschen, geschmackvoll eingerichteten Zimmer, in dem sie wohnte, in dem Bett, in dem sie schlief, hin und wieder weibliche Besuche beherbergt? Der alte Kutscher mußte davon . . . die weißhaarige Frau in dem Blaudruckkleide, die in der Küche mit dem Geschirr klapperte, hätte ihr Auskunft geben können. Aber es wäre Martha Lebus eine Unmöglichkeit gewesen, sie auszuforschen. Nein, Rolfers' Leben in der Zwischenzeit, seitdem er sie verließ, gehörte ihm, – wie ihr das ihre. Niemals hatte er sie gefragt, ob andere Männer ihr nahegetreten waren. Es kränkte Martha, daß er davon nichts wissen wollte. Warum eigentlich hatte sie sich in den vielen Jahren so brav gehalten, wenn es ihm gleichgültig war?
Im Oberstock des Hauses hatte schon der frühere Besitzer ein geräumiges Giebelzimmer zum Atelier ausgebaut. Jetzt blieb es verschlossen. Rolfers hatte in diesem Winter noch nicht einmal die Treppe, die nach oben führte, betreten.
Eines Nachmittags in der Schneedämmerung brachte der Fuhrmann zwei Bilderkisten, die ihm von einer geschlossenen Ausstellung zurückgesandt wurden. Lütje schleppte sie hinauf und rief Richard zu, sich den Schlüssel zum Atelier von Herrn Rolfers geben zu lassen und ihm die Türe zu öffnen. So betrat Richard die Werkstatt seines Vaters – zum erstenmal sah er die Werkstatt eines Künstlers.
»Lütje, haben Sie das Atelier wieder zugeschlossen?« fragte Martha.
»Nee, der Richard ist noch oben!«
»Mein Gott – so lange . . . Ich will doch gleich . . . Hoffentlich gibt er keinen Unfug an!« rief sie besorgt.
»Nee – Unfug macht er nich – der guckt sich bloß die Bilder an,« brummte Lütje.
»Laß ihn,« entschied Rolfers.
»Er kann ja gar nichts mehr sehen – willst du nicht doch hinaufgehen?«
Rolfers machte eine ablehnende Bewegung und setzte sich ans Fenster in den alten Lehnstuhl, wo er gerne ruhte.
Nach einer Weile konnte die Mutter es nicht unterlassen, an die Tür zu gehen und hinauszurufen:
»Richard, wo steckst du? Komm zu mir!«
Rolfers schüttelte den Kopf.
»Könnt ihr Frauen denn nie begreifen, was ein erster Eindruck für einen Menschen bedeutet? Du liebst den Jungen – und gönnst ihm das nicht . . .«
»Ich ängstige mich, er könnte etwas fallen lassen oder verderben . . .«
»Und wenn schon – was liegt daran . . . Sehen möchte ich ihn – sein Gesicht – wie er da herum geistert . . .«
Martha hatte ihren grauen Soldatenstrumpf wieder vorgenommen. Die Nadeln klapperten hastig, von unruhigen Fingern gerührt. Sonst hatte ihr Richard stets gehorcht . . .
Nach einer Weile hörten sie ihn vorsichtig die Treppe hinuntertappen, durch den Flur schleichen, die Haustüre aufklinken.
»Er sollte doch zum Tee kommen,« bemerkte die Mutter.
»Nein, er soll jetzt nicht zum Tee kommen – laß ihn laufen, er soll mit sich allein sein.« Rolfers beugte sich vor, hob die Gardine und blickte der kleinen Gestalt nach, die eilig am Gartengitter hinstrich, um die Ecke bog, den einsamen Weg zum Moor einschlug. Als er wieder ins Zimmer zurückschaute, wo die Frau inzwischen die Lampe angezündet hatte, glänzten seine Züge warm und freudig.
»– Ich werde nie vergessen, wie selig ich war, als ich zuerst in ein Museum kam – meine Mutter nahm mich eines Tages unverhofft mit in die Stadt und ging mit mir hinein! – Wie besoffen bin ich vier Tage lang herumgelaufen – kriegte Tadel über Tadel in der Schule, weil ich nicht aufpaßte – ja – ich weiß noch – ein kolossaler Schinken von Rubens mit so 'nem springenden Löwenbiest und einer fetten Frauensperson – der überwältigte mich ganz und gar – jetzt finde ich ihn scheußlich – es war einfach die Kraft, die Üppigkeit, die mich da so anschrie . . .« Er lachte gutlaunig, indem er sich in seine Jugenderinnerungen vertiefte. »Damals ging mir's zuerst auf, daß ich Maler werden müsse . . .«
Martha fragte weiter und ließ sich erzählen, während sie ihn mit Tee versorgte und ihm Zigaretten und Feuer brachte. Es waren immer ihre liebsten Stunden gewesen, wenn er so ins Plaudern geriet – es geschah schon früher selten genug und war allemal ein Zeichen von besonders guter Stimmung. Plötzlich kam ein Punkt, wo die Gegenwart sich wieder unerbittlich, gespenstisch vor die heitere tatenfrohe Vergangenheit schob. Und der Mann verstummte, lag im Stuhl, in einen blauen Rauchdunst eingehüllt, und träumte von unwiederbringlichem Glück ungehemmten Schaffens. Musikalische Erinnerungen stiegen in seinem Hirn auf, aus den Melodien, wie sein inneres Ohr sie hörte, stiegen Farben empor, fügten sich symphonisch ineinander, Linien glitten als Leitmotive hinein, wollten etwas von ihm, seine Phantasie spann sie zusammen zu Entwürfen. – – Rolfers blickte ihnen nach, wie sie entstanden und mählich zerrannen . . .
Der Professor gab Lütje den Auftrag, den Atelierraum zu heizen. Nach dem Mittagessen sagte er in seiner kurzen Weise zu Richard:
»Die Bilder müssen ausgepackt und neu verschickt werden. Du kannst nachher mit hinaufkommen und mir helfen.«
Das Gespräch beschränkte sich auch oben in dem verstaubten, mit Skizzen, Zeichnungen behängten, mit beiseite gestellten Leinwänden, mit Mappen, Flaschen, Farbentuben, Paletten und Staffeleien vollgestopften Raum auf die Anweisungen, die Rolfers dem Jungen gab. Er hantierte leidlich geschickt mit Schraubenzieher und Stemmeisen an den flachen Kisten. Rolfers sah ihm zu und hatte keinen Blick für alle Erinnerungen an geschaffene Werke, an Begonnenes, das nach Vollendung schrie.
Als Richard eines der Bilder aus der Kiste hob, hieß er ihn, es auf eine Staffelei stellen.
»Das ist unser Moor,« sagte der Junge erfreut.
»Woran erkennst du's?«
»Nu – hier doch, die große Eberesche und der Torfgraben. Das muß fein sein, wenn die Heide so blüht.«
»– – Ja – von einer tollen Farbigkeit – das Braun des Bodens steht famos zu dem Purpur der Blütenfläche. In manchem Jahr ist sie auch blasser – lila – Die Lufttöne sind hier immer so schwer und satt –«
»Das möchte ich sehen . . .,« rief Richard, dessen Blicke aufmerksam an dem Bilde hingen.
»Wirst du schon mit der Zeit.«
»Der Torfstecher . . . das ist ja der alte Timme – in dem Häuschen, wo das viele Moos auf dem Dache wächst – der sitzt immer so dösig vor der Tür . . .«
»Ja – dösig ist er – hat 'en Blick wie ein altes Tier, das eben aus 'm Moor rausgekrochen ist. Warte mal, – irgendwo müssen hier herum die Studien zu dem Bild sein – daraus kannst du sehen, wie so was wird.«
Der Junge stand verlegen, während Rolfers in den Mappen blätterte. Eilig sprang er zu, die bezeichnete auf den großen Tisch zu tragen. Rolfers nahm Blatt auf Blatt heraus – erklärte, sprach über seine Pläne, Versuche, erörterte die Unterschiede zwischen Bild und Studie, über Raumverteilung und Perspektive – über künstlerische Abgrenzung als Geschmacksfrage . . . Er dachte kaum noch daran, daß er einen Knaben vor sich hatte, dem das alles böhmische Dörfer sein mußten. Er redete geistreich, bildhaft und treffend, wie er vor seiner Malklasse von herangewachsenen Akademieschülern gesprochen haben würde. Dabei ging er in dem Atelier hin und her, belegte seine Ausführungen an dem Vorhandenen, auch an Farbenskizzen von Kollegen mit sinnfälligen Beispielen.
»Interessierst du dich eigentlich für diese Dinge?« fragte er, sich unterbrechend.
Rolfers lächelte. Einen so quellklaren Blick hatte Martha zuweilen haben können – wenn sie ihm entgegenkam, bebend vor Liebe und Zärtlichkeit, seine Umarmung, seine Küsse erwartend. Sonderbar, wie tote Dinge aufleben konnten und dann doch so neu und anders wurden . . .
Eine Stille war entstanden, in der Rolfers die Stimme des Knaben hörte, scheu und heiser vor Erregung:
»Ich möchte Ihnen mal was zeigen – na – es ist nischt – ich weiß schon . . .«
»Also – hol's und dann werden wir sehen!«
Er schoß unten durch das Wohnzimmer an seiner Mutter vorüber: »Du – er will meine Skizzen sehen . . .«
Sie sah die leuchtende Geistesschönheit, die das junge Gesicht durchglühte – nein so – so hatte sie ihren Jungen nie vorher geschaut.
Ein Schmerz, der sie völlig schwindlig machte, rann ihr vom Herzen bis in die Fingerspitzen.
Warum ließ ich seine Macht wieder in unser Leben hinein? dachte sie voller Haß.
Nun wurde Richard der Schüler seines Vaters. Der war ihm ein harter Lehrer. Oft hätte der Junge den Sonntagmorgen tausendmal lieber verträumt, verbummelt, wäre ziellos im Dorf und in der Umgegend herumgestreift. Das gab's nicht mehr. Die karge Zeit, die von den Schulpflichten übrigblieb, mußte ausgenützt werden. Das Schlimmste für Richard war: er sollte noch einmal ganz von vorn anfangen. Malkasten, Pinsel und Farben beiseite lassen – nur zeichnen, mit Kohle, mit Rötel, mit Bleistift – aber immer nur zeichnen. Das fand er demütigend und philisterhaft. Er lehnte sich innerlich dagegen auf und bereute oft genug, daß er Rolfers in seine Arbeiten hineinschauen ließ. Es war ein liebes Träumen und Versuchen gewesen bisher, ein Ausfüllen von Mußestunden. Was arbeiten heißen wollte, lernte er jetzt erst.
Beim Durchblättern seiner früheren Skizzen hatte er eines Tages die mühselig hingekritzelte »4« auf der sauberen Schulzeichnung entdeckt und sich seine Gedanken dazu gemacht. Der Professor hatte seine Arbeiten also schon früher gesehen . . . Na ja – die Mutter hatte es wohl nicht lassen können, mit ihm zu renommieren.
Aber wie war denn das – sollte etwa doch das Interesse an seinen, an Richards eignen Arbeiten bei der Einladung des Professors irgendeine Rolle gespielt haben? Sollte es nicht nur die Mutter und ihre Pflegedienste gewesen sein? Bezog sich hierauf am Ende die Bemerkung des Professors: »Merke dir eins, mein Junge – beleidigen können mich deine Ungezogenheiten gar nicht –! Es kommt weder auf dich noch auf mich bei unserm Zusammenleben an – sondern nur deine Ausbildung ist von Wichtigkeit. Die deutsche Kunst ist das Wesentliche – nicht der einzelne Mensch und seine Gefühle oder Stimmungen!«
Solche Aussprüche ärgerten Richard wütend und er nahm sich dann erst recht vor, seinen Haß und seine Verachtung in einer wohlverschlossenen Herzenskammer sorgfältig aufzuheben.
Zufrieden war Rolfers ja doch nie mit seinen Leistungen, also warum eigentlich dieser wiederholte Hinweis auf eine Kunst, in der er, Richard, doch nie ein Meister werden würde.
Der Professor war der Mann, der zu beweisen verstand, warum er nicht zufrieden war. Er zeigte dem Jungen Bilder, Skizzen, Reproduktionen von Handzeichnungen bedeutender Meister alter und neuer Zeit – machte ihm an der Hand von Tatsachen klar, wie die Kerls geschuftet hatten – manchmal, um nur eine Hand, einen Faltenwurf herauszukriegen, wie sie es gewollt hatten. Die Schluderei und Verrohung vieler junger Talente sah er in dem Mangel an langsamer sicherer Ausbildung der Grundlagen, an der Nachlässigkeit gegenüber dem Handwerklichen. Er konnte hinreißend sprechen, wenn er in Eifer kam, und dann hörte Richard ihm mit glühendem Herzen zu, und der Eifer, der Wille lohte himmelhoch in ihm auf.
Die langen Abende des Nachwinters, der nach linden Februartagen noch einmal mit Schnee und Frost übers Land gekommen war, saßen sie mit Mappen und Blättern unten im warmen Wohnzimmer, weil der Sturm so heftig durch die großen Atelierfenster gepfiffen hatte, daß sie beide vor Kälte zitterten und sich Husten und Schnupfen holten. Martha legte Torfstücke in den großen Kachelofen oder strickte graue Soldatenstrümpfe, die Beschäftigung aller deutschen Frauen und Mädchen. Sie war schon froh, nicht mehr allein sitzen zu müssen im feuchten Modergeruch, der mit den Nebeln vom Moor durch alle Wände drang, und mit den Mäusen, die ihr über die Füße liefen. Sonst hatte sie ja wenig von der Gesellschaft. Sogar Richard wies ihre Versuche, das Gespräch auf Bahnen zu lenken, auf denen sie sich heimischer fühlte, heftig und nachdrücklich zurück. Martha wurde innerlich erschüttert von dieser Ablehnung. Niemals zuvor schien es ihr, daß Richard rücksichtslos gegen sie gewesen sei. Jetzt ahmte er ja geradezu den Ton des Professors nach. Übrigens täuschte sie sich, Richard war immer ziemlich kurz und geradezu gewesen, wenn die Mutter ihm in seine Sachen hineinzureden versuchte. Aber dann pflegte er es wieder gutzumachen, indem er sie in den Arm nahm und hätschelte, wie man ein kleines schwaches Kindchen hätschelt. Er hatte schon früh diesen männlich behütenden Ton in seiner Liebe zu ihr, und ein klein wenig von oben herab. Es fiel ihr nur mehr auf, als sie nun so deutlich sah, wo diese seine Art herstammte. Früher war in ihr nur Rührung gewesen und ein fernes, liebes Erinnern. Nun empfand sie oft bitteren Ärger.
So wenn sie beide, der lange Professor und der kleine breitschultrige Richard, lachend in die Stube kamen von einem Gang durchs Dorf oder übers Moor und in den Wald. Sie fragte dann: »Was lacht ihr?« und Richard sagte verschmitzt: »Ach, Mutti, das ist nur was für Männer!«
Der Junge hatte die Entdeckung gemacht, daß Rolfers Sinn hatte für Schulgeschichten mit derber und meistens unanständiger Pointe. Wenn er sie in seinem Berliner Schuldeutsch erzählte – und das konnte er gut, dafür hatte er schon auf der Penne einen Namen, hatten die Jungens sich gewunden, und nun wollte auch der Professor sich ausschütten. Es brachte ihn ihm bedeutend näher. Er war doch ein feiner Kerl.
Auch über Mädels und was so die Jungens dachten, konnte man ungeniert mit ihm reden und er fragte nach diesem und jenem, wie es in seiner Jugend gewesen sei, und ob solche Einrichtungen und Sitten noch bestünden? Eigentlich fanden sie, sei alles ziemlich unverändert und es war, als herrschten immer noch ganz dieselben Lehrer. Der Schmuddelige, Gutmütige, mit dem man Ulk trieb, bis er wütend wurde und mit den Fäusten aufs Katheder hieb und schwitzte, der Elegante, der lächerliche Angewohnheiten hatte und der Sonntags mit feinen Damen spazieren ging, und der Strenge, bei dem man was lernte und vor dem man Respekt hatte. Alles war noch wie früher. Nur gehauen wurde in des Professors Jugend mehr. Es war ein alltägliches Vorkommnis, daß man sich feste Lehrbücher einknöpfte in die Buxen, übergelegt wurde und mit dem Rohrstock bearbeitet. Heute gab es eine große Geschichte und kam in die Zeitungen, wenn ein Lehrer sich so weit vergaß. Aber Poussaden gab es immer noch und die Jungens hatten ihre Flammen und manche trieben's widerlich. Richard hatte noch keine Flamme. Er machte sich nicht viel aus den Mädels.
»Es wird noch kommen,« tröstete der Professor. »Aber es wird nie die Hauptsache für dich sein. Unsereinem sind solche Geschichten immer nur Stufen zur Erkenntnis des Menschlichen. Durchgänge . . . Das Wirkliche bleibt für uns immer nur die Kunst.«
Über das Wort mußte Richard viel nachdenken. Unsereinem – hatte der Professor gesagt. Das schmeichelte dem Jungen stolz ums Herz.
Aber dann stieß er sich . . . Durchgänge –? War auf diesem Wege vielleicht die Erklärung zu finden für die Weise, wie Rolfers seiner Mutter gegenüber gehandelt hatte –? Seit Richard ihn kannte, schien ihm das Problem immer unbegreiflicher.
– Durchgänge – und das Wirkliche nur die Kunst? –
Nein, hier empörte er sich. Und ein Gedanke beschlich ihn, den er nicht auszudenken wagte: als habe eine göttliche Macht das zertretene Menschliche an dem unglücklichen Manne gerächt.
In den frühen Morgenstunden, wenn Martha Lebus ihrem Sohn vor der Schule das Frühstück zurechtmachte, während Rolfers noch schlief, da konnte es geschehen, daß eine Macht aus ihr heraus Dinge sprach, die sie nicht sagen wollte und doch sagte, in denen sie Rolfers' Ansichten angriff – ihn einen alten verbitterten Mann nannte, der niemand neben sich gelten lassen wollte – der bedeutend sei – wer hätte das bezweifeln können – aber dessen Urteil Richard doch nicht unbedingt trauen dürfe.
Zuweilen gab Richard ihr recht. Denn auch seine junge Unbedingtheit rieb sich an des Ältern Zersetzungslust. Dann küßten Mutter und Sohn sich zum Abschied wärmer als sonst und fühlten sich aufs neue froh vereint. Die Frau überkam gleich einer grausam triumphierenden Wollust das Bewußtsein, wie der Mann von ihnen ausgeschlossen jetzt so allein auf seinem Schmerzenslager ruhte und einsam den Kampf mit dem Schicksal ausfechten mußte.
Nach solchen Augenblicken diente sie dann dem Hilflosen mit doppelt wacher Aufmerksamkeit und vermehrtem Zartsinn, als habe sie eine heimliche Schuld an ihm zu sühnen.
In eine heftige Auseinandersetzung gerieten sie mit dem Professor über die sichtliche Nichtachtung, die Rolfers für Richards Leistungen in der Schule an den Tag legte. Martha warf ihm vor, daß er dem Jungen Sonnabends bei den Arbeiten in ausgiebiger Weise half, damit er den Sonntagmorgen frei hatte, daß er ihm französische Übersetzungen und mathematische Lösungen einfach diktierte und sich mit ihm über die Lehrer weidlich lustig machte. Es sei ein Unrecht, daß er Richard geradezu aufgefordert und mit tausend Gründen ermuntert habe, nur das Freiwilligenzeugnis zu erwerben, um dann vom Gymnasium abzugehen, nicht aber nach dem Abiturium zu streben, das für ihn nur Zeitvergeudung bedeuten würde. Solche leichtsinnigen Äußerungen müßten schädlich auf den Jungen einwirken, und sie müsse ihn dringend bitten, sie zu unterlassen. Sie habe für Richards Zukunft als Mutter die Verantwortung zu tragen. Ihr Ton war laut und zornig, eine heftige innere Gereiztheit fand ihre Entladung.
Rolfers antwortete, ob Martha nicht die erste gewesen sei, die es ausgesprochen habe, daß in dem Jungen ein Künstler stecke.
Ja, das habe sie zwar gesagt, gab sie zu, aber bei den unsicheren Zeiten scheine es ihr doch, als Rechtsanwalt könne er sicherer auf Brot und Verdienst rechnen.
Worauf Rolfers ein lautes kräftiges Gelächter anstimmte und meinte, das sei ohne Zweifel richtig, und der rechte Künstler sei immer auf irgendeine Art zu doppeltem Leiden in dieser Welt vorbestimmt. Aber ob ein Mensch dies nun auf sich nehmen müsse, darüber entscheide nicht Vater, nicht Mutter, nicht einmal er selbst, sondern eine höhere Gewalt, von der er nicht viel mehr zu sagen wisse, als daß sie eben auch das Schicksal der Menschen leite. Selten habe ihm ein Wort aus ihrem Munde so gefallen wie jenes: »Ich sagte nicht, er will Maler werden, sondern er wird es.« Sie solle doch gute tiefe Einsichten, die ihr einmal gekommen, nicht durch nachträgliches kleinliches Sorgen wieder zuschanden machen.
Da meinte sie denn nur noch, es sei doch besser, wenn Richard später regelrecht auf einer Akademie studiere, und dazu brauche er das Abitur gleichfalls. Sie entfesselte durch diesen Ausspruch Rolfers' kaustischen Hohn über die Akademien als die Brutstätten aller Mittelmäßigkeiten – eine Überzeugung, die ihm von seiner kurzen Lehrtätigkeit an einer dieser Anstalten geblieben war.
»Wenn der Junge sich so weiter entwickelt, wie er jetzt einen Anlauf nimmt, getraue ich mir auch noch mit einem Arm einen Meister aus ihm zu machen, der seinen Vater tüchtig überflügeln kann und ein wirklicher Gewinn für die deutsche Kunst werden soll. Aber du darfst mir nicht dazwischen pfuschen, Martha – das erwarte ich von dir. Merk dir's, Kind.«
Nannte Rolfers sie »Kind«, wurde der Frau ganz wund und weh ums Herz, tausend Erinnerungen, süße und traurige, fielen über sie her und machten sie schwach, so daß sie nur den Kopf schütteln und die Lider senken konnte, damit er die Tränen, die darunter brannten, nicht bemerkte.
Der Frühling kam spät und spärlich. Es war, als scheue er sich, seine friedevolle Blumenschöne hineinzuwerfen in all das Morden, Würgen und Bluten. Kalt wehten die Winde, Schnee und Regenschauer wechselten, die Hohlwege um Rolfers' Haus zwischen dem dürren Heckengeäst waren eine unergründliche Schlammasse, oder ein jäher Frost ließ sie glashart erstarren. Trotzdem hatte Rolfers keine Ruh mehr im Haus und versuchte in Richards Begleitung weitere und weitere Wanderungen.
Vater und Sohn hatten sich durch stachlichtes Tannendickicht gearbeitet, das von Feuchtigkeit triefte, giftgrün quollen die Moosflecke auf den Stämmen. Der Moderdunst dampfte aus braunem Farngekräut, aus den faulenden Blättern der Weißbuchen. Efeu und Waldrebe bildeten ein zähes nasses Gespinst, das Luft und Licht von der Tiefe abhielt. Überall glitschte der Fuß auf Schlüpfrigem aus.
Vor einem nicht hohen, aber steil niederstürzenden Abhang blieb der Mann keuchend stehen und lehnte sich fest gegen einen rissigen Stamm, den Schwindel zu überwinden, der ihn gepackt hielt. Wieder hatte er seine Kraft überschätzt. Es war lächerlich – erbärmlich – aber er wußte, daß er da nicht hinunter kommen würde, mit diesem Gefühl von Unsicherheit, von mangelndem Gleichgewicht, gegen das er fortwährend anzukämpfen hatte.
»Sie sind müde,« sagte der Junge. »Legen Sie doch die Hand auf meine Schulter. Ich nehme Ihren Stock und gehe langsam, damit ich nicht ausrutsche.«
Rolfers nickte ihm zu und folgte schweigend seinem Anerbieten. Vorsichtig, zuweilen als Halt nach einem Zweige greifend, schritt der junge Führer den bösen Weg hinab. Unten kamen sie in einen Eichenbestand. Der Sturm rauschte durch ihr dürres Laub, ihre Äste knarrten und stöhnten, abgerissene Zweige lagen auf dem fahlen Grase. Aus dem Dickicht hinter ihnen klangen Töne, als jammerten verfolgte Menschen in großer Qual.
»So denk' ich mir die Argonnen,« rief Richard atemlos. »Donnerwetter, wenn man sich vorstellt, daß es so von allen Seiten kracht und prasselt wie hier, und es sind Kugeln und Granaten statt dürrer Zweige.«
»Und man tritt in Leichen, statt in faulende Blätter. Nein, Junge, man kann es sich nicht denken, denn es ist unausdenkbar schauderhaft,« grollte Rolfers' Stimme. »Dies hier ist ja ein friedlicher Hain gegen die finsteren Moorwälder dort. Und die Angriffe nachts in der rabenschwarzen Finsternis, bei peitschendem eiskalten Regen, wenn man nicht weiß, hat man Freund oder Feind im Griff der Fäuste – man ringt mit wilden Tieren und wird selbst zum Tier. Was man von Schlachtenbildern gesehen hat – was man von früheren Kriegen in der Schule gelernt hat –- alles kindischer lächerlicher Kitsch gegen die Greuel von heute. Junge – für's Vaterland sterben – das klingt . . . Aber in so einem Mordwald liegenbleiben – von den Weiterstürmenden vergessen – und dann gleiten so die schwarzen Kerls von den Bäumen herunter und schleichen mit ihren langen Messern den Wald ab – jeden Augenblick denkst du, finden sie dich jetzt . . .? Und man tappt nach dem eigenen Messer – kann nicht dazu – kann nicht . . . liegt wehrlos da vor ihrer bestialischen Grausamkeit. Und wenn sie glücklich vorüber sind, der Durst, der wie die Hölle ist, der Hunger, das Rasen in den Eingeweiden, die Angst – und das kleine Viehzeug, was sich nun leise scheußlich in den eignen Wunden an die Arbeit macht . . . Junge, was unsere Leute da aushalten, das ist mehr, hunderttausendmal mehr als das Sterben fürs Vaterland –«
Richards Augen glühten den Mann an, der stehenbleibend so zu ihm sprach. – Er – er selbst hatte ja das gelitten, von dem er so objektiv erzählte. Es wühlte in des Jungen Zügen, es riß wie Schmerz und Lust an seinem Herzen. Sein glänzender Blick hing voll scheuer Andacht an dem leeren Ärmel – dort waren die Wunden, in denen die Würmer gehaust – er sah den Vater liegen im nassen eklen Geschling der modernden Pflanzen, sah die lehm- und blutbedeckte, zerrissene stinkende Uniform, sah einen grellen Mondstrahl durch die Finsternis über das schöne weiße qualverzerrte Gesicht tasten . . . Und fühlte den Krieg – fühlte jäh geoffenbart sein Entsetzen . . .
Rolfers' Mienen verfinsterten sich. Pfui Teufel, dachte er, als er des Knaben blasses Gesicht und seine Erschütterung bemerkte, was vollführe ich für ein Theater, um dem Bengel Eindruck zu machen . . .
»Komm weiter,« brummte er ungeduldig und ging, nun der Weg wieder eben geworden, mit langen Schritten voraus, dem Freien zustrebend. Am Waldrand warf sich ihnen der Sturm brausend entgegen. Über den Himmel jagten mit rasender Eile dunkle Wolken von riesigen Formen oder gestreckt, zerfetzt, auseinandergerissen von der Gewalt der Winde, die sie trieben. Dazwischen glänzte hartes helles Blau – die Landschaft leuchtete in einem jähen Licht weit hinaus, in starken kindlichen Farben: die blankgrüne Wintersaat, die fetten schwarzen frischgebrochenen Äcker, auf denen hin und wieder ein Alter seinen Pflug mit hageren Gäulen, die gleich ihm daheim geblieben, über die Breite führte. Und die sprießenden Moorwiesen, auf denen schon die schwarz-weißen Kühe zu weiden begannen, an der Waldecke das niedre Haus mit dem hohen grauen Rohrdach, wie eine ungefüge grün- und braungefleckte Haube, die an der Stirn das alte germanische Donnergotteszeichen trug. Um den Ziehbrunnen flachsköpfige Kinder spielend mit dem kläffenden Hündchen. Alles voll Heiterkeit und blitzendem Frohsinn.
Rolfers ließ seine Augen schweifen: »Dafür lohnte sich's schon,« sagte er. »Sieh, Richard, daß so was erhalten bleibt – still und friedlich bleibt – die Kinder spielen dürfen – das Hündchen kläffen, die alte Hexe in der Sonne sitzen kann – und die Felder so fröhlich blaugrün sich breiten – darum heißt es: fürs Vaterland sterben!«
Der Junge nickte stumm. Eine große Wolke fuhr herüber, nahm plötzlich allen Glanz und alle Lust aus der Landschaft fort, ließ nur den Kampf des Grau mit dem Grau. Er mußte seine Mütze packen, damit sie ihm nicht vom Kopf gerissen wurde. Gegen den immer stärker werdenden Sturm kämpften sie sich am Waldrand hin, bis sie die Ecke erreichten und in einer weichhingedehnten schönen Mulde das Dorf vor ihnen lag. Rolfers überlegte einen Augenblick. »Wir können hier noch ein Stückchen weiter gehen und ich zeige dir unser Schloß, einen famosen alten Barockbau. Der Graf wird im Felde sein und die Gräfin in Hamburg. Ich denke, wir können es ungestört besichtigen.«
– – ›Dort werde ich mir einen Stuhl geben lassen und eine Weile ausruhen‹, dachte er dabei, denn es schien ihm unerträglich, den Jungen noch einmal seine Erschöpfung merken zu lassen.
»Hast du schon einmal ein Schloß gesehen?« fragte er unterwegs.
»Na ja, natürlich, ich meine so ein feines Landschloß. Die gehören auch zu Deutschland, genau so wie die verrumpelten Waldhütten. Sollst schon sehen, wird dir gefallen.«
Die Wiesen bekamen ein gepflegtes Ansehen, einzelne schöne Baumgruppen gaben der Gegend einen parkartigen Charakter. Auf umfriedeter Koppel jagten sich ein paar braune Fohlen, die Richard mit ihren ungeschickten Sprüngen begeisterten. Der Hütejunge zog die schmierige Kappe und klatschte mit seiner langen Peitsche. Eine Allee alter Linden nahm die Wanderer auf. Sie endete in einem weiten Platz, auf dem das graue Schlößchen mit seinen Gartenanlagen, seinen Statuen und der geschwungenen Rampe sich vornehm genug ausnahm. Gewaltige Buchen und Kastanien mochten ihm im Sommer einen grünen Hintergrund bilden. Zur Seite zogen sich efeubesponnene Wirtschaftsgebäude um einen länglichen Hof.
Rolfers stieg mit dem Jungen die Rampe hinauf und zeigte ihm die Karyatiden, die das Wappen über dem Portale trugen, und die geflügelten Putten, die es umschwebten. Ein Diener sah aus einem Parterrefenster und grüßte.
»Sind Nachrichten vom Grafen da?« fragte Rolfers.
»Ja, es geht ihm gut. Aber der jüngste Bruder des Herrn ist gefallen. Die Gräfin-Mutter ist hier. Darf ich den Herrn Professor melden?«
»Nein – im Visitenanzug sind wir doch nicht. Ich glaubte die Herrschaften in Hamburg.«
»Sie sind gestern erst zurückgekehrt. – Die Frau Gräfin würde sich gewiß freuen!«
»Ich spreche in den nächsten Tagen vor. Auf Wiedersehen, Wilke.« Rolfers lüftete den Hut und ging mit Richard durch die Lindenallee weiter. Der Junge trat zwischen die Bäume und blickte noch einmal zurück auf die weite Wiese.
»Das möchte ich malen – – die komischen kleinen Viecher auf dem Grün . . .«
»Versuch's – geh morgen nachmittag her.«
»Sehen Sie mal – die Bäume sind schon anders als im Winter – so viel dunkler und voller Saft . . .«
»Ja – ich mochte den Vorfrühling auch immer gern. Er ist bedeutend malerischer als das volle Blühen. Zeichne mal eine Studie von dem Geäst. Das ist wie Schmiedeeisen. – Na – da laufen wir der Gräfin doch in die Arme.«
Am Ende der Allee erschienen zwei schwarze Frauengestalten und näherten sich ihnen.
Rolfers sah lachend auf den Jungen: »Mach' kein so verstörtes Gesicht, sie fressen dich nicht.«
Rolfers ging den beiden Damen entgegen und begrüßte sie. Richard hatte sich Gräfinnen anders vorgestellt. Die Jüngere trug einen grauen Lodenmantel über dem Trauerkleid und einen ziemlich schäbigen schwarzen Filzhut, die alte Dame hatte einen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt und das Kleid sehr hoch geschürzt, die Füße in derben Lederstiefeln. Trotz des ländlich-ungenierten Anzugs sahen sie vornehm aus und gefielen ihm. Die Art und Weise, wie sie mit dem Professor sprachen, war sehr herzlich – es mußten gute alte Bekannte sein. Die junge Gräfin sagte, sie habe gestern erst gehört, daß er zurück sei und schwer verwundet – und habe bereits zum nächsten Morgen den Wagen bestellt, um nach ihm zu sehen. Nun sei sie erfreut, ihn schon so tapfer marschierend zu finden. Er müsse mit seinem jungen Gast zu ihnen hereinkommen und Tee nehmen. Sie werde ihn später nach Haus fahren lassen, denn er dürfe sich durchaus nicht überanstrengen.
Rolfers zögerte einen Augenblick, da sah sie Richard freundlich an und fragte mit der freien Liebenswürdigkeit, die zuweilen an den Damen der großen Welt so bezaubernd wirken kann: »Nicht wahr, du bist auch meiner Ansicht, wenn der Professor stundenlang im Sturm herumgelaufen ist, muß er sich stärken. Und wir haben auch frischen Apfelkuchen, den magst du doch?«
Richard nickte etwas ungeschickt mit dem Kopfe, wie die jungen Füllen auf der Wiese, wobei er sehr rot wurde.
»Mein Schüler,« stellte Rolfers ihn nun vor, und die Gräfin rief lebhaft: »Ja, verzeihen Sie, daß ich Sie du nannte – Sie sehen noch so jung aus . . .«
»Das ist er auch noch – vorläufig nichts weiter als ein Schulbub.«
Man ging nun gemeinsam zum Schlosse zurück, der Professor zwischen den beiden Damen – sie sprachen von den gefallenen jungen Helden, von dem, was der Graf aus dem Felde an seine Frau schrieb, vom Kriege überhaupt. Richard trottete ziemlich unbeachtet nebenher. Er verwunderte sich, daß die alte Dame nicht weinte, während sie von ihrem jüngsten Sohn sprach – er war noch nicht neunzehn Jahre alt gewesen – ihre Augen hatten einen seltsam tiefen strahlenden Ausdruck, ihr Mund lächelte und doch lagerte der Schmerz um ihn her. Sie erschien ihm wie eine leidtragende Mutter Gottes – über den Kummer hinaus erhaben.
Man begab sich in ein Zimmer, an dessen seidenbespannten Wänden schöne gebauchte Rokokokommoden mit Meißner Porzellanfiguren standen, man saß auf geschweiften Armsesseln, mit verblichenen Damasten bezogen. Die Gräfin bereitete selbst den Tee auf einem Tischchen, das mit viel Silbergeschirr und eierschalendünnen Täßchen besetzt war. Nachdem der alte Diener ihr Mantel und Hut abgenommen und sie ihr Kleid heruntergelassen hatte, sah man erst, wie fein und schlank ihre Gestalt war.
Richard fand sich plötzlich in eine Welt versetzt, die ihm fremd aber zaubervoll anziehend erschien, und es imponierte ihm gewaltig, daß Rolfers in dieser Welt durchaus heimisch war und in dem teilnehmenden und vertrauten Ton eines alten Freundes mit den trauernden Frauen sprach.
»Sie müssen oft zu uns kommen, lieber Professor,« sagte die jüngere Gräfin, als er und Richard sich verabschiedeten und sie ihnen bis zur Tür das Geleit gab. »Sie tun meiner Schwiegermutter und mir einen wirklichen Dienst, wenn Sie uns ein wenig zerstreuen. Die Abende sind fast nicht zu ertragen in diesem leeren Schlosse mit der Angst und Sorge auf dem Herzen. Die Mama ist bewunderungswürdig, aber dann bricht sie zuweilen doch zusammen.«
Rolfers versprach, seinen Besuch bald zu wiederholen, die Gräfin reichte auch Richard die Hand, der sie linkisch schüttelte. »Ihren jungen Schüler bringen Sie aber mit,« sagte sie, dem Knaben herzlich zulächelnd, »das heißt, wenn er sich nicht zu arg bei uns langweilt. Aber wir haben ja Bücher und Mappen mit Photographien, die ihn sicher interessieren werden.«
Richard wurde aufs neue sehr rot, während er die Aussicht, wiederkommen zu dürfen, als etwas Entzückendes empfand, erschrak er zugleich, und unbestimmte Verpflichtungen, zu denen er dadurch gezwungen sein würde, beängstigten ihn.
Kaum hatten sie den gelben Break bestiegen, den die Gräfin bestellt hatte, und fuhren durch die dunkelnde Lindenallee ihrem Heim entgegen, begann der Professor auch schon: »Wenn die Gräfin dir die Hand reicht, hast du sie zu küssen – nicht mit einem heftigen Schmatz – sondern nur mit einem leisen Berühren der Lippen. Übrigens könntest du dir auch die Pfoten etwas sauberer halten. Das wollte ich dir schon längst einmal sagen.«
»Ich bin doch kein Fatzke, der sich die Nägel poliert,« brummte Richard, schon wieder zu innerem Widerspruch gereizt.
»Von Fatzkentum ist keine Rede, wenn man seinen Körper pflegt. Das gehört einfach zum kultivierten Menschen und auf diesem Gebiet hast du noch so ziemlich alles zu lernen.«
»Mutter war ich immer gut genug, so wie ich bin,« sagte Richard ungezogen.
Rolfers schwieg und dachte: wie schwierig ist dies alles. Dem Richard aber ging es durch den Kopf: warum bin ich so ekelhaft –? Na, es ist schon gut so, häßlich und plump wie ich bin – ein feiner Herr wie er werde ich doch niemals. Er sah auf die schlanke schöne kraftvoll beseelte Hand, mit der Rolfers seine Zigarre hielt und fühlte jäh den Schmerz um die verlorene Rechte. Eine Welle von heißer Bewunderung schlug über sein Herz.
Am andern Morgen, als Richard aus der Schule kam, stürzte er eifrig zu seiner Mutter herein.
»Du – draußen steht ein Diener vom Schloß mit einem großen Korb für den Professor.«
Martha ging hinaus, ihr Ausdruck war mürrisch, unzufrieden. Schon am vergangenen Abend bemerkte Richard, wie schweigsam sie seine Erzählung von dem Besuch bei den Gräfinnen aufgenommen hatte.
Der Diener lieferte einen anmutig mit Gewächshausflieder umkränzten Korb erlesener Äpfel und Weintrauben nebst einem Briefchen ab. Richard stand strahlend vor Freude neben der Gabe, während Rolfers mit dem geöffneten Brief hinausging, dem Diener Bescheid zu geben.
»Mutti, sieh nur, ist das nicht herrlich! Viel zu schön, um es zu zerstören. Lieb von den Damen, nicht?«
Martha stand mit zusammengekniffenem Mund vor der zarten weiß und lila Blütenfülle.
Rolfers kam zurück, neigte sich über die Blumen und Früchte und sog ihren Duft ein. »Das gefällt dir, was, Kerlchen? Ja – wir Künstler und der Luxus – das gehört nun mal zusammen. Wir sind ja auch Luxusgewächse. Du, wir sind zu morgen abend gebeten – einen Rehbraten mitessen! was sagst du?«
»Mutter auch?« fragte der Junge plötzlich und in seine Augen kam das helle stählerne Licht, das Rolfers besonders an ihnen liebte.
». . . Nein – – die Gräfinnen kennen Mutter doch nicht.«
Ein Schweigen war plötzlich im Zimmer, unter dem Rolfers unbehaglich hin und her ging. Richard polterte mit seinen Büchern und Martha entfernte sich – man hörte sie dann in der Küche.
Bei Tisch sagte Richard: »Ich möchte nicht mit in das Schloß. Was soll ich da . . .?«
»Lege dir keinen Zwang auf, mein Sohn,« antwortete Rolfers kühl. »Ich glaube, die Gräfinnen können deine Gegenwart entbehren.«
Martha senkte den Kopf, eine Röte stieg ihr vom Hals herauf bis unter das helle krause Haar.
Rolfers sah sie an und schwieg zunächst. Er hatte diese peinliche Situation vorausgesehen und deshalb das Schloß bisher vermieden. Nun mußte es durchgefochten werden.
»Du hast Schwereres auf dich genommen, Martha,« sagte er zu der Frau, als sie allein waren, »warum dem Jungen die Freude verderben? Es war reizend, seine hellen Blicke zu sehen, mit denen er das Unbekannte begrüßte. Die alte Gräfin beobachtete ihn ein paarmal ganz gerührt. Er gefiel ihr, der Junge. Aber wie du willst, ich rede dir da nicht hinein. – Nur – was mich betrifft – ich kann mich dem Umgang mit den Nachbarn nicht ganz entziehen. Besonders jetzt, wo ich ihnen für viele Gastfreundschaft und manche erwiesene Gefälligkeit einmal nützlich sein kann.«
»Du glaubst gewiß, ich hätte dir den Jungen aufsässig gemacht,« sagte die Frau heftig. »Das ist ungerecht. Ich habe kein Wort gesagt. Mag er gehen. Er gehört ja doch bald ganz zu dir.«
»Welcher Ton?« fragte Rolfers überrascht. »Martha, ich fürchte, du irrst dich sehr. Ich bin kaum in die Vorkammern seines Vertrauens eingedrungen. Mißgönnst du mir das schon?«
Er legte seine Linke auf ihre Rechte und sah ihr nachdenklich ins Gesicht. Dann schüttelte er ein wenig den Kopf.
Martha begann zu schluchzen. »Ich bin auch nur ein Mensch.«
»Ein lieber und wertvoller Mensch, Martha, – vergiß nie, daß du mir das bist! Und daß ich dich sehr nötig habe! Ja, wenn ich dich nicht wieder fand – wo wäre ich jetzt?«
Er beugte sich und küßte sie leise auf das Haar.
»Meine gute Freundin!«
Sie lächelte durch ihre Tränen und gab ihm die Hand:
»Du hast nichts mit der Gräfin? Zwar – was geht es mich an . . .?«
»Martha, ich denke, du könntest mir den Takt zutrauen, daß ich dich dann nicht hierher gebracht hätte – dich und den Jungen! – Aber sieh, wenn du anfängst eifersüchtig zu werden – dann geht das alles nicht mehr.«
»Nein, nein!« rief die Frau ängstlich.
»Dann bekommt alles eine Färbung, die ich nicht ertragen könnte!« sagte Rolfers. »Du bist dein freier Herr, Martha. Scheint dir unser Zusammenleben, wie es sich nun herausgebildet hat, ungenügend oder unerfreulich, möchte ich dich keine Stunde länger hier halten. Obschon ich dich entbehren würde. Von dem Jungen nicht zu reden. Ich weiß, ich bin ein unangenehmer Geselle – war es immer – bin es heute mehr als je zuvor.«
»Ich kenne dich besser,« sagte Martha weich. »Was kommt auf mich an. Wieviel Geduld und Zeit wendest du an Richard. Da muß ich mich oft wundern.«
»Er ist doch mein Fleisch und Blut,« sagte Franz Rolfers ernst und seine Augen blickten still gesammelt in die Ferne. Ich lüge, dachte er, aber mag es immerhin sein – sie würde ja nie verstehen, daß ein Fremder mir dasselbe hätte werden können, wenn er Richards Talent und seinen Arbeitseifer hätte.
Martha wollte mit ihrem Sohn offen und ehrlich reden über Rolfers' Verkehr im Schloß und in der Nachbarschaft, an dem sie durchaus nicht teilzunehmen wünschte. Sie hatte sich viele gute und kluge Worte zurechtgelegt, die sie zur Klarstellung dieser schwierigen Angelegenheit und zu Rolfers' Verteidigung sagen wollte. Aber sie kam nicht dazu, ihren Vorsatz auszuführen. Es fand sich niemals die passende Gelegenheit oder die rechte Stimmung. Auch an dem Abend nicht, an dem sie beide ihr Mahl zu zweien hielten – seit wie langer Zeit wieder einmal allein miteinander . . . Da ging es am wenigsten. Sie sprachen sehr eifrig über den Krieg und die Zeitungsnachrichten, über Schützengräben und Friedensaussichten. Später rückte sich Richard die Lampe zurecht und zeichnete schweigsam, und Martha las, bis sie den Wagen rollen hörten, der den Professor zurückbrachte. Die Selbstverständlichkeit des Vertrauens zwischen ihnen war gestört. Von den beiden Menschen, die so eng zusammengehört hatten, fühlte sich, durch ein drittes Element geschieden, plötzlich jeder in seiner eigenen Welt, mit seinen eigenen Kämpfen beschäftigt, weit entfernt von dem anderen.
Rolfers sah bald nach seinem Besuch im Schlosse, daß alles für ihn neu zu beginnen sei. Und er fragte sich zuweilen, ob er nicht endlich erlahmen müsse. Richard war reizbar, zum Widerspruch geneigt, bei allem, was der ältere Mann sagte oder tat, sah man Hohn und Verachtung auf dem Gesicht des Jungen. Wozu setzte er sich eigentlich dieser Behandlung von einem Knaben aus? Er, der sonst selbstherrlich und empfindlich gewesen war bis zu dem Grade, daß er sofort abreisen oder einen Verkehr schroff abbrechen konnte, wenn ihm ein Mensch unsympathisch wurde, ihm durch gegensätzliche Ansichten über Kunst, durch den Klang der Stimme, durch irgendeine Äußerlichkeit auf die Nerven ging. Wie oft hatte er sich nicht für Monate in die Einsamkeit begeben, weil er nicht einmal die Gesellschaft seiner guten Freunde zu ertragen vermochte. Und seine Nerven waren durch das lange Leiden empfindlicher als je zuvor. Nicht nur die Qual des Nichtstuns fraß an seiner Seele. Das ungeheuere Leid, das er ringsum wüten sah, die schmerzliche Erkenntnis von dem Verlust an Schönheit, an Jugend, an reinem Menschentum, den dieser grauenhafte Krieg mit sich brachte, bedrückte ihn oft mit Schwermut, aus der er sich kaum herauszuarbeiten vermochte.
Oft hätte er den widerborstigen Bengel schütteln und ohrfeigen mögen und ihm zuschreien: Ja, hast du denn keine Seele, keine Empfindung für das, was um dich vorgeht? Siehst du denn nicht, wie ich bereit bin, dir mein Alles zu geben, den Rest meines zermarterten Lebens, damit deines doppelt reich und herrlich blühe?
Rolfers sagte sich, daß er verzichten müsse, dem Jungen menschlich näherzukommen; er besaß dafür wohl ein für allemal nicht die richtige Art. Er hatte es ja auch gar nicht gewollt – ursprünglich. Nur spürte er jetzt, wie die Kunst und das Menschliche eben nicht reinlich auseinanderzuhalten waren. Beide Mächte beeinflußten sich gegenseitig in einer Weise, die ihm erschütternde neue Erfahrungen brachte.
Sein ganzes Werk an Richard – diese eigenartige, scharf durchdachte, ganz persönliche Art der Ausbildung zur Kunst, die er anstrebte, wurde in Frage gestellt, ja völlig unmöglich gemacht, wenn der Junge sich ihm nicht willig hingab. Er sah bereits deutliche Anzeichen von Verwilderung in Richards Arbeiten, deren Ursprung entschieden in dem heftig aufgestörten Widerspruchsgeist, in dem stets wachen Mißtrauen gegen des Lehrers Anweisungen zu finden war. Und je mehr Richard geistig von ihm abrückte, desto strenger wurde Rolfers in seinen Forderungen, desto einsilbiger in ihrer Begründung.
– So ärgerte es den Professor maßlos, daß Martha hinter seinem Rücken ihrem Sohn einen Malkasten mit Ölfarben geschenkt hatte, trotzdem er den Jungen vorläufig noch ganz auf das Zeichnen beschränkt wissen wollte. Tagelang schwieg er in verbissenem Groll. Endlich ließ er sich noch einmal herab, seinem Schüler die Gründe für seine Forderung zu erklären. Richard hörte mit einem Gesicht zu, auf dem deutlich zu lesen stand: er sei anderer Meinung, und diese habe wohl eine gleiche Berechtigung. Rolfers sah ihn am Nachmittag verstohlen hinausstreichen – den verbotenen Kasten unter dem Arm.
Lange würden die Dinge so nicht weitergehen können.
– – Ist es immer und überall Elternlos, zu geben – zu schenken – nichts dafür einzutauschen – nicht Dankbarkeit – nicht Liebe – nicht einmal ein wenig Anhänglichkeit? so fragte sich Rolfers oft. Bestand zwischen Elternliebe und der Liebe des Menschen zum Vaterlande ein sonderbarer, geheimer Zusammenhang? Brauchten die Kinder, wie das Vaterland, die Menschen, die sich ihnen hingaben, restlos auf, um zu bestehen, um weiter zu blühen? Galt von ihnen das gleiche wie von der Kunst? Die hatte ihn auch ganz und gar für sich verlangt. Das wußte er gut genug. Die rücksichtslose Abwehr gegen jede feste menschliche Gemeinschaft war doch nichts anderes als eine strenge Forderung seiner Kunst. War es ihm nun aus solcher Vereinsamung heraus unmöglich geworden, die Seelenschwingungen in einem anderen menschlichen Geschöpf, einem jungen, neu beginnenden zu verstehen und ihm gerecht zu werden?
– – – Er ahnte ja, was ihm den Knaben gewonnen hätte! – Aber nun sollte er in reifen Mannesjahren aus seiner Welt heraus und wieder zurück in das Primitive, in die Familie? Wohl wollte er geben – aber sich selbst aufgeben, das schien ihm unmöglich. Mit vierzig Jahren und ungebrochener Geistigkeit sein bisheriges Leben, seine Ideale und Gewohnheiten verneinen, damit das neue Reis treibe – konnte er das vollbringen? In ihm schrie ein starker Mensch und wehrte sich empört gegen die drohende Vergewaltigung seines Ich.
Also galt es dann nur noch, die Hand auch von dem letzten Werk zu lassen, dem Werk, in das er sich so glühend verbissen hatte? Es forderte das letzte Opfer von ihm – und das konnte er nicht bringen.
Im Garten stand Rolfers neben dem Tulpenbaum, an dem die Blätterknospen aufbrachen, und sah mit heißen überwachten Augen dem alten Lütje zu, der sorglich die Rosen an neue Stöcke band. Bei den Gemüsebeeten arbeitete Frau Martha im Schweiße ihres Angesichtes. Sie war hausfraulich und voller Eifer bedacht, die Wirtschaft mit Kartoffeln, Rüben und Kohl zu versehen, denn Fleisch, das auch sonst nicht häufig im Dorfe aufzutreiben war, gab's jetzt in diesen Kriegszeiten noch seltener und von mangelhafter Güte. So pflegte sie lange Zwiesprache mit dem alten Holsteiner um Düngung, Saat- und Pflanzzeit, studierte Bücher wie den »kleinen Kriegsgemüsegarten« und den »Blumengarten der deutschen Hausfrau«, hantierte mit Spaten, Steckholz und Rechen, wurde rotbäckig und fröhlich in der neuen Tätigkeit.
»Sie wächst fest hier und lernt, sich zu Hause zu fühlen,« dachte Rolfers, als er den breiten Mittelweg zu ihr hinunterschlenderte. Die schwarze, frischgegrabene Erde duftete nach Feuchte und Fruchtbarkeit. Auf den Buchseinfassungen der Rabatten lag grausilbern ein schwerer Tau und die Pflänzchen zwischen den noch kahlen stachligen Rosenbüschen standen kerzengerade, wie aufmarschierte Schulkinder. Hier und da blühten schon Büschel von gelben Primeln, von blauen Perlhyazinthen und den zarten Glöckchen der Scilla. Die breiten Irisblätter drängten wie Lanzenspitzen aus der Erde, rot schimmerten die gefiederten Blättertriebe der fliegenden Herzen. Alle altmodischen Bauernpflanzen gab es in Rolfers' Garten, wenn der Sommer auf seiner Höhe stand, mußte auf den Rabatten ein dichtgedrängter tausendfarbiger Blumenflor sein Malerauge entzücken. Er hatte Martha freie Hand gelassen, für Samen und Stauden so viel auszugeben, wie sie mochte, das hatte sie sich nicht zweimal sagen lassen.
Als er vorüberging, richtete sich die Frau aus ihrer gebückten Stellung auf und lachte ihm zu. Ihre Augen glänzten in dem erhitzten Gesicht, unter dem weißen Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, hing ihr blondes Haar in losen Löckchen über die Stirn.
Schon sind ihre Bewegungen wieder kräftiger und behender geworden, und wie hübsch ihr das Rosenrot um die hellen Augen steht, dachte Rolfers, als er sie so zufrieden sah in der Morgensonne. Wer weiß, erblüht ihr eine neue Jugend?
Er dachte es ohne Erregung des Blutes. Sein Antlitz blieb ernst und streng verschlossen. Die Augen blickten sehr müde in all dies Keimen und Drängen jungen Daseins. Während hier die Pflanzen trieben und sich entfalteten, ungestört wachsen durften wie in jedem Jahr, und die Amsel im Gebüsch ihr Lieblingslied sang, ging rings um die Grenzen des Deutschen Reiches das Morden und Schlachten der Menschen untereinander seinen furchtbaren Gang weiter, wurde hartnäckiger und grauenhafter mit jedem Tage. In der Früh hatte er die Nachricht bekommen, daß wieder ein guter Freund von ihm, wohl zehn Jahre jünger, ein fester und ehrlicher deutscher Künstler, bei einem Sturmangriff gefallen war – Kopfschuß – sofort tot. Der Glückliche . . .
Für ihn selbst mußte der Kampf ein Leben lang dauern. Warum für ihn, und für jenen das schnelle leichte Ende?
Er ging an der Frau vorüber, es war ihm nicht nach einem behaglichen Geplauder zumute. Er öffnete das Pförtchen in der Tannenhecke und trat hinaus in den sandigen Knick, von blinkenden Tropfen überrieselt, die die leichte Bewegung aus den höheren Bäumen schüttelte. Der Knick war in seiner ganzen Länge mit Fliederbäumen eingefaßt – die würden, wenn der Mai kam, in duftenden blauen Blütenwogen prangen – aber noch war es lange nicht so weit. Der Professor bog an dem Häuschen des Torfstechers ab, das sich unter seinem grauen Rohrdach demütig in den Boden hinein zu verkriechen schien, und schlug den Weg durchs Moor ein, das er vor allem liebte. Ein durchsichtiger weißer Nebel lag noch über dem schweren Braun der Weite, das nur hin und wieder durch das sprossende Grün der Erika unterbrochen wurde. An den dunkelgoldenen Wasserläufen, die sich durch die Torfbreiten zogen, quakten die Frösche. Klumpen strahlender Sumpfdotterblumen standen hier und wohlduftender Kalmus, und die ersten Vergißmeinnicht mit kleinen, fröhlichen Blauaugen. Die Ebereschenbäume zur Seite des Weges entfalteten ihr sein gefiedertes Laub. Zuweilen stieß ein Kiebitz seinen sonderbar schnarrenden Ruf aus. Rolfers ging träumend auf dem schmalen Wege, der bei jedem seiner Schritte elastisch auf und nieder schwankte. Hier kannte er jeden Laut, jeden Duft, jede Farbennuance des Frühlings, er liebte die weiten flachen, reizvoll geschwungenen Linien der Landschaft, immer überweht von der herben Luft, die vom Meer herüberkam. Wieviel hatte diese Gegend seiner Kunst geschenkt. Er hob den Kopf gleich einem witternden Wilde und sog die quellenden Düfte all des Sprossens und Werdens ein, fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf seinen gesenkten Lidern spielen und sein Herz wurde schwerer und schwerer vor Traurigkeit.
Er ging weiter in tiefen dunklen Gedanken. Dort hinten am Waldrand stand, wie in einen durchsichtigen silbergrünen Schleier gehüllt, jene Gruppe schöner Birken, die der frühere Besitzer seines Hauses, der gute Pötsch, so oft gemalt hatte. Bis er sich auf Rolfers' Rat gewaltsam von dem Stück Heimaterde losriß, in das er sich festgerannt hatte. Heute saß der Unglückliche irgendwo in Sibirien in russischer Gefangenschaft. Er, der zu einem tragischen Geschick so ungeeignet wie möglich war, nur weil er die Idee gehabt hatte, letzten Sommer die finnischen Seen zum Ziel seiner Studienfahrten zu machen. Seit Monaten war keine Nachricht mehr an die Frau gekommen, die darüber gemütskrank geworden und in eine Heilanstalt gebracht war. Ob er selbst längst von Ungeziefer, Schmutz und Jammer oder irgendeiner Seuche aufgefressen war, oder den Peitschenhieben eines Kosaken erlegen – oder ob er noch einmal heimkehren würde, um sein Weib als eine Irre wiederzufinden, die Kinder irgendwo bei fremden Leuten untergebracht? Wenn Rolfers durchaus wollte, konnte er auch dieses Schicksal auf sein Konto setzen.
Herrgott – war denn aus dieser Traurigkeit gar nicht herauszufinden? Die durchwachten Nächte trugen mit Schuld, er wußte es wohl. Die Nächte, in denen oben im Atelier die Lampe nicht verlöschte und ein einsamer Mann sich übte in endlos erneuten Versuchen, ungeschickter als ein Kind, das Schreiben lernt, und doch mit der zähen Energie eines reifen starken Menschen die linke Hand zu zwingen, Feder, Bleistift und Kohle zu führen, wie ihr Herr es wollte – und am Ende auch den Pinsel mit der Farbe zu handhaben.
Er hatte Briefe von Kollegen, von alten Studiengenossen, die ihn stets tröstend auf Menzels Beispiel hinwiesen, der mit der linken Hand so sicher gezeichnet habe wie mit der rechten. Schon gut – aber ihm stand die Übung eines Lebensalters bei . . . Am Ende erreichte er es vielleicht auch – wenn er ein Greis geworden. Immer aussichtsloser schienen ihm die Versuche, kindisch unbehilflich war alles, was er in diesen Wochen und Monden erreicht hatte. Er schämte sich, es dem Licht des Tages zu zeigen, verschloß sorgfältig den Raum vor allen fremden Blicken, ausgenommen denen seines getreuen Lütje, der die gute Eigenschaft besaß, überhaupt nichts zu sehen. Unerträglich wäre es ihm gewesen, wenn Martha oder Richard seine Versuche entdeckt hätten. Darum übte er auch nur des Nachts, sobald er beide schlafend wußte, und kämpfte unter der kleinen Insel von Helligkeit, welche die beschattete elektrische Birne gab, inmitten des Meeres von Finsternis, das rings um ihn her über dem Lande lag und wie ein Feind durch die Fenster zu ihm einzudringen versuchte.
Klagend seufzte der Wind über die Wiesen, eintönig klatschte der Regen oder er pickte und rieselte noch melancholischer – oder der Sturm rüttelte an Dachziegeln und Läden. Selten erfreute ihn ein Blick auf klare Sterne oder auf den still im Dunkelblauen schwebenden Mond, wenn er, sich einen Augenblick der Erholung gönnend, zum Fenster trat und sich aus den geöffneten Flügeln hinausbeugte in die Nachtluft.
Warum das gierige unermüdliche hartnäckige Arbeiten? Hatte er dazu nicht Zeit genug vor sich – viele Jahre Zeit . . . Zu einer Beherrschung des Materials, die mit Meisterschaft – wie er sie verstand – irgend etwas zu tun hatte, würde er es ja doch nie bringen. Das fühlte er bitter und deutlich. Hätte er's nicht gefühlt – grausame unbarmherzige Jugend mußte ihn darauf stoßen, daß er den Schlag nie wieder verschmerzen würde.
Er hatte Richard an der großen Wiese am Schloß getroffen, wie er dabei war, die zwei Fohlen zu malen, und mit dem ihm neu geschenkten Kasten voll Ölfarben munter auf einer ziemlich großen Leinwand herumwirtschaftete. Der Hüterjunge hielt ihm gerade das eine der braunen fröhlichen jungen Tiere, aber es schlug, jeder Fessel noch ungewohnt, nach vorn und hinten aus, und obschon Richard mit seinem Pinsel darauf los arbeitete, daß ihm der Schweiß von der Stirne lief, war die Bewegungslinie, die er packen wollte, doch nicht herausgekommen. Rolfers interessierte sich für seine verzweifelten Versuche – das war wieder einmal so kühn angelegt, so persönlich gesehen, daß man seine helle Freude daran haben konnte. Er schaute dem Jungen eine Weile zu, bis der sich verzweifelt in den blonden Schopf fuhr und schrie: »Es ist zum Rasendwerden – ich krieg's nicht und krieg's nicht – das Biest hält auch keine Sekunde still . . .«
»Das Hinterbein ist von vornherein falsch eingesetzt,« sagte Rolfers, beugte sich über Richard, nahm ihm den Pinsel aus der Hand. »Siehst Du – so muß es einsetzen.« Aber die Hand gehorchte doch nicht, wie er gehofft, der Pinsel fuhr wild in das Bild hinein und es kamen Striche heraus, die Rolfers niemals beabsichtigt hatte.
»Zum Teufel,« schrie Richard wütend, »was machen Sie denn da – Sie verpatzen mir ja die ganze Geschichte! Sie können doch nicht mehr malen . . .«
Rolfers hatte den Pinsel ins Gras geworfen und Richard schmiß voll Zorn die Leinwand daneben.
»So, die Arbeit war mal umsonst. Drei Nachmittage hab ich mich schon gequält. Und ich hätt's auch noch gepackt – wenn Sie nicht dazugekommen wären.«
Rolfers war weiß geworden und seine Züge erstarrten. Er regte sich nicht und sprach auch nichts. Langsam schlossen sich seine Augen, als vermöchte er das Licht nicht mehr zu ertragen. Er wußte, diese Sekunde war die bitterste in seinem Leben, dagegen war alles bisher Durchlittene nur eine Vorbereitung gewesen. Er dachte: wenn ich mich jetzt bewege und mein Schritt schwankt, so beginnt er zu lachen – und das kann ich nicht ertragen – dann muß ich ihn erwürgen . . .
Er hörte, wie Richard, scheinbar ohne auf ihn zu achten, brummend und knurrend seine Malsachen zusammenpackte, und fühlte, er müsse ihm den Vorrang ablaufen und fortgehen, denn zusammen konnten sie den Heimweg unmöglich machen. So wandte er sich dann, mit einer sonderbaren Steifheit und Schwäche in allen Gliedern, und ging die Lindenallee hinunter, schneller, immer schneller, bis der Wald ihn aufnahm und er in einen Seitenweg einbiegen konnte, der ihn den Augen seines Todfeindes entzog. Denn der Knabe war in diesem Augenblick sein Todfeind.
Lange saß er auf einem gefällten Stamm unter den hohen Buchen und ächzte laut in bitteren Qualen, und fühlte, wie es ihm heiß und salzig aus den Augen rann und die Wangen hinablief.
Seitdem brannte die Wut und Gier in seiner Brust, dem Jungen zu beweisen, daß Manneswille das Unmögliche erzwingen kann. Wie die draußen an der Front Tag und Nacht das Unmögliche dem höchstgespannten Menschenwillen abtrotzen. War er nicht einer von ihnen? Gehörte er nicht noch immer zu ihnen, ihr Genosse und Kamerad? Obwohl die graue Uniform, von Schlamm und Blut befleckt, von der Sonne und dem Regen verbrannt und zerweicht, nur noch als ein heiliges Erinnerungszeichen neben seinem Bette hing. Was sie konnten: die Übermacht eines ungeheuren Schicksals besiegen, das mußte er als einzelner ihnen gleichtun. Im Grunde war hier die Probe, ob er wert gewesen war, dem Vaterlande gedient und geblutet zu haben, damit diese Jugend heranwuchs – und wieder Kunst machen und Schönheit neu schaffen und die Alten verachten durfte . . .
Das alles sagte sich der ins Herz getroffene Mann in der nächsten – in vielen folgenden Nächten, die er einsam arbeitend durchwachte und durchkämpfte.
Vielleicht half ihm ein künstliches Glied, das ihm an sich als etwas greulich Unästhetisches, seinen künstlerischen Geschmack Verletzendes zuwider war . . . Tausendmal mehr nach seinem Sinn wäre es gewesen, den leeren Ärmel herabhängen zu lassen, wie er es bisher getan. Und er fuhr doch nach Hamburg, diesmal nur in Begleitung von Lütje, prüfte, wählte, ließ ändern und wieder ändern in der Werkstätte für Prothesen. Er gab selbst Verbesserungen an. Der Besitzer der Werkstatt setzte seine Ehre darein, dem Künstler mit dem bekannten Namen, den das harte Los getroffen, etwas besonders Treffliches zu schaffen. Und so kehrte Rolfers äußerlich als ein für den flüchtigen Blick gesunder und wohlgebildeter Mann nach Haus zurück.
Martha freute sich kindlich. Sie hatte längst gewünscht, er möge sich zu diesem letzten Schritt entschließen. Es war ihr unbegreiflich, daß er so lange damit gezögert hatte. Warum ihm gerade dieses Letzte so schwer fiel, konnte sie nicht verstehen. Und sie war befremdet, für ihre Freude bei Rolfers keinen Widerhall zu finden, sondern nur Abwehr und Kühle. Er war doch zuweilen gar zu schwer zu durchschauen. Bei allen notwendigen Übungen, das fremde Kunstglied bewegen, sich seiner bedienen zu lernen, ließ er sich jetzt nur noch von dem ungeschickten Lütje helfen und verschmähte ihren Beistand. Sie mußte ihm das Essen auf sein Zimmer bringen. In seiner ganzen Lebensweise zog sich Rolfers mehr und mehr von ihr und Richard zurück und umhüllte sein verwundetes Herz mit dem altgewohnten Panzer der Einsamkeit.
Richard hatte mit einem Blick seiner Augen, die schnell und scharf waren wie die eines Raubvogels, die Wirkung seines unbedachten und grausamen Ausbruches auf den Professor vollständig erfaßt. Ein wirbelndes Gefühl von schmerzhafter Wollust durchraste ihn.
Als das strenge feine Antlitz, das ihm schöner erschien als irgendein andres auf Erden, so erbleichte und seine Augen sich schlossen, und der schlanke große Mann dastand wie von einem Hieb getroffen, bäumte ein ungeheurer Stolz sich in dem Knaben auf und schrie in seinem Herzen: »Das habe ich gekonnt – ich – Rächer meiner Mutter und meiner Jugendschmach!«
Und er hätte geradeheraus lachen mögen, laut und wild und triumphierend lachen. Er biß die Zähne aufeinander und knirschte mit ihnen, denn er war doch nicht sicher, ob das Lachen nicht zum Schluchzen geworden wäre, und weil er sich entsetzte über die Wirkung seiner Worte.
Armer Rächer – auch ihm kamen nun schlaflose Nächte, in denen er sich wälzte und in sein Kissen wühlte, um die Tränenfluten zu verbergen, die sein Gesicht überschwemmten.
Er heulte, weil er sich fürchterlich verachtete. Als Kind hatte er sich oft vorgestellt, daß er seinen Vater töten müsse – daß dieses Geschick wie eine dunkle Notwendigkeit über ihm schwebe. Und er hatte sich immer ausgemalt, wie es geschehen würde. Er sah sich Rolfers zum erstenmal gegenüberstehen und den Dolch erheben – grauenhaft, kurz, gewalttätig schön . . . Nun hatte er nur Gift nach ihm gespritzt, nach dem Wehrlosen, wie ein feiges Weib. Gemein – niederträchtig . . .
– Sein leidenschaftlich unbändiges Herz wurde durchschüttert von unermeßlichem Mitleid. Es bedrängte ihn, wie noch nie zuvor ein Gefühl ihm zu schaffen gemacht. Er hatte ja nun erst begriffen, was es für diesen Mann heißen wollte, nicht mehr arbeiten können – leben müssen und nicht mehr wirken dürfen . . . Blind und taub, dumm und beschränkt war er ja neben ihm hergegangen, ohne Empfindung für die Seelengröße, die ihm, dem Jungen, dem Feinde, zu schenken versuchte, was für sie selbst verloren war. Das hatte er sich nun verscherzt, ewig verscherzt. Ein Mann wie der Professor verzeiht ja nicht, das stand bei Richard fest. Nein – er durfte sich auch selbst niemals verzeihen. Damit war alles aus zwischen ihnen. Nur daß das so wehtat, hatte er nicht geahnt. Daß ihm den ganzen Tag die Brust wie wund und verbrannt war, mußte er nun tragen. Ja – er genoß den Schmerz, rang sich noch immer tiefer in ihn hinein. Beleidigt hatte er den Heiligen des Vaterlandes – das kämpfende Vaterland in ihm! Was – er hatte ihm Kälte, Mangel an Begeisterung vorgeworfen – aber während er, Richard, nur sang und jubelte und sich berauschte in schönen Träumen, hatte der andre sich geopfert – hatte gelitten –! War denn der Professor nicht zum Krüppel geworden – damit das Vaterland frei blieb – damit er, Richard Lebus, schaffen und ein gewaltiger Mann und Künstler werden dürfte – wie er es doch vorhatte. Arbeiten, toll arbeiten – das war nun alles, was ihm blieb. Ohne Rolfers' Rat, ohne seine Hilfe, allein auf sich angewiesen. Aber ein Kerl werden, der sich sehen lassen konnte! Vor dem der Professor doch einmal Respekt haben mußte.
So nahm der Junge es auf sich, daß Rolfers sich nicht mehr um ihn kümmerte, nahm es wie eine Notwendigkeit, die er sich selbst bereitet hatte – deren Folgen er tragen mußte. Ging ihm noch scheu aus dem Wege. Und hatte den ganzen Tag und die halbe Nacht, wenn ihn nicht der gesunde Jungenschlaf überwältigte, ernsthafte und eindringliche Phantasiegespräche mit ihm, konnte stundenlang grübeln über ein Wort, das der weltreife Mann flüchtig hingeworfen hatte, mit dessen Sinn und Bedeutung der Knabe sich nun abquälte.
– Ob diese Zeit groß oder nur blutig sei, werde erst die Zukunft erweisen. Die Größe einer Zeit hänge nicht von Kriegen und Siegen ab, auch nicht von der berauschten Stimmung des Auszuges zum Kampf. Und Helden seien nur die zu nennen, die sich als Träger eines Gottgedankens fühlen, – nicht die, welche für ihr Fleisch und Blut, für die Sicherheit ihrer eigenen und ihrer Familien Existenz kämpften. Bewundernswert auch diese, ja, – aber noch lange nicht Helden.
Das erschien Richard eine Herabsetzung deutscher Krieger, für die sein Herz brannte, sobald er einen erblickte. Und oft mußte er dem Professor grollen, daß er ihn von Berlin fort in diese Einöde geführt hatte, wo er den wilden Duft und das Rauschen und Brausen der Zeit nur in die Ferne lauschend spüren konnte, während er in Berlin sich ganz hineinwerfen, sich von ihm mit tragen lassen durfte, in den Siegestaumel mit hinein jauchzen konnte.
– – Warum in der Tutmesbüste des Königs Amenophis und in denen seiner kleinen Töchter, der ägyptischen Prinzessinnen, ein größerer Ewigkeitswert stecken solle als in allen leuchtenden Taten, die auf den Schlachtfeldern dieses Jahres geschahen? – Das Wort hatte Richard, als er es hörte, heftig erzürnt, ja erbittert. Er spürte daraus eine Gegensätzlichkeit, geradezu wieder eine Feindschaft zwischen seinem Wesen und Rolfers' Wesen. Der Mann – der Weltkünstler, für den es keine Grenzen gab, keine nationalen Unterschiede – nur Unterschiede in Stärke und Schwäche, in Schön und Häßlich, für den dieser Krieg keine Aufwärtsbewegung, sondern einen Zusammenbruch bedeutete, einen Zusammenbruch seiner Welt des guten Europäertums.
»Guter Europäer« – auch so ein Ausdruck, den der Junge haßte. Womöglich sollte er auch noch ein guter Ägypter werden – nein, er bedankte sich. Diese ägyptische Kunst, von der der Professor so viel hermachte, er hatte sie sich oft genug beschaut im Alten Museum – neugierig, wie er auf alles Fremde neugierig war. Gegeben hatte sie ihm nicht das geringste – er stand ganz verständnislos vor den Kolossen – das seltsame starre Götterlächeln erboste ihn nur. Was hatten sie so zu lächeln, über die Welt und alle ihre bedrängende wundervolle Schönheit weit hinaus! Am liebsten hätte er sie zerschlagen, zerhauen, alle miteinander, in seiner jungen barbarischen Zerstörungslust, weil ihn ihre Ruhe, ihre Erhabenheit, ihr strenger Stil bis zur Wut kränkten. Das Auge seines Fohlens auf der Schloßwiese war ihm mehr als alle die strengen Götter und Könige, als Amenophis mit dem überfeinerten geistreich-kränklichen Gesicht und die Vornehmheit seiner Prinzessinnen-Töchter. Wie die Pupille des Tieres in feuchtem Schwarzblau in der Milch der Iris schwamm – wie das Geschöpf ihn ansehen konnte – so dumm-unschuldig . . . War das nicht zum Schreien schön . . .? Und das wunderlich ungefüge weiche Pferdemaul mit den großen Nüsterlöchern darüber, das zarte Rosa an ihren Rändern . . . Gott – – welche Seltsamkeit der Form und Farbe nur in einem feuchten Fohlenmaul – in einem schwimmenden Tierauge.
Nein, wahrhaftig, er würde sich zur Wehr setzen gegen alles, was nicht an Freude, an Glück aus ihm selbst kam! Die rasende Bewunderung der eigensten Empfindung, die himmelhoch in die Höhe schlug . . . die und keine andere! Und wenn's ihn mit dem herrlichsten Mann verfeinden sollte in alle Ewigkeit. In ihm tobte der Kampf um sein eigenes Werden, und der war wahrhaftig wild und hart genug! Nur sich nicht betrügen lassen – auch von Liebe und Ehrfurcht nicht! Tat es weh, daß man hätte brüllen können, dafür war man eben deutscher Kämpfer und verbiß den Schmerz.
Frau Martha schalt mit ihrem Sohn. Der vierschrötige Junge stand in hilfloser Verlegenheit vor ihr und ließ die Flut ihrer heftigen Worte wie einen Regenguß über sich ergehen. Der Schuldirektor hatte ihr einen Brief geschrieben und ernsthaft geklagt, daß Richards Unaufmerksamkeit und Faulheit von Tag zu Tag zunehme. Er sei nicht unbegabt, nur grenzenlos verträumt, und wenn er nicht einen energischen Anlauf nehme, so könne er unmöglich in der neuen Klasse, in die er Ostern versetzt worden sei, mit den andern Schülern Schritt halten.
– »Und eitel wirst du auch noch,« klagte die Mutter, nachdem er dies alles hatte anhören müssen und nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, denn es war ja leider die Wahrheit – er, Richard, war stinkend faul. »Geckenhaftigkeit war doch bisher dein geringster Fehler,« hörte er seine Mutter zanken, »aber jetzt muß ich meine Veilchenseife sowie meinen Nagelpolierer immer auf deinem Waschtisch suchen. Das ist einfach rücksichtslos von dir. Für solchen Kommunismus bin ich nicht zu haben, merk' dir das . . . Ja,« wendete sie sich zu Rolfers, »meine Flasche Kölnisches Wasser hat er mir auch stibitzt – was sagst du dazu . . .? Ein Junge, der herumgeht und duftet wie ein Mädel von der Tauentzienstraße – pfui Teufel!«
Also doch –! dachte Rolfers, sagte es aber nicht laut und lächelte verschmitzt. Der eigenartige Duft, der seinen Sohn neuerdings umwehte, eine seltene Mischung von Veilchenparfüm, Schmierstiefeln, Pferdestall und Eau de Cologne, war ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen und hatte ihn nicht wenig erheitert. Auch daß Richards dunkelblonder, wüster Haarschopf dem kleinstädtischen Friseur zum Opfer gefallen und durch eine kurzgeschnittene Bürste ersetzt worden war, nicht eben zur Verschönerung des Knabenkopfes, in dem Weichheit und Härte wunderlich miteinander stritten und vorläufig nur die hellen glanzvollen Augen zwischen ihren schwarzen Wimpern eine starke Anziehungskraft üben konnten.
»Ich werde morgen in die Stadt fahren und einmal gründlich mit dem Direktor über Richard sprechen,« sagte Rolfers. »Er hat natürlich recht und Richard muß sich Mühe geben. Zu einer Zurückversetzung darf es nicht kommen. Auf keinen Fall. Das würde seine Stellung in der Schule unmöglich machen. Dann müßte man ihn sofort herausnehmen und es käme die Frage mit den gräßlichen Instituten, Pressen und dergleichen an die Reihe. Er hätte tausendmal weniger Freiheit zum Herumstreifen, zum Träumen und zum Zeichnen. Die Penne muß durchgemacht werden, wie der Schützengraben auch. Angenehm ist beides nicht. Ich kann dir sagen, Richard, – mancher von den Bengels hat sich brennend nach der Schulklasse zurück gesehnt, wenn er's auch nicht Wort haben wollte.«
Rolfers wandte sich zu dem Jungen und seine dunklen tiefliegenden Augen flammten über ihn hin.
»Ehe ich mit dem Manne über dich rede, muß ich erst Klarheit haben, was du eigentlich von deiner Zukunft willst? Rechtsanwalt oder Künstler – was soll's werden?«
»Das ist doch keine Frage mehr,« brummte Richard.
»Das ist eine sehr ernste Frage, mein Sohn,« antwortete der Professor scharf. »Leute ohne starken Willen kann die Kunst nicht gebrauchen. Ein für allemal nicht. Diese Schulsache ist bei deiner Begabung einfach eine Willensangelegenheit. Eine Übung zu Größerem! Also – kann ich bei dem Direx für dich eintreten – oder kann ich's nicht?«
Richard war feuerrot geworden und sah zum erstenmal seit langer Zeit dem Professor klar und frei ins Gesicht.
»Sie können es!«
Rolfers streckte ihm seine Linke entgegen und Richard legte seine Rechte hinein. Der Mann drückte sie fest.
Richard ging ganz betäubt nach diesem Auftritt hinaus in den Hof. Der Professor war doch ein großartiger Mensch – wer von den Vätern seiner Berliner Freunde würde so gehandelt haben? Keiner – kein einziger. Geschimpf und Gejammer und Strafen und Drohungen hätte es gehagelt – jawohl. – Er mußte ihm doch zeigen, was er in den letzten Wochen geschafft hatte. Es waren ein paar ganz feine Sachen darunter. Die würden ihm Freude machen.
Nun brauste das Gefühl mit der Gewalt eines wilden Bergbaches durch des Jungen Herz. Er – er – er füllte sein Denken, Träumen, Phantasieren. Freund – Freund – sagte er bisweilen leise vor sich hin. Professor – Professorchen, rief seine helle Knabenstimme durchs Haus, sobald er von der Schule heimkam.
Versunken konnte er lange auf Rolfers' Hand blicken, denn Menschenhände bedeuteten ihm viel, – er hatte Jungens, die sich ihm zum Freunde boten, abgelehnt, weil ihre Hände ihm nicht gefielen.
Nun verglich er seine eigene Hand heimlich und oft mit der des Professors. Es machte ihn tief glücklich, in der Form der Nägel, der Fingerspitzen, in der Bildung des Daumens Ähnlichkeiten zu entdecken. Und ein inneres heißes Weinen stieg in ihm auf bei dem Gedanken, daß er niemals die Rechte, die Schaffenshand, die Künstlerhand des geliebten Meisters werde sehen, halten, zeichnen dürfen. Und er fühlte zuerst die ganze Bitterkeit des Unwiederbringlichen, des Todes, der Vernichtung. Fühlte sie an dieser einen Menschenhand, die das Schöne geschaffen hatte und niemals wieder schaffen würde. Langsam bildete sich in ihm das Neue – das Verständnis und das Wollen: ein Erbe zu sein . . . Sein Schüler, – o ja –! Der Professor hatte selbst gesagt, das habe mit Gefühlen nichts zu schaffen . . . Sein Sohn – dem Gedanken war er immer aus dem Wege gegangen. Vor dem Begriff des Vaters stand das eiserne Gitter der Verachtung. Und nun arbeitete sein Wille, es aus den Gründen seines Herzens herauszureißen. Und wie im Märchen ging es zu – das Trennende zerschmolz vor seinem festen Griff. –
Gott, Gott! Er war ja nicht nur der Schüler des Professors – er war sein Sohn . . .! Teile von dessen Wesen, dessen Geist mußten auch in ihm lebendig sein! Spürte er nicht seine Gabe des Schauens, die Fähigkeiten der bildnerischen Hand vom Kopf bis in die Fingerspitzen – und schwoll nicht oft seine ganze Seele, der junge Leib von ausbrechendem Jubel hoch empor, wenn er sich dem Angebeteten so im tiefsten verwandt fühlte . . .
Wie junger Wein war seine Liebe, würzig und herbe und voll perlender Frische und hätte am liebsten alle Bande zersprengt und brausend ins Weltall sich ergossen. Und doch auch wieder so scheu, verschämt, daß sie nie den Ausdruck für all dies Quellen und Drängen und all die goldenen Seligkeiten gefunden hätte. Eine Liebe, die keine Zärtlichkeiten kannte und auch nicht nach ihnen begehrte, die sich nicht mehr aufhielt mit der Oberfläche der Dinge, sondern gleich eindrang in den Kern der Persönlichkeit des andern. Ein flüchtiges, ein ganz kleines Zeichen der Zuneigung, des Vertrauens, und sie lebte tagelang in glücklichem Schweigen von dem wenigen. Und suchte seltene eigene Wege der Opferung.
Franz Rolfers sah wohl die Umwandlung. Mit zwiespältigem Gefühl. Fragte sich zuweilen: Ist's nicht zu spät? Ist ein Vertrauen zwischen Alt und Jung, zwischen dem Absterbenden und dem Werdenden nicht ein für allemal unmöglich? Denn ein Groll saß ihm noch im Herzen seit jenem schlimmen Abend an der Schloßwiese vor dem Fohlen. Er fühlte seitdem die Feindschaft dessen, der zurückgedrängt wird, der der Jugend das Feld räumen soll. Er hatte den Knaben besiegen wollen, nun war der zum Sieger über ihn geworden. Das verzieh er ihm nicht so schnell. Ließ ihn nur sachte an sich kommen. Gab ihm widerwillig das Glück des scheuen Werdens. Zuweilen war er kokett, wie Frauen gegenüber – war eine Viertelstunde lang herzlich, gut, aufgeschlossen, zog sich dann wieder für ganze Tage kühl zurück. So ging der heimliche Kampf hin und her, lange Zeit.
Der Flieder blühte schon in blauen Wogen am langen Knick hinter dem Garten und seine Düfte schlugen mit süßen Dämpfen bis in die Veranda und in die Zimmer des holsteinischen Landhauses. Der Frühling hatte sich besonnen und holte mit einem Schlage nach, was er wochenlang versäumt hatte. Sogar zwischen dem feuchten, bröckelnden Gemäuer des alten Ziehbrunnens sprießten seine grüne Farnkräutlein und umkleideten seine dunkle Tiefe mit zierlicher Schönheit. In den Büschen sang und klang es von hundert verschiedenen Vogelstimmen. Lichtgrüne, flache Hände breitete der Tulpenbaum an seinen breiten Ästen aus und die alten knorrigen Apfelbäume waren nur noch zauberhafte Gebilde von rosenroten Blütengirlanden, durchsummt von Bienen und Hummeln. Aus dem vollen Gras steckten die Tulpen ihre Feuerkerzen und der blaue Schaum der Vergißmeinnicht goß sich darüber. Über dem Moor wogten silberne Gräser und rötlich blühender Sauerampfer. Das Laub der Birken dunkelte schon, aber hellgrün stand der Buchenwald in der Ferne. Und weiße, runde Sommerwolken schwammen durch den Himmel, ein milder, lustiger Wind schaukelte und flirrte durch all das schwebende, bewegte Ast- und Laubwerk, und blies durch die blühenden Graswellen, daß sie in tausend feinen Farben und weichen Linien aufschillerten, wogten und wiegten.
Richard taumelte vor Glückseligkeit in diesem Frühlingsrausch, den er, das Großstadtkind, zwischen staubigen Schulzimmern und der sonnenlosen Hofwohnung gebunden, noch niemals in der Fülle seines Glanzes kennengelernt hatte. Jede Morgenfahrt durch die graugrüne Seide der sprossenden Haferfelder, durch das Sonnengold der Rapsbreiten, vorüber an dem Smaragd der fetten Marschwiesen, von denen die schwarz-weiß gefleckten Kühe sich so wirkungsvoll abhoben, unter dem Gehänge der blühenden Hecken in den Sandhohlwegen – in denen es zwitscherte und flötete von Leben der nistenden Vogelfamilien – jede Fahrt zur Schule mit der braven braunen Liese, die für den Militärdienst untauglich befunden worden, wurde ihm zum Erlebnis. Zuweilen ließ er die Zügel hängen und das gute Tier trottete weiter den gewohnten Weg – er aber schaute in den blauen Himmel und verfolgte den Wirbelflug der Lerche, das sanfte Gleiten, das leise Zergehen der weißen Sommerwolken. In der Nacht rannte er auf das Moor hinaus, sah die Nebelschwaden wehen und im milden Weiß den Mond sich spiegeln, daß das Geschwebe opalfarben zu schimmern begann – hörte versunken auf das Liebesgequake und Geschnarr der Frösche – auf all das Gleiten, Schlüpfen, Huschen der kleinen Tierwelt, die so seltsam erregt die Nacht durchwachte – sah die märchenhafte Kröte, mächtig und schauerlich mit ihren Warzen auf dem Rücken träge über den Weg hüpfen wie ein verzaubertes Hexenweib, sah die seltsam verkrüppelten Gestalten der alten Erlen an den dunklen Wasserläufen hocken und ihre Zweige wie sehnsüchtige Arme in die Luft breiten – etwas Unbegreifliches zu fassen. Der Boden schwankte und wankte unter seinem Fuß, der da sank – sank – Er mußte eilend zurückspringen auf sicheren Boden – und ahnte tausendfach erstorbenes, verwandeltes und neuerstehendes Leben dort in der braunen Tiefe, die den saugend hinabzog, der sich unvorsichtig auf sie hinauswagte. Und die Schauer der Vergänglichkeit durchwehten kühl sein Blut, das noch eben pochte und glühte in seinen Adern, während die Nüstern die schweren taumelig süßen Liebesdüfte der Frühlingsnacht eintränken.
Und so geschah es, daß er heimkam, in Haar und Kleidern die feuchte Frische, den herben Geruch des Nebels, des sprossenden Gekräuts, die Stiefel bedeckt mit Schlamm und Erde, ein junger Wald- und Moorschratt, seine Augen ganz durchleuchtet vom Mondglanz. Licht sah er oben in dem Atelierfenster, unter dem Dach. Es trieb ihn, hinaufzuspringen, vorsichtig die Treppe hinan, an der Tür der schlafenden Mutter vorüber, um »Ihm«, den er dort oben wußte, ein Stück zu geben von seinem Glück. Nichts andres. Dunkelheit ringsum, Schwüle, eingeschlossene schwere Luft. Und in Hemdsärmeln am Tisch, bei der elektrischen Birne, die hartes, weißes Licht auf das Blatt warf, vornübergebeugt der Mann, sein hageres Gesicht mit der großen scharfen Nase, der hohen Stirn, den dunklen Augen hinter großen runden Brillengläsern, vor ihm, in einem Krug ein paar Grashalme. Und er verbohrt, versessen, ganz hingegeben in der Arbeit, der mühseligen, von all der Sommerherrlichkeit da draußen nur die paar Gräser in ihrer reinen feinen Form mit dem Rest seines Selbst, mit der linken Hand nachzubilden. Neben ihm auf dem Stuhl, von ihm abgelöst, das seltsam schauerliche unlebendige Gebilde aus Drähten, Holz, spiegelndem Metall, Schnallen und Riemen, das künstliche Glied.
Richard stand betroffen. Es graute ihm, und er wußte nicht warum. Der Mann sah auf, fragte kurz: »Was willst du?« Und schob ein Blatt über seine Versuche.
Richard bemerkte es.
»Also, – was heißt das?« fragte Rolfers ungeduldig. »Warum kommst du herauf und störst mich?«
»Ich dachte nur – die Nacht ist so unbändig schön –, ob Sie nicht hinauskommen möchten?« stotterte er.
»Ich habe zu tun. Geh jetzt!«
Rolfers nahm die Brille ab, legte sie vor sich hin, sah dann wieder auf.
»Nun?«
Der Junge stand noch immer da, ein Duft aus der Wiese, frisch wie Sommernächte duften, wehte von ihm zu dem überwachten Mann hin. Und mit dem Dufte kam ein Lächeln. Richard hatte nichts andres zu geben. Worte waren unmöglich. Er hätte sie auch nicht gefunden. Nur in seinen Augen, um seinen blühenden Mund lag alle Liebe, die er in diesen Sekunden empfand.
Auf den Zehenspitzen ging er hinaus.
Eine Woche später traf ihn Rolfers hinten im Moor, den Waldrand skizzierend. Er hockte auf seinem Malerschemel, wunderlich ungeschickt. Beim Näherkommen bemerkte Rolfers, daß der Junge sich mit Bindfaden den rechten Arm auf den Rücken festgebunden hatte. Er ließ den Skizzenblock fallen, als er Rolfers auf dem schmalen Wege nahen sah, und wollte davonlaufen. Aber er warf den Malschemel dabei um und die Fußbank, die er für Farben und Pinsel herbeigeschleppt hatte, und stand nun beschämt, an seiner Fesselung zerrend.
»Junge – verdrehter, toller Bengel!«
»Ich will nichts Besseres haben als Sie!« schrie er leidenschaftlich, und die Tränen sprangen ihm wie Blitze aus den hellen Augen hervor.
Rolfers hatte ihm den linken Arm um den Hals gelegt und hielt ihn so, damit er ihm nicht davonrannte. Und legte seine Wange auf des Knaben Kopf, auf sein hartes Bürstenhaar.
»Mein Junge, mein lieber Junge!«
Weiter wurde nichts über den Fall zwischen ihnen geredet.
Martha hatte zu tun mit Schreiben und Katalogisieren und Frachtbriefe ausfüllen. Lütje mußte Kisten zunageln, große und kleine, und sie zur nächsten Bahnstation fahren. Die Laune des Professors war nicht die beste. Unwirsch fuhr er im Haus umher, hatte zu tadeln und zu schelten, wenn etwas nicht so ausgeführt wurde, wie er es wünschte.
Eine große Kunsthandlung in Berlin wollte eine Ausstellung seiner Arbeiten veranstalten, eine Gesamtübersicht seines Schaffens durch verschiedene Epochen, von Jugendzeiten an. Eine Ehrung des Helden, der für das Vaterland gelitten, – so schrieb der Besitzer,
Anfangs hatte Rolfers sich geweigert.
»Wozu – kein Mensch hat heut Sinn für Bilder. Wenn wir einen ehrenvollen Frieden geschlossen haben – ja, dann lasse ich's mir gefallen. Dann können sie meinethalben Ehrungen der Toten veranstalten – mit dem Lorbeerkranz und der Florschleife unter dem größten Schinken. Jetzt ist's ein Reinfall. Ich will nicht.«
Schließlich ließ er sich doch überzeugen. Praktische Erwägungen gaben den Ausschlag. Mit weiterem Verdienst war für die Zukunft nicht zu rechnen, da mußte man sehen, das Vorhandene möglichst günstig zu verwerten. Jetzt war sein Name noch im Gedächtnis der Kunstfreunde, der Museumsleiter. In zwei, drei Jahren war er vergessen und der Marktpreis seiner Bilder bedeutend gesunken. So sagte er sich, mit harter Aufrichtigkeit. Und dachte an Richard. Ihm mußte das Nötige zum Studium bereitstehen.
Selbst nach Berlin zu fahren, das Hängen der Bilder zu beaufsichtigen, dazu konnte er sich nicht entschließen. Ihm graute vor der Welt, vor dem Publikum. Tausendmal schon war er froh gewesen, die abgelegene Heimstätte zwischen Wiese und Moor zu besitzen – hier ein Obdach für die Zeit zu haben, die er noch auf Erden zu verträumen, zu durchleiden gezwungen war. Sich verkriechen zu können, ein weidwundes Tier, vor dem Mitleid, der Sentimentalität der Menschen, war schon Glück.
Er dachte daran, Martha zu senden, ließ jedoch diesen Plan gleich wieder fallen. Sie brauchte nicht durch den Künstlerklatsch der Hauptstadt gezogen zu werden.
Richard . . .? Sehr jung war er zu solcher Mission. In Kunstdingen trotzdem von einer Reife des Verständnisses, die mit seinem Alter nicht mehr in Zusammenhang stand. Eins der ewigen Rätsel in der Welt der Naturgeschehnisse: dieses Hinauswachsen der Berufenen über die Gesetze von Zeit und regelrechter Entwicklung . . .
»Richard – packe dir einen Handkoffer. Du mußt übermorgen zur Eröffnung meiner Ausstellung in Berlin sein. Ich gebe dir einen Brief mit, der dich als meinen Vertreter einführt. Was meinst du – freut's dich? Du mußt ordentlich die Augen aufmachen, um mir Bericht zu geben! Weh dir, Mann, wenn du was Wichtiges vergißt!«
Richard stand mit offenem Munde – ganz dumm vor Staunen. Vom Hals empor strömte ihm heiße Röte über Wangen und Stirn – und die Augen wurden mit jeder Sekunde glänzender.
»Sie – Sie wollen mich doch nur uzen – es ist doch nicht wahr, Professor?«
Rolfers lächelte. So etwas, wie das Gesicht des Jungen jetzt zu sehen, das war doch entzückend . . .
»Sehen Sie – Sie lachen – es ist doch nicht wahr.«
Dies kam mit einem unendlich enttäuschten Ton.
»Frage deine Mutter!«
»Na, ja, Richard, der Professor will dir das Vertrauen schenken. Übermorgen mit dem Frühzug sollst du fahren. Ich habe deinen guten Anzug gebügelt.«
Richard stieß einen Schrei aus, der schon ein Indianergeheul der Freude genannt werden durfte, und machte Luftsprünge wie sein geliebtes Fohlen auf der Weide.
Er raste treppauf, treppab und erfüllte das ganze Haus mit dem Gesause und Gebraus seiner stürmischen Jugendseligkeit. Rolfers wie Martha bekamen keinen Augenblick der Ruhe mehr zu spüren, bis der kleine Handkoffer auf dem Korbwägelchen stand, bis Richard sich in der schaurigkühlen Luft des grauenden Morgens seiner Mutter abschiednehmend um den Hals warf und Rolfers, der ebenfalls aufgestanden war, um ihm feierlich den Brief an den Kunsthändler, seinen alten Freund, zu übergeben, die Hand schüttelte. Rolfers hatte in dem Schreiben kein Hehl daraus gemacht, daß der junge Bote sein Sohn sei und hoffentlich einmal sein künstlerischer Erbe.
Sinnend blickte er dem davonrollenden Wägelchen nach, von dem der Junge leidenschaftlich mit der Mütze zurückwinkte, als er um die Ecke bog. Martha fiel es auf, wie ruhig und heiter Rolfers dreinschaute, auf seiner Stirn lag ein leuchtender Friede.
Sie seufzte. Ihr war nicht friedvoll zu Sinn, und sie hatte alle diese Nächte ihr Kopfkissen mit vielen Tränen befeuchtet. Doch die zwei, die nur miteinander beschäftigt waren, hatten es nicht beachtet, wie sehr sie von Kummer und Gram beschwert neben ihnen einherging.
Mit zwei Aufträgen war Richard neben dem Hauptzweck seiner Reise bedacht worden. Der Professor hatte ihn am Abend noch mit hinauf ins Atelier genommen und ihm eine feine alte Goldkette gezeigt.
»Sieh, die möchte ich deiner Mutter schenken. Sie hat viel Mühe und Arbeit von der Sache gehabt. Und ich wünschte, daß du ihr einen schönen Kleiderstoff mitbrächtest. Eine weiche Wolle, die sanfte, fließende Falten gibt, die Farbe dachte ich mir in einem dunkeln Violett wie reife Pflaumen. Das muß gut stehen zu ihrem blonden Haar und zu der Kette. Wir wollen unsre Mutter doch hübsch sehen. Sie gibt zu wenig auf ihr Äußeres.«
»Ja, das habe ich ihr oft gesagt,« rief Richard eifrig. »Aber sie wollte nie hören, und es ist ja auch wahr, wir hatten immer so wenig Geld,« fügte er naiv hinzu.
»Darum müssen wir beide nun für sie sorgen,« sagte Rolfers und klopfte Richard auf die Schulter. »Sieh, daß du etwas Schönes findest – und vergiß auch die Farbentuben für dich nicht. Hier ist das Verzeichnis.«
Seine Mutter befahl ihm, in ihre Wohnung zu gehen und nachzusehen, ob dort alles noch gut verwahrt und in Ordnung sei. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Rolfers erst, daß die Wohnung noch nicht gekündigt war.
»Ja, warum hast du das Ostern nicht getan, Martha?« fragte er. »Deine Einrichtungen gehen mich ja nichts an – aber da du sonst so sparsam wirtschaftest, nimmt es mich wunder . . .«
Martha entgegnete ein wenig verdrossen, sie müsse einen Ort haben, ihre Möbel aufzubewahren, an denen sie doch hänge, und überhaupt wolle sie einen Fleck wissen, der ihr gehöre. Sie zeigte ein so ablehnendes Wesen in dieser Angelegenheit, daß Rolfers schnell das Gespräch auf ein andres Thema brachte. Aber in den Tagen, in denen Richard entfernt war, mußte er noch oft an den verschlossenen und feindseligen Ausdruck denken, der sich bei dem Gespräch über die Wohnung auf ihrem Gesicht gezeigt hatte.
Er ging viel und unruhig im Haus umher.
»Die Stille ist geradezu beklemmend, findest du nicht, Martha?« fragte er mehrmals. »Ich hatte gar nicht gewußt, daß der Bengel so viel Lärm vollführte.« Und er hörte in Gedanken die frische eifrige Stimme durchs Haus jubeln: Professor – Professorchen! Denn je vertraulicher der Junge wurde, desto mehr Fragen und Wünsche hatte er auch an ihn.
Abends, als er mit Martha, wie sie es gern zu tun pflegten, den breiten Weg zwischen den Gemüsebeeten hinab und hinauf wandelte, an dessen Rändern nun schon die ersten Rosenknospen sich öffneten, fragte er seine Gefährtin sacht und ein wenig verlegen: »Sage, Martha, hast du keine alten Photographien – so dumme kleine Kinderbilder von dem Jungen? Die möcht' ich wohl gerne einmal sehen.«
»Ich ließ sie in Berlin!« erwiderte Martha kurz, und Rolfers schwieg betroffen. Er ging dann bald ins Haus. ›. . . Jetzt wird er bei Gebhardts sitzen‹ dachte er, denn er hatte seine Freunde gebeten, den Richard in der Familie gastlich aufzunehmen, er wußte, daß dies in dem großgeführten Hause keine Schwierigkeiten machte. ›Oder vielleicht haben sie ihn auch ins Theater geführt. Wie er sich wohl gebärden wird . . . ich wollte, ich könnte ihn sehen‹ . . . So träumte er sehnsüchtig und versuchte umsonst, seine Gedanken auf ein Buch zu sammeln.
Martha hatte sich ebenfalls früh in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie verschloß die Tür. Dann entnahm sie ihrer Schublade ein altes abgegriffenes kleines Lederalbum und blätterte darin. Es enthielt die Bilder von Richard, nach denen Rolfers gefragt hatte. Richard als nackendes Kindchen, Richard im karrierten Kittel, mit einem Ball in der Hand, auf den er herabblickte, als trage er die Weltkugel, Richard als Matrose und im Verein mit zahllosen dicht zusammengedrängten Schuljungenköpfen. Und das letzte: Richard mit der Gitarre auf einem Baumstumpf unter den Wandervögeln. Sie küßte und streichelte die Bilder und sprach leise zu ihnen, gab ihnen leidenschaftliche Kosenamen, als seien sie lebendig.
»Nein, nein,« flüsterte sie, »die soll er niemals sehen – die sind mein Eigentum, meines allein – Seine süße Kindheit, die will ich mit niemand teilen – die gehört nur mir allein!«
Sie versteckte das Album wieder sorgfältig unter ihrer Wäsche und schob die Lade zu.
Lange saß sie auf dem kleinen Schaukelstuhl neben der Kommode, wiegte sich leise hin und her und schaute trübe vor sich nieder. Zuletzt raffte sie sich auf, seufzte noch ein paarmal, nahm ihre Schreibmappe, rückte sich die Lampe und begann mit einem energischen Entschluß verschiedene Briefschaften, die sie in den letzten Tagen erhalten hatte, aufmerksam durchzulesen. Sie nahm darauf einen leeren Bogen, legte ihn vor sich hin und sah nachdenksam vor sich nieder. Noch einmal rechnete sie auf dem Löschblatt verschiedene Zahlenreihen zusammen und begann resolut den Brief zu schreiben. Doch mußte sie zweimal ein neues Blatt nehmen und frisch beginnen, weil große Tränen auf das Papier fielen und die Schrift verlöschten. Endlich brachte sie ihren Vorsatz mit einer grimmigen Miene von Entschlossenheit dennoch zustande. Sie ging hinaus und öffnete die Haustür. Oben lehnte sich Rolfers aus dem Fenster.
»Wer ist dort?«
»Ich will nur einen Brief zum Kasten bringen« antwortete Martha und lief eilig, als verfolge man sie, in die mittlerweile eingetretene Dunkelheit hinaus.
Rolfers holte den Jungen selbst von der Station ab. Der sprang strahlend froh aus dem Zug, von lauter guten Nachrichten überströmend. In Berlin und Hamburg flatterten die Siegesfahnen von allen Dächern, denn Lemberg sei gefallen, und nun stürmten die Heere auf Warschau zu –! Und die Ausstellung –! Der Professor solle nur nicht glauben, daß die Menschen um des Krieges willen kein Interesse mehr für Kunst haben wollten –! Gedrängt hätten sich die Leute – die Nationalgalerie habe das große Seestück gekauft, das mit der grauen schweren Luft und dem dunkeln Wasser – und es habe sich fein gemacht, daß schon bei der Eröffnung der Ausstellung daran gestanden habe: Verkauft. Und die Kunsthalle in Hamburg werde auch ein Bild kaufen, es sei aber noch ungewiß welches. Und Gebhardt hätte es schon telegraphiert, aber er wollte ihm die Freude gönnen, es zu berichten. Und lieb sei er zu ihm gewesen – Frau Gebhardt auch und der junge Gebhardt . . . Nicht zu sagen –! Aber er wisse schon, wem er das zu verdanken habe. Der Abend verging unter den fröhlichen Berichten des aufgeregten Knaben. Sie saßen auf der Veranda. Rolfers hatte Martha gebeten, das Essen ein wenig festlich zu gestalten, und hatte Rosen geschnitten, sie auf den Tisch zu stellen. Zuletzt brachte er noch eine Flasche Sekt aus dem Keller und schenkte ihn in die schönen schlanken Kristallkelche, die sonst im altertümlichen Glasschrank standen. Richard war ganz wild vor Entzücken. Martha schüttelte den Kopf und meinte, Rolfers verwöhne den Jungen, doch sie wurde überstimmt. Der Professor war lustig wie ein Akademieschüler – und die beiden heckten allerlei Witze und Schnurren miteinander aus. Richard packte auch das Paket mit dem dunkelvioletten Kleiderstoff aus, gemeinsam umhüllten sie die widerstrebende Frau mit der weichen Wolle, und endlich hing Rolfers ihr die goldene Kette über den Kopf. Dann holte Richard seine Laute und stimmte Vaterlandslieder an, und der Professor sang tapfer mit, lehrte ihn auch Melodien von schönen alten Volksliedern. Martha hatte anfangs mit eingestimmt, aber sie schwieg bald wieder.
Einmal fragte Rolfers: »Martha, ist dir nicht wohl, du siehst so blaß aus?« Doch sie meinte, es sei nur der grüne Schein von den dichten Weinranken.
Mit heißen roten Backen und Augen wie zwei Lichtern schaute Richard aus den weißen Bettkissen, als seine Mutter noch einmal zu ihm kam, ihm den Gutenachtkuß geben.
»Mutti – war das ein schöner Abend – nicht? Herrlich! Daß der Professor so lustig sein könnte, hätte ich doch nie geglaubt! Und die Goldkette, was –? Die mußt du jetzt täglich tragen – o, warum hast du sie abgenommen – sie steht dir so gut! – Mutti, was hast du – dich quält etwas – du hast dich auch nicht gefreut über die Geschenke – glaubst du nicht, daß der Professor uns lieb hat? Sag' doch, Mutti?«
Der erregte Knabe setzte sich aufrecht, legte den Arm um seiner Mutter Hals und streichelte sie.
»Dich hat er lieb!« stieß Frau Martha hervor. »Was bin ich ihm? Nichts! Weniger als nichts! . . . Eine Wirtschafterin –! Ausnützen tut er uns und dann ein Geschenk. Wie's mich beleidigt, ahnt er nicht einmal! So von oben herab! – O – ich kenne ihn, den Zauberer – aber über mich hat er keine Macht mehr – nur dich – dich hat er ganz und gar!«
Sie schluchzte laut auf. Richard löste bestürzt den Arm von ihrem Hals. Der Ausbruch traf ihn so unvorbereitet, daß er zunächst nur grenzenlos erschrocken war. Niemals noch hatte er so leidenschaftliche Töne aus seiner Mutter Munde vernommen. Wie kam sie, die Stille, Gefaßte, Verständige, zu diesem Verzweiflungsweinen? Wie lange mußte das schon in ihr gewühlt haben . . . Aber was denn? Er begriff den Grund ihres Kummers noch immer nicht.
»Sag' mir doch nur, warum du so traurig bist?« bat er. Und als sie schwieg, nur den Kopf heftig schüttelte, begann er leise zögernd, voll Scham und Scheu: »Wenn du ihm nicht verziehen hattest, warum kamst du dann zu ihm? Ich habe es nicht gewollt! Ich verstand dich auch anfangs nicht – ja – aber dann –! Dann habe ich ja begriffen – so gut – so gut . . . Man muß ihn verehren . . .«
Martha riß ihren Sohn plötzlich in ihre Arme und küßte ihn wild.
»Ich ertrage es nicht – ich ertrage es nicht!« stöhnte sie. »Ich gehe daran zugrunde – ich werde schlecht, wenn ich hier bleibe – gemein, boshaft – gehässig – ganz, ganz klein werde ich, wenn ich länger hier bleibe . . . Er hat mir alles genommen – und er wird dich mir auch noch nehmen. Du siehst und hörst ja schon nichts andres als ihn! Du bist ja schon wie verzaubert – Richard, hast du denn dein armes Mutti gar nicht mehr lieb?«
»Aber, Mutter –,« rief der Knabe, richtete sich schnell auf und sah seine Mutter mit seinen hellen Augen zornig an, »wie redest du nur? Ich kenne dich gar nicht mehr . . . Ich habe dich lieb, das ist doch selbstverständlich. Darf ich darum einen andern Menschen nicht liebhaben . . . Mutti – er – er ist doch mein Vater!«
»Gut – so wähle!« sagte Martha. Sie war aufgestanden und blickte mit verweinten, zerwühlten Zügen auf ihn nieder. »Ja, Richard – es geht nicht anders. Ich habe mir Übermenschliches zugetraut und kann es nicht durchführen. Meinetwegen sage, ich bin schwach. Ich bin auch nur ein schwaches Weib. Ich will fort von hier. Fort aus dem Hause will ich!«
»Mutter – das – nein, das kannst du nicht!« schrie Richard ganz laut vor Schrecken und starrte seine Mutter voll Entsetzen an.
»Sei leise, Richard, er hört uns,« mahnte die Mutter. »Mein Junge, es wird dir schwer, aber du mußt mir das Opfer bringen – du wirst – ich weiß es . . .«
»Welches Opfer?« fragte Richard und begann zu zittern. »Was meinst du denn, Mutti?«
»Daß du mit mir gehen sollst, Richard, das meine ich. Heimlich wollen wir fort. Anders geht es nicht – sonst bringt er uns ja doch wieder in seine Gewalt. Ich kann es nicht durchleben, wie er dich von meinem Herzen fortlockt . . . Und glaube mir, Richard – ich kenne ihn – in ihm ist eine schauerliche Kälte. Was gilt ihm Menschenglück – ihm gilt nur die Kunst . . . Wenn du ihn da enttäuschest – du sollst es sehen, wie er dich rücksichtslos über Bord wirft . . .«
»Das darf er auch,« sagte der Knabe trotzig. »Das ist sein gutes Recht!«
»Ich will es nicht erleben. Ich nicht. Ich zerbreche daran.«
Ihre Augen irrten hilflos. »Vielleicht ist es schon zu spät,« sagte sie plötzlich gedrückt, wie unter einer allzu schweren Bürde von Kummer. »Ja, ich fühle es, bleibe nur bei ihm . . . Laß mich gehen, Richard, halte mich nicht zurück. Sieh – ich habe mir eine Stellung gesucht, wo ich Brot habe, selbständig bin. Nicht in Berlin, das war nur, um ihn irrezuführen. Du wirst mich nicht verraten, Richard! Wenn ich erst ganz weit fort von euch bin, in der Arbeit, in recht viel Arbeit – dann wird es ja schon gehen. Dann werde ich mich ja schon wiederfinden . . .«
»Mutter – das ist alles so unmöglich – so sonderbar unmöglich . . .«
Nun streichelte sie ihn unter Tränen, die ihr über das blasse, eingefallene und erschöpfte Gesicht liefen.
»Gelt – du sagst ihm nichts – verrätst mich nicht? Mein armer Junge, daß ich dir so weh tun muß . . .«
»Ja,« murmelte Richard und ließ den Kopf trostlos auf die Brust fallen, »du tust mir weh – so weh . . .« Er krümmte sich, wie in großen Körperschmerzen. »Nie habe ich daran gedacht . . . Nie . . . Mutter – bitte – versuche doch zu schlafen . . . Morgen wirst du alles anders sehen . . .«
»Nein; Richard – das ist kein Plan von heut – der ist seit Wochen in mir gereift. Und nun bin ich ganz entschlossen . . . Aber ich will dich nicht zwingen, mit mir zu gehen. Es wäre wohl zu grausam . . . ?«
Richard ballte die Fäuste. ›Nein, nein, ich gehe auch nicht mit ihr‹ schrie es in ihm. ›Ich gehöre zu ihm und bleibe hier‹ . . .
Sie hatte wohl eine Antwort erwartet und beobachtete ihren Sohn eindringlich, gespannt. Er kniff die Lippen zusammen und wandte den Kopf von ihr fort. Mürrisch streckte er sich in seinen Kissen aus.
Einige Augenblicke stand sie unschlüssig an seinem Bett. »Richard, willst du mir nicht noch einen Kuß geben?« fragte sie mit leiser demütiger Stimme. Er machte eine heftig verneinende Bewegung und wühlte sein Gesicht in die Kissen . . .
Da ging sie gebeugt und schwankend in ihr Zimmer zurück. Sie ließ die Türe geöffnet, denn ihr war, als könne sie jetzt nicht allein sein, als müsse sie wenigstens noch seinen Atem hören. Leise und schnell legte sie sich nieder. Schwer hing die heiße Sommernacht über dem Lager, auf dem Martha verstohlen in die Kissen weinte. Sie hörte, wie Richard sich zuweilen hin und her warf. Dann wieder lag er lange still, so daß sie von einer sonderbaren Angst ergriffen wurde. Könnte sie wahrhaftig ohne ihren Jungen leben? Sie hatte das so hingesprochen . . . Aber wenn er sich von ihr losmachen würde, wenn sie ihn verlieren müßte? . . . Trotzdem wich sie nicht von ihrem Vorsatz, an den sie sich klammerte, wie der Ertrinkende sich an ein Rettungsboot festkrallt. So viele Jahre hatte sie in nüchterner Stille gelebt . . . Nein, sie hatte gelogen, wenn sie behaupten wollte, jenes Jugendschicksal laste noch auf ihr. Sie hatte es längst verwunden. Sie war friedlich und froh in ihrem Jungen gewesen. Keine Ahnung hatte sie jemals beunruhigt, daß ihr noch einmal Seelenleiden aufgespart sein könnten, wie sie sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte.
Sie hörte die Türe leise gehen, vernahm das Tappen nackter Füße. Sie unterschied Richards Gestalt im weißen Nachthemd. Er kam sachte näher, setzte sich zu ihr, beugte sich tief über sie nieder und flüsterte ihr ins Ohr: »Mutti, sage mir eins . . . Du hast ihn noch lieb, nicht wahr? . . .«
Sie schlang die Arme um ihren Sohn und drückte ihren Kopf an seine Brust. »Ich weiß nicht –! Hilf mir, Richard . . . hilf mir doch – – ja – ich glaube – ich liebe ihn immer noch . . .«
Er hielt sie lange still in seinen Armen und an seiner Brust. Dann sagte er ruhig und sicher: »Ich gehe mit dir, Mutti. Ich verlasse dich nicht. Das denke nur nicht. Ich bleibe immer bei dir. Aber nun höre zu: Heimlich gehen wir nicht, das tun wir auf keinen Fall. Was man will, muß man auch vertreten. Du mußt es ihm sagen.«
»Ich kann nicht!«
»Doch, du kannst. Er hält uns nicht zurück, wenn wir fortgehen wollen – dazu ist er viel zu stolz. Wenn du willst, so rufe mich nur, und ich sage ihm, daß ich mit dir gehen will. Dann ist alles aus zwischen uns.«
Der Knabe sprach die letzten Worte in einem so herzzerreißenden Ton von Hoffnungslosigkeit, daß Martha ihn heftig an sich drückte und flüsterte:
»Du wirst mich auch nicht hassen – mein Einziges?«
»Nein, Mutti – ich verstehe dich ja,« sagte er leise und müde.
So saßen sie noch eine ganze Weile festverschlungen in der schwülen Sommernacht, schwiegen miteinander oder redeten leise über die Einzelheiten von Marthas Plan.
Endlich kehrte Richard in sein Bett zurück und fiel gleich in einen tiefen, schweren Schlaf.
Rolfers ging über den Hof in die Scheune. Lütje sollte das Pferd putzen und einspannen. Er wollte mit Richard über Land fahren, um ihm einen bestimmten Punkt zu zeigen, von dem aus er das Bild gemalt hatte, welches die Hamburger Kunsthalle zu kaufen beabsichtigte. Er war in guter Stimmung und pfiff, in Erinnerung des fröhlichen kleinen Gelages auf der Veranda, die Melodie von »Deutschland, Deutschland über alles«.
Ja, Gott sei Dank, die Einnahme von Lemberg, der Durchbruch von Mackensen – damit war doch ein weit offenes Tor geschaffen, durch das sich der Erfolg der deutschen Waffen vorwärts stürmend nach Rußland hineinwälzen konnte. Deutschland würde nicht untergehen . . . Es würde leben und siegen . . . Und sein Blick schaute erlöst in die Zukunft. Der furchtbare Druck, der alle die vergangenen Monate auf seiner Brust gelegen hatte, war vergangen. Er konnte wieder frei atmen – sich freuen und leben. Sein Ich war tot – unter tausend bitteren Schmerzen gestorben. Dieses harte störrische Ich, das nur dazu da war, damit die Welt im Wirbel um diesen einen Mittelpunkt kreiste, das nur sich selbst wollte und begehrte, auch in aller Kunst nur sich selbst zur Darstellung bringen mußte, und darum doch niemals das Höchste erreichte . . . Das wußte er ja ganz genau. Auch mit den zwei gesunden Armen und Händen hätte er's nie gefaßt und erlangt, immer sich in Theorien zerquält . . . Der Junge – der arbeitete viel naiver darauf los, als er's je gekannt. Am Ende erreichte Richard das in der Kunst, was er so inbrünstig gesucht sein Leben lang. Könnte er ihn nur bewahren vor der Akademie-Wirtschaft, dem neidischen Schauen auf den Nebenbuhler, dem Gieren nach Erfolg, nach Aufsehen. Könnte er ihn schützen vor der wilden Hetzjagd, in der sie sich alle verzehrt hatten, er und seine Zeitgenossen. Es lag doch eine wundervolle reife Süße in dem Sichselbstaufgeben um des Kommenden willen – nur noch einer sein, der den Weg bereitet in das neue Land, für die Jugend in der geretteten Heimat.
Rolfers trat in den dämmerigen Schuppen, in den die Sonne durch das große Eingangstor eine Bahn hellen Lichtes sandte, von Milliarden Staubatomen durchflimmert. Er sah den alten Kutscher nicht und wollte eben wieder hinausgehen, ihn im Stalle nebenan zu suchen, da hörte er hinter dem verstaubten Schlitten aus der Dunkelheit ein Bewegen. Er horchte auf – dort verbarg sich jemand.
Mit ein paar raschen Schritten ging er um den Schlitten herum. Auf einem Futtersack saß Richard, zusammengekrümmt, beide Arme auf einen vorspringenden Balken gelegt, den Kopf darauf gedrückt. Seine Schultern zuckten in kurzen Stößen, ein Ton, wie von einem Weinen, das gewaltsam unterdrückt werden soll, drang zu Rolfers. Es wurde ihm kalt und schwindlig vor den Augen, so tief erschrak er. Was war denn hier geschehen?
»Richard . . .«
Er wollte mit der Linken ihm den Kopf heben, aber der wühlte sich nur tiefer in das Versteck der Arme. Der ganze Knabenkörper wurde durchschüttelt von diesem leidenschaftlichen Schluchzen.
»Richard, mein Kerlchen – um Gottes willen – was ist dir denn geschehen? Sieh mich doch an – weißt du denn nicht, wie ich's mit dir meine? Du kannst mir doch vertrauen!«
Der Junge sprang heftig auf, zeigte ihm ein heiß und rot geweintes Gesicht, entzündete, verschwollene Augen, warf ihm beide Arme um den Hals und legte, wie in einer völligen Erschöpfung von Jammer, seinen Kopf an die Brust des Mannes. Der suchte zunächst nur seine Tränen zu trocknen, streichelte ihm das Haar und flüsterte ihm gute, beruhigende Worte zu.
Richard hob den Kopf und lächelte, wie kranke Kinder zuweilen lächeln, um die Erwachsenen über ihre Schmerzen zu beruhigen.
»– Es ist ja nichts,« antwortete er eilig, »nur Dummheit . . . Ich hatte etwas mit Mutti, – es ist schon vorbei.«
»Da machst du mir nun nichts weiß, mein Junge,« sagte Rolfers sehr ernst. »Die Wahrheit werde ich schon erfahren, auch wenn du sie mir nicht sagen willst – verlaß dich drauf.«
Sein Blick weilte eindringlich auf dem Knaben. Die verschiedensten Möglichkeiten, die den sonst so harten Jungen zu diesem einsamen Schmerzensausbruch veranlaßt haben könnten, jagten durch seine Phantasie. Auf das Richtige verfiel er nicht. Irgendein Erlebnis in Berlin erschien ihm als das Nächstliegende. Mutter und Sohn hatten gestern abend lange miteinander geredet, – ja er hatte ihre erregten Stimmen einigemal in harter Steigerung gehört.
»Richard, – soll ich dich erst bitten, mir zu sagen, was dir fehlt?«
In dem von Weinen verschwollenen Gesicht wühlte und arbeitete es. »Die Mutter wollte mit Ihnen reden,« stotterte der Junge. »Sie wird es doch nicht tun, sie sagt ja, sie hat keinen Mut.«
Rolfers zog die Brauen zusammen, sein Gesicht bekam dadurch etwas Finsteres, Drohendes. »Keinen Mut,« grollte er, »was soll denn das heißen . . . Da habe ich seit Monaten geglaubt, mit Freunden zusammen zu leben, und nun scheint es, sie hecken hinter meinem Rücken irgend etwas aus, was mir geheimgehalten werden muß.«
»Sehen Sie,« sagte Richard lebhaft, »das habe ich der Mutter auch gesagt. Sie müssen es wissen! Wir wollen fort!«
»Was – fort von mir – fort –? du auch?«
Richard nickte. »Ich gehöre zu Mutter!« Das war nur noch ein trotziges Gemurmel. Aber Rolfers hatte es doch verstanden. Er war vollständig fassungslos – an diese Möglichkeit, wenn er sie auch Martha freigestellt, hatte er doch niemals im Ernst gedacht. Das Gefühl einer ungeheuren Enttäuschung schnürte ihm die Kehle Zu. Ein Zorn stieg in ihm hoch – er hätte sich auf den Jungen werfen und ihn erwürgen können. – Der aber, wie er sah, daß der Mann blauweiß wurde im Gesicht und an der Nachricht fast erstickte, beugte sich, nahm seine linke Hand und küßte sie. Demütig und zärtlich hob er die Hand und legte sie auf sein eigenes Herz, das in wilden Stößen ihm die Brust beklemmte. Und sah mit seinen hellen, rotgeränderten Augen, deren Wimpern noch feucht glitzerten, flehend zu ihm auf. Wie ein stummes Tierchen, dem großes Unrecht geschieht.
Rolfers zog einen tiefen Atemzug. »Also – da scheint sich deine Mutter etwas recht Törichtes ausgegrübelt zu haben! Nun – wir werden ja sehen – wir werden ja sehen!«
Er faßte mit der linken Richards Kinn und hob seinen Kopf ein wenig zu sich empor. Seine Hand war kalt und zitterte, aber er sah den Knaben lange an.
»– du glaubst, ich ließe dich von mir,« sagte er undeutlich, »dich – meinen Weg, mein Ziel . . . meine Ewigkeit . . .«
Er strich mit der Hand über die Stirn.
»Nun komm, wir gehen durchs Gartenpförtchen ins Moor hinaus. Die Mutter ist vorn und sieht uns nicht, – da erzählst du mir alles. Wir werden schon ein Mittel finden, die Mutter umzustimmen. Ich glaube, ich weiß bereits eins – mit dem ich mich in diesen ganzen letzten Wochen herumgeschleppt habe . . . Sonderbar – man weiß – ein Entschluß ist reif – und kann doch nicht dazu kommen, die letzte Türe aufzustoßen.«
»Nicht wahr,« fragte Richard, »wenn wir heimlich fortgegangen wären – Sie hätten uns nie wieder geholt?«
»Nein, da kennst du mich gut – das hätte ich nie über mich gebracht.«
Richard nickte sinnend. Plötzlich hob er die Arme, warf sie Rolfers um den Hals, drückte ihn stürmisch und küßte ihn auf den Mund, der ihm beglückt entgegenkam, und zum erstenmal sprach er den Namen: »Vater – mein Vater!«
Sie gingen beide den Weg ins Moor, auf dem Rolfers schon in vielen kampfreichen Stunden seines Lebens auf und nieder geschritten war. Hand in Hand gingen sie dort und redeten miteinander wie zwei Freunde.
Martha saß vor der Veranda und nähte, als Rolfers zurückkehrte und sich zu ihr setzte. Richard war durch den Hof ins Haus gelaufen. Über dem Garten lag ein warmes, goldenes Nachmittagslicht, die großen Tannen dufteten kräftig und der zarte Geruch der Rosen schwebte wie eine süße leichte Melodie in der Luft. Martha fühlte sich ein wenig dumpf im Kopf und gleichsam ausgehöhlt. Als habe mit der gestrigen Aussprache gegen ihren Sohn ihr Wesen an Spannkraft und ihr Entschluß an Energie verloren. Sie fand das Leben unerträglich schwer und arbeitete sich immer tiefer in Kummer und Zorn gegen Rolfers hinein, denn ihr schien, ehe sie ihn wiedergetroffen hatte, ihre Existenz wie ein friedliches Bächlein zwischen Wiesenufern dahingeglitten zu sein. Er allein hatte alles in eine wilde leidenschaftliche Unordnung gebracht, aus der sie, was auch geschehen mochte, sobald nicht wieder auf ebene freundliche Straßen hinausfinden würde. Immer heftiger und eiliger stach sie mit der Nadel durch den weißen Stoff, als müsse mit der Beendigung dieser Naht auch ihr Schicksal endgültig beendigt werden. Sie hörte Rolfers kommen und es schoß ihr durch den Kopf: jetzt wäre der geeignetste Augenblick, um ihn mit unsrem Plan zu überfallen. Sie nickte ihm nur flüchtig zu und nähte immer schneller weiter, ohne aufzusehen. Er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, doch das oft Geübte gelang ihm diesmal nicht, die Hand zitterte zu heftig, er mußte um Marthas Unterstützung bitten. Sie strich ein Zündholz an, und versorgte ihn mit Feuer, um dann hastig ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Er sah ihr eine Weile schweigend zu.
»Man sollte meinen, Martha, du nähtest um dein Leben . . .,« sagte er heiter und eine Wenigkeit ironisch. »Sieh einmal auf und genieße diese goldene Stunde!«
»Ach – es ist einem nicht immer um goldene Stunden!« sagte sie traurig.
»Nein, gewiß nicht. Die paar, die uns geboten sind, pflegen wir uns noch kunstvoll zu verdunkeln. Ich fürchte auch, ich wähle eigentlich nicht die richtige Zeit, um dich etwas zu fragen, was mir schon lange im Gemüt rumort. Aber es muß nun doch heraus: Willst du meine Frau werden?«
Martha warf die Arbeit zur Erde und flog auf ihrem Stuhl in die Höhe.
»Das soll ich doch nur um Richards willen,« rief sie dunkel erglühend und schon wieder nahe an den ausbrechenden Tränen. »Wenn du glaubst, ich tue dir jeden Willen, so irrst du. Das ist ein für allemal vorüber!«
»Martha, ich möchte in dieser Stunde, die mir sehr ernst und heilig ist, keine Unwahrheit zwischen uns lassen. Ich will Richard als meinen Sohn anerkennen, ich will ihm meinen Namen geben. In ihm ist mir das Beste meines Lebens neu erstanden! Ich bekenne ganz offen, daß ich ihn vielleicht nicht lieben gelernt hätte, wenn ich nicht in ihm mein eigenes Sein, mein Streben und Sehnen wiedergefunden hätte. Du kennst mich, Martha, – meine Stärke und meine Schwäche, unter der du ja schon genug zu leiden gehabt hast: es geht mir nicht allein um irgendeinen lieben Jungen – es geht mir um meine Kunst – ach – was sage ich – meine! Es geht mir um die Kunst schlechthin, die in Richard sich so prachtvoll frisch und kräftig regt! Muß ich künftig nur noch Hüter sein, so will ich das ganz und aus allen meinen Kräften werden! In diesen fürchterlichen Weltkrämpfen ist es doch etwas Heiliges, die kleinen Pflänzchen zu betreuen, in denen sich das Ewige verkörpert, das der Mensch doch schließlich ebenso nötig braucht wie Brot und Kleider, ja wie das Vaterland selbst. Es ist ja merkwürdig, daß die Kunst auf blutigem, gefährlichem Boden oft so gut gedeihen kann. Sie ist eine dämonische Luxuspflanze, die sich von kostbarem Menschendünger nährt. Ich denke, du verstehst mich nun, wenn ich sage, es geht in dieser Angelegenheit keineswegs um dein oder um mein Glück, sondern um etwas viel Höheres, Allgemeineres. Hätte ich die Überzeugung nicht, ich würde gewiß nicht wagen, dir diese letzte Entsagung zuzumuten . . .«
Martha wand die Finger ineinander und blickte Rolfers hilflos an. »Ich kann nicht, Franz – was du von mir verlangst, kann ich nicht leisten! Das mit der Kunst – es ist gewiß wahr – aber es klingt so kalt – ich kann es doch nicht verstehen.«
Sie stand auf, starrte in den blühenden sommerwarmen Garten, blickte wieder zurück auf den Mann, den sie liebte – sie fühlte es so stark in dieser Stunde – und der ihr doch so fremd war und so Grausames von ihr forderte, während er still wartete.
»Gut denn – nimm Richard – ich schenk' ihn dir – wenn es sein Glück ist . . .,« sprach sie bebend und schluchzend. »Nur sehen will ich ihn zuweilen! Weiter nichts, als ihn hin und wieder ein paar Tage zum Besuch haben, das wirst du mir ja gönnen!«
Sie trank ihre salzigen Tränen mit den Lippen, als müsse sie damit den herben Trank ihrer Zukunft kosten.
»Nein, Martha – das eben will ich nicht! Richard braucht uns beide! Du bist seine Mutter – unter deiner Hut ist er so geworden, wie ich ihn heute liebe – niemals möchte ich den warmherzigen Jungen von seiner Mutter trennen. Ich will jetzt nicht von Dankbarkeit reden . . .«
»Das könnte ich auch am wenigsten ertragen,« flüsterte Martha zornig.
»Also lassen wir das Kapitel beiseite,« sagte Rolfers. »Wäre es dir lieber, Martha, wir würden unsre neue Ehe mit der Einbildung beginnen: wir zwei alternde Menschen, für uns könne noch mal ein Liebesfrühling kommen? Unser Frühling heißt Richard – ich meine, er blüht schön und verheißungsvoll. – –
Sieh, ich biete dir meine Hand . . . Mancherlei habe ich durchlitten – darum glaube ich nun, ich kann dir helfen und dir ein Führer sein aus dir selbst heraus – hinein in ein besseres und höheres Gefühl, das uns zwei innerlich einen soll! Elternliebe muß genug Kraft und Saft haben, um eine Gemeinschaft reich und froh zu machen, meinst du nicht?«
»O Franz . . .« Wie sie seinen Namen sprach, bebend unter tausend Erinnerungen, wußte der Mann, daß er sie gewonnen hatte. Er öffnete die Türe und rief laut nach seinem Sohn.
Ende