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Deutsche Kaiserkrone.

1. Im Charlottenburger Park.

Der Frühling hatte begonnen, ein Jahr harter und blutiger Kämpfe war vergangen, aber der Friede war noch nicht wiedergekehrt, jeder fühlte, daß erst der rechte Zusammenstoß folgen müsse und werde in dem entfesselten Streit der Meinungen. Mit Schwert, mit Feder und Wort zum entscheidenden Kampf gerüstet, standen die Parteien einander gegenüber, das Volk dem Fürsten, der Bruder dem Bruder. Wie eine schwere, schwüle Wolke lastete es auf den Gemütern, alles in Unruhe, kein Verhältnis geordnet, Unsicherheit in allen Sphären des bürgerlichen Lebens, Haß und Groll, zum äußersten aufgeregte Gemüter, und daneben das tiefe Bedürfnis nach geordneten Zuständen.

Es war am Montag, den zweiten April 1849.

Der König residierte in Charlottenburg, so war er in der Nähe von Berlin, ohne in der Stadt selbst zu verweilen, die ihm soviel Herzeleid gebracht. Am Tage vorher, dem Sonntag, dem ersten schönen im Frühjahr, war deshalb auch der Zug der Berliner zu den ziemlich langweiligen Vergnügungen Charlottenburgs stärker als gewöhnlich gewesen, und während die Frauen den Familienkaffee kochten, disputierte der Spießbürger zwischen dem Raisonnement über die schlechte Weiße gegen den Belagerungszustand des Vater Wrangel, den er doch, wo er ihm begegnete – und der alte Herr ließ sich oft genug begegnen – mit großem Respekt und einem gewissen Wohlbehagen grüßte, oder er phantasierte von der deutschen Kaiserkrone, die nicht etwa nach altem historischen Recht die sieben Kurfürsten des heiligen römischen Reichs dem Könige von Preußen aufgesetzt, sondern die das Frankfurter Parlament dem Hohenzollern auf wohlverklausulierte Bedingungen zu übertragen kam.

Zweihundertneunzig Stimmen hatten sich in der Sitzung der Paulskirche unter dem Vorsitz des Präsidenten Simson am 28. März für die Übertragung der vom Parlament neu geschaffenen Kaiserkrone an den Preußenkönig, zweihundertachtundvierzig durch Enthalten von der Stimmabgabe dagegen erklärt.

Der Telegraph hatte bereits am Sonntag die Ankunft der Deputation der dreiunddreißig Mitglieder für den nächsten Tag und die schmähliche Verhöhnung gemeldet, die sie bei dem liberalen Pöbel von Cöln auf der Durchreise gefunden, wo der Kaiser Cigarro, wie ihn der boshafte Zuschauer der Kreuzzeitung nannte, der Tabakshändler und künftige Reichstagspräsident Raveaux, mehr galt, als der König von Preußen, und wo man noch kurz vorher dem unglücklichen und doch so erhabenen Monarchen eine seidene Narrenkappe anzubieten gewagt hatte, während der Pöbel der Nachbarschaft Düsseldorf, unter der Agitation von Juden und entarteten Courtisanen, ihn mit Schmutz und Kot bewarf.

In den Gängen des schönen Parks war es noch ziemlich öde, spärlich erst belaubten sich die Büsche, aber das Wetter war mild und schön.

Trotzdem belebten heut nur wenige Gruppen den Park, das erwartete Schauspiel des Einzugs der Kaiser-Deputation hielt ganz Berlin in den Mauern der Residenz.

Bei der Neugier der Berliner und der Vorliebe gerade der unteren Klassen für Straßenschauspiele mußte deshalb um so mehr ein Paar auffallen, dessen ganzer Typus den echten Berliner Handwerker oder Geschäftsmann der unteren Klassen verriet. Der Mann trug einen offenbar vom Mühlendamm herrührenden, aber ziemlich anständigen, braunen Überrock, dunkle Tuchbeinkleider und Weste vom selben Stoff, und in dem baumwollenen Vorhemdchen mit den großen sorgfältig gesteiften Vatermördern voll Ostentation eine falsche Nadel, ebenso über der Weste eine gleiche dicke Uhrkette, und an den Fingern mehrere auffallende Ringe. Der Hut war sauber gebürstet und mit einem gewissen Schwung über die niedrige Stirn gesetzt; das Gesicht, die Zeichen eines frühern wüsten Lebenswandels tragend, war sorgfältig rasiert, von dem dichten und langen roten Bart, der es früher umgeben, keine Spur mehr; denn der Mensch war kein anderer als unser alter Bekannter von den Berliner und Frankfurter Barrikaden, oder vielmehr hinter denselben her vom Leichenbett des preußischen Offiziers und dem Schmerzenslager des ermordeten Fürsten.

Aber nicht bloß im äußern war eine vollständige Umwandlung mit dem würdigen Typus des Berliner Bummlertums unterster Sorte vorgegangen. Herr Franz Günther, wie er sich nennen zu lassen liebte, hatte das Demokratentum ganz und gar an den Nagel gehängt und war seit dem Einzug des General Wrangel und dem Ministerium Brandenburg-Manteuffel ein wütender Reaktionär oder, wie er sich ausdrückte, ein »Gutgesinnter« geworden, der seinen Patriotismus damit bewies, daß er mit Hilfe seiner früheren Bekanntschaften die versteckt gehaltenen Waffen der seligen Bürgerwehr an das Militär denunzierte, eine mächtige schwarz-weiße Kokarde trug mit der Aussicht, in den Preußenverein aufgenommen zu werden, und auf die Demokratie schimpfte.

Im übrigen nannte er sich »Komissionär«, kaufte Pfandscheine, machte allerlei kleine Handelsgeschäfte, erlaubte und unerlaubte, und hatte seine Amande zur wirklichen Ehefrau erhoben und sie so dem Verkehr in den etwas zweideutigen Tanzvergnügungen der »Kitzelpelle« und des »zerbrochenen Topfes«, ja selbst der höhern emanzipierten Gesellschaft der Musenhalle entzogen.

Was diesen plötzlichen Umschwung seiner politischen Meinung hervorgebracht, ob der Eindruck des Erlebten in Frankfurt, ob der plötzliche Besitz des Geldes aus der Börse des Majors und des ermordeten Fürsten, läßt sich nicht sagen. Das Geld, das er seiner unglücklichen Schwester damals abgenötigt, hatte er bald verjubelt, mit den 200 bis 300 Thalern, die er bei der oben erwähnten Gelegenheit und durch den Verkauf der Uhr gewonnen, war er jedoch merkwürdig sparsam umgegangen und fühlte sich auf einmal als gemachten Mann. Die Art und Weise, wie er jetzt des Abends am Biertisch politisierte und zuweilen einen geheimnisvollen Wink fallen ließ, daß er mehr wisse, als er sagen dürfe, und verteufelt hohe Bekanntschaften habe, hatte ihm sogar bei seiner Gesellschaft von Dummköpfen, die er sich sorglich auszuwählen verstand, ein gewisses Ansehen gegeben.

Und warum sollte der Dieb und Bummler auch nicht plötzlich ein »Reaktionär« geworden sein, ein famoser Schwarzweißer!

Kam doch das jämmerliche Pack der Geheimen Räte und hohen Beamten, die unter den Stürmen des Sommers von Achtundvierzig sich feig verkrochen oder den Mantel nach dem Winde gedreht und mit dem Märtyrertum stets liberaler, von oben herab unterdrückter Sympathieen geprahlt hatten, jetzt unterm Schutz der Wrangelschen Bajonette hervor, rühmte seine treue Gesinnung und wollte unsägliche Opfer gebracht haben, für die es jetzt alle möglichen Samenkörner der Entschädigung auflas! Hoflieferanten, und Berlin wimmelt davon! die im März nichts eiligeres zu thun gehabt, als alles Königliche und Prinzliche von ihren Firmen zu entfernen, krepierten fast vor lauter Patriotismus, und Hoteliers, die am Achtzehnten die Agenten der Revolution beherbergt und losgelassen, arrangierten patriotische Konzerte, schworen auf Manteuffel und schielten nach einem Orden der Treue.

Die schöne Amande, jetzt Madame Günther, die aus den Vorräten eines Armkörbchens die moosbedeckten hundertjährigen Karpfen des Teiches mit Kuchen und Weißbrot fütterte, war etwas verblüht und hatte Anlage zur Korpulenz. Ihr tiefgerändertes Auge zeigte etwas Melancholisches, Schmachtendes, denn sie war eine eifrige Kundin der Leihbibliothek und »vor ihr Leben gern« gefühlvoll. Man sagte ihr nach, daß sie sich einst um den »Bureauchef« eines Advokaten ruiniert habe und noch immer den Kirchhof besuche, wo der Lump begraben war, der wegen eines kleinen Konflikts mit der Kriminaljustiz vorgezogen hatte, sich aufzuhängen, statt länger mit Fräulein Amande Villa Colonna und die Waldemarstraße zu besuchen.

Trotz der Verirrungen ihrer Jugend und ihrer Gefühle, war die junge Ehefrau zierlich, fast geschmackvoll gekleidet, ein Talent der Berlinerinnen aller Stände. Darum zeigte sich auch ihr Gemahl bei jeder Gelegenheit stolz auf sie und hatte, obschon er sehr wohl die Fertigkeit ihrer Zunge kannte, großen Respekt vor ihrem gebildeten Zustand. Diesmal aber schien er doch den Haustyrannen gespielt zu haben, denn die blonde Amande schmollte und amüsierte sich mit den Karpfen auf eigene Hand, weil er ihr verweigert hatte, mit ihr die Frankfurter Kaiser-Deputierten zu empfangen.

Die schöne Amande schloß ihren Kober, ohne auf den sehnsüchtigen Blick ihres Eheherrn zu achten, der von Zeit zu Zeit nach dem Fläschchen echten Gilka mit feinem Pomeranzen schielte, das jener zur Ersparnis barg.

»Die Natur in ihr Erwachen is wirklich sehr schön,« sagte die junge Frau, »aber wenn die Orangerie vors Schloß steht und der Duft durch die Lüfte jetragen wird, daß es riecht, wie in der Parfümeriehandlung an der Ecke, is es doch noch schöner, und ich möchte mir hier leicht verkälten. Wollen wir jetzt zu Morelli jehn und Kaffee trinken? Die Jesellschaft ist dort immer am besten, wenn man auch allein ist, und die Tasse kostet nur zwei gute!«

»Geh meinetwegen! Ick were hier bleiben, denn ick muß sehen, wat se hier dhun!«

»Wer?«

»Na die Jesellschaft, die uns vorhin vorbeijegangen.«

»Wo Du Dich umdrehtest? Was ist mit ihr, kennst Du sie?«

»Ob ick ihr kenne, den alten Murrkopp und die Geheimderätin, wenn sie auch noch so stolz thut. Hast De den Alten gesehen mit 'n jrauen Schnurrbart und des eiserne Kreuz ins Knopploch, der aussieht, als wolle er alle Ogenblicke drinhauen?«

»Nun?«

»Et is de Male ihr Schwiegervater!«

»Unsinn!« sagte die Frau, »was faselst Du wieder! Es ist traurig genug, daß wir die Schande in der Familie haben, aber wenn jedes Mädel, das auf der unrechten Seite in Wochen kommt, einen Schwiegervater haben sollte, müßten viele Schwiegerväter in Berlin rumlaufen!«

Die schöne Amande war, seit sie verheiratet, auffallend tugendhaft und splitterrichtend geworden.

Der würdige Kommissionär antwortete nicht, sondern pfiff mit einem gewissen Ausdruck innerer Befriedigung vor sich hin.

Bei aller Unterordnung unter seine würdige Ehehälfte hatte er doch von vornherein die Gewohnheit angenommen, seine Geschäftsangelegenheiten und einige sonstige kleine Handlungen für sich zu behalten, und die schöne Amande beobachtete das Prinzip, sich nicht darum zu kümmern, wahrscheinlich in der löblichen Vorsicht, bei vorkommender Gelegenheit jede Kenntnis desto besser vor der Justiz in Abrede stellen zu können.

Dagegen hatte sie aus eigene Hand und auf alte Erfahrungen gestützt, einen Handel begonnen, auf den wir vielleicht später zu sprechen kommen.

Der Mann schnuppte seine Cigarre ins Wasser ab und wandte sich zu ihr.

»Hast Du de Male in letzter Zeit gesehen?«

»Die Prinzessin?« antwortete naserümpfend seine Gattin. »Es ist zwar eine sehr melancholische Geschichte, jerade wie in einem Roman, aber Du wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß ich mir wegwerfe und zu Deiner Schwester gehe. Als es ihr jut ging, hat sie mir immer so, wie soll ick sagen, so apprensiv behandelt! Nu hat sie ihr Malheur, und dumm ist sie dazu gewesen, daß sie nicht einmal die drei Thaler monatlich genommen, die ihr der Justizrat angeboten. 's ist freilich nicht viel, aber wenn man handelt, kriegt man's bei den Haltefrauen für anderthalb und hat die anderen Profit!«

Anderthalb Thaler für die Pflege und Wartung eines jungen eben erst in die Welt getretenen und so vieler Sorge bedürfenden Geschöpfes! Barmherziger Gott! was muß das für eine Sorge sein, die von solcher Spekulation geleitet wird!

Es flog ein leichter Schatten wie Reue und Gewissensbisse über das fahle Gesicht des Mannes, aber er unterdrückte sie rasch. Dagegen sagte er fest und bestimmt: »Wir müssen danach sehen, Amande, deß des arme Wurm nicht verkommt, die Weiber sind niederträchtige Schlumpen, ick kenne det! Bei wem is de Male ihr Kind?«

»O, darum brauchst Du Dir keine Sorge zu machen. Ihre Muttergefühle sind merkwürdig schön, sie opfert sich für ihr Kind, weil es doch einmal von jutem Blute ist, und wird noch eine Prinzessin daraus machen. Sie ist erste Klasse, selber die Viereck jiebt nicht mehr dafür in Moabit, fünf Thaler!«

»Aber wo is det Kind?«

»Bei einer gnädigen Frau sogar, in der Jakobstraße. Es ist eine sehr anständige Pensionage!«

»Der Name, wie heeßt se?«

»Frau von Bernburg! Eine Hauptmannswitwe außer Dienst. Sie hat schon viele Kinder gehabt, un die Mutter un die Tochter pflegen die armen Dinger aufs beste! Die Damen drängen sich ordentlich danach.«

»Aber et is noch keens lebendig wieder aus det Haus gekommen!« Wiederum war es bei dem Namen über das Gesicht des ehemaligen Spitzbuben geflogen, fast wie Schrecken. »Ick kenne die Frau per Renommee! Mir wär't lieber, die Male hätte den Balg zu ehrlichen Bürgersleuten gedhan oder uf't Land, denn det Kind is mehr wert, als De denkst, un die olle Berenburgen mit samt ihre Dochter sollen's faustdick hinter die Ohren haben.«

»Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Ich wiederhole Dir, Mamsell Amelie hat Mutterjefühle; jeder Augenblick, den sie loskommen kann, is sie bei der Berenburgen und belästigt sie, und alles, was sie verdient, jiebt sie für das Kind hin. O, Franz,« die schöne Amande vergaß ihr Schmollen und näherte sich ihrem würdigen Gatten auf das Zärtlichste, »es muß so süß sind, einen so unschuldigen Engel auf dem Schoß zu wiegen und zu sagen: Du bist mein!«

»Na,« meinte der Kommissionär ziemlich barsch, »ick denke, det Verjnügen hast De genossen, als De kaum fünfzehn Jahre alt warst!«

»Grausamer! An was mahnst Du mir. Es hat meine ganze Carriere verdorben! Ich war ein unschuldiges Opfer der ersten Jugendliebe –«

»Et is jut, ick weeß die Jeschichte, un et war det beste, deß der Wurm in de ersten vier Wochen des Dodes jestorben is. Aber Du hast mir noch nicht jesagt, wo die Male jetzt is und wat sie dreibt?«

»Ich stehe in keiner Verbindung mit sie!«

»Aber Du weeßt, wat passiert und hörst allens!«

»Adelaide hat mir jesagt, daß sie jetzt Biermamsell in der Polkahalle in der Mohrenstraße geworden ist.«

»So, so – nu, da kann sie 'n schönet Geld verdienen, wenn sie 't zusammenhält. Aber jetzt, Amande, dhu' mir eine Liebe!«

»Das ist meine Pflicht als Jattin,« sagte die junge Frau sich zierend.

»Jeh alleine nach Morellis und laß Dir Kaffee jeben. Ick habe hier wat jefunden, wat ick nachforschen muß, und Du genierst mir hier.«

»Warum hast Du mich da erst mitjenommen?« sagte schnippisch die junge Frau. »Ich hätte mich in Berlin weit besser amüsiert.«

»Du sollst et nachholen, Kind. Ick werde 'ne Droschke für uns ganz alleene nehmen, und wir fahren von hier nach Moabit. Na, nu geh aber, Kind! Du störst mir!«

Die ehemalige Blumenmacherin zog ihren baumwollenen Longshawl kokett um die vollen Hüften. »Ich werde Dir nicht stören,« sagte sie, »aber ich gehe nur, wenn Du mir sagst, warum Du partoutement heute nicht in Berlin hast bleiben wollen.«

Der Mann sann einige Augenblicke nach, er schaute umher, ob sie auch nicht belauscht würden, dann näherte er sich ihr noch mehr. »Na, erfahren wirst Du't doch! Se machen heute 'nen großen Fang.«

»Wer?«

»Die da!« Er wies mit dem Daumen über die Achsel.

»Aber wer denn?«

»Nu an'n Molkenmarcht! Hinkeldey!«

»Unsinn! was wird's sein? ein halb Dutzend Musketen von eurer Bürgerwehr!«

Der Kommissionär schüttelte bedeutsam den Kopf.

»Diesmal ist't mehr! Du kennst den Hetzel!«

»Deinen Saufbruder!«

»Sie haben ihm!«

»Was?«

»Er hat Jranaten gemacht, eene ganze Kiste voll! Pulververschwörung! wat weeß ick!«

Sie heftete scharf und fest das Auge auf ihn. »Franz, ich will nicht hoffen, Du hast die Hand im Spiel!«

»O, ängstige Dir nich, Amande,« sagte er halb verlegen, »Du weeßt, ick beschäftige mir nich mehr mit Politik, aber man hat seine Pflichten als juter Bürger für König un Vaterland. Du sollst morjen det Kleed haben, wat Dich am Schaufenster von Herzogen so sehr gut jefallen hat.«

»Und warum wolltest Du heute nicht in Berlin bleiben? Du fürchtest Holze, wenn es heraus käme? O, Franz, wenn es nur keen Unglück nich jiebt!«

»Nee, nee, ick were nich jenennt, aber der Demokratschen sind immer noch zu ville trotz Wrangeln und Hinkeldeyn – und außerdem …«

»Was noch?«

»Du weeßt, det ick in Frankfurt war, un ick rühme mir leider, en öffentlicher Charakter gewesen zu sind. Et kennte ener oder der andre unter de Deputierten sein, mit den ick mir nich janz jut gestanden, aber nu jeh, Amande, des Kleed sollst De haben, da kommen zwee von de Familie, wenn ick mir nich sehr irre, und Du bist hier zu ville!«

Die frühere erste Schönheit der Kitzelpelle und ähnlicher luxuriösen Lokale warf einen Blick auf die aus dem Innern des Parks daher kommenden Spaziergänger, eine junge, elegant gekleidete blonde Dame mit feinem, etwas blassem Gesicht, die sich mit ihrem Begleiter unterhielt, einem jungen schlank aufgeschossenen Menschen in jener Übergangsperiode vom Knaben zum Jüngling, die in unserer Zone langsamer Entwickelung länger dauert als im Süden und früher, zum großen Ärger der Beteiligten, mit dem höflichen Prädikat »junger Herr« oder »Musjeh« bezeichnet zu werden pflegte.

»Ich menge mir nicht in Deine Geschichten, Günther,« sagte die Frau, »aber wenn's was romantisches ist, dann mußt Du's mir erzählen! Laß mir nicht zu lange warten, es ist so desawö, von den Herrens alleine immer anjesehen zu werden!«

Sie ging den Gang hinunter nach dem Schloß zu; Herr Günther lehnte weit hinaus über das Gitter und machte sich mit den Fischen und der Aussicht zu schaffen, ohne anscheinend den Promenierenden die geringste Beachtung zu schenken.

Diese näherten sich gleichfalls dem Platz und traten an das in den Teich vorspringende Gitter, aber an das andere Ende.

»Du kannst ihn zu Hause lesen und behalten, Rosamunde,« sagte der junge Mensch, »ich habe ihn Dir dazu mitgebracht. Er hat sich bei den Kieler Turnern einreihen lassen, und steht so wenigstens nicht seinem Könige und seinen Landsleuten gegenüber, sondern auf ihrer Seite. Es war das beste was er thun konnte.«

Sie hatte seine Hand gefaßt und drückte sie an ihre Brust, während sie ihm liebevoll in die Augen sah. »O, Bruder,« sagte sie, »wie soll ich Dir danken, Du bist so jung und hast so viel für uns gethan. Ohne Dich lebte Rudolph nicht mehr.«

»Still von dem Kapitel, Munde, es ist unrecht genug, daß er mit Dir davon gesprochen, aber unter uns dreien muß es bleiben, denn wenn auch der Vater sagen würde, ich hätte meine Pflicht gethan, so erführe er doch auch, daß wir in Verbindung mit ihm wären, und Du weißt, wie streng er das verboten hat.«

Das Fräulein seufzte.

»Der Gottlieb hat zwei Tage Urlaub genommen und war zu Fuß bis Brandenburg gelaufen, um mir den Brief zu bringen,« fuhr der Knabe fort. »Aber ich wagte nicht ihn Dir zu schicken und behielt ihn, bis ich selbst zu Euch herüber käme. Um so mehr freute mich's, als der Vater mir den Befehl schickte, zu kommen, um mit Euch dem Bruder Fritz Adieu zu sagen, der morgen ausrückt nach Schleswig-Holstein! Teufel, wie beneid' ich ihn. Ich wünschte, der Vater hätte mich nicht erst noch für zwei Jahre auf die Ritterakademie geschickt, ehe ich das Fähnrichexamen machen soll.«

»Wilder Junge, als ob das schreckliche Blutvergießen, dieses grausame Spiel mit dem Menschenleben, nicht zeitig genug käme. Der arme Ferdinand ist schon das Opfer geworden, Fritz geht morgen in den Krieg, und ich dächte, Dein toller Zug nach Wien hätte uns genug in Angst gesetzt!«

»Das verstehst Du nicht, Munde, Du weißt, daß der Vater selbst nichts weiter davon sagte, als ich mit ihm gesprochen.«

»Ich kenne den Grund nicht, warum er Dir nicht ernstere Vorwürfe gemacht, die Du wohl verdient. Aber was meinst Du, sollen wir Fritz davon sagen, wo Rudolph ist? Sie werden einander treffen!«

»Nein,« meinte der junge Mensch nach einigem Besinnen und nicht ohne Eitelkeit, »Du weißt nicht, wie es in einem Feldlager hergeht, aber ich weiß es, und ich kann Dir sagen, es ist zehn gegen eins zu wetten, daß sie nicht zusammenkommen. Überlassen wir's also auch dem Zufall, es kann ohnehin weder dem einen noch dem andern nützen.«

Das Mädchen zögerte. »Wirst Du ihm schreiben, Otto, und darf ich …«

»Nein, Rosamunde! Wir haben ihn alle lieb, aber dem Befehl des Vaters dürfen wir nicht weiter ungehorsam sein.« Er sah, wie sie langsam den Kopf abwandte, und eine Thräne über ihr blasses Gesicht rollte. »Sei nicht traurig, Schwester!«

Ihre Thränen flossen leise, während sie ihm die Hand drückte.

»Fritz muß bald kommen,« sagte er, um das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu leiten. »Wenn wir hier auf ihn warten, wie der Vater befohlen, werden wir ihn gewiß treffen, denn man geht diesen Weg gewöhnlich zuerst. Aber sage mir, Schwester, wer ist das, der mit ihm kommen soll?«

»Ich weiß es selbst nicht genau, nur was ich zufällig vernommen. Vorgestern kam ein Brief der Tante Werben, ein expresser Bote brachte ihn. Der Vater schloß sich ein, ich sah zufällig, daß er in seinen alten Papieren suchte. Er war den ganzen Tag sehr nachdenkend. Am Abend sagte er der Mutter erst, daß Fritz morgen mit seinem Regiment marschieren werde, und daß wir heute nach Charlottenburg fahren würden, wo wir von ihm Abschied nehmen sollten. Alles, was ich weiß, ist, daß zugleich eine Zusammenkunft mit dem Fremden stattfinden soll, die Tante Werben arrangiert hat.«

»Da bin ich so klug wie vorher!«

»Er soll weit her kommen, ich glaube, aus Südamerika, und es handelt sich um ein Vermächtnis, um vieles Geld.«

Der Kommissionär hatte sich während des Gesprächs der beiden Geschwister nach und nach genähert, soviel es ohne aufzufallen geschehen konnte, aber eine neugierige Bewegung, die ihm bei dem Worte Geld entschlüpfte, lenkte die Aufmerksamkeit des Knaben auf ihn, der ihn mit festem Blick betrachtete.

»Laß uns weiter gehen, Munde,« sagte der junge Akademiker, »das Gesicht des Menschen da gefällt mir nicht, ich muß es schon einmal gesehen haben, aber ich kann mich nicht gleich erinnern, wo? Jedenfalls braucht er nicht zu hören, was wir sprechen.« Er nahm den Arm seiner Schwester und führte sie den Gang entlang.

Herr Günther kratzte sich bedächtig die Stumpfnase.

»Richtig, det is der Bursche, den ick an Malens Diehre traf in jener Nacht. Er gehört zu de Familie, ick merk' et an det hochmütje Aussehn!«

»Wer ist die Dame, die mit Mama und Tante Werben promeniert?« fragte der junge Mann, »ich war nicht nahe genug, als man sie vorstellte.«

»Eine ungarische Gräfin, Törkyeny heißt sie, glaub' ich. Sie ist vor der Revolution geflüchtet und wohnt seit einigen Monaten in Berlin und Potsdam. Die Tante ist sehr vertraut mit ihr, aber ich weiß nicht, ihr Wesen gefällt mir nicht.«

Sie waren in die Nähe des Schlosses gekommen, als durch den Durchgang der Orangerie zwei Herren in den Park traten, ein junger Offizier von schlanker, feiner Gestalt, dessen Gesicht unverkennbare Ähnlichkeit mit dem des Knaben und der jungen Dame zeigte und ihn als den Erwarteten erkennen ließ.

An seiner Seite ging ein junger Mann von mittlerer Größe, aber bereits kräftig herausgebildeten Formen, die ihn neben der allgemeinen raschern Entwickelung seiner unverkennbar südlichen Abstammung und dem sichern, energischen, ja etwas wilden Charakter seines Wesens um mehrere Jahre älter erscheinen ließen, als er wirklich war; in der That zählte er kaum ein Jahr mehr als der junge Otto von Röbel.

Er war elegant gekleidet, aber er trug diese Kleider mit einer gewissen Nachlässigkeit. Rock und Paletot waren geöffnet, über dem Gilet hing tief herab eine schwere goldene Kette und an dem nach Seemannsmanier nachlässig einmal um den Hals geknoteten schwarzseidenen Tuch steckte eine Diamantnadel von bedeutendem Wert. Der Teint seines ovalen, kühn geformten Gesichts mit den blitzenden Augen zeigte, wie bereits erwähnt, die dunkle Farbe einer heißen Sonne und die frische und kräftige Gesundheit des steten Aufenthalts in freier Luft. Ein feines, schwarzes Bärtchen zierte bereits seine Oberlippe.

»Ach da sind ja Rosamunde und Bruder Otto,« sagte der Offizier, indem er den Arm seines Gefährten nahm. »Sie erwarteten uns bereits, und die Eltern werden gewiß nicht weit sein!«

Die Geschwister waren ihm eilig entgegen gekommen und begrüßten ihn herzlich. »Armer Fritz,« sagte das Mädchen, »so mußt Du morgen wirklich fort? Es ist schrecklich, daran zu denken, welchem Gefahren Du entgegen gehst!«

»Das ist mein Stand, Schwesterchen, und ein tüchtiger Krieg bringt Avancement. Ich fürchte nur, er wird zu bald zu Ende gehen, wir werden mit den Rotröcken nicht viel Federlesen machen. Aber erlaube mir, Dir meinen Begleiter vorzustellen, Herrn François Laforgne, Leutnant in der Armee der argentinischen Föderation. Monsieur – meine Schwester Rosamunde.«

Er sagte dies in französischer Sprache. Der junge Mann verbeugte sich, indem er, an andere Sitten gewöhnt, die Dame frei und dreist anschaute. »Ich weiß nicht, Monsieur de Reubel,« sagte er lächelnd, »warum Sie mich mit Gewalt zum Leutnant in argentinischen Diensten machen wollen, während ich mit Kommodore Garibaldi denselben längst verlassen habe und in seinem Dienst stehe!«

»Still, still, lieber Freund, man liebt hier gerade nicht sehr die Freischaren,« lachte der Offizier, »und Ihr verehrter Signor Garibaldi steht hier etwas in dem Geruch eines Brigantenchefs. Aber das geniert Soldaten untereinander nicht, und ich versichere Dich auf Ehre, Schwesterchen, was der Leutnant uns so par occasion von seinen Feldzügen in Südamerika mitzuteilen die Güte hatte, könnte einen Roman füllen. Und reiten solltest Du ihn sehen, reiten! Superbe! er hatte gestern die Güte meine ›Juno‹ zu reiten; Franconi selbst hätte sie nicht so prächtig zum Sprunge bringen können. Dreimal hinter einander über die Barriere am Hippodrom, Graf Schulenburg verlor zehn Friedrichsdor im Paré gegen mich, daß er's nicht einmal nachmachen könnte mit seiner Lalotte, und fiel sich beim Sturz die Achsel aus, daß er morgen zurückbleiben muß. Ach so – excusez! – mein jüngster Bruder Otto – er hat alle Anlage Ihnen nachzueifern, wenn wir Ihre Pampas zur Hand hätten; denn er lief uns bereits einmal davon, um sich mit den Truppen Sr. Majestät des Kaisers von Österreich gegen die Wiener Rebellen zu schlagen, und hat sogar eine Medaille erhalten; nur soll er sie erst tragen, wenn er aus der Schule ist!«

Das Gesicht des Knaben überzog sich mit dunklem Rot bei dieser unzarten Bemerkung, sie war vielleicht die Ursache, daß er sich nur kurz und kühl gegen den jungen Fremden verbeugte.

Der junge Soldat der Revolution ließ seinen Blick ziemlich achtlos über den vorgestellten Knaben laufen, bis er dessen fester, fast feindseliger Erwiderung begegnete.

Eine Ahnung künftiger Gegnerschaft mochte die beiden jungen Männer durchfliegen; dennoch war die Bewegung so kurz, daß sie jedem andern Auge und wohl selbst dem eigenen unbemerkt blieb. Eine kurze Verbeugung der beiden endete die Vorstellung.

»In diesem Lande, Señorita, bewahrt man die Blüten und Blumen meiner tropischen Heimat unter Glas und Dach,« sagte der Fremde galant, »und dennoch erzeugt, wie der Augenschein lehrt, Ihre kalte Heimat so zarte und schöne Blüten, daß man alle Sorge diesen zuwenden sollte.«

Die galante Anspielung auf sie selbst zauberte eine flüchtige Röte über das blasse Gesicht der jungen Dame. »Auch diese schöne Orangerie mit ihrem Duft und der Pracht ihres Grüns,« sagte sie ablehnend und nach dem berühmten Gewächshaus deutend, »vermag uns wohl nur eine Ahnung jener herrlichen Natur zu geben, in der, wie mir mein Bruder sagt, Sie Ihre Jugend zugebracht haben. Ich gestehe, ich möchte wohl einen Blick in die Wunderwelt der Schöpfung werfen!«

»Und Sie würden sich vielleicht getäuscht fühlen, Señorita,« sagte der junge Mann. »Neben dem üppigen Leben des Tropenwaldes mit seinen grünen Säulendomen, um die sich die Liane rankt, von tausend Blumen durchduftet, starrt die wüste Öde der Pampas. Der Spiegel des Meeres, gold- und purpurgesäumt von den Strahlen der Sonne, wird im nächsten Augenblick von der Wut des Pamperos zu schwarzen Bergen und Tiefen gepeitscht, deren Nacht nur der strahlende Blitz erleuchtend durchzuckt, oder jene Erde mit ihrem paradiesischen Anblick spaltet sich plötzlich, von den unterirdischen Feuern zerrissen im gewaltigen Erdbeben. Es ist schön und großartig, jenes Land unter glühender Sonne, Señorita, aber nur für Menschen, deren glühendes Blut mit seinen tausend Freuden und tausend Gefahren harmoniert, nicht für Gestalten und Herzen, so zart und sanft wie das Ihre, die an Frieden und den ruhigen Gang des Lebens gewöhnt sind.«

Das Mädchen schaute sinnend vor sich nieder, und über ihr zartes Gesicht flog ein schmerzliches Lächeln. »Wie haben Sie doch in wenigen Worten jene großartige Natur gezeichnet, mein Herr,« sagte sie mit Empfindung, »ergreifender, als man in den schönsten Schilderungen lesen kann. Aber ich fürchte, wenn dies kältere und der glänzenden Herrlichkeit Ihrer Heimat entbehrende Land auch nicht jene Freuden und Erregungen bieten kann, die eine heißere Sonne gießt, die großen Schmerzen und Leiden sind überall dieselben auf der Welt!«

»Mein Schwesterchen wird gefühlvoll!« lachte der Leutnant. »Die Sentimentalität ist eine der Schwächen unserer jungen Damen, müssen Sie wissen, Herr Kamerad. Ich glaube auf Ehre, daß das von unseren Sandflächen und Kiefernwäldern oder von dem verdammt dünnen Thee kommt, den man in den Gesellschaften trinken muß. Aber da kommt Mama und Tante Werben mit der interessanten ungarischen Gräfin. Die Frau macht Furore in der Aristokratie, obschon sie in den Jahren unseres Korps de Ballet ist. Und hier vom Schloß kommt auch der Onkel Kammerherr!«

Die Gruppen näherten sich einander und trafen unterhalb der Terrasse zusammen.

Frau von Röbel war eine sanfte, stille Dame, Blondine, mit jenem leichten Grau, das die blonden Haare in älteren Jahren fast unmerklich annehmen, eine brave Hausfrau und eine vortreffliche Mutter ihrer Kinder, aber ohne eigenen Willen und selbständigen Charakter, sich unbedingt ihrem Eheherrn fügend.

Ein ganz anderer Typus, schon im Äußeren, war ihre Schwester, die Kammerherrin Freifrau von Werben. Groß, hager und etwas scharfkantig in ihren Formen, war sie ganz der Typus jenes Teils der Aristokratie, der es seit Jahrhunderten verstanden hat, sich dem Bürgerstande durch Hochmut und Anmaßung zu entfremden, ja sich ihm verhaßt zu machen, und der der Meinung zu sein scheint, daß der liebe Herrgott eine ganz besondere Menschenrasse erschaffen habe.

Die Haltung der Dame – sie war die ältere der Schwestern – war steif und gemessen, aber nicht ohne Würde. Ihr graues Auge sprach das unbedingte Bewußtsein des Herrschens und Befehlens aus, und in der That beherrschte sie ihren häuslichen Kreis so ziemlich unbeschränkt, so weit es eben nicht mit gewissen büreaukratischen Ansichten des Geheimen Rats von seiner Würde in Widerspruch trat.

Die Begleiterin der beiden so verschiedenen Schwestern war, wie Rosamunde gesagt, die Gräfin Törkyeny, die mit der Freifrau eng liaisiert geworden, trotz des strengen moralischen Rufes, den diese sich bewahrt, und trotz des üblen Standes des ihren.

Der Leutnant begrüßte seine Mutter und Tante und küßte ihnen die Hand, doch wäre in dem Gruß gegen beide einem scharfen Beobachter ein gewisser Unterschied aufgefallen, und ein solcher war der garibaldische Offizier trotz seiner Jugend. Herr von Röbel schien für seine Tante weit mehr Respekt und Vertrauen zu empfinden, als für seine Mutter.

Der Kammerherrin war der junge Fremde zur Genüge bekannt, sie eben hatte ihn mit dem Neffen hierher bestellt, es bedurfte also nur einer kurzen Vorstellung an die Gräfin, die ihn mit leichtem Kennerblick und nicht ohne Wohlgefallen maß, dann aber zuvorkommend dem Geheimen Rat entgegen ging.

»Willkommen, Excellenz! ich habe so lange nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen, denn als ich gestern die Baronin besuchte, waren Sie nicht zugegen!«

Der Kammerherr küßte mit einer gewissen Würde ihre Hand. »Verzeihung, meine Gnädige,« sagte er, »aber Sie wissen, meine Stellung ladet so viele Geschäfte auf meine arme Person – ma foi! das Vertrauen der Höchsten Personen würde eine schwächere Natur erdrücken!«

Das würde nun allerdings bei dem Kammerherrn schwierig gewesen sein, denn seine Natur war ziemlich stark. Die kleine runde und dicke Figur mit dem gleich runden Gesicht wäre das behagliche Bild eines Feinschmeckers gewesen, wenn eben nicht auf diesem fetten Gesicht, von dem sorgfältig herüber gekämmten spärlichen Haar und der weißen Kravatte eingerahmt, der Ausdruck einer unendlich büreaukratischen Wichtigkeit gelegen hätte, als ruhe das Wohl und Wehe des Staats allein auf seinen breiten Schultern.

»Wenn man einen Staat regieren hilft,« sagte lächelnd die Gräfin, »muß man sich schon einige Sorgen gefallen lassen. Ich freue mich nur, daß es Sie nicht mehr angegriffen hat, denn Sie müssen eine schwere Epoche voll aufopfernder Thätigkeit in dem vergangenen Jahre durchgemacht haben.«

Der Geheime Rat hustete leicht und nahm eine Prise aus seiner goldenen Dose. Er war einer der ersten gewesen, der bei dem Sturm des März seinen Posten und den Monarchen im Stich gelassen hatte. Er war erst mit dem Belagerungszustand wieder von seinem Gut in Schlesien zurückgekehrt, wo er den Bauern und Tagelöhnern alle möglichen Konzessionen gemacht hatte.

»Sie haben Recht, meine Gnädige,« sagte er würdevoll, »diese Auflösung aller Subordinationsverhältnisse mußte für die Männer von bewährter Treue und nobler Gesinnung ein tiefer Schmerz sein. Wer hätte sich zur Stütze solcher liberalen Grundsätze hergeben mögen? Ich zog es natürlich vor, meine Demission zu nehmen!«

»Wie jeder Mann von Ehre und Gesinnung hätte thun müssen, um dem Pöbel zu zeigen, was ihm gebührt,« meinte die Gräfin mit einem flüchtigen Zug von Hohn um den Mund. »Aber Euer Excellenz werden von Ihrem Herrn Schwager erwartet, sonst würde ich Sie gebeten haben, mich zu meinem Wagen zu führen.«

Der Kammerherr war viel zu galant und von der Annehmlichkeit seiner Unterhaltung überzeugt, als daß er nicht auf dieser Erlaubnis hätte bestehen sollen. Er forderte die Gesellschaft auf, voraus zu gehen, und versprach sogleich nachzukommen, indem er der Gräfin seinen Arm bot.

»Ich bedauere Sie wirklich manchmal, Excellenz,« sagte die Schlaue auf dem Wege. »So eingreifend und beteiligt an all diesen politischen Wirren sein zu müssen, muß auf die Dauer auch den stärksten Geist ermüden. Der König ist heute abwesend?«

»Seine Majestät sind diesen Morgen nach Freienwalde gefahren. Sie haben allerdings Recht, meine Gnädigste …«

»Und wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Seine Majestät? Diesen Abend um 6 Uhr. Aber ich hatte mich kaum im Schloß blicken lassen, so war ich von allen Seiten so in Anspruch genommen, daß ich mich hätte verdreifachen mögen. Ihre Majestät …«

»Ihre Majestät,« fiel ihm die Gräfin ins Wort, »haben gewiß zu der heutigen Abwesenheit geraten? Ich höre, daß gestern Abend ein Ministerrat stattgefunden hat. Ich hoffe, man hat beschlossen, die Deputation nicht anzunehmen.«

»Se. Majestät werden die Gnade haben, sie morgen Vormittag 11 Uhr im Königlichen Schloß zu Berlin zu empfangen.«

Die Gräfin biß sich auf die Lippen. »Wirklich?« sagte sie. »Und welche Antwort wird man ihr erteilen?«

»Staatsgeheimnis, meine Gnädigste! Staatsgeheimnis!«

» Fi donc! Doch nicht für mich, liebster Kammerherr! Ich bin kein Politiker, sondern nur eine neugierige Frau. Wir Ungarn würden eine Machtvergrößerung Preußens nicht ungern sehen. Alle Umstände erwogen, ist die Zeit für eine solche Vergrößerung besonders günstig. Österreich nach zwei Seiten hin im Krieg, im Innern zerrüttet, vermag keinen Widerspruch zu thun.«

»Seine Majestät,« erwiderte der Kammerherr, indem er die dünnen Augenbrauen mächtig in die Höhe zog, »werden sicher das richtige wählen. Seine Majestät sind sehr penible in Allerhöchst Ihrem Gewissen und wünschen niemand in seinen Rechten zu kränken.«

»Aber Staatsrücksichten und das Familieninteresse müssen mächtiger sein. Ich höre, daß der Magistrat und die Stadtverordneten von Berlin der Adresse des Abgeordnetenhauses beigetreten sind und die Wünsche der Bevölkerung auf Annahme der deutschen Kaiserkrone ausgesprochen haben?«

»Die Herren Stadtverordneten von Berlin,« sagte der Kammerherr spitzig, »thäten besser, sich um die Berliner Rinnsteine zu bekümmern und die Politik den Personen zu überlassen, die etwas davon verstehen!«

»Ganz meine Ansicht, Excellenz! Aber der Prinz von Preußen! Wenn auch der König keinen Sohn hat, so liebt er doch sehr den jungen Thronfolger und Ihre Königliche Hoheit die Frau Prinzessin soll sich warm für die Annahme interessieren, trotz des Widerstandes der Herren von Rauch und Gerlach.«

Der Geheime Rat versuchte den direkten Angriff zu parieren. »Seine Königliche Hoheit der Prinz von Preußen teilen die erhabenen Gesinnungen ihres Bruders.« Er nickte gnädig dem Portier, der die Thür des Gartens öffnete, ohne den Zug von Ungeduld und Ärger zu bemerken, der über die Züge der Dame flog.

»Sie sind wirklich Geheimer Rat, Excellenz,« sagte sie dann lächelnd, »voller Geheimnisse selbst gegen eine Dame. Zur Strafe dürfen Sie mir nicht einmal die Hand küssen. Ist der Prinz lange nicht hier gewesen?«

Der Kammerherr spitzte den Mund und näherte ihn ihrem Ohr, indem er sich, der Gräfin in den Wagen helfend, auf die Fußspitzen erhob. »Im Vertrauen, wir erwarten Seine Königliche Hoheit noch heute Abend!«

Die Gräfin war die Liebenswürdigkeit selbst, als sie sich zum Abschied zu ihm neigte und die Hand reichte.

»Und die Prinzessin?«

»Ihre Königliche Hoheit befinden sich unpäßlich in Babelsberg!«

Ein tiefer, freier Atemzug hob die Brust der Dame. Sie warf dem Kammerherrn einen Kuß zu. »Ich hoffe, Sie morgen in der Stadt zu sehen. Adieu, meine charmante Excellenz.«

Der Wagen rollte den Kiesweg vom Schloß entlang und der Kammerherr kehrte zu dem Garten zurück, wo ihn sein jüngerer Neffe erwartete, um ihn zu der Familie zu führen.

Die Damen hatten den alten Major von seinem Lieblingsplatz geholt, dem Mausoleum, in dem sein König und Kriegsherr den ewigen Schlaf schläft.

Der Eigensinn des Majors, wie die Kammerherrin seinen fest ausgesprochenen Willen, die ungetreue Königsstadt nicht wieder zu betreten, nannte, hatte sie veranlaßt, die Familie zu dem Rendezvous in Charlottenburg einzuladen, um die Mitteilung einer wichtigen Erbschaftsnachricht zu empfangen, deren Kenntnis ihr der Zufall oder vielmehr der Bankier zugeführt. Als der junge Fremde, der von Paris aus an den Bankier des Kammerherrn accreditiert war, bei diesem sorgfältige Nachfragen nach einem früheren Leutnant von Röbel angestellt, hatte dieser ihn an den Geheimen Rat als einen nahen Verwandten derer von Röbel gewiesen. Die Freifrau hatte sofort die Wichtigkeit der Sache für die Familieninteressen begriffen und sich ihrer bemächtigt, da sie aber den Charakter ihres Schwagers kannte, demselben nur oberflächliche Andeutungen gemacht. Der damit zusammenfallende Abmarsch der Truppen nach Holstein, wo der General von Prittwitz das Kommando der Bundesarmee übernommen, gab ohnedies Gelegenheit, die ganze Familie bei der Zusammenkunft zu versammeln. Der zweite Sohn des Majors, nach dem unglücklichen Tode des ältesten der künftige Stammherr der Familie, war der Günstling der Kammerherrin, die ihn bei jeder Gelegenheit in Schutz nahm und unterstützte.

Der Kanal, der sich von dem großen Schloßteich nach dem Spreearm zieht, sperrt den Teil des Parkes ab, in welchem ein Pavillon liegt; man geht dahin auf einer fliegenden Brücke, die sich von den Promenierenden selbst in Bewegung setzen läßt. Dorthin wandte die Gesellschaft ihren Weg; die Kammerherrin hatte dafür gesorgt, daß die der Anwesenheit der höchsten Herrschaften wegen möblierte Rotunde geöffnet war.

Die Vorstellung des jungen Fremden bei dem alten Edelmann war flüchtig gewesen, der Empfang des Majors ziemlich kurz und barsch, er verbarg nicht, daß er diese Helden einer neuen Zeit und neuer Grundsätze nicht liebte. Jetzt ging er mit seinem Sohn, dem Leutnant voran und gab ihm Lehren und Ratschläge für den bevorstehenden Ausmarsch und Feldzug.

Nur der jüngere Röbel bemerkte es, daß auf dem Weg in der Nähe der Brücke der umherschlendernde Mann ihnen wieder begegnete, den sie vorhin am Karpfenteich getroffen. Auch ein flüchtiger Blick der Freifrau fuhr über ihn hin, wandte sich aber sogleich, als er kriechend höflich den Hut zog, hochmütig wieder von ihm.

Nach einigen Minuten war der Familienkreis im Pavillon versammelt. Die beiden älteren Damen, der Kammerherr und der Major hatten auf den Stühlen Platz genommen, der Offizier stand mit seiner Schwester am Fenster, Otto von Röbel lehnte an der geöffneten Thür, während ein höflicher Wink der Freifrau dem Fremden seinen Platz in ihrer Nähe angewiesen hatte.

»Sie werden erlauben, Herr Schwager,« sagte die Kammerherrin, »daß wir die Unterhaltung in französischer Sprache führen, obschon ich weiß, daß Sie deren Gebrauch nicht lieben. Aber Leutnant Laforgne ist der unsern nicht mächtig, und was er uns zu sagen hat, ist für die Familie von äußerster Wichtigkeit.«

Der Franzose verbeugte sich höflich, der Major nickte ernst, fast finster seine Zustimmung. Er liebte es nicht, daß die Frauen, am wenigsten seine Schwägerin sich in seine Angelegenheiten mischten.

» Monsieur le Major,« sagte der junge Abenteurer verbindlich, »werden mir erlauben, einige Fragen an Sie zu richten, um mich von der Identität der Person zu überzeugen. Ich habe einen Auftrag an einen Herrn von Reubel, der im Jahre 1814 bei der preußischen Armee in Frankreich stand.«

»Das thaten damals drei aus der Familie derer von Röbel,« entgegnete der Major ernst, »vier lagen auf dem Weg dahin im ehrlichen Soldatengrab.«

Der junge Franzose hatte aus seinem Portefeuille ein Papier genommen, dem er seine Notizen entnahm. »Ich weiß, daß die Herren von Reubel zu den tapfersten Offizieren der preußischen Armee gehörten. Der Herr, den ich meine, focht bei Bellealliance.«

»Mein Bruder und ich waren dabei; er fiel bei der Verfolgung.«

»Der Offizier, der ich aufzusuchen beauftragt bin, hieß Fréderic de Reubel und stand bei den Cuirassiers de Brandebourg.«

»Das bin ich selbst.«

Der junge Mann verbeugte sich. »Ich hoffe es, und es wird leicht zu beweisen sein, wenn die Formalität nötig ist. Erinnern Sie sich, mein Herr, an ein Abenteuer, das Ihnen in jener Schlacht begegnete, und das sich in Paris fortsetzte?«

Der Major sah ihn aufmerksam an. »Daß ich nicht wüßte! Sie sind selbst Soldat, wenigstens Krieger, junger Herr, und wissen, daß im Feldleben die Begebenheiten sehr wechselnd sind.«

»Es ist stets Sache der Tapferkeit, hochherzige Handlungen rasch zu vergessen. Erinnern Sie sich wohl eines französischen Offiziers von den kaiserlichen Garde-Husaren, den Sie das Glück hatten, in jener Schlacht zum Gefangenen zu machen?«

Das Antlitz des alten Mannes rötete sich in stolzer Erinnerung. »Wetter Element!« sagte er, »so was vergißt man nicht, am wenigsten, wenn man an die Bekanntschaft solche Denkzettel behält, wie ich sie noch am Schädel habe. Es war der Oberst des Regiments, zwar ein Franzose, aber ein verteufelt braver Soldat! Was ist's mit ihm?«

»Erinnern Sie sich seines Namens?«

»Ich habe wenig wieder daran gedacht, aber wenn mir recht ist, hieß er Fanchon oder ähnlich!«

»Fourichon de Massaignac!«

»Richtig, so war's. Dieser ausländische Adel hat verteufelt lange Namen und Titel.«

»Der Herr Marquis hat ein besseres Gedächtnis für seinen Überwinder und Wohlthäter bewahrt,« sagte der junge Abenteurer mit Gefühl. »Vielleicht erkennen Sie dieses Blatt.«

Er reichte dem Major ein vergilbtes Papier. Auf demselben standen die Worte: » Fréderic de Röbel, Lieutenant au Service de Sa Majesté le roi de Prusse. Cuirassiers de Brandebourg.«

Eine freudige Erregung flog über das Gesicht des alten Soldaten. »Donnerwetter! das ist wirklich meine Handschrift. Ich erinnere mich, daß ich ein solches Blatt dem armen Kameraden gab, der in der Schlacht seinen Arm verlor! Wie kommen Sie zu diesem Papier, junger Herr? Es sollte mich freuen, zu hören, daß ein so braver Soldat, wie der Oberst war, noch lebt, und daß es ihm wohl geht!«

Der Franzose hatte sich erhoben und war auf den alten Edelmann zugetreten. »Wenn beides der Fall,« sagte er warm, »so verdankt es der Marquis Ihrem Edelmut allein, Herr. Nicht bloß, daß Sie sich des verwundeten und unterlegenen Feindes annahmen und für seine Aufnahme ins Lazarett sorgten, Sie waren es auch, dem er zum zweitenmale seine Rettung verdankte. Ohne Ihren Beistand hätte er in Paris das Schicksal Neys und Labedoyères geteilt.«

»Bah! ein Soldat hilft dem anderen!«

»Aber nicht jeder edelmütig dem bedrohten Feind mit schwerer eigener Gefahr!«

»Und der Oberst – er lebt also?«

»Ich habe ihn am La Plata selbst gesehen, er ist einer der reichsten und angesehensten Estancieros oder Landbesitzer Montevideos, und dieser Brief wird Ihnen beweisen, daß er seines Retters stets gedacht hat – er und die Seinen!«

»Das freut mich, das freut mich von Herzen!« Der alte Herr nahm vergnügt den Brief, den ihm der Franzose reichte, und öffnete ihn. Frau und Kinder waren ihm näher getreten, sie freuten sich an der Freude des Vaters, eine Stimmung, die in letzter Zeit in der Familie so selten gewesen war.

»Nehmen Sie meinen Dank, junger Herr,« sagte der Major, dem Franzosen die Hand reichend, nachdem er den Vries gelesen. »Sie müssen mich auf meinem Gut besuchen, es ist Unrecht, daß die Schwägerin Sie nicht gleich dahin gebracht. Haben wir auch keine Panther und Jaguars bei uns, oder wie die Bestien heißen, so finden Sie doch eine gute Hasen- und Hühnerjagd bei mir, so weit freilich Herr Bornemann und die Nationalversammlung uns unser Eigentum noch gelassen haben. Sie sollen mir von dem Obersten und den Kriegen jenseits des Meeres erzählen; der Brief ist ohnehin nur kurz und verweist mich an den Überbringer!«

Ein flüchtiger Blick des Franzosen streifte das schöne, von der Erregung des Vaters mit bewegte Mädchen, als er sich dankend verbeugte. »Es würde mir große Freude machen, Herr Major, ein wenig von meinem Weg abzuluven und Ihr ländliches Leben kennen zu lernen,« entschuldigte er, »aber Pflicht und Liebe rufen mich auf das Schleunigste zu meinem General, und nur sein ausdrücklicher Befehl konnte mich zu der Reise zwingen.«

»Ihr General?«

»Kommodore Garibaldi!«

»Garibaldi? Ist das nicht einer jener Abenteurer, welche die Revolution in Italien angestiftet haben, und die für sie gegen die rechtmäßigen Fürsten in Waffen stehen?«

»Sie kennen meinen General nicht, Herr,« sagte der junge Franzose mit Begeisterung, »sonst würden Sie ihn nicht einen Abenteurer nennen. Er ist der Held der Freiheit, und sein Arm ist es, der sein Vaterland früher oder später von dem Druck der Tyrannei befreien wird.«

Eine finstere Falte lagerte sich auf der Stirn des alten Offiziers; die Kammerherrin bemerkte es wohl und hätte gern dem jungen Mann einen Wink gegeben, aber seine Stellung machte es unmöglich, ohne die Aufmerksamkeit ihres Schwagers zu erregen. Der Geheime Rat spielte verlegen mit seiner goldenen Dose.

»Sie müssen mich entschuldigen, Herr,« sagte der alte Edelmann. »Ich und die Meinigen haben noch etwas verrottete Ansichten. Wie lieben eine Freiheit nicht, die sich auf Raub und Meuchelmord gründet, und bei uns führt man mit Soldaten den Krieg, nicht mit Räuberbanden.«

Der junge Franzose zuckte empor und eine dunkle Röte fuhr über sein Gesicht, eine bittere Erwiderung drängte sich auf seine Lippen. Aber er unterdrückte sie, als sein Auge zufällig das junge, blasse Mädchen streifte, das ihm gegenüber hinter dem Stuhle des Vaters stand und die Hände wie bittend faltete.

»Die Sitten und Ansichten der Völker sind verschieden, mein Herr,« sagte er möglichst ruhig. »Es kann eine Zeit kommen, wo die freiwilligen Kämpfer für die Könige mit demselben Namen der Briganti belegt werden, den sie jetzt den Männern geben, die für die bürgerliche und geistige Befreiung ihres Vaterlandes kämpfen und sterben. Ich befinde mich hier und habe Ihnen jenen Brief übergeben im Auftrage des Generals Garibaldi!« Er betonte scharf das Wort.

»Ich kenne Herrn Garibaldi nicht und wüßte nicht, was ein preußischer Edelmann mit ihm zu schaffen hätte.«

»Der Oberst von Massaignac,« fuhr der junge Mann fort, »bei dem General Garibaldi auf der Reise nach Montevideo sich aufhielt, hat ihm für einen Dienst, den er uns leistete, das Wort abgenommen, selbst oder durch einen vertrauten Mann die Person oder deren Erben aufzusuchen, deren Name auf diesem Papier steht. Sie erkennen an, mein Herr, daß Sie dieselbe Person sind.«

»Ich denke, die Sache ist abgemacht! Es freut mich, daß der Oberst meiner freundlich gedenkt, und damit mögen die alten Erinnerungen ruhen.«

»Nicht so ganz! ich habe ein Vermächtnis zu überbringen!«

»Des Obersten? Sie sagten soeben, daß er lebt. Die kleine Summe, die ich ihm damals zur Flucht nach England gab, war eine Lumperei, ich erinnere mich ihrer nicht mehr!«

» Par Dios! sie hat Zinsen getragen. In diesem Portefeuille befindet sich die Summe von hunderttausend Pistolen oder zwei Millionen Francs in guten Wechseln des Hauses Lafitte auf die ersten Bankiers von Berlin. Ich bin beauftragt, sie in die Hände Ihrer Familie niederzulegen.«

Ein fast einem Schreck ähnliches Erstaunen malte sich auf den Gesichtern der Anwesenden. Der Fremde hatte selbst der Kammerherrin bisher nicht den Betrag genannt, sondern nur von einer bedeutenden Summe gesprochen.

» Mon Dieu,« stöhnte der Kammerherr, »das wären fünfmalhunderttausend Thaler! horrible!«

Der alte Offizier hatte seine Überraschung am ersten überwunden; seine Miene war ernst und fest, doch nicht unfreundlich, als er zu dem merkwürdigen Sendboten trat.

»Mein Herr,« sagte er mit fester Stimme, »ich hoffe, Sie werden sich jedenfalls so lange in Berlin aufhalten, daß ich Ihnen einige Zeilen an den Obersten von Massaignac, meinen alten und braven Gegner, zusenden kann, um ihm für seine Erinnerung zu danken. Was das Geld anbelangt, von dem Sie sprachen, so hat nur Se. Majestät der König von Preußen das Recht, einem preußischen Edelmanne ein Geschenk zu machen, ohne ihn zu beleidigen.«

Auch die Kammerherrin hatte sich erhoben. »Sie müssen die Sache anders verstehen, Herr Schwager,« sagte sie hastig, beide Hände auf seinen Arm legend, »es ist hier keine Rede von einem Geschenk, sondern von einem Legat, einer Erbschaft!«

»Ich begreife das nicht!«

»Erlauben Sie also, mein Herr, daß ich meinen Auftrag vollständig erfülle. Dies ist ein von dem Sekretär des Senats zu Montevideo und dem britischen Geschäftsträger beglaubigter Auszug aus dem bei dem höchsten Gerichtshof der argentinischen Republik deponierten und von dem Notar Don Felicio Alveira da Mocahilla in aller gesetzlichen Form ausgefertigten Testament des Señor Don Gusman Peralva da Pocinho Nuñoz.«

Der arme Major war ganz niedergeschmettert von der Flut dieser Namen, die der Franzose mit einer gewissen Schadenfreude von seinem Blatt ablas, und rieb sich die Stirn.

»Des Schwiegervaters des Marquis von Massaignac,« fuhr jener fort. »Das Testament ist vom 24. März 1818 datiert und lautet wie folgt:

»Ferner habe ich mit Gott und den Heiligen und in Zeugenschaft der oben erwähnten edlen und hochachtbaren Herrn an dem Hochzeitstage meiner einzigen Tochter und zu deren Ehren Folgendes bestimmt: Da nach der Mitteilung des hochedlen Señor Don Fourichon de Massaignac dieser mein Schwiegersohn am 18. Juni des Jahres 1815 in der großen und berühmten Schlacht von Bellealliance durch einen feindlichen Offizier vom Tode gerettet worden ist, und besagter Offizier auch ferner meinem Schwiegersohn aus großer Gefahr geholfen hat, ohne daß dieser später imstande gewesen ist, ihm seinen Dank zu beweisen, so übernehme ich diese Schuld. Besagter Offizier ist, nach der Angabe meines Herrn Schwiegersohnes, ein Herr von Stande in dem Königreich Preußen, mit Namen Frederigo da Röbel ( Fréderic de Reubel) Offizier in dem Kürassier-Regiment Brandenburg, und stand im Begriff, sich, wie mein Schwiegersohn, zu verheiraten, mit einer geliebten Braut, deren Namen er meinem Schwiegersohn anvertraut hat und der Señora Juliana da Wedell ist. Da nach menschlichem Ermessen diese Heirat bereits glücklich vollzogen worden, so vermache ich dem erstgeborenen Sohn besagter Señora Juliana da Wedell und des Señors Don Frederigo da Röbel, oder dieses Sohnes leiblicher Nachkommenschaft, den Ertrag meiner neuen, vor drei Monaten auf der neuen Station des Puestos angelegten Cavallada. Ich bestimme hiermit, daß dreißig Jahre vom heutigen Tage ab diese Cavallada für Rechnung des neuen Eigentümers, besagten erstgeborenen Sohnes des Señor da Röbel, und der Señora da Wedell verwaltet, und der Ertrag bei der englischen Bank in Montevideo angelegt werden soll. Nach Ablauf dieser Zeit hat mein Schwiegersohn oder sein Leibeserbe durch einen sichern Mann besagten Sohn des Señor da Röbel im Königreich Preußen in Europa zu ermitteln und ihm den Ertrag der Cavallada einzuhändigen, worauf diese Station wieder in den Betrieb meiner eigenen Familie übergeht. Die einzige Bedingung, die ich stelle, ist, daß der Empfänger dieser Erbschaft nicht gegen die Nation meines Schwiegersohnes als Soldat fechten soll.«

»Die Unterschrift des Señors Gusman Peralva ist in aller Form legalisiert, hier ist die Berechnung der Verwaltung der Cavallada und hier, Monsieur le Major, lege ich die Wechsel nieder über den Betrag und gratuliere meinen jungen Freund hier zu der Erbschaft.«

Die Verlesung des Aktenstückes, das in portugiesischer und französischer Sprache abgefaßt war, konnte offenbar eines tiefen Eindrucks auf die Hörer nicht verfehlen, und ein langes Schweigen folgte derselben.

Die Kammerherrin war die erste, die es brach. Ihre Augen blitzten triumphierend, und ihr ganzes Gesicht strahlte Vergnügen, als sie ihrem Liebling, dem Leutnant, zunickte. Sie hatte, wie schon erwähnt, die Höhe der Summe nicht gekannt und von dem jungen Franzosen die Umstände nur andeutungsweise erfahren, was aber völlig genügt hatte, um sie zu veranlassen, die Sache in ihre Hand zu nehmen.

»Das ist ein unerwartetes Glück, meine Lieben,« sagte sie bestimmt, »und wird der Familie zu neuem Glanze helfen. Sie kann die im vorigen Kriege verlorenen Güter wiederkaufen und es soll meine Sorge sein, daß Fritz eine glänzende Partie macht! Ma foi! nun, da er ein estimables Vermögen besitzt, kann es ihm bei seiner Figur nicht daran fehlen.«

Der Kammerherr nickte vergnügt und nahm eine Prise. » Vraiment, Schwager, meine Gemahlin versteht das. Ich bin überzeugt, daß es den Allerhöchsten Herrschaften Vergnügen machen wird, von dem Glück zu hören, das die Familie von Röbel, eine der ältesten unseres Adels, gehabt hat.«

Der Major hatte stumm da gesessen und, das Kinn auf den Knopf seines Stockes gestützt, zugehört. Sein Gesicht blieb streng, fast finster und zeigte keine Spur von Überraschung oder Freude bei der unerwarteten Nachricht. Auch jetzt noch streckte er nur schweigend die Hand aus nach dem Dokument, das ihm der junge Franzose überreichte, und las es dann still und prüfend durch.

»Es kann kein Zweifel darüber sein,« sagte die Kammerherrin leise zu ihrer Schwester, »daß die Erbschaft angenommen werden muß. Es ist Deine Sache, als Mutter und Frau aufzutreten, wenn Dein Mann etwa einfältig genug sein sollte, einen Skrupel zu erheben.«

»Aber Ida …«

»Still! Die Erbschaft ist offenbar der Familie Röbel bestimmt, und es ist ein Glücksfall vom Himmel, denn Du weißt, daß Euer Gut schwer genug mit Hypotheken belastet ist. Fritz wird eine glänzende Carriere machen, und der Ruf des Vermögens auch Rosamunde eine noble Partie sichern. Nimm Dich das einzige Mal zusammen und zeige, daß Du auch eine Stimme hast. Es ist das erste Mal, daß ich mich mit Deiner Heirat auszusöhnen vermag!«

»Auf Ehre! wie will ich Prillwitz ärgern,« sagte, sich den Schnurrbart streichend, der Offizier. »Noch ehe wir ausmarschieren, kaufe ich die beiden Fliegenschimmel bei Bamberger für die lumpigen 400 Friedrichsdor. Es soll famos werden, Mama! Wenn Sie nach Berlin kommen, sollen Sie das fashionableste Absteigequartier in der Stadt finden.«

Eine Hand legte sich fest auf seine Schulter. »Du vergißt eines, mein Sohn!«

»Wie meinen Sie das, cher papa? Sie werden doch meine Passion für schöne Pferde gelten lassen?«

»Zunächst,« sagte der alte Edelmann, »bin ich nicht Dein cher papa, sondern Dein Vater. Ich spreche französisch, wenn ich es muß, wie mit diesem Herrn da, im übrigen ein ehrliches Deutsch, und ich wünsche, daß Du das auch thust. Aber ich wiederhole Dir, Du hast einen Umstand bei dieser merkwürdigen Erbschaft vergessen!«

»Welchen, Vater?«

»Daß der, welcher die Erbschaft empfängt, niemals gegen die französische Nation dienen darf.«

Eine helle Röte der Beschämung überflog das Gesicht des jungen Offiziers, aber die Tante Kammerherrin kam ihm rasch zu Hilfe.

»Mein Gott, das ist doch kein Hindernis. Fritz braucht nicht einmal seinen Abschied zu nehmen. Für was hätten wir denn unsere Connexionen, wenn man selbst im Fall eines Krieges mit Frankreich diese Klausel nicht leicht umgehen könnte.«

»Ein Röbel, Madame,« sagte der alte Major streng, »umgeht nie seine Pflicht, sondern geht dahin, wohin ihn diese Pflicht ruft. Was denkst Du über die Bedingung, Otto?«

»Der Herr Franzose mag sein Geld behalten, Vater! ich meine, ein preußischer Edelmann darf sich seine Ehre nicht abkaufen lassen, und Fritz denkt nicht daran, sich unter eine solche Schmach zu fügen.«

Die Baronin murmelte etwas von einfältigem Jungen, aber die Schwester sah mit Stolz auf den jüngeren Bruder, und der Vater nickte ihm zu.

»Du hast Recht, Otto, ich fürchte das auch von keinem meiner Söhne,« sagte er entschieden. »Aber die Wahl ist uns ohnehin erspart.« Er wandte sich zu dem Franzosen. »Mein Herr, nehmen Sie den Dank unserer Familie für Ihre Bemühungen, aber die Hauptsache, der Erbe fehlt.«

»Wie, Monsieur le Major? ich habe zwar gehört, daß Ihr ältester Herr Sohn unvermählt gefallen ist, aber Sie haben noch zwei Söhne, und das Anrecht geht natürlich auf den ältesten über.«

»Das ist so klar, wie die Sonne,« sagte heftig die Baronin.

»Sie irren. In diesem Dokument ist einzig und allein von einem ältesten Sohne aus meiner Ehe mit meiner Gattin Julie von Wedell – Gott habe sie selig! – die Rede. Ferdinand war unser einziges Kind. Das, mein Herr,« er nahm die Hand seiner Frau und blickte sie herzlich und freundlich an, »ist mein gutes, braves Weib, aber es ist meine zweite Gattin, und diese hier sind ihre Kinder.«

Es folgte eine kurze Pause, die dann die scharfe Stimme der Kammerherrin unterbrach. »Das geht zu weit, Herr Schwager, das wäre reine Pedanterie und Wortklauberei. Das Gesetz macht den Vater oder die Geschwister zu den natürlichen Erben, wenn Sie denn einmal die Anrechte unsers Fritz als Ihres jetzigen ältesten Sohnes nicht gelten lassen wollten. Ich protestiere im Namen meiner unglücklichen Schwester, im Namen unsrer Familie gegen eine Zurückweisung.«

»Madame, ob meine Frau unglücklich ist, wird sie selbst entscheiden. Über das, was ich für Recht halte, steht nur mir das Urteil zu.«

»Aber, mon Dieu, bedenke doch das Familienvermögen, lieber Major,« sagte der Kammerherr.

»Der König soll die Sache wissen,« unterbrach ihn hitzig die Baronin. »Er wird nicht dulden, daß ein solches Vermögen durch bloßen Eigensinn einer Familie von altem Adel verloren geht. Die Kinder meiner Schwester sollen nicht mutwillig darum gebracht werden.«

In dem grauen Auge des alten Edelmannes blitzte es zornig auf. »Seiner Majestät dem König gehört mein Blut, aber nicht meine Ehre und mein Gewissen. Wenn Sie sich aber auf unsern Allergnädigsten König und Herrn berufen wollen, Madame, so, dächt' ich, haben Sie ein sehr übles Vorbild für Ihre Sache gewählt. Seine Majestät der König Friedrich Wilhelm IV. werden sich nie an einem zweifelhaften und ohne genügende Berechtigung gebotenen Gute bereichern! Das walte Gott!«

»Man wird ihn und Sie zwingen, wenn Sie Ihr Bestes verkennen!« rief außer sich die Baronin. »Man soll weder Prinzen noch andere Erben um ihr Recht bestehlen, einer fixen Idee wegen, und wenn meine Schwester furchtsam und thöricht genug ist, einzustimmen, so werde ich den Kindern Mutter sein!«

Der alte Edelmann wandte sich ruhig und ernst zu dem Kammerherrn. »Ich dächte, Schwager Werben,« sagte er fest, »es ist Zeit, daß Du einschreitest und Madame entfernst. Wo Männer über ernste Pflichten zu entscheiden haben, dürfen sich die Frauen nicht einmischen.«

Der Kammerherr mocht wohl trotz seines gewohnten Nachgebens fühlen, daß er die Scene nicht fortdauern lassen dürfe, wenn er nicht eine gar zu sonderbare Rolle spielen sollte. Obschon er vollkommen unter der Herrschaft seiner ehrgeizigen Frau stand, gab es doch neben seiner strengen Ehrenhaftigkeit bei vielen Schwächen auch im häuslichen Leben gewisse Punkte, in denen er nie nachgab und trotz seiner Behaglichkeit den Mann zeigte. Dazu gehörte die penible Scheu vor allem öffentlichen Affront und vor bloßstellenden Scenen vor Fremden.

Er schlug mit einem scharfen Klappen die goldene Dose zu und faßte seine Frau am Arm. » Ma chère,« sagte er, »das ist eine Angelegenheit en famille, und wenn Sie nicht die égards haben, sich zu moderieren, so werde ich gezwungen sein, um Ihren Arm zu bitten, damit wir uns entfernen. Die Noblesse in Geldaffairen ist ein großer Vorzug der Aristokratie, und die décision darüber muß jedem noblen Charakter überlassen bleiben.«

Die Dame biß sich auf die Lippen und kehrte ihm den Rücken, aber sie fühlte die Unschicklichkeit, in Gegenwart des Boten den offenen Kampf fortzuführen, und wandte sich mit einigen gemurmelten Worten gegen das Fenster, durch das sie in den Park schaute, während ihr Ohr doch aufmerksam auf der Lauer blieb auf alles, was gesprochen wurde.

Der junge Franzose hatte von dem letzten, deutsch gepflogenen Gespräch allerdings nichts verstanden, aber durch die früheren Reden und seine scharfe Beobachtungsgabe doch ziemlich richtig den Inhalt begriffen. Er wandte sich jetzt zu dem Major.

»Ich sollte meinen, mein Herr,« sagte er höflich, »daß die Absicht des Testators nur die gewesen sein kann, Ihnen in Ihrem Sohne seinen Dank zu beweisen, und da zwei Söhne vorhanden sind, gehört das Vermögen dem einen.«

»Ich ehre meinen ältesten Sohn in seinem Grabe, Herr,« erwiderte der Offizier, »durch die Überzeugung, daß er unter jener Bedingung die Erbschaft zurückgewiesen haben würde. Aller Streit ist aber müßig. Das Testament bestimmt ausdrücklich den ältesten Sohn aus meiner ersten Ehe zum Erben, und dieser ist tot.«

»Den ältesten Sohn oder seine Nachkommen. Ich glaube im Sinne meiner Auftraggeber zu handeln, wenn ich die Bestimmung so ansehe, daß, wenn keine direkte Nachkommenschaft Ihres Herrn Sohnes vorhanden, die nächsten Verwandten in deren Rechte treten.«

Der Major antwortete nicht, er blickte wie mit sich selbst uneins zu Boden.

»Aber Ferdinand hat ein Kind hinterlassen, wenn das arme Wesen auch nicht …«

Ein finsterer Blick ihres Gatten traf die stille, milde Frau, zugleich unterbrach sie hastig die scharfe Stimme der Kammerherrin.

»Unsinn, Marie, wie kann von dem Bastard der gemeinen Dirne die Rede sein?«

» Monsieur le Major, darf ich Sie um Auskunft bitten?«

Der alte Edelmann winkte seinem jüngsten Sohn, der noch immer an der Thür stand. »Nimm Rosamunde mit Dir und promeniert draußen, bis ich Euch rufe! Was wünschen Sie noch, mein Herr, nach meiner bestimmten Erklärung?« fragte er den Fremden.

»Sie wollen mir verzeihen, wenn ich vielleicht in eine Familienangelegenheit mich unberufen eindränge,« sagte dieser, »aber Ihre Frau Gemahlin erwähnte eines Kindes …«

» Mon Dieu, begreifen Sie nicht, mein Herr,« fiel die Baronin ein, »es ist von einem Kinde die Rede, dessen liederliche Mutter damit eine Spekulation auf eine vornehme Familie machen wollte. Selbst im Fall, daß mon neveu die kleine Schwachheit begangen – was hat solch ein Geschöpf für Ansprüche?«

»Das Wort des Testamentes lautet: Nachkommenschaft,« sagte der Franzose. »Es ist meine Pflicht, Sie zu fragen, Monsieur le Major, ob Ihr Herr Sohn dies Kind anerkannt hat, und ob es berechtigt ist, seinen Namen zu führen?«

»Nein, Herr! Er würde es nicht gewagt haben, einen solchen Flecken auf den Namen seiner Familie zu werfen.«

»Das genügt! – Erlauben Sie mir dann noch, um Ihre bestimmte Erklärung zu bitten, ob Sie als rechtmäßiger Erbe Ihres Sohnes diese Dokumente und Summen in Empfang nehmen wollen?«

Die Augen der Anwesenden wandten sich unwillkürlich auf den Major, selbst seine Gattin, so sehr gewohnt, sich in allen Dingen seinem Willen zu fügen, atmete schwer; der Kammerherr griff zu seinem gewöhnlichen Hilfsmittel in schwierigen Situationen und seine Gattin bewegte sich ungeduldig hin und her.

Der Major ließ seinen festen, prüfenden Blick auf seinem zweiten Sohne haften, dessen Gesicht die fieberhafte Erregung seines Innern nicht verbergen konnte.

»Wenn es bewiesen worden wäre,« sagte er und seine Stimme verkündete den unwiderruflichen Entschluß, »daß jenes Kind – ich weiß nicht, ob es noch existiert – das Kind meines Sohnes gewesen wäre, so möchte es vielleicht ein Anrecht auf diese Erbschaft haben, obschon die preußischen Gesetze die uneheliche Descendenz von dem Erbe des Vaters ausschließen. Es ist jedoch nicht die geringste Anerkennung von der Hand meines Sohnes vorhanden, die Dirne hat frech gelogen. Bei dem bestimmten Wortlaut des Testamentes, mein Herr, hat meine gegenwärtige Familie nur eins zu thun: auf die Erbschaft zu verzichten!«

Die Kammerherrin ließ einen Ruf des tiefsten Ärgers hören und zuckte verächtlich die Schultern; der junge Offizier erbleichte leicht bei der Entscheidung des Vaters.

»Dann, Monsieur le Major,« sagte höflich der Franzose, »glaube ich am besten meiner Instruktion nachzukommen, wenn ich, wie sie mir für den Fall des Nichtauffindens des rechtmäßigen Erben vorschreibt, diese Summen in der Königlichen Bank deponiere. Der Wille des Obersten Massaignac bestimmte, daß sie zehn Jahre für die Erben bewahrt und während der Zeit alle nötigen Nachforschungen angestellt werden sollten zur Ermittelung des Erben. General Garibaldi mag von dem Erfolg meiner Sendung dem Obersten Mitteilung machen, und dieser weiter disponieren.«

Der Major neigte den Kopf. »Das ist Ihre Sache, mein Herr,« sagte er, »ich habe bei dieser seltsamen Affaire nur über die Ehre des Namens Röbel zu wachen. Wenn ich jedoch auch ein solches Geschenk zurückweisen mußte, so ist um nichts meine Achtung und Dankbarkeit für das Gedächtnis des Herrn Obersten von Massaignac dadurch vermindert. Ich wiederhole deshalb meine Bitte an Sie, ein Zeichen der Erinnerung meinerseits in einer Antwort auf sein Schreiben mit sich nehmen zu wollen.«

»Mein Geschäft in Berlin ist beendet, und ich werde es morgen Abend verlassen. Madame la Baronesse, die sich mir so freundlich gezeigt, werden Ihre Güte hoffentlich so weit ausdehnen, mich bei der Pflicht der Deponierung dieser Summen zu unterstützen.«

»Mit Vergnügen, mein Herr, der Einfluß des Barons wenigstens soll zu Ihrer Disposition stehen, wenn man auch von anderer Seite Ihre Aufopferung mit thörichtem Undank belohnt.«

Der Major zuckte die Achseln, er hatte keine Lust, sich mit der Dame in ein weiteres Wortgefecht einzulassen, aber er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu; denn das vor Ärger früher gelbblasse Gesicht der Dame zeigte plötzlich eine besondere Erregung und den Ausdruck versteckten Triumphes.

»So leben Sie wohl, mein Herr,« sagte der Major, »und nehmen auch Sie meinen Dank für die Mühe, die Ihnen dieser seltsame Auftrag verursacht. Blieben Sie länger in unserm Lande, so würde ich meine Einladung wiederholen. So kann ich Ihnen nur den Wunsch mit auf den Weg geben, daß ein junger Mann von Ihren Gaben seine Kraft einer bessern Sache weihen möge, als dem Phantom einer Freiheit, die nichts ist, als die Empörung gegen die Ordnung Gottes.«

Er verbeugte sich ernst und führte seine Frau aus dem Pavillon.

Die Kammerherrin hielt ihren Neffen mit einem Wink zurück und führte ihn ans Fenster.

»Siehst Du den Mann dort, der in dem Gange jenseits des Kanals umherstreicht?«

»Ja, chère tante!«

»Du mußt mit ihm zu sprechen suchen und ihn diesen Abend um 8 Uhr zu mir bringen. Versprich ihm Geld – ich muß mit ihm reden, auf jeden Fall!«

»Aber Tante …«

»Still! es ist für Dein eigenes Glück. Die Erbschaft ist Dir noch nicht verloren, trotz der Thorheit Deines Vaters; ich werde Dich schützen!«

Sie nahm mit dem gewinnendsten Lächeln den Arm des jungen Franzosen, um den vorangegangenen zu folgen. Der Kammerherr und sein Neffe schlossen sich an.


Es war zwei Stunden später und es begann bereits zu dunkeln, als eine der Glasthüren des mittlern Pavillons nach der Terrasse hin von einem in Schwarz gekleideten Kammerdiener geöffnet wurde und einige Herren und Damen ins Freie traten.

Der erste von ihnen war ein Herr von starker Gestalt, ohne gerade korpulent zu sein. Diese kräftige Figur ließ seinen Wuchs kleiner erscheinen, als es wirklich der Fall, denn er war hoch über mittlere Größe. Der Herr mochte 53 bis 54 Jahre zählen, und sein starkes, rundes Antlitz zeigte Kraft und Gesundheit. Etwas sehr Mildes, Freundliches lag auf den geistreichen Zügen mit der hohen, scharf nach hinten fallenden Stirn und in den freundlichen Augen, deren Zwinkern große Kurzsichtigkeit zeigte und den häufigen Gebrauch eines Augenglases nötig machte. Der Herr trug eine einfache Interims-Uniform, in der Hand einen Stock, und sprach mit großer Lebhaftigkeit zu seinem Begleiter, einem alten, etwas gebückten Herrn im Kammerherren-Frack, dessen weißer Kopf halb in den Schultern versunken war.

Hinter ihnen kam eine Dame von einigen vierzig Jahren, eine hohe, feine Gestalt, in Schwarz gekleidet, mit ernsten, feinen, etwas leidenden Zügen. Eine leichte Schwäche des Fußes markierte sich kaum merklich in ihrem Gang, während dessen sie sich auf den Arm eines der beiden jungen Mädchen stützte, die sie begleiteten, und von denen die eine etwa achtzehn Jahre zählen mochte, die andere aber noch ein Kind von sieben war. Das Auge der Dame wendete sich häufig mit dem Ausdruck der Besorgnis und Liebe auf den vor ihr gehenden Herrn, während sie selbst mit einem großen, starken Mann in Generals-Uniform von kräftigen Gesichtszügen und etwas rauhem, determinierten Wesen sprach. Ein anderer Herr in gleicher Uniform, aber von kleinerer Gestalt, ziemlichem Embonpoint und breitem, offenem Gesicht mit einem hochgewachsenen Mann in blauem Frack und rotem Kragen folgte, mit zwei Damen sich unterhaltend.

Als die Dame in Schwarz durch die Glasthür schritt, deren Flügel der Kammerdiener ehrerbietig geöffnet hielt, blieb sie einen Augenblick stehen.

»Haben Sie für diesen Abend auch alles bereit, lieber Tiedtke?« fragte sie leise. »Sie können nicht verlangen, daß ich noch einmal anderthalb Stunden auf dem Klavier klimpere und Lieder singe, wie ich's seit der glücklichen Tage in Charlottenhof nicht wieder gethan, bloß damit die vergessenen Pantoffeln von Berlin geholt werden können, ohne das er's merkt!«

Der große hagere Mann legte die Hand aufs Herz. »Ihro Majestät sind die Gnade selbst, daß Allerhöchstdieselben mit solchem Opfer einem alten Diener den verdienten Verweis erspart haben. Es ist alles an Ort und Stelle.«

Der vorangehende Herr wandte sich um. »So komm doch, Elise, der Abend ist superb!«

Die hohe Frau erwiderte einige Worte, indem sie auf die Terrasse folgte, wo die beiden Schildwachen trotz des Winkens wie Statuen präsentierten; der Herr setzte das Gespräch mit seinem Begleiter fort.

»Die Küchenquelle in Freienwalde,« fuhr der greise Mann in der Kammerherren-Uniform in einem gewissen gelehrten, halb geschwätzigen Redefluß fort, »hat nach den neueren Untersuchungen Roses nur einen Gehalt von 7 Grad R. und da, wie Euer Majestät wissen werden, nur wenige Quellen unter 6 Grad haben, und der Eisengehalt nur 3½ Prozent beträgt bei sehr geringer Kohlensäure, so kann die Wirkung immer nur schwach sein.«

»Und doch ist mein liebes Freienwalde ein ganz superber Aufenthalt, eine Perle in der Mark. Giebt nicht Bischof die geringste Temperatur der Mineralquellen auf 2½ Grad C. an?«

»Er beobachtete diesen niedern Stand an vier Quellen der Gandecke des obern Grindelwald-Gletschers. Die Temperatur steigert sich bis zu 127 Grad, die der Geiser aus Island zeigt. Die vulkanische Einwirkung ist bei fast allen heißen Quellen über 60 Grad nachweisbar. Die beiden einzigen Ausnahmen bilden die Quellen von Chaudes Aigues in Frankreich mit 87 und die von Las Trincheras in Venezuela von 90 Grad.«

»Sie vergessen eine dritte und zwar in Europa, lieber Freund.«

Der Gelehrte sah mit der anmaßenden Miene der Wissenschaft empor. »Daß ich nicht wüßte, Euer Majestät … ich habe im ersten Teil des Kosmos …«

»Die Petersquelle am Kaukasus hat ebenfalls 90 Grad, ohne daß sich jene Verbindung erweisen läßt. Aber wissen Sie, lieber Humboldt, ich gehe mit einem Plane um, der Ihnen Freude machen wird,«

»Euer Majestät pflegen uns so oft zu überraschen!« Der korrigierte Gelehrte war ganz wieder der geschmeidige Hofmann.

»Ich wünsche schon lange ein Konsulat in Smyrna zu gründen. Schneider las mir neulich aus den Researches in asia minor von Hamilton über seine Untersuchungen des Bin-Tepé vor und ich erinnere mich aus Chandlers-Tour, daß nur wenige Zweifel über den Hügel des Alyattes sind. Von Smyrna, das für unsern Handel immer wichtiger wird, müßte sich leicht ein umfassende Nachgrabung veranstalten lassen.«

Der Gelehrte saß auf seinem Steckenpferd. »Strabo bezeichnet das Werk als das nennenswerteste außer den Werken der Ägypter und Babylonier. Der Umfang dieses Riesenbaues der Kaufleute, Handwerker und lydischen Buhldirnen betrug zu seiner Zeit sechs Stadien und zwei Plethra, die Breite hat fünfzehn Plethra.«

»Entschuldigen Sie, lieber Humboldt,« sagte der König mit leichter Ironie, »Herodot giebt die Breite auf nur dreizehn Plethras an. Der Kapadozier hat bloß von dem Karier abgeschrieben und da er über 400 Jahre später lebte, kann der Tumulus unter der Zeit schwerlich um so viel gewachsen sein. Ich habe mit Prokesch über die Sache gesprochen, der gleichfalls der Meinung ist, daß die Nachgrabungen von der Seite nach Süden erfolgen müssen, um zu den Totenkammern zu gelangen. Ich werde Olfers beauftragen, die Sache im Auge zu behalten, wenn die Gründung des Konsulats erfolgt. – A propos, Sie haben Nachricht von Bonpland erhalten, lieber Humboldt, wie Sie vorhin sagten. Wie geht es ihm? wo befindet er sich? Lassen Sie sehen – er muß jetzt 76 Jahre alt sein, denn wenn ich nicht irre, ist er am 22. August 1773 in Rochelle geboren und nur vier Jahre jünger als Sie.«

»Euer Majestät vortreffliches Gedächtnis trügt nie,« sagte der berühmte Gelehrte, ziemlich verstimmt über die doppelte Niederlage.

»O, ich erinnere mich seines Briefes an Sie vor acht Jahren, und daß ich Sie damals bat, ihn wegen der Quellen des Saládo zu befragen. Er schrieb Ihnen, daß seine Herbarien und Manuskripte für Sie geordnet wären.«

»Der Arme hat einen großen Teil seiner Mühen verloren. Seine Hacianda, die Mission von San Dolores, ist von den Föderalisten-Banden Rosas angezündet worden, und er hat nur mit Mühe das Leben retten können.«

»Und wo ist er setzt?«

»Wie er mich wissen läßt, beabsichtigt er, sich in der Nähe von Alegrete auf brasilianischem Gebiet niederzulassen.«

»Schreiben Sie an Theremin nach Janeiro, er soll ihm zweitausend Thaler zur Disposition stellen und sie auf meine Schatulle ziehen. War der Brief lange unterwegs?«

»Es ist eine mündliche Nachricht, die ich erhalten.«

»Eine mündliche Nachricht? Ein Reisender von Ruf? Hinkeldey hat wirklich nur für Demokraten Sinn, aber nicht für die Männer der Wissenschaft. Es ist ärgerlich, daß ich nicht einmal erfahre, wer angekommen ist.«

»Herr von Hinkeldey,« sagte der berühmte Gelehrte, »ist dies Mal unschuldig. Die Person, die mir die Botschaft brachte, ist ein junger Mann, der, fast ein Knabe noch, dem Gefecht beiwohnte und die Mission Bonplands verteidigen half.«

»Das müssen Sie Rauch erzählen,« sagte der Herr mit einem leichten Wink nach dem General, der die hohe Dame begleitete, »er hört für sein Leben gern Kriegsgeschichten. Wer ist der Mann, warum haben Sie mir ihn nicht vorgestellt?«

»Es ist ein junger Franzose, Sire, ein Abenteurer, ein Gefährte des berühmten Garibaldi, der eigentlich den Gruß Bonplands mir gesandt hat.«

»Garibaldi?« Der Herr drohte lächelnd mit dem Finger. »Nehmen Sie sich in acht, liebster Humboldt, daß Hinkeldey Sie nicht ausweist, wenn er von Ihren revolutionären Bekanntschaften hört! Ihr Ruf ist in der Hinsicht ohnehin nicht der beste. Was sagen Sie dazu, liebster Gerlach?«

Der kleinere der beiden Generale kam eiligst herbei. »Was befehlen Euer Majestät?«

»Es ist von Humboldt die Rede, daß er es mit der Demokratie und der Freigeisterei hält!«

»Euer Majestät halten zu Gnaden, Seine Excellenz haben zwar zuweilen sehr freie Ansichten, aber ich zweifle keinen Augenblick an seinem Royalismus. Das einzige, was ich bedauern könnte, ist. Seine Excellenz so selten mit uns in einer Kirche zu erblicken.«

»Der Herr General wollen mir die Bemerkung erlauben,« sagte der Gelehrte pikiert, »daß ich nicht mehr Carriere machen will. Nicht diejenigen, welche alle Tage in die Kirche laufen, sind gerade die Aufrichtigsten. Es giebt auch Scheinheilige.«

Der General, obschon seine religiöse Gesinnung über alle Verdächtigung erhaben war, biß sich doch auf die Lippen bei dieser Sottise gegen seine Richtung. Aber der zweite General übernahm die Antwort, ehe er selbst sich gefaßt. »Nicht bei den Soldaten, nicht bei den Soldaten, Excellenz,« sagte er barsch, »die meinen's ehrlich mit dem lieben Gott, so gut wie mit dem König, das hat schon der alte Dessauer bewiesen. Zu viel mag ich gerade auch nicht, aber der Teufel soll mich holen, wenn mich ein Kapitel aus der Bibel nicht noch immer klüger gemacht hat, als der ganze griechische oder amerikanische Plunder, mit dem Sie uns die Ohren vollstopfen, Excellenz.«

Die Excellenz zuckte leicht die Achseln, aber sie schwieg, denn sie kannte aus Erfahrung die ungenierte Derbheit des alten Soldaten und vermied sorgfältig, mit ihm anzubinden. Auch beendete der hohe Herr sofort den Wortwechsel. »Sie müssen es Rauch nicht übel nehmen, Humboldt,« sagte er lächelnd, »er ist rauh, aber treu wie sein Stahl. Das wissen wir alle. Aber was willst Du, Kleine?«

Die Frage galt dem jungen Mädchen, das mit einem Knix vor ihm stand und nach seiner Hand faßte, sie zu küssen.

»Gute Nacht sagen, cher oncle! die Schuckmann will mich durchaus nicht mehr spaziern gehen lassen, sie sagt, es sei Zeit für kleine Mädchen, zu Bett zu gehen. Ich bin aber kein kleines Mädchen und Charlotte bleibt doch auch!«

»Ei, was bist Du denn, Närrchen?«

»Eine Prinzessin, Onkel!«

Der hohe Herr lachte. »Ja, Kind, die Prinzessinnen, die müssen am allerersten gehorchen! Frage nur Deine Tante da! – Adieu, Wildfang, und vergiß das Gebet nicht, ehe Du einschläfst.« Er küßte die Kleine auf die Stirn. Dann reichte er der hohen Dame die Hand: »Daß Du sie mir ja nicht verziehst! Sie weiß nur zu gut, daß sie Dein Liebling ist! Gott hat uns in den Kindern einen reichen Ersatz gegeben!«

Ein langer, zärtlicher Händedruck sprach mehr, als die Worte gekonnt hätten, bei allem Schatz von Liebe den geheimen Schmerz aus, daß von allen ihnen allein der höchste Segen fehlte. Dann wandte er sich zu dem General-Adjutanten.

»Hat Hinkeldey Ihnen Bericht gesandt? Wie ist der Empfang der Herren aus Frankfurt gewesen?«

»Hier ist der Bericht. Die Deputation ist mit Extrazug bald nach 5 Uhr in Berlin eingetroffen. Der Stadtrat Duncker und ein Stadtverordneter waren den Herren bis Magdeburg entgegengefahren. Die Lokomotive war bekränzt, auf dem Schornstein eine Krone mit der Trikolore angebracht.«

»Auf Dampf gebaut!«

»Deputationen des Magistrats und der Stadtverordneten,« berichtete der General weiter, »mit den Herren Naunyn und Seidel an der Spitze, in ihren Amtsketten, erwarteten die 32 Herren auf dem Bahnhof. Auch Deputationen der ersten und zweiten Kammer, und viele Mitglieder derselben waren zugegen.«

»Namen, Namen! die bekanntesten!«

»Die Herren von Wittgenstein, von Brünneck, Baumstark, von Bernuth, Graf Dyhrn, Striethorst, Löwen, Willisen, von Vincke. Aus dem zweiten Hause die Herren von Auerswald, Wenzel, der Freigemeindler Rupp, Camphausen, Cruse und andere.«

»Und wie sind sie aufgenommen worden?«

»Bürgermeister Naunyn hielt auf dem Bahnhof eine Anrede, auch die beiden Präsidenten; Simson dankte. Man fuhr zu je vier in den harrenden Wagen durch das Potsdamer Thor nach den Hotels unter den Linden. Das Publikum war natürlich in Masse versammelt, aber das Hurra ziemlich mäßig. Es scheint, daß die Demokratie ihre Kontreordres gegeben hat.«

Der General schwieg. Der hohe Herr hatte den Bericht, nur durch jene einzelnen Worte unterbrochen, ohne weiteres Zeichen seiner Meinung angehört. Dann nickte er dem General zu und drehte sich um. »Bleiben Sie hier, meine Herren, ich wünsche allein zu sein! Sobald mein Bruder kommt, lieber Keller, benachrichtigen Sie mich oder bitten Sie ihn, zu mir zu kommen, dort links in der Allee wird er mich finden!«

Eine bestimmte Bewegung der Hand fesselte jeden an seinen Platz; der König schritt die Stufen der Terrasse hinab und ging nach der Allee zu, die zu den Boskets in der Nähe des Mausoleums führt.


In den Mantel gehüllt, kam bald darauf ein hoher, stattlicher Mann rasch durch die dunklen Gänge daher; ein durch das Laub zitternder Mondstrahl glänzte auf dem Beschlag seines Helms.

»Bruder Wilhelm!« »Fritz!« Ihre Hände lagen fest und innig in einander. »Was wir zu reden haben, reden wir am besten am Grabe des Vaters. Du bist doch allein?«

»Ich bin's!«

Eine Stunde wohl gingen die Brüder auf und nieder durch die majestätische dunkle Allee, den Weg feierlicher Trauer.

Durch die Stille der Nacht hörte man das rasche Rollen eines Wagens. Als sie wieder umgekehrt waren, klang am Ende der Allee ein Schritt, klirrte ein Säbel.

»Wer ist da?«

»Euer Majestät halten zu Gnaden …«

»Ah, Sie sind es, Solms! Warum stören Sie uns? Was wollen Sie?«

»Ihro Königliche Hoheit die Frau Prinzessin sind so eben eingetroffen und erwarten Eure Majestät.«

Ein feines Lächeln flog über das Antlitz des hohen Herrn, als er sich gegen den Bruder wandte.

Dieser zuckte die Achseln.

» Allons mon ami! Niemand kann seinem Schicksal entgehen, und eine Mutter hat stets das Recht, die Zukunft ihres Sohnes zu verteidigen. Wir sind einig?«

»Wir sind es!« Ihre Hände schlossen sich fest in einander.

»Dann mit Gott und nach dem Wahlspruch unseres Hauses! – Gehen Sie voran, Solms, wir folgen sogleich!«


Es war nahe an Mitternacht, als der König rüstig und unermüdet allein wieder durch die Gänge des Parkes schritt. Zuweilen, wenn er an einen Punkt kam, von dem man das Schloß sehen konnte, wandte er den Blick freundlich dahin. Nur in dem Parterre des Flügels rechts waren noch zwei oder drei Fenster erleuchtet.

Dann ging er rasch weiter; sein gleichmäßiger, fester Schritt bewies, daß er ein vortrefflicher und sehr geübter Fußgänger war.

Aber er blieb nicht bloß in den großen breiten Gängen des Parks, sondern wandte sich häufig nach den entferntesten dunkelsten Wegen und ging in ihnen auf und ab.

Plötzlich blieb er stehen und lauschte nach der Seite hin, wo der Zaun des Parkes diesen von der Feldmark des Spandauer Berges scheidet. Das scharfe, militärisch geübte Ohr des einsamen Spaziergängers hatte einen Klang vernommen, wie das Klirren eines Gewehrs.

Der König ging rasch auf die Stelle zu; der Mond war längst untergegangen, nur Sternenlicht funkelte am Himmel.

Niemand war zu sehen, aber sein scharfes Ohr hörte ein Rascheln der Zweige, ein schweres, unterdrücktes Atmen.

Der Spaziergänger trat ohne sich zu bedenken näher. »Wer ist hier? – Antwort! was will man von mir?«

Keine Antwort; aber er sah einen dunklen Schatten zu seinen Füßen sich bewegen, und hörte das stöhnende, ängstliche Atmen. – Der hohe Herr beugte sich nieder und griff zu; er fühlte einen Mann und zog ihn beim Kragen hervor in den lichteren Gang. »Mensch, wer bist Du? was thust Du hier?«

Die Gestalt richtete sich empor, fast einen Kopf größer, als der nächtliche Spaziergänger, sie schien neuen Mut zu bekommen, im Sternenlicht matt durch die Bäume hereinfallend blitzte ein Helmbeschlag, ein Gewehrlauf.

»Wer dao?«

»Zum Henker! was ist das? ein Soldat hier auf Posten? Was thust Du hier, Bursche?«

»Hä sieht et jao!«

»Was soll ich sehen? Antwort – wie kommst Du hierher, statt auf der Wache zu sein?«

»Ick stoh Posten!«

»Posten? Aber hier sind keine im Park, die einzigen stehen am Eingang und auf der Terrasse.«

Der Soldat grinste. »Ja wul! nicht tweehundert Tratt hiervan steht de Laakemanns Giät, und da göntert an'n Tiek de Schläsinger.«

»Wie? eine förmliche Postenkette, ohne daß ich davon weiß?«

»Parolbefehl! Et dörff sick kien Mensch seh'n laoten, dat He et nich märken sull.«

Der hohe Herr schüttelte unwillig den Kopf. »Thorheit, ich will dergleichen Belästigungen nicht haben. Geh' auf der Stelle zu den anderen Posten und nimm sie mit Dir nach der Wache. Ich brauche hier keine Schildwachen und will keine haben.«

Der Westfale stand straff, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Het geht nich, Heer!«

»Warum nicht?«

»Ick dörff et nich dohn, de Unteroffizier söllt't mi nett austriken.«

»Aber kennst Du mich nicht?«

»Jesses wul, Heer! wu söll eck ju nich kennen?! He ist de Künning.«

»Dann wirst Du ohne Sorge thun, was ich Dir befehle. Mach', daß Du fortkommst, und nimm Deine Kameraden mit Dir!«

Der Soldat kratzte sich hinter dem Ohr und sann nach. »Et geht doch nich,« sagte er endlich mit Bestimmtheit. »Wenn't de Heer Künning auk will, de Olle lätt's et nich to, un ick könn in Düvels Garkäöke kommen, wenn he mi attrappeert, dat ick nich up'n Posten bün bi Nachttiedt.«

»Welcher Alte? von wem sprichst Du?«

»He weet et ja wull, von'n Ollen mit'n Schimmel!«

»Wrangel?«

»Jä wull, so hett he, mer een Donnerwetter is he!«

»Aber wenn ich Dir's befehle?«

Der Soldat schüttelte den Kopf. »He kennt det nich, Heer Künning. De Olle hätt sinen eegnen Kopp vor sick alleen un is schlimmer als He!«

Den hohen Herrn fing die Sache an zu belustigen, und der erst empfundene Ärger über die wider seinen Willen angeordnete Bewachung schwand. »Wie heißt Du, mein Sohn, und woher bist Du?«

»Meyer Jöllenbeck heet ick, un ut't Ravensbergsche bin ick.«

»Das ist ein guter Stamm, und ein treues Volk. Ihr haltet fest an Euren Sitten, wie an Euren Höfen. Der Jöllenbeck liegt im Teutoburger Wald? Sitzt Deine Familie schon lange auf dem Hof?«

Das Kapitel schien dem biederen Bauernstolz des Mannes zu behagen. »Ick weet et nich, aber der Grootvader hät et mi seggt, dat der Künning Wittekind up den Jöllenhof schlapen hätt!«

»Wo bleibt da das Recht der Hohenzollern auf die Mark! Und ein solches Recht, eine solche mehr als tausendjährige Geschichte will man diesem biedern und braven Stamm nehmen, bloß damit die jüdische Güterschlächterei ihren Vorteil ziehen kann!« Er hatte das für sich hingesagt. »Wie viel Morgen hat Deiner Eltern Hof?«

»Achthundertfünpzig!«

»Und was geben sie Dir Zuschuß hierher nach Berlin?«

Der Soldat sah ihn groß an. »Wo meet he det, Heer Künning?«

»Nun, wie viel Geld Dir Dein Vater schickt, da doch Dein Sold schwerlich ausreicht für Deine Vergnügungen in Berlin?«

»Dao kennt he de Möder schlecht! Vier Dhaler häv se mi mitgäven, und Kristkindken schick se mi Woast und Schinken. T' Geld mut alle up'n Hof blieven, dat de Kinder utbedaald käönnt werden, wenn de Jüngste den Hof krijgt!«

»Und machst Du keine Schulden?«

»Schulden? A Jesses, Heer Künning, wu kann He so wat denken, dat ick mi met de verdammten stinkrigen Juden inlaoten sall?!«

Der hohe Herr wandte sich schmerzlich und doch wohlthuend berührt zur Seite. »Trefflich! – ich wollte, daß mein junger Adel, mein anderer Adel! auch so dächte! Welche Kraft wäre das im Land! Doch nun geh', mein Sohn, es ist keine Gefahr hier, und ich werde morgen früh den General und Deinen Offizier wissen lassen, daß ich selbst die Posten aufgehoben habe!«

In diesem Augenblick hörte man in der Ferne das leichte Wiehern eines Pferdes von der Feldseite her.

»He kann't em nu söllvens sagen, daoh is he! He denkt, he is so klook, aber de Westfälinger krigg he ampatt nich!«

»Wie, der General? wie sollte der hierher kommen, der ist in Berlin.«

»Wu he hier kümp, det weet ick nich; he is dao, as de Düvel, alle Nacht!«

»Wie, der General kommt alle Nächte hierher?«

»Manchmal ook twee Maol. De sackerments Demokraten laotet em keene Ruh! Aber de Düvel sall se halen, wann wi es an dat Rackertüg kaomm'n.«

»Schweig! kein Wort, daß Du mich gesehen oder mit mir gesprochen; ich verbiet' es Dir! Jetzt geh' auf Deinen Posten und thu' wie gewöhnlich!«

Der Soldat trat zurück. Als er sich wieder umsah, war der hohe Herr verschwunden.

Es war eine Zeitlang still, dann hörte man einen leisen vorsichtigen Schritt durch die Büsche; der Nahende schien die Stellen, wo die Posten ausgestellt waren, sehr genau zu kennen, denn er ging gerade auf den Ort zu, wo die Schildwache stand.

»Wer da?« klang es leise.

»Still! die Runde!« Der Nahende trat zu dem Posten; er trug eine einfache blaue Feldmütze und einen blauen Kürassierrock ohne Mantel, den Säbel unterm Arm.

»Guten Abend, mein Sohn! alles jut jegangen? Du hast doch nich geschlafen?«

»Nee! jao nich!«

»Der Deivel sollt' Dich auch 's Licht halten. Ein ordentlicher Soldat muß die Augen immer offen haben, auch wenn er schläft. Ist er vorbeigekommen?«

»Jao! dreimaol.«

»Das stimmt mit den anderen. Er hat mich doch keinen von Euch Donnerwettern jesehn?«

Der ehrliche Westfale murmelte etwas, das wie eine Verneinung klang.

»Das will ich mich auch ausjebeten haben! Ich laß Euch krumm schließen, wenn Ihr Sakermenter Euch nich jut versteckt und die Augen aufhaltet! Davor habt Ihr den ganzen andern Tag frei, so jut ist mich's in meinem janzen Leben nich geworden. Wo kam er her das letzte Mal?«

»Von drüven!«

»So! na, es is jut und nu Adje, und denk' an Deine Pflicht, wie ein braver Soldat.« Er verließ den Mann, den es im Innern kitzelte, dem ›Ollen‹ einen Streich gespielt zu haben, und der eifrig lauschte, was weiter geschehen würde.

Der Offizier, der soeben die Posten revidiert, horchte einen Augenblick den Gang entlang, dann trat er aus dem Schutz der Bäume und Büsche und ging rasch über die freiere Fläche, um nach einem anderen Teile des Parks zu gelangen.

Wäre es heller gewesen, so hätte man an dem viel durchfurchten, von Strapazen und freier Luft gleichsam gestählten Gesicht sehen können, daß der Offizier ein alter Mann war, während die gerade ungebeugte Haltung, der leichte, elastische Schritt das Gegenteil glauben ließen.

Der alte Krieger trug, wie gesagt, den Säbel unterm Arm, um sein Klappern oder Klirren zu verhindern. Er war aber noch keine fünfzig Schritt weit gegangen, als sich plötzlich eine Gestalt von einer Bank unter dem Schatten einiger Bäume erhob, wie aus der Erde gewachsen, und eine wohlbekannte Stimme sagte: »Wer geht da? Wer sind Sie? Halt!« Das Halt galt der raschen Bewegung des Betroffenen, der wahrlich im ganzen Leben nicht vor einer plötzlich demaskierten Batterie so rasch Kehrt gemacht hatte, als jetzt vor dem einsamen Mann, und mit eiligen Schritten das Buschwerk zu erreichen suchte. Dabei hörte man ihn eine Verwünschung zwischen den Zähnen murmeln wie: »Daß mir der Deibel ihm auch jrade in den Weg führen muß!«

Aber die Rechnung der Flucht war ohne den Verfolger gemacht. Mit dem Ruf: »Halt! halt! ich will wissen, wer da geht! Stehen Sie! ich befehle es!« eilte der frühere Spaziergänger ihm nach, und er war wahrlich kein zu verachtender Verfolger auf einer Jagd zu Fuß. Zu einer solchen wurde alsbald die Scene; denn der alte Offizier merkte kaum, daß jener ihm auf den Fersen war, als er vollständig Fersengeld gab, wie ein gehetzter Eber quer durch die Büsche brach, und davon lief, als ob es hinter ihm brenne.

Wie sehr er sich aber auch anstrengte, der Herr, den er so sehr meiden wollte, war immer dicht hinter ihm her, schnitt ihm, besser mit den Gängen des Parks bekannt, zuweilen den Weg ab und trieb ihn nach der Umzäunung des Gartens hin. Dazu schien es ihm, als ob es manchmal wie ein Lachen hinter ihm drein klang zwischen dem wiederholten Zuruf, nun endlich stehen zu bleiben.

Das alles aber ließ er unbeachtet und schätzte sich glücklich, als er den Zaun vor sich sah. Hastig, wie ein beim Apfelmausen ertappter Schulbube, lief der alte Offizier an diesem entlang, die Stelle zu suchen, wo jenseits sein Pferd angebunden stand, und die er sich ganz besonders ausgewählt und eingerichtet hatte, um dort bei seinen nächtlichen Ronden die Schildwachen zu überraschen. Aber die gymnastische Produktion wurde ihm erschwert; denn plötzlich von der Seite hervorbrechend, stand der Verfolger, dem er in der letzten Minute glücklich entwischt zu sein glaubte, bei ihm und hielt ihn fest.

»Werden Sie mir nun endlich Rede stehen und mir sagen, wer sich hier nächtlich in meinem Park herumtreibt?«

Ein schärferer Beobachter als der von dem Wettlauf keuchende Ertappte hätte in dem Ton der Frage leicht die Lust an dem Scherz erkannt, aber der alte General war über seine Attrappierung zu sehr zerknirscht, als daß er daran hätte denken sollen.

»Aha,« fuhr der Herr fort, »ein Offizier! Wahrscheinlich eine Liebesaffaire, ein Rendezvous mit einer Hofdame oder gar einem Kammermädchen! Pfui, Herr! Aber ich will doch sehen, wer hier in meinem Revier jagt! Hierher ans Licht, junger Herr!«

»Majestät,« stöhnte der alte Offizier kläglich.

»Was den Teufel, die Stimme muß ich kennen. Die klingt ja gerade wie die von …«

»Wrangeln, Majestät!« jammerte der General. »Ich kann mich nu nich mehr helfen, un die englische Seele, die Majestät ooch nicht, der ich's doch versprochen habe!«

»Was zum Henker, Wrangel, sind Sie's wirklich? Was in aller Welt thun Sie denn hier, Sie werden doch nicht den Hofdamen nachschleichen? Sie gelten zwar immer noch als galanter Damenritter, und am Ende – der Geschmack der Frauenzimmer ist unberechenbar.«

Der alte General, der allerdings noch für sein Leben gern ein junges hübsches Gesicht sah und bei jeder Gelegenheit sich als ein überaus galanter Herr gegen das schöne Geschlecht zeigte, wußte nicht gleich, ob er sich geschmeichelt fühlen, oder sich ärgern sollte. Endlich sagte er: »Gnade, Majestät, üben Sie Nachsicht mit mich, denn ich weiß, was es heißt, wenn Sie sich man über einen lustig machen. Ich will lieber alles beichten!«

Der hohe Herr lachte herzlich. »Nun, so beichten Sie! aber zuvor kommen Sie hier von dem Zaun weg, und lassen Sie uns eine geeignetere Stelle aufsuchen. Es scheint mir denn doch nicht recht passend, daß der Ober-Kommandeur meiner Marken, vielleicht« – er nickte ihm freundlich zu – »auch ein künftiger preußischer General-Feldmarschall, wie ein Dieb oder Verliebter in die Häuser der Leute über die Zäune klettert!«

»O, Majestät!« Die Augen des alten Herrn blitzten vor Vergnügen, ein Ausdruck, der sie seit etwa zwei Monaten, seit dem Tode seines einzigen Sohnes, nicht mehr erhellt hatte. »Aber – ich habe mein Pferd da draußen!«

»So lassen Sie es von einem der Burschen holen, die Sie da rings im Gebüsch wie Spitzbubenfänger aufgestellt haben. Sie wissen doch, Wrangel, ich liebe die geheime Polizei nicht.«

Der alte General, so auf allen seinen Heimlichkeiten ertappt, schlich wie ein beschämter Schüler hinter dem hohen Herrn drein. Im Vorübergehen gab er einer der Schildwachen den Befehl, das Pferd zu holen und auf die Chaussee vor die Einfahrt des Schlosses zu führen.

Erst als der hohe Herr auf dem freien Platz vor der Terrasse angekommen, blieb er stehen und wandte sich zu seinem Gefährten.

»Warum thun Sie das, lieber Wrangel? Warum gönnen Sie mir mein unschuldiges Vergnügen nicht?« sagte er.

»Beste Majestät, nicht böse, aber es geht wahrhaftig nicht!« bat der treue General. »Gerad' um Euer Majestät in ihren gewohnten Spaziergängen nicht zu stören, haben wir's so eingerichtet, die englische Majestät, die Königin und ich. Bedenken Sie doch, wie viel Lumpengesindel es jetzt gießt, und wenn Ihnen was passierte! Ich hängte mir auf, denn eine Kugel wär' viel zu jut vor mir!«

»Niemand soll von Friedrich Wilhelm IV. sagen, daß er Meuchelmörder in seinem eignen Lande gefürchtet habe. Ich will solche Maßregeln der Angst und Besorgnis nicht, die aussehen wie ein böses Gewissen. Offen und ruhig kann ich jedem aus meinem Volke entgegentreten: denn sein Wohl ist mein einziger Gedanke. Keine nächtlichen Wachen mehr, Wrangel, außer den gewöhnlichen Posten, keine solche Exkursionen mehr, hören Sie! Sie brauchen den Schlaf mehr als ich.«

Der alte Offizier verbeugte sich. »Euer Majestät Wille ist Befehl,« sagte er. »Aber Euer Majestät ganze Macht reicht nicht hin, einem alten Diener und einer liebenden und besorgten Frau eine Stunde Schlafs zu geben, wenn jede Minute Angst und Sorge um das Teuerste sie drückt.«

Der hohe Herr blieb einige Augenblicke stumm vor ihm stehen. Dann reichte er ihm die Hand. »Und Sie könnten wirklich nicht schlafen vor Unruhe um mich, wenn ich Ihnen Ihre Wachen nicht lasse?«

»Der Deibel soll mir holen, wenn ich's thäte!«

»Und die Königin auch nicht?«

»Noch weniger als ich! Aber die englische Frau läßt Sie's man nicht merken!«

»Dann will ich Ihnen etwas sagen! Ich erlaube Ihnen Ihre Wachen bis elf Uhr!«

»Und nach elf Uhr!«

»Werde ich nicht mehr spazieren gehen! Mein Wort darauf. Es ist besser, ich beschränke mich, als daß die ganze Nacht da Posten stehen, und Sie deswegen auf Ihrem Schimmel nach Charlottenburg traben müssen.«

Der alte General küßte die Hand, die er noch immer in der seinen hielt. »Tausend Dank, Majestät! Aber der Schimmel war's wahrhaftig nicht, den kennen die Sackermenter viel zu gut, und er ist nachgerade alt und will auch seine Ruhe haben. Es ist der Fuchs, Majestät, aber taugt nicht die Hälfte, was mein Alter getaugt hat. Drei Minuten länger braucht das Beest nach Charlottenbürg!«

Der hohe Herr lächelte.

Am andern Morgen brachte ein Königlicher Stallmeister einen prächtigen Schimmel, eines der besten Pferde aus den Königlichen Marställen, zum Berliner Schloß, wo der alte Wrangel sein Hauptquartier aufgeschlagen und die Berliner altbegründeten Zeitungen zu dem berühmten Dejeuner eingeladen hatte.

Zu dem Schimmel gehörte ein Königliches Handbillet. Das Billet war an den Kommandeur der Marken gerichtet. Sein Inhalt lautete:

»Meine Armee kennt den General Wrangel nur auf seinem Schimmel. Er möge dem alten das Gnadenbrot geben und den beifolgenden reiten, aber nicht bei Nacht nach Charlottenburg.«

Der General Wrangel hat den neuen Schimmel gar viele Jahre geritten.

Der alte General war von Stein und Stahl.

Der General hat den Schimmel überdauert, der General hat den König überlebt.

Möge es Preußen nie an solchem Geschlecht der Eisernen fehlen.


2. Bourgeoisie, Aristokratie, Proletariat!

Der Kammerherr hatte sich's bequem gemacht, wie er es nannte: das heißt, er befand sich in seinem Kabinett, dem einzigen Ort, wo er sich im Hause erlauben durfte zu rauchen, eine Liebhaberei aus der Zeit, als er noch junger Referendarius und angehender Regierungsrat gewesen war. Aber er gönnte sich nie mehr als eine einzige Pfeife, oder höchstens eine Cigarre des Abends und war sorgfältig bemüht, den Rauch nicht seine Kleider affizieren zu lassen, er wäre unglücklich gewesen, wenn auch die letzte Hofdame mit 600 Thalern Toilettengehalt die Nase gerümpft hätte über die Idee, daß der Typus aller Decenz sich einer solchen Unschicklichkeit hingeben könne.

Der Kammerherr saß in seinem Negligée wie auf dem Qui vive in dem bequemen Fauteuil. Er hatte einzig den blauen Frack mit rotem Kragen gegen einen Schlafrock von chinesischem Seidenstoff vertauscht – sonst war er in voller Toilette und brauchte bloß in seinen Rock zu schlüpfen, um nach Parfümierung mit einigen Odeurs sogleich zu Hofe zu fahren.

Die weiße fleischige Hand mit dem prächtigen Brillantring hob das Krystallglas mit der dunklen Glut des Lafitte gegen die Lampe, und der Kammerherr liebäugelte wie ein junger Bursche mit seiner Schönen mit dem flüssigen Rubin, denn er kokettierte mit seiner angeblichen gastronomischen Kennerschaft und erteilte dem Oberküchenmeister und dem Kellermeister Ratschläge.

»Das Weinchen ist magnifique, Freundchen, ich muß es gestehen,« sagte er, mit den Lippen schlürfend, »viel Eleganz und Milde, ein prächtiges Bouquet und sanft auf der Zunge. Von welchem Jahrgang sagten Sie doch, Kommissionsrätchen?«

»Zweiundzwanziger, Excellenz!«

»Richtig! ich schmeckte es gleich! ich werde ihn Maillard empfehlen. Er soll ihn bei der nächsten Familientafel aufsetzen.«

»O, es ist genug davon vorhanden, Excellenz, Sie können ihn dreist bei der ersten Galatafel geben lassen, die Herren Kaiserdeputierten von Frankfurt trinken auch gern ein gutes Glas Bordeaux statt der sauren Rheinweine zu zwölf Kreuzern das Seidel.«

Die Excellenz setzte schnell das Glas nieder. »Keine Politik, wenn ich bitten darf, lieber Kommissionsrat! Man weiß noch keineswegs, ob Se. Majestät die Gnade haben werden, die Herren zur Tafel zu befehlen.«

Sein Vis-à-vis lächelte. Der Kommissionsrat war ein kurzer, starker Mann von etwas plumper Gestalt und rundem, fettglänzendem Gesicht mit kurzgeschnittenen, rötlichen Haaren. Wir wissen aus einer frühern Beschreibung, daß der gänzliche Mangel an Augenbrauen und Wimpern dem sonst nichtssagenden Gesicht ein unangenehmes Aussehen gab, und daß das mattblaue Auge zuweilen einen stechenden Kreuzblick warf.

Der Kommissionsrat Boltmann – denn es war in der That der Agent, der in der Nacht vor dem Hamburger Brande mit dem Jesuiten-Missionar unterhandelt hatte – trug einen feinen schwarzen Frack und überaus saubere Wäsche. Die Finger der rechten Hand waren mit Ringen bedeckt, und im Knopfloch des Fracks zeigten sich die Ordensbänder zweier kleinen deutschen Staaten. Der Kommissionsrat Boltmann war in der kurzen Zeit ein Faktotum der vornehmen und reichen Welt Berlins geworden. Er schien sehr wohlhabend und machte an der Börse manche sehr gute Geschäfte, die anfangs immer von den Börsenmatadoren für faul, mindestens für sehr zweifelhaft gehalten wurden, sich aber dann durch eine unerwartete politische oder merkantile Nachricht als sehr erfolgreich bewiesen hatten. Da er außerdem auf merkwürdige Weise bald mit allen Familiengeschichten der Stadt bekannt war, vortreffliche Weine und alle Delikatessen aus den Seestädten mit der größten Gefälligkeit besorgte, wo keine andere Quelle sie erlangen konnte, ja, wie man wissen wollte, im stillen und mit der größten Decenz vornehmen Namen oder einflußreichen Beamten in augenblicklicher Verlegenheit auch mit bedeutenden Vorschüssen half, so war er in den verschiedensten Kreisen gern gesehen und bald eine Art Notwendigkeit.

Der Kommissionsrat wußte sehr wohl, daß der Kammerherr sich auf keinem Felde lieber erging, als auf dem der Hof- und Stadtneuigkeiten, aber er kannte seinen Mann und war überzeugt, daß dieser ihm von selbst kommen werde.

»Die Manzanares, die Sie mir von Cuba kommen ließen,« fuhr der Kammerherr fort, seine Cigarre niederlegend, »ist ausgezeichnet, aber ich darf es nicht wagen, mehr als eine halbe abends zu rauchen, das Parfüm ist zu stark. A propos! was spricht man in der Stadt über diese Herren aus Frankfurt?«

Der Agent antwortete mit einer anderen Frage. »Excellenz waren nicht in Berlin?«

»Nein, ich war in Charlottenburg, zuerst im Dienst und dann einer gefährdeten bedeutenden Erbschaft wegen, über die ich später Ihren Rat hören möchte. Auch muß ich Ihnen sagen, daß ich es nicht für schicklich hielt, wenn Personen in meiner Stellung anwesend geblieben wären, während Se. Majestät der König es vorzogen, nicht in der Nähe von Berlin zu sein.«

Ein leichter, spöttischer Blitz flog über das breite Gesicht des Agenten, er war auf dem Punkt, wo er den Kammerherrn haben wollte.

»Da haben Seine Königliche Hoheit der Prinz von Preußen also den König verfehlt und sind vergeblich von Potsdam herüber gekommen, ohne ihren erlauchten Bruder gesprochen zu haben?«

»O – im Gegenteil! Aber lieber Kommissionsrat, woher wissen Sie denn, daß Seine Königliche Hoheit in Charlottenburg waren?«

»Ich hatte am Abend ein Geschäft dort und bin zufällig dem Wagen auf der Chaussee begegnet. Ich bin überzeugt, Excellenz, daß die Meinung Sr. Königlichen Hoheit ganz mit dem Beschluß Sr. Majestät übereinstimmt!«

»O – wie sollte das nicht! Aber wissen Sie, Kommissionsrat, die Damen bei Hofe waren ganz enchantiert von jenen Rosenblätter-Konfitüren, die Sie mir von der Insel Chios besorgten.«

»Ich habe drei Okka verschrieben und werde Ihnen etwas noch vorzüglicheres liefern.«

»Sie machen mich neugierig!«

»Verzuckerten Orangenduft!«

»Das muß superb sein! Diese Orientalen verstehen allein, was ein Dessert ist! Warum leistet man dergleichen nicht auch bei uns?«

»Es fehlen unseren Confiseurs zwei Dinge dazu!«

»Und die wären?«

»Der orientalische Himmel und das Geheimnis.«

»Ah, es ist ein Geheimnis dabei!«

»Bei der Gelegenheit fällt mir ein, daß Ew. Excellenz neulich von einem Geheimnis anderer Art sprachen, das Sie interessierte!«

»Was meinen Sie?«

»Excellenz erinnern sich, daß General von Prittwitz am Morgen des 19. März sich sehr verwunderte, als er so plötzlich, nachdem die Rebellion bereits aus allen Punkten durch die brave Armee besiegt war, den Befehl erhielt, die Truppen aus der Stadt zu ziehen.«

»Bei Gott! er hat es derb genug ausgesprochen!«

»Wir sprachen vor acht Tagen von diesem Umstand, der bisher noch immer nicht aufgeklärt ist, und Sie selbst wünschten zu wissen …«

»Es ist wahr, ich hatte damals gerade nicht Dienst im Schloß.«

»Ich bin überzeugt, daß Excellenz sicher davon abgeraten hätten. In einem solchen Augenblick, wo man kommt, die Unterwerfung anzuzeigen und um Gnade zu bitten …«

Der Kammerherr vermied es sorgfältig, auf die unglücklichen Märztage zu sprechen zu kommen, da die Erinnerungen daran für ihn eben nicht sehr ehrenvoll waren, aber seine fatale Neugier, alles zu wissen, überwog auch hier.

»Gewiß, gewiß,« sagte er. »Man hat mir davon gesagt, aber es kompromittiert gewisse Personen, und ich habe einige Umstände vergessen. Es wird mich interessieren, zu hören, wie die Sache von unten her aufgefaßt worden.«

»Se. Majestät der König,« erzählte der Jesuit, »werden, wie ich höre, morgen Mittag der Deputation aus Frankfurt eine Audienz erteilen?«

»Im Schloß – ja wohl! Es findet zuvor noch ein Minister-Conseil statt. Aber wir sprachen von dem merkwürdigen Rückzug der Truppen!«

»Ich habe meine Notizen von einem Augen- und Ohrenzeugen. Se. Majestät der König mußten in dem Barrikadenkämpfe Sieger bleiben, das konnte nicht zweifelhaft sein, die ganze Stadt wußte es. Man war in der höchsten Angst vor der Fortsetzung des Kampfes, die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordneten und viele angesehene Bürger hatten sich, da sie nicht zu den Rathäusern konnten, in einem Betsaal in der Neuen Friedrichsstraße versammelt. Von hier aus – besonders war der Fabrikbesitzer Borsig dabei thätig – ließ man Plakate über Plakate beruhigenden Inhalts in der Reichardtschen Druckerei drucken und verbreitete sie. Die Verwirrung und Angst unter den würdigen Vätern der Stadt war grenzenlos, man fürchtete den gerechten Zorn und die Erbitterung des Königs über die Treulosigkeit seiner Hauptstadt, und hundert Gerüchte, daß bereits Befehl zum Bombardement der Stadt, zur Verhaftung der Behörden, zur Füsillade von Hunderten gegeben worden, jagten sich, jeder sah sich schon auf dem Wege nach Spandau, da man wußte, daß General Prittwitz einen Transport Gefangener hatte dahin bringen lassen!«

»Ganz in der Ordnung! Ganz in der Ordnung!« sagte der Geheimrat, sich die Hände reibend. »Ich muß gestehen, lieber Rat diese Darstellung ist mir neu. Ich habe bisher stets geglaubt, daß diese unvernünftige Verblendung der Berliner bis zum letzten Augenblick gedauert und jene Erlasse Seiner Majestät abgetrotzt habe.«

Ein spöttisches Lächeln flog über das Gesicht des Erzählers. »Ich versichere Ew. Excellenz, hätte man im Schloß die geringste Kenntnis davon gehabt, wie die Sachen in Wirklichkeit standen, es hätte anders kommen müssen. Der souveräne Pöbel des Sommers von Achtundvierzig verdankte wahrhaftig nicht dem Sieg der Barrikadenhelden seine Macht! Gegen Morgen war man – ich wiederhole, daß ich eine Thatsache erzähle, obgleich man natürlich jetzt nichts davon wissen will – in der erwähnten Bürger- und Stadtverordneten-Versammlung soweit gekommen, daß man beschloß, einen großen Zug zum Schloß zu unternehmen, um den schwer gekränkten Monarchen flehentlich um Verzeihung und Gnade zu bitten.«

»Unmöglich!«

»Es ist, wie ich Ihnen sage! Des Morgens machte sich der Zug auf den Weg, jeder voll Angst, vor den erzürnten Monarchen zu treten. Unterwegs schlossen sich viele an – wer wählte und sichtete in diesen Stunden der Aufregung? Kennen Ew. Excellenz den Tierarzt Urban?«

»Ich habe den Namen nennen hören! Ein Erzdemokrat, wenn ich mich recht erinnere!«

»Ein Phantast, aber es steckt mehr hinter seinen Narrheiten. Auch er begegnete dem Zuge und drängte sich in die Deputation. Der kleine Zufall hat vielleicht die Geschicke Preußens gelenkt.«

»Ich bin begierig! Sie erzählen, als wären Sie Augenzeuge gewesen, Kommissionsrat!«

Der Agent schüttelte mit einer wegwerfenden Miene den Kopf. »Ich liebe Volksscenen nur noch in der Oper, Excellenz, ich hätte in einer solchen beinahe einmal mein Leben eingebüßt. Der Zug gelangte ins Schloß, das von den Truppen besetzt war, wo aber die größte Verwirrung herrschte. Die Ankunft dieses Zuges steigerte die Verwirrung noch mehr; man meldete dem Könige, daß die Bürgerschaft von Berlin in corpore heranziehe, was Wunder, daß wir – daß die Deputation sofort zugelassen wurde. Sie hatte anfänglich aus zwölf Personen bestehen sollen, aber es drängten sich ihrer vielleicht vierzig, fünfzig in die Königlichen Gemächer, jeder suchte Hilfe, suchte Schutz, Verzeihung an der Stelle, die bis dahin in Preußen alle Macht, alle Gnade, das Schicksal des Staates bildete!«

»Was Sie mir da erzählen,« sagte der Geheimrat, »klingt recht schön, aber wie soll man an diese gute Gesinnung der Bürgerschaft glauben, während man weiß, daß zahlreiche Mitglieder derselben, die ganze Schützengilde, auf den Barrikaden gegen die Soldaten des Königs focht!«

Der Kommissionsrat lachte hell auf. »Verzeihen Sie, Excellenz, aber wie kann ein Mann, wie Sie, an solche Märchen glauben? Das gehört zu den sieben Kahnladungen Soldatenleichen, der Armierung des Zellengefängnisses und der Taubenpost vom Schloß. Es hat kein einziges Mitglied der Berliner Schützengilde einen Schuß gethan!«

»Aber ich sah die Vignette selbst auf ihren Diplomen, sie rühmen sich der abscheulichen That!«

»Kennen Excellenz den Berliner Philister hinter dem Seidel, dem Glase Weißbier oder unterm Schutz der Civis-Inserate der Vossischen noch so wenig? – Ich kann Ihnen die Sache mit wenigen Worten aufklären.«

»Ich wäre neugierig – Se. Majestät würden sich vielleicht entschließen, der Schützengilde von Berlin wieder Ihre Gnade und Allerhöchstihren Besuch zuzuwenden.«

»Die Herren Schützen bewahren ihre teuren Büchsen und ihre Uniformstücke größtenteils in dem Schützenhause. Als der Spektakel losging, und alles von Brand und Plünderung schrie, eilten viele nach dem Schützenhause, das in einem Stadtteil liegt, der gerade keine große Sicherheit bietet, um ihr Eigentum fortzubringen. Deshalb sah man später mehrere Schützen mit Büchsen und Uniformstücken auf jenen Straßen. Der Pöbel auf den Barrikaden schrie Hurra und zog hinter ihnen her, hat einigen auch Uniform und Büchse zum besten des Vaterlandes konfisziert, doch ich versichere Sie, selbst die ärgsten Schreier verehrlichter Gilde waren froh, nach Hause zu kommen.«

»Aber wir schweifen von unserm Stoff ab, liebster Kommissionsrat.«

»Es war in den Zimmern nach der Spreeseite und der Kurfürstenbrücke, wo die Deputation empfangen wurde. Alle Thüren offen, Schrecken, Verwirrung, Ratlosigkeit auf vielen Gesichtern, aber auch in den Mienen der alten Soldaten Triumph, Zorn, Erbitterung. In dem Vorzimmer vor dem Gemach, in dem sich der König mit der Königin und der Großherzogin von Mecklenburg befand, kam der Deputation ein Herr entgegen. Er trug einen alten abgeschabten Paletot und eine noch schäbigere Mütze, was offenbar auf Verkleidung deutete.«

»Vielleicht ein Proletarier, der sich eingedrängt!«

Der Agent zuckte die Achseln.

»Die große schmächtige Gestalt gehörte der höchsten Aristokratie an, Excellenz. Die Deputation bat, vor Se. Majestät gelassen zu werden. Der große hagere Herr aber eilte auf den vordersten zu und faßte ihn mit beiden Händen am Arm. ›Ich beschwöre Sie, meine Herren, nur keine Republik!‹«

»Wie?!«

» Nur keine Republik!« wiederholte der Agent, »ich kann Ihnen die Ohrenzeugen der Worte nennen. In diesem Augenblick trat Se. Majestät der König ein. Die ersten Worte –«

»Nun?«

»Die Bürgerschaft kam, um sich Sr. Majestät zu Füßen zu werfen, um Gnade für sich und die Stadt zu bitten, denken Sie ihr Erstaunen, als – noch ehe jemand das Wort nehmen konnte – der König auf sie zukam mit den Worten: ›Ich werde alles bewilligen, meine Herren, es soll anders werden, ich gebe Ihnen mein Wort darauf! Sagen Sie, was man verlangt, was man fordert, nur unterstützen Sie mich, die Stadt zu beruhigen!‹«

Der Geheimrat biß sich auf die Lippen, ein Gefühl der Scham hinderte ihn, etwas anderes auf die mit sarkastischem Ton vorgetragene Erzählung zu erwidern, als: »Se. Majestät der König haben persönlichen Mut!«

»Das weiß man! Es ist ein Erbteil der Hohenzollern, aber es ist bei aller Ehrfurcht vor Sr. Majestät unleugbar, daß er von den Ereignissen jenes Tages völlig dekontenanciert worden ist und ohne klaren, ruhigen Entschluß handelte. Dafür hätten die Minister da sein müssen! Nun denken Sie selbst, Excellenz, die Vertreter der Bürgerschaft, aus den verschiedensten politischen Elementen zusammengesetzt, kommen, die Revolution für besiegt zu erklären, sie kommen in eigener Furcht vor den schrecklichen Folgen, Gnade und Vergebung zu erbitten, und das erste Wort, das sie empfängt, ist nicht das der beleidigten Majestät, nein, es ist eine Konzession, sagen wir's gerade heraus, eine Unterwerfung unter den Willen der auf der Lauer liegenden Demokratie!«

»Sie urteilen bitter! Aber was geschah?«

»Die meisten Mitglieder der Deputation waren verstummt und verwirrt. Eines aber, dreister oder klüger als die übrigen, rief sofort mit Emphase: ›Es giebt nur ein Mittel, Majestät, was hier helfen kann!‹ ›Das ist?‹ fragte der König. ›Die Truppen müssen sofort aus der Stadt zurückgezogen werden.‹«

»Wissen Sie, wer diese Forderung that?«

»Warum nicht? Es war der Kaufmann Neumann, ein Bruder des Sanitätsrates.«

»Und der König?«

»Se. Majestät der König blieb einige Augenblicke unschlüssig stehen, dann winkte er den Herrn in dem schäbigen Paletot zu sich, der vorhin ›nur keine Republik!‹ gebeten hatte, und sprach mit ihm leise.«

»Aber Sie haben diesen noch nicht genannt. Wer in aller Welt konnte zu dem Rückzug raten?«

»Später. Ich habe Ihnen schon gesagt, alles im Schloß war in Verwirrung und von dem wahren Zustand nicht im entferntesten unterrichtet. Die Polizei hatte sich entweder verkrochen oder unterhandelte auf den Barrikaden. Machten doch die Barrikadenhelden Herrn von Minutoli offne Ovationen. Es ist nicht schwer, nach wohlüberlegtem Entschluß wie ein Mann zu handeln, aber es ist schwer, ein Mann zu sein in der Überraschung, wenn alles Gewohnte um uns her in Trümmer bricht. Si fractus terrarum illabatur orbis, impavidum ferient me ruinae!«

»Sieh, sieh, Kommissionsrat, ich hätte den Horaz kaum hinter Ihnen gesucht.«

»Ew. Excellenz werden das beste Beispiel für das, was ich gesagt habe, in einem Vergleich der damaligen und der morgenden Beschlüsse finden.«

»Wie meinen Sie das?«

»Damals war man überrascht, und die Folge davon war, daß Herr Stieber die deutsche Trikolore vom Siegmundschen Hoflieferanten-Wappen einem König von Preußen in die Hand geben durfte zu jenem Umzug durch die Stadt, und heute kommt die Frankfurter Deputation, dieselbe Trikolore König Friedrich Wilhelm IV. anzubieten mit einem Kaisertum von St. Pauls Gnaden!«

»Sie haben Recht, Herr Boltmann,« sagte der Kammer, Herr aufgeregt, ohne die schlaue Wendung des Agenten zu bemerken, »aber diesmal hat man sich mit der Antwort wohl vorgesehen. Se. Majestät denken zu klar und gerecht, um durch ein solches Kuckucksei sich berücken zu lassen, und Graf Brandenburg und Herr von Manteuffel sind Männer, die der Revolution die Spitze bieten.«

»Aber man sagt, daß die Frau Prinzessin von Preußen, namens des Thronfolgers, die Annahme verlangt! Die beiden Kammern haben sich, wie ich höre, durch Adressen für die Acceptierung der Kaiserwürde ausgesprochen, von allen Seiten drängt man dazu, und man will in der That behaupten, die Antwort werde sich unter gewissen Modifikationen für die Annahme aussprechen!«

»Da Sie einmal von der Anwesenheit Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen in Charlottenburg wissen, so kann ich Ihnen nur – versteht sich im tiefsten Vertrauen – mitteilen, daß Höchstderselbe ganz mit Sr. Majestät und dem Ministerrat harmonieren. Die Antwort ist bereits abgefaßt.«

»Also sicher eine andere, als Graf Arnim am 19. März jener Bürgerdeputation gab. Darf man den Inhalt wissen?«

»Also der Graf selbst war's?! ich dachte mir's fast trotz seines Desaveu! Sie müssen mir das noch näher erzählen.«

»Excellenz wollten von der Antwort an die Frankfurter sprechen.«

»Ja so! Es ist eigentlich kein Staatsgeheimnis mehr, da es morgen Mittag jedermann bekannt sein wird, und da Sie sich dafür interessieren, kann ich es Ihnen schon jetzt sagen.«

»Gewiß, Excellenz! Sie wissen, ich bin die Verschwiegenheit selbst und glaube mich stets Ihres Vertrauens würdig gemacht zu haben.«

Der Kammerherr nahm sein Notizbuch vom Tisch und schlug die zuletzt beschriebene Seite auf. »Se. Majestät werden erklären, Allerhöchstdieselben seien bereit, die Ihnen angetragene Oberhauptwürde anzunehmen, aber sich würde das Vertrauen nicht rechtfertigen, dem Sinn des deutschen Volkes nicht entsprechen, Deutschlands Einheit nicht aufrichten, wollte Ich mit Verletzung heiliger Rechte und Meiner früheren ausdrücklichen und feierlichen Versicherungen, ohne das freie Einverständnis der gekrönten Häupter, der Fürsten und der freien Städte Deutschlands, eine Entschließung fassen, die für sie und für die von ihnen regierten deutschen Stämme die entscheidensten Folgen haben muß. An den Regierungen der einzelnen deutschen Staaten,‹ so lauten die Worte, ›wird es daher jetzt sein, in gemeinsamer Beratung zu prüfen, ob die Verfassung dem einzelnen wie dem ganzen frommt, ob die Mir zugedachten Rechte Mich in den Stand setzen würden, mit starker Hand, wie ein solcher Beruf es von Mir fordert, die Geschicke des großen deutschen Vaterlandes zu leiten und die Hoffnungen seiner Völker zu erfüllen.‹«

Der Kommissionsrat konnte einen Blitz der Freude nicht unterdrücken, der über sein Gesicht flog. »Aber das heißt offenbar, diese in Frankfurt gebraute Verfassung verwerfen, die Kaiserwürde ablehnen. Denn es liegt auf der Hand, daß Österreich nie freiwillig sein Einverständnis erklären wird!«

Der Geheimrat nickte. Bei allen seinen Schwächen hatte er ein preußisches, ein deutsches Herz. »Das weiß der König, aber Se. Majestät denken zu hochherzig, um die jetzige Gefahr ihres hohen Alliierten zu einer eigenen Machtvergrößerung zu benutzen, Se. Majestät selbst haben das Bündnis mit Rußland zur Unterdrückung der ungarischen Revolution angeraten, während Preußen im Westen die Revolution bekämpfen und die Ordnung herstellen wird.«

Der Agent warf einen ernsten Blick auf den Kammerherrn. »Das ist in der That sehr hochherzig und edelmütig von Sr. Majestät. Aber wird Österreich diese Schuld der Dankbarkeit erkennen und abtragen?«

»Die heilige Allianz sichert die Freundschaft und die gegenseitige Unterstützung der drei Mächte,« sagte der Geheimrat mit frommem Vertrauen; »wer sollte sie brechen?«

Wiederum flog ein leiser Blitz des Hohns über die Miene des andern. »Die Revolution und der Napoleonismus sind gefährliche Feinde,« sagte er leichthin. »Ich danke Ew. Excellenz für die interessante Mitteilung und fahre in meiner eigenen fort.«

»Ja – wegen des Abzuges der Truppen! Ich bitte Sie!« Der Kammerherr hatte keine Ahnung davon, wie die gewandte Hand des Agenten während der Zeit, vom Tisch gedeckt, in stenographischen Zeichen die Worte seiner Mitteilung auf die Blätter einer Miniaturschreibtafel warf.

»Die Unterredung mit dem Herrn Grafen von Arnim,« erzählte der Kommissionsrat weiter, »war nur kurz. Er riet offenbar dem Königlichen Herrn, dies Verlangen zu erfüllen. Endlich wandte sich der König wieder zu der Deputation: ›So sei es denn! Aber bürgen Sie mir dann für die Beruhigung der Stadt?‹ ›Wir bürgen dafür,‹ antwortete der vorige, während alle anderen bestürzt schwiegen. Graf Arnim hatte sich einen Augenblick entfernt, er brachte jetzt den niedergeschriebenen Befehl und reichte dem König die Feder zur Unterzeichnung. Dem Königlichen Herrn standen die Thränen in den Augen. ›Meine wackeren Soldaten! aber es muß sein!‹ Mit raschem Zug warf er die Unterschrift unter das verhängnisvolle Papier. In diesem Augenblick hörte man vom Platz herauf den Trommelwirbel eines marschierenden Bataillons. Der König –«

»Nun?«

»Der König hielt die offene Ordre unschlüssig zwischen den Fingern, der Gedanke, preußischen Soldaten den Rückzug vor Rebellen zu befehlen, die souveräne Krone dem Schmutz der Empörung hinzuwerfen, mochte ihm das Herz zusammenschnüren. Man sah seinen inneren Kampf, und kein Mann an seiner Seite, keiner jener Ratgeber in den Tagen der Machtfülle, die diesen Sturm herbeigeführt, oder ihn wenigstens in bornierter Blindheit kommen ließen, keiner, der dem gebeugten, herzzerrissenen Monarchen zurief: ›Seien Sie ein König, Sire! In Grund und Boden mit der ungetreuen Stadt, wenn sie nicht um Gnade fleht. Sie sind der Sieger, Sire! aber wären Sie's auch nicht, lieber gestorben auf der Schwelle Ihres Königlichen Hauses, als diesen Rebellen nachgegeben!‹«

Der Kammerherr fuhr sich mit dem Taschentuch über das rotgewordene Gesicht. »Ich hätte kaum geglaubt, lieber Freund,« sagte er verwirrt, »daß Sie ein so enragierter Patriot wären! Sie müssen zum roten Adlerorden vierter Klasse vorgeschlagen werden!«

Der Kommissionsrat lächelte verächtlich, »In diesem Augenblick des Zögerns,« sprach er weiter, »sprang der Tierarzt Urban vor, der, wie ich vorhin bemerkte, sich in die Deputation eingedrängt, und mit echt demokratischer Unverschämtheit nahm er dem König das Papier aus der Hand und eilte damit fort, ohne daß jemand den Mut hatte, ihn zu hindern, obschon ich weiß, daß in den Vorzimmern und auf den Treppen Offiziere genug waren, die ihn mit dem Opfer des eigenen Lebens niedergestoßen haben würden, wenn sie geahnt hätten, was er trug.«

»Und Se. Majestät?«

»Der König winkte schweigend der Deputation, kehrte sich um und verließ das Zimmer. Der Minister wollte zu ihm reden oder ihn begleiten, aber er machte eine abwehrende ungeduldige Bewegung mit der Hand. Die Thränen flossen ihm über die Wangen.«

Beide Männer, der Erzähler und sein Hörer, verharrten einige Augenblicke in tiefem Schweigen, dann stand der Agent auf. »Es ist spät, Excellenz,« sagte er, »und ich darf Sie nicht länger belästigen. Vielleicht finde ich Gelegenheit, Ihnen später einmal eine ähnliche interessante Geschichte, eine Scene nach jenem unseligen Umritt zu erzählen, wie der König selbst in diesem Augenblick seines geflüchteten Bruders gedachte und ihn gegen die Anschuldigungen wahnwitziger Gehässigkeit so hochherzig verteidigte, daß der Prinz der undankbarste Mensch wäre, wenn er je dieser Liebe vergessen und das Andenken seines Bruders schmähen lassen könnte! Der Stadtverordnete Gleich, ein Demokrat vom reinsten Wasser, war so gerührt davon, daß er eine Theaterohnmacht produzierte, und die Königin ihm mit ihrem Flacon zu Hilfe kommen mußte. Das Schönste bei der Sache war, daß, als einer der Teilnehmer, der Buchdrucker Reichardt, die Worte des Königs über den Prinzen von Preußen in der Vossischen Zeitung veröffentlichen wollte, Herr Rellstab, Stieber und Kompagnie, die damalige Redaktion, die Aufnahme verweigerten!«

»Bitte erzählen Sie näher, Kommissionsrat.«

»Ein andermal, Excellenz, ich bin zufällig im Besitz eines Plakates, das von der Sache handelt, aber wenig bekannt geworden ist. Den Bordeaux werde ich besorgen und auch die Confitüren. A propos! Sie sprachen von einer bedeutenden Erbschaft, die leider drohe, verloren zu gehen? In heutiger Zeit darf man die Wichtigkeit des Geldes, selbst wenn man aristokratische Namen trägt, nicht gering anschlagen.«

»Und besonders, wenn sich's um eine Million handelt,« sagte lächelnd der Kammerherr. »Den da« – er wies auf die Thur, durch welche sein Neffe eben eintrat – »geht's freilich am meisten an. Der Starrsinn seines Vaters weigert sich, das Legat für ihn anzunehmen, weil die Testamentsklausel nicht genau auf ihn paßt!«

»Ich bitte Sie um Himmelswillen, lieber Onkel,« meinte der Offizier, »fangen Sie nicht auch von der verwünschten Geschichte an; die Tante, von der ich komme, hat kein anderes Wort mehr, und der Kopf summt mir schon davon, während ich ihn doch nötig habe, um nichts für den Abmarsch zu vergessen. Ich komme, um Ihnen Adieu zu sagen, denn der Extrazug geht morgen um 8 Uhr.«

»Wie, Du willst den Abend nicht bei uns zubringen?«

»Ich habe Leutnant François versprochen, ihm noch einige der Annehmlichkeiten Berlins zu zeigen. Man muß die Residenz genießen, so lange man sie noch hat,« fuhr ziemlich leichtfertig der Offizier fort. »Wer weiß, ob nicht eine dänische Kugel statt des Patents als Premierleutnant der Montevideer Erbschaft noch die meine hinzufügt, die freilich ziemlich mager ausfallen würde, denn Papa ist verdammt zähe und hat keine Ahnung von den Dingen, die ein junger Kavalier heut zu Tage braucht!«

Der Onkel Kammerherr blieb jedoch sehr unempfindlich gegen diesen Angriff auf seine Börse, da er sehr wohl die Schwäche seiner Frau für den jungen, mit seinen reicheren Kameraden gern leichtfertig rivalisierenden Offizier kannte, und begnügte sich, trocken zu sagen: »Wenn Dein Vater klügerem Rat nachgiebt, wirst Du Mittel genug haben. Einstweilen thut es Euch jungen Leuten und besonders Dir ganz gut, wenn Ihr etwas knapp gehalten werdet. Es sind Sr. Majestät Dinge zu Ohren gekommen, die großes Mißfallen erregt haben. Ihr scheint zu denken, daß die Familiengüter bloß da sind, um hier in Berlin von Euch ruiniert zu werden. In Deiner Angelegenheit werde ich mit diesem Herrn hier sprechen, er verdient jedes Vertrauen und wird uns vielleicht einen guten Rat geben. Sei versichert, daß wir die Sache nicht aus den Augen verlieren werden.«

Der Leutnant kniff ungesehen von dem Onkel das linke Auge bedeutsam nach dem Agenten hin, ein Zeichen, daß er mit diesem besser bekannt war, als es der Onkel ahnte, und deutete mit dem Blick nach der Thür. Der Kommissionsrat machte eine zustimmende Bewegung.

»Die Tante hat Geschäfte, Onkel, und wünscht nicht gestört zu werden, läßt sie Ihnen sagen. Und nun leben Sie wohl! Wenn's nach mir geht, hoffe ich Sie mindestens als Oberstleutnant wieder zu sehen!«

Der Geheimrat versäumte nicht, ihm nebst seinen Wünschen noch einige gute Lehren auf den Weg zu geben, die der junge Herr ziemlich ungeduldig anhörte und endlich mit der Erklärung unterbrach, daß er unmöglich länger bleiben könne. Gleich nach ihm empfahl sich auch der Kommissionsrat und fand den Offizier unfern der Thür seiner warten. Dieser nahm sogleich seinen Arm und führte ihn die Straße hinab.

»Der Teufel hole diese Filzigkeit bei so brillanten Aussichten,« sagte der Offizier. »Sie müssen mir helfen, Kommissionsrat, ich wäre zu Ihnen gekommen, wenn ich Sie nicht zufällig bei dem Onkel getroffen. Dieser verdammte Schuft, der Jude Meyer, der Leuteschinder, will mich nicht fortlassen, wenn ich ihm nicht zwei Wechsel bezahle, die er von mir in Händen hat, und ich glaube, der Kerl ist unverschämt genug, morgen auf den Bahnhof zu kommen und mich vor dem ganzen Bataillon zu blamieren. Eine lumpige Schuld von 500 Thalern, die ich für einen Kameraden gut gesagt!«

»Seien Sie aufrichtig, Herr von Röbel, was haben Sie und Ihr Freund davon bekommen?«

»O, Sie kennen diese Blutsauger nicht – es übersteigt alle Begriffe. Denken Sie, hundert Thaler bar, zweitausend Cigarren, die ich meinem Burschen verboten habe, selbst im Pferdestall zu rauchen, damit meine Juno nicht den Husten davon bekommt, und eine Naturmerkwürdigkeit, die uns für hundert Thaler angerechnet worden ist!«

»Und die wäre?«

»Ein ausgestopfter Affe mit zwei Schwänzen! Ich habe noch nicht einmal untersucht, ob der zweite angenäht oder wirkliche Mißgeburt ist, aber auf Ehrenwort! der Bursche hat bereits die Runde beim ganzen Regiment gemacht und kommt immer wieder zu seinem ursprünglichen Herrn zurück!«

Der Kommissionsrat lachte. »Dann wundert es mich allerdings nicht, daß Herr Meyer ein Haus nach dem andern kauft. Aber warum bezahlt Ihr guter Freund nicht selbst den Wechsel?«

»O, Selbitz erklärt auf Ehre, es sei ihm nicht möglich. Der Alte hat zwar anständig herausgerückt für die Feldequipierung, besser als der meine, aber Selbitz hat eine amour, muß Agnes mindestens 300 Thaler zurücklassen. Diese kleinen Ratten vom Ballett sind ganz versessen auf das Geld und wissen einen Fünfundzwanzigthalerschein von einem Viergroschenstück zu unterscheiden, wie ich meine Juno von einem Droschkengaul. Auf Ehre, ich sitze in der Klemme und Sie müssen helfen. Sie haben ja von dem Onkel gehört, welche glänzenden Aussichten ich habe.«

»Ihr Herr Onkel deutete nur darauf hin, noch weiß ich nichts näheres.«

Der Offizier erzählte ihm kurz die merkwürdige Botschaft und die Weigerung des Vaters, die der Agent aufmerksam anhörte und durch einige Kreuzfragen geschickt zu eurer intimeren Mitteilung der Familienverhältnisse ausbeutete, als jener anfänglich beabsichtigt. »Sie sehen also, liebster Kommissionsrat,« schloß der junge Mann, »daß ich in kurzem in einer Lage sein muß, wo ich nicht nötig habe, mich wegen solcher Lumpereien, wie die 500 Thaler, zu bemühen. Aber vorläufig bin ich wirklich in Verlegenheit, und Sie müssen schon diesmal noch aushelfen.«

»Wir wollen sehen, was sich machen läßt,« sagte der Kommissionsrat schmunzelnd. »Begleiten Sie mich nach Hause, denn man trägt doch 500 Thaler heut zu Tage nicht in der Börse. Der Herr Onkel Excellenz hat aber so Unrecht nicht, wenn er meint, bei der Jugend wäre wenig Tugend. Die angenehmen Abende bei der Justizrätin sind etwas kostspieliger Natur!«

»Teufel!« Der junge Offizier blieb betroffen unter einer Laterne stehen. »Wie kommen Sie darauf? was wissen Sie davon?«

Der Kommissionsrat rieb sich mit faunischem Lächeln die Hände. »Warum sollte ich nicht? Der alte Boltmann weiß mehr von Euch jungem Volk, als Ihr denkt, aber er ist kein Spielverderber und macht selbst noch gern einmal einen Witz mit. Haben Sie schon die lebenden Bilder in der Bernburgerstraße gesehen?«

»Nein! Was ist damit?«

»Nun wohl, dann sollen Sie einmal schauen, wie auch unsere junge und alte Bourgeoisie in der Emancipation glücklich vorgeschritten ist. Sie irren sich, wenn Sie meinen, die bürgerliche Canaille habe keinen Geschmack für die pikanten Reize des höheren Balletts. Wissen Sie, Freundchen, wir sollten einen kleinen Handel machen!«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind ein junger Sünder und ich bin ein alter. Ich hätte schon lange gern einmal einem der hübschen Matratzenbälle beigewohnt. Ich nehme Sie mit zu der Wohlbrück und zeige Ihnen etwas interessantes, und Sie nehmen mich nachher zur Frau von Wengern mit.«

»Das ist unmöglich!«

»Warum?«

»Wenn Sie denn einmal mit der Sache bekannt sind, werden Sie wissen, daß nur Kavaliere dort verkehren.«

»Ei zum Henker, Itzig Jonas hat noch kein Mensch für einen Kavalier gehalten und man braucht ihn dort alle Augenblicke. Überdies ist es nicht das erste Mal, daß Fremde eingeführt werden.«

»Ja, aber der Einführende muß mit seinem Ehrenwort für die Person bürgen!«

»Sie erhalten die 500 Thaler und geben mich für einen Vetter vom Lande aus. Ich verspreche Ihnen dafür, die halbe Maske keinen Augenblick abzunehmen.«

Der leichtfertige junge Mann schwankte noch immer, aber das Drängen des Kommissionsrates, und die Erinnerung, daß ähnliche Einführungen in die lockere Gesellschaft gerade nichts seltenes wären, bewog ihn endlich, seine Zustimmung zu geben. »Auf Ehre!« sagte er lachend, »ich hätte Sie nicht für einen solchen alten Fuchs gehalten! Aber ich sehe, man kann sich irren! Wenn das der Onkel Kammerherr wüßte, daß Sie solche Gesellschaften besuchen!«

»Ah bah, sind Sie so sicher, daß der Onkel Kammerherr nicht selbst hingeht? ich könnte Ihnen Mysterien der guten Städte Berlin und Potsdam erzählen, die noch ganz anders lauten. Doch da sind wir! bitte, treten Sie näher!«

Sie standen vor einem Hause der Friedrichstraße, in dem der Kommissionsrat im Parterre wohnte. Auf das Schellen des Hausherrn öffnete ein langer hagerer Diener. Der Agent bat seinen Begleiter einzutreten und gab dem Diener flüsternd eine Anweisung.

Das Zimmer war üppig und luxuriös möbliert, wie das eines Lebemannes vom feinsten Ton. Nur ein großer, mit kaufmännischen Papieren, Courszetteln und Avisen beladener Schreibtisch sprach für die merkantile Beschäftigung des Agenten.

»Da stehen prächtige Mille-Flores,« sagte der Kommissionsrat, »bitte, bedienen Sie sich, indes ich den Wechsel ausfertige. Also fünfhundert?«

»Sagen Sie sechs, wenn's Ihnen nichts verschlägt!«

Herr Boltmann setzte sich an sein Bureau, während der Offizier eine Cigarre anrauchte.

»Sie wohnen verteufelt fashionable hier! Wenn ich nicht irre, wohnt ja auch die Gräfin Törkyeny in Ihrem Hause?«

»Sie hat den ersten Stock! – Aber ich bedauere, daß das Haus Ihnen eine traurige Erinnerung erregen wird!«

»Wie so?«

»Wenn ich nicht irre, war es hier in der Nähe, wo Ihr Herr Bruder an jenem unglücklichen 18. März erschossen wurde.«

»Es ist wahr!« Ein finsterer Schatten flog über das Gesicht des jungen Mannes. »Aber das ist das Los des Soldaten. Es kann mich morgen oder übermorgen eben so gut treffen. Das Leben ist auf Ehre zu schauderhaft elend und langweilig, als daß man sich viel darum grämen sollte!«

Der Agent zuckte unmerklich die Achseln. »Ich dächte, wenn man eine Million vor sich hat, besäße es doch einige Reize. Es scheint nach dem, was Sie mir erzählt haben, daß wirklich ein Kind Ihres Herrn Bruders existiert!«

»Bah, ein uneheliches! Vielleicht läuft ein Dutzend herum. Wahrscheinlich aber hat mein Bruder den geringsten Anteil, denn ich hörte einmal, daß das Frauenzimmer auf die Alimente verzichtet hat. Ma chère tante mag mehr davon wissen, wahrscheinlich bezieht sich auf die unangenehme Affaire auch der komische Besuch, den ich diesen Abend zu ihr führen mußte!«

Der Agent, ohne aufzublicken, schrieb weiter. »Ich denke, wir schreiben acht – es ist ein und dasselbe und Sie werden Geld in Hamburg brauchen, wohin ich Ihnen einige Empfehlungsbriefe mitgeben will. Warum nennen Sie den Besuch komisch?«

»Denken Sie sich einen Kerl, dem man Schusterpech und Gilka trotz der drei Zoll hohen Vatermörder auf fünfzig Schritt weit ansieht. Eine wahre Galgenphysiognomie, ein Löwe aus der Reezengasse ein Tête-â-tête mit meiner aristokratischen Tante. Haben Sie achthundert geschrieben?«

»Noch nicht!«

»So seien Sie ein guter Kerl und machen Sie das Tausend voll. Die Anekdoten, die Sie bei der Wengern hören sollen, sind allein die zweitausend Schweden wert. Sie zahlen mir bar Neunhundert und behalten den Rest für die Courtage.«

»Sie wissen, ich bin kein Wucherer, junger Herr,« sagte der Agent streng. »Wenn ich Ihnen Geld leihe, so geschieht es aus persönlicher Gefälligkeit, und ich nehme nicht mehr als die gesetzlichen sechs Prozent. Aber wie kamen Sie zu dem Mann?«

»Er trieb sich im Park von Charlottenburg umher, als die kleine Familien-Konferenz stattfand. Meine Tante zeigte mir ihn und befahl mir, ihn diesen Abend um 9 Uhr zu ihr zu führen. Ich glaube, er ist ein Verwandter jenes Mädchens und hat ihren Presser gemacht.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

Der Offizier lachte hell auf. »Glauben Sie wohl, daß der Kerl mir eine Art Visitenkarte gegeben hat und die Frechheit hatte, sich als Kommissionär für kleine Darlehen, Pferdehandel und Mädchen anzubieten? Da ist der Wisch! ich hab' ihn der Merkwürdigkeit halber eingesteckt.«

Er kramte einige Papiere aus der Tasche und warf einen Zettel auf den Tisch, auf dem mit großen Krähenfüßen geschrieben stand:

Franz Günther,
Kommissionär vor Alles.
Nagelgasse Nr. 14.

»Und hier ist der Wechsel, acceptieren Sie. Ich habe ihn auf sechs Monate gestellt, damit er Sie nicht geniert!«

»Sie sind ein Prachtexemplar! auf Ehre, Kommissionsrätchen! Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mit dem Schreiben fertig werden!«

Der Agent warf ihm einen raschen Blick zu, aber er sah, daß der junge Mann die Worte ohne alle Bedeutung gesagt und keine Ahnung davon hatte, daß er die Zeit des Gesprächs dazu benutzt, um neben dem Wechsel einige andere Notizen niederzuschreiben. Dann nahm er im Vorübergehen die eigentümliche Geschäftskarte wie zufällig vom Tisch und ging in das anstoßende Schlafzimmer, aus dem er mit einer Rolle und mehreren Scheinen wiederkam.

»Hier sind hundert Louisdors und sechzehn Fünfundzwanzigthalerscheine. Nach Abzug der sechs Prozent bekommen Sie noch drei Thaler zehn Silbergroschen.«

»Für Ihren Bedienten,« sagte der Offizier hochmütig. »Ich werde Ihnen den Dienst nicht vergessen, und wenn ich eine Million habe, sollen Sie mein Leibagent werden, auf Ehre! Aber wie steht's nun mit dem Dessert, das Sie uns zum besten geben wollten; denn Sie haben doch nichts dawider, daß ich Leutnant François mitnehme, ich habe versprochen, ihn aus der Oper abzuholen, und ich muß mich auch noch in Civil umkleiden.«

Der Kommissionsrat sah nach der Uhr. »Es ist jetzt halb Zehn, fünf Minuten vor zehn Uhr erwarte ich Sie mit dem Herrn am Potsdamer Thor. Versäumen Sie es nicht, denn die Wohlbrück hat mich wissen lassen, daß es heute etwas ganz Frisches, Exquisites geben wird, und der Vorhang geht Punkt zehn Uhr in die Höhe. Die Sache ist bis elf Uhr vollendet, wenigstens was das Vorspiel betrifft, und wir finden dann noch Droschken genug, um zur Justizrätin zu fahren.«

»Also Sie bestehen noch immer darauf?«

»Gewiß! ich hoffe, einen ganz pikanten Abend mit Ihnen zu verleben!«

»Nun, wenn's nicht anders sein kann, Sie haben mein Wort! Also vor zehn Uhr am Potsdamer Thor.«

»Ich werde Sie erwarten!« Er geleitete seinen Besuch bis zur Thür des Entrees, dann kehrte er rasch zurück.

»Endlich!«

Das breite, nichtssagende, behäbige Gesicht war wie mit einem Zauberschlage verändert, auf der kahlen Stirn lag tiefer, denkender Ernst, das fahle Auge blitzte triumphierend, feste, entschlossenen That lag um den geschlossenen Mund.

Im nächsten Augenblick saß er am Schreibtisch und hatte ein geheimes Fach geöffnet, aus dem er mehrere Papiere nahm, während die Linke zugleich ungeduldig schellte.

Der lange Bediente trat ein.

»Ist der Ziska bereit?«

»Fix und fertig.«

»Bitte die Frau Gräfin, sich zu mir zu bemühen, ich hätte die größte Eile.«

»Ihro Erlaucht sind ausgegangen, schon vor einer Stunde. Im Mantel und Männerkleidern!«

»Die Leichtsinnige! Laß den Böhmen eintreten!«

Der Diener entfernte sich, während der Agent das Blatt, das er vorhin neben dem Wechsel geschrieben und jetzt noch mit einigen Schlußworten versehen hatte, mit mehreren anderen Papieren in ein starkes, englisches Leinen-Couvert packte und versiegelte. Dann schrieb er die Adresse und machte in ähnlicher Weise ein zweites kleineres Paket, zu dem er die Papiere aus einem andern doppelt verschlossenen Fach nahm.

Lautlos war unterdes auf dem dicken Teppich eine kräftige, gedrungene Gestalt in einfacher Jagdjoppe, den grünen Filzhut in der Hand, eingetreten. Die kräftige, kulpige Nase, die niedere Stirn und der buschige Bart kennzeichneten den Czechen.

»Bist Du fertig, Ziska?«

»Wie immer, Herr!«

»Ich weiß. Du kennst Müdigkeit nicht. Du mußt nach Olmütz, die Bahn geht in einer halben Stunde!«

» Dobre! Die Droschke hält vor der Thür.«

»Dies Paket an Se. Durchlaucht den Fürsten Windischgrätz. Er muß in diesem Augenblick wegen des Traktats mit Sardinien mit Baron von Welden schon in Olmütz eingetroffen sein. Wäre dies nicht der Fall, so bringst Du die Depesche dem Fürsten Schwarzenberg, bei Tag oder Nacht, ohne die geringste Zögerung!«

»Es wird geschehen!«

»Hier ist noch eine Privatbestellung. Du wirst sie auf der Durchreise in Prerau dem Bahnhofs-Inspektor' selbst einhändigen, ehe Du nach Olmütz weiter fährst.«

Der Diener nickte.

»Hab' acht auf sie, sie ist mir von Wichtigkeit. Du wirst Antwort empfangen und sie mir überbringen. Die Gräfin darf von diesem Brief nichts wissen.«

»Ich verstehe! Aber die Frau Gräfin hat mir nicht gesagt, daß ich reisen soll!«

»Ich werde es rechtfertigen, daß ich Dich verschickt, bevor sie zurückgekehrt ist. Hier ist Geld« – er gab ihm eine Thalerrolle – »und hier ist die Karte, auf welche hin die Beamten in Ostrau Dir keine Schwierigkeiten machen werden. Und nun, Adieu! Deine Zeit ist gemessen! Zurückkehren magst Du meinetwegen über Prag, wenn's keine Eile hat.«

Der böhmische Jäger der Gräfin verbeugte sich, an strikten Gehorsam gewöhnt. Zwei Minuten darauf hörte man unten eine Droschke davon rasseln.

Der Agent rieb sich die Hände. »Vierundzwanzig Stunden Vorsprung,« sagte er vergnügt, »Herr von Prokesch kann seine Depeschen erst morgen Abend abschicken, wenn alle Welt es weiß. Wenn die Nachricht an der Wiener Börse geschickt benutzt wird, muß sie der Kongregation mindestens hunderttausend Gulden einbringen. Und nun wollen wir sehen, was die Wohlbrück neues für uns hat, ihr Brief macht mich ordentlich neugierig. Ich muß dafür sorgen, daß sich dieser unsinnige Bursche nicht zu zeitig ruiniert! Der Nachricht mit der Million muß näher nachgeforscht werden, der Bestellung des Vagabunden zu der Geheimrätin, die alle Annäherung an die Populace wie die Pest scheut, liegt ein Geheimnis zu Grunde; vielleicht läßt sich ein Vorteil daraus ziehen. Die Einführung bei der Orgie dieser Narren wird mich schweres Geld kosten, aber ich denke, was ich hören und sehen werde, ist mir das Zehnfache wert und giebt mir viele in die Hände!«

Der Diener half ihm auf seinen Ruf den Paletot anziehen, dann befahl er, nicht auf ihn zu warten, steckte den Hausschlüssel und eine wohlgefüllte Brieftasche zu sich und verließ die Wohnung.


Die Geheimrätin von Werben saß zur Zeit, als der junge Offizier im Zimmer seines Onkels erschien, in ihrem Boudoir auf dem Sofa. Die hohe Figur saß so kerzengerade, die grauen stechenden Augen lagen so fest auf dem Mann, der an der andern Seite des Sofatisches stand, daß er trotz seiner bewährten Frechheit das Auge im Zimmer umherschweifen ließ, ohne dem Blick der Freifrau zu begegnen, und den Hut von einer Hand in die andere schob.

»Sie heißen Günther, wenn ich nicht irre?«

»Franz Günther! Sie haben't getroffen. Der Bruder von de Male, Sie wissen schon!«

»Ich weiß! ich weiß! – Sie sind …?«

»Kommissionär vor allens. Ick danke Ihnen, et seht mir so ziemlich!«

»Das schien nicht immer so, ich erinnere mich noch sehr gut, als Sie hier bei mir eindrangen und im Namen Ihrer liederlichen Schwester Geld von mir verlangten!«

Herr Franz Günther wurde wieder einigermaßen verlegen. »Ja sehen Sie, Madamken, das war damals zur Zeit der Freiheit und Jleichheit. Heute bin ick vor Mandeibeln!«

»O,« sagte die Dame kalt, »ich weiß in jedem Fall mit Unverschämten fertig zu werden. Ich ließ Sie einfach entfernen!«

»Rausschmeißen,« verbesserte der würdige Bürger. »Ick kann Ihnen sagen, det et mir schwer jekränkt hat.«

Die Geheimrätin schien ein wenig auf das verletzte Ehrgefühl des Herrn Günther zu geben. »Setzen Sie sich,« sagte sie.

Er sah sich unbehaglich nach den Sesseln und Schaukelstühlen im Gemach um. »O, ick bitte recht sehr, ick kann ooch stehen!«

»Setzen Sie sich,« wiederholte sie ungeduldig. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Dort steht ein Stuhl.« Er zog ihn behutsam herbei und setzte sich noch behutsamer auf die äußerste Kante, den Hut zwischen den Knieen.

»Vorerst«, sagte die Dame, »schulde ich Ihnen diese zwei Friedrichsdor, die ich Ihnen damals gegeben haben würde, wenn Ihr unverschämtes Betragen mich nicht genötigt hätte, Sie entfernen zu lassen. Ich hoffe, Sie wissen jetzt mehr, was Personen vom Stande gegenüber sich paßt!«

»Ick bitte! et is nich mehr von ehemals! Also det Jeld is des meinigte?«

»Ja!« Sie schob ihm die beiden Goldstücke über den Tisch hin, er prüfte aufmerksam Rand und Gepräge und steckte sie ein. Es war, als verlöre sich mit dem Empfang des Geldes seine Befangenheit; er fühlte, daß es nicht umsonst gegeben werde, daß man ihn brauche, und mit diesem Gefühl kehrte auch sein Mißtrauen und seine gemeine Schlauheit zurück.

»Was wünschen die gnädige Frau?«

»Zuerst – hält sich Ihre Schwester, mit der mein verstorbener Neffe sich vergessen hat, noch in Berlin auf?«

»Ja wohl! wo sollte die Male denn sind? Sie is Biermamsell jeworden, hat aber eenen kleenen Tück uf mir!«

»Warum?«

»Je nun, des kommt so manchmal!«

»Aber das Kind Ihrer Schwester – lebt es noch?«

»Un wie; – wie 'ne Jräfin! Die Male läßt et eene jute Erziehung jeben, weil et doch von vornehmer Herkunft is.«

Die Stirn der Geheimrätin zog finstere Falten. »Machen Sie sich keine Illusionen! Wo ist das Kind?«

»Sie hat's in Pension gedhan – Bei 'ne jnädige Frau in de Jakobsstraße, un zahlt fünf Dhaler davor.«

»Wie heißt die Frau!«

»Berenburgen! Sie ist von Adel un hat en Jewerbe als verschämte Arme!«

»Ich kenne den Namen, eine sehr achtungswerte Person – aber ich wußte nicht, daß die unglückliche Dame sich mit der Aufziehung von Haltekindern Beschäftigen muß.« Der Gedanke, daß das Kind sich gerade in diesen Händen befand, schien der Geheimrätin sehr unangenehm. »Hören Sie,« sagte sie entschlossen, »das Kind geht unsere Familie zwar nicht das Geringste an, denn ich glaube gar nicht, daß es von meinem Neffen ist, und Ihre Schwester hat es nicht einmal gewagt, die Alimente zu beanspruchen; aber aus Christenpflicht möchte ich etwas für das Kind – es ist ja wohl ein Mädchen – thun.«

»Fernandine heeßt se, un en Mädchen is et!« bestätigte der Kommissionär mit falschem Blick.

»Ich werde für das Kind bezahlen, bis es in Dienst gehen kann, oder sonst sich in passender Weise sein Brot erwerben mag, aber ich habe eine Bedingung dabei.«

Der würdige Onkel des kleinen Wesens, über dessen Wohl und Wehe hier so verhandelt wurde, schaute die Dame an.

»Ich wünschte, sagte diese, »daß das Kind von hier fortgebracht wird und überhaupt nicht wieder zum Vorschein kommt.«

»Nu, man kann det Klene doch nicht versoofen, wie 'ne junge Katze!«

»Unsinn, Mann, wer redet von einem Verbrechen oder überhaupt von einer Ungesetzlichkeit. Das Ganze ist auch nicht meine Sache. Ich wünsche nur, daß das Kind von seiner Mutter gänzlich getrennt wird, von der es später schwerlich etwas gutes lernen würde, und daß man es außerhalb Berlins erzieht. Die Mutter mag es meinetwegen für tot halten, das würde natürlich das beste sein. Ich bin bereit, wenn meine Absicht erfüllt wird, für die ersten Kosten der Unterbringung hundert Thaler und dann für den Unterhalt monatlich zehn Thaler, also hundertundzwanzig Thaler jährlich zu bezahlen.«

»De Male is verdeibelt eigensinnig,« sagte der Mann, »sie is wie vernarrt uf den Wurm! Aber warum sagen Sie mir det alles, Madamken, un nich de Male selber?«

»Sie sind der natürliche Vormund Ihrer Schwester und also auch ihres Kindes. Sie scheinen mir verständig genug, einzusehen, daß das Kind nicht die geringste Ansprüche an die Familie meines Schwagers hat. Was ich thun will, geschieht allein aus Mitleid mit dem Kinde. An Ihnen ist es nun, zu thun, was Sie für das beste halten. Nur bemerke ich, daß ich mit der Person, Ihrer Schwester, nichts zu thun haben mag.«

Der Kommissionär warf wie vorhin einen Schielblick auf sie. »Et is recht schön, wat Sie da dhun woll'n, jnädiges Madamken, aber zehn Dhaler sind eijentlich doch zu wenig vor Ihr eegen Fleesch un Blut.«

»Unverschämter! was habe ich mit dem Bastard zu thun?«

»Na, Sie woll nich, aber den Herrn Leitnant seine Dochter bleibet et doch immer, un ick kann't besser beweisen als de Male selber.«

Die Geheimrätin wechselte die Farbe, aber sie hatte Geistesgegenwart genug, keine Verlegenheit blicken zu lassen und ihr Gesicht so zu wenden, daß es der Mensch nicht beobachten konnte.

»Und wenn es wäre – Sie müssen wissen, daß uneheliche Kinder keinerlei Anspruch an ihre Väter haben, als die Alimente.«

»Ja,« sagte der Blatternarbige bedächtig, »aber wenn der Vater die Mutter hat heiraten wollen und ausdrücklich das Kind anerkannt hat?«

Es war ein Glück, daß das Antlitz der Geheimrätin jetzt im Schatten war, denn es zuckte wie eine Drohung gegen den dreisten Redner darüber hin.

»Unsinn! wie können Sie sich erdreisten, so etwas zu sagen!«

»Hab't Schwarz uf Weiß! hier, da in de Brieftasche steckt's!« Er hatte ein altes schmutziges Lederportefeuille hervorgezogen, das mit Papieren vollgepfropft war. »Et jehert ejentlich de Male,« fuhr er fort, »un ick weeß nich recht, warum ick't ihr fortjenommen habe. Aber, da ick't nu mal habe, wollt ick't ooch behalten, et müßte denn sind,« fuhr er listig blinzelnd fort, »det ick't jut bezahlt kriegte!«

»Bah! Sparen Sie sich die Drohung, es existiert kein solches Schriftstück!«

Er kramte in seinen Papieren, sonst hätte er den funkelnden Blick gesehen, mit dem die Edelfrau ihn beobachtete. Es gehörte all die große Herrschaft über sich selbst dazu, die sie besaß, um ihre Unruhe bei der gänzlich unerwarteten Behauptung des Mannes zu unterdrücken.

Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er schlug es auseinander und hielt es vorsichtig gegen das Licht. »Hier steht't jeschrieben: er wolle de Male heiraten, und det Kind is det seine. Warum hat't der Herr Leitnant nich eh'r gesagt, et wäre vielleicht janz anders gekommen, un er hätte nich dran jlooben missen, wenn ick't jewußt hätte!«

Geben Sie her!«

Der neugebackene Kommissionär zauderte, auf dem halb verdutzten, halb trotzigen Gesicht stand die offenbare Besorgnis, das wertvolle Papier in die Hände der Dame zu geben.

»Narr! was fürchten Sie? Geben Sie her!«

Der Ton der Stimme war so gebieterisch, die Miene, mit der sie den Befehl aussprach, so kalt und aristokratisch, daß er nicht zu widersprechen wagte. Zögernd reichte er das Papier über den Tisch und saß dann unruhig rückend auf seinem Stuhl, keinen Moment das Papier aus den Augen lassend, während doch seine Hand mit dem seidenen Schnupftuch, das er sicher in einer Hehlerspelunke gekauft, dicke Schweißtropfen von der Stirn trocknete.

Die Geheimrätin las das Papier langsam durch, um so langsamer, weil sie Zeit brauchte, einen Entschluß zu fassen; denn es war in der That ein vollständiges Eheversprechen des erschossenen Leutnants von Röbel und die Anerkennung der Vaterschaft des Kindes, die diesem den Namen und jedes Recht der ehelichen Geburt sicherte.

Die Dame brauchte alle Seelenstärke, um diesen unerwarteten Schlag überwinden oder wenigstens sich vor den lauernden Blicken ihres Gesellschafters nichts merken zu lassen. Sie fühlte, daß dies Papier nicht in den Händen des nichtswürdigen Menschen bleiben dürfte, ohne daß alle ihre Pläne gekreuzt und verloren wären. Einen Augenblick dachte sie daran, es zu vernichten oder mit Gewalt zu behalten, im nächsten aber bedachte sie, daß ein solcher Coup eine Scene hervorrufen müßte, daß der desperate Mensch sich nicht scheuen würde, Gewalt gegen Gewalt zu setzen, und daß jedenfalls ein Skandal die Folge wäre, der ihren Namen beflecken würde, und den sie schon wegen der Scheu ihres Gemahls vor all dergleichen vermeiden müßte.

Endlich war ihr Entschluß gefaßt. Sie faltete das Papier ruhig wieder zusammen und gab es dem Exrevolutionär zurück.

»Nun?«

Ihre Gleichgültigkeit frappierte ihn. »Na,« meinte er kleinlaut, »ick dächte, fünfhundert Dhaler wäre et immer wert, und wenn Euer Gnaden die Panschion vor das Kind verdoppeln möchten, ließe sich das Ding schon machen.«

»Sie schmeicheln sich mit sehr thörichten Hoffnungen,« sagte die Dame kalt. »Vorerst ist mit nichts bewiesen, daß die Schrift wirklich von meinem verstorbenen Neffen herrührt; aber wenn es auch wäre. Sie haben vergessen, daß das Gesetz noch nicht aufgehoben ist, welches Mißehen zwischen Adeligen und Personen niedern Standes verbietet. Was hat ein solches Versprechen von einem Toten für Wert?«

»Ick meente nur wegen des Kindes; et kann doch den Namen führen un is doch der Erbe.«

»Uneheliche Kinder erben nach den Gesetzen nur von der Mutter, nicht vom Vater. Das Erbteil meines Neffen Ferdinand von seiner Mutter ist überhaupt nicht bedeutend, und er hat viel davon verbraucht. Daß sein Bastard von seinem Vater nichts zu erwarten hat, können Sie denken. Doch, lassen Sie Ihre Schwester immerhin einen Prozeß deshalb anfangen, sie wird ja sehen, wie weit sie damit kommt. Hier, nehmen Sie das alberne Papier zurück, das nichts ist als ein Beweis von der Unverständigkeit meines Neffen.«

Sie warf die Schrift gleichgültig nach ihm hinüber, obschon ihre Finger im geheimen zuckten; aber das strenge aristokratische Gesicht war wo möglich noch stolzer, hochmütiger.

Der Getäuschte nahm es ziemlich herabgestimmt auf. »Na – Dreihundert kennten Se doch davor geben?«

»Prozessieren Sie!«

Er kratzte sich den Kopf. »Den Deibel ooch! ick were mir doch nicht mit meine jetzige Partei verfeinden! De Male is so eigensinnig, wie 'n Droschkengaul, sie wird et in'n Leben nich dhun, sie is zu hochmitig dazu. Na, um zweehundert soll'n Se den Bettel dazu haben, 't is doch der Familie wejen.«

»Nicht einen Thaler mehr, als ich gesagt habe. Ich mag das Papier gar nicht, da man uns mit demselben hat drohen wollen, und ich bedaure schon, daß ich mich aus Mitleid für das Kind und seine ehrliche Zukunft zu dem Anerbieten seiner anonymen Erziehung habe hinreißen lassen.«

Der würdige Kommissionär glaubte in Gefahr zu sein, auch dies lukrative Geschäft sich aus den Fingern gehen zu sehen und lenkte geschwind ein. »Det is abjemacht, ick were den Wurm von de Berenburgen wegschaffen, ick bin der Onkel, un ken Mensch soll 'ne Ahnung davon haben, wohin ick ihn in de Erziehung jebe. Meine Frau is vor die Kinder un wird davor nachsehen, wie 'ne leibliche Mutter. Die Berenburgen mag sehen, wie sie sich rauswickelt mit de Male, die ihr de Oogen auskratzt, wenn sie nicht en juten Schwindel macht. Aber Jeld wird et freilich kosten, ville Jeld!«

Die Geheimrätin erhob sich und ging an ihr Bureau. Mit zwanzig Fünfthalerscheinen kehrte sie zurück.

Aber sie hatte sich doch in ihrer Berechnung getäuscht; das Papier, das eine Million wog, lag nicht mehr auf dem Tisch, er legte es eben wieder in seine schmutzige Brieftasche.

Dennoch behielt sie ihre volle Herrschaft. »Hier sind die hundert Thaler für die ersten Auslagen; es ist nicht meine Sache, wie Sie als Onkel das Kind in Ihren Schutz bringen! Versteht sich auf rechtmäßige Weise, denn ich will mit Ungesetzlichkeiten bei meiner guten Absicht nichts zu thun haben. Ich bedinge mir aus, daß das Kind gut gehalten wird. Sie scheinen mir ein rechtlicher Mann und können am ersten jeden Quartals herkommen, um das Erziehungsgeld zu holen, oder mir Ihre Adresse hier lassen. Natürlich muß ich Ihnen bemerken, daß, wenn unsere Familie auf Grund jenes Papiers weiter belästigt wird, jede Unterstützung sofort aufhört.«

Die grauen Augen der Baronin beobachteten ihn, wie er mit habsüchtiger Befriedigung die Scheine Stück für Stück nachzählte und dann zu sich steckte. Mit höflichem Grinsen legte er ein zweites Exemplar seiner oben beschriebenen Geschäftskarte auf den Tisch. »Quittung wird woll nich nötig sind?«

Die Geheimrätin machte ein stolzes Zeichen der Verneinung. »Ich denke, unser Geschäft ist beendet. Guten Abend!«

Sie schellte.

Der Kerl versuchte einige Kratzfüße und empfahl sich zu allen sonstigen Geschäften und Besorgungen, aber die Baronin unterbrach ihn kalt und sagte zu dem eintretenden Bedienten: »Geleiten Sie diesen Herrn hinaus, und kommen Sie dann zurück.«

Herr Günther verstand den Wink und nahm seinen demütigen Abzug mit ganz anderen Gedanken und Absichten, als er wahrscheinlich bei seinem Eintritt gehegt hatte.

Die Dame blieb in derselben Stellung an dem Tische stehen, auf den sich ihre geballte Linke stützte. Die Portiere hatte sich kaum über dem Proletarier geschlossen, als sich ihr bis dahin kaltes und festes Gesicht veränderte, und ein Blitz des Unwillens aus ihren Augen schoß. »Also doch! Aber ich will verhindern, daß er aus dem Grabe heraus noch seine Familie entehrt und beraubt! Dieser Mensch darf unmöglich im Besitz des Papiers bleiben, ein Zufall könnte es gefährlich machen.« Sie dachte einige Augenblicke nach. »Auf diesem Gesicht steht der Stempel der Habsucht und Gemeinheit, es sollte mich wundern, wenn er nichts auf dem Kerbholz hätte. Jedenfalls muß er unschädlich gemacht werden; das Kind mag bleiben, wo es ist!«

Der Diener trat ein.

»Holen Sie eine Droschke von der nächsten Ecke und, wenn der Baron nach mir fragt, sagen Sie ihm, daß ich noch einen Ausgang zu machen hatte.«

In wenigen Augenblicken hatte sie Mantel und Hut genommen und war die Treppe hinabgestiegen. Die Droschke hielt bereits vor der Thür. Die Baronin wies den Diener zurück, der ihr helfen wollte. »Nach dem Polizei-Präsidium,« sagte sie halblaut zu dem Kutscher.


Man konnte gerade nicht sagen, daß mit der Freiheit in Berlin die Sittlichkeit gewachsen sei. Wenn in Wien die Barrikaden und die Klubversammlungen zum Bordell geworden, so hatte in der nordischen Hauptstadt die Zügellosigkeit Wege geöffnet, die fast schlimmer noch waren, als der offene Gassenskandal. Eine tiefe Demoralisation wucherte durch alle Stände, die Freiheit der Geister war zur Freiheit des Lasters geworden; die Aufhebung der politischen Bevormundung hatte auch die Schranken der Zucht aufgehoben; die Deputierten der neuen, zweiten Kammer verstanden vortrefflich, sich des Abends von den Lasten der Politik zu erholen; das Kneipenleben war in vollster Blüte trotz des Belagerungszustandes, das Institut der Biermamsells eine Schule der Prostitution, die Delikatessenkeller waren für die Reichen, die Polkakneipen für die weniger bemittelten Stände erfunden und mehrten sich wie die Pilze. Dazu kam vor allem ein französischer Drang nach Raffinement, das selbst dem deutschen Laster fremd gewesen, und demoralisierte alle Stände.

Es war noch einige Minuten vor zehn Uhr, als der Kommissionsrat mit den beiden jungen in Civil gekleideten Offizieren ein Eckhaus in der Bernburger Straße betrat und die in bezeichnendem Halbdunkel erleuchtete Treppe zum ersten Stockwerk hinaufstieg. Es schien eine große Versammlung zu sein, denn mehrere Herren in Überröcken und Mänteln, den Hut tief in die Augen gedrückt oder Kragen und Shawl hinaufgezogen, gingen vor ihnen oder kamen hinterdrein.

Alle traten in ein Entree und durch dieses in ein großes, von einer einzigen Wandlampe so gut wie gar nicht beleuchtetes Gemach, wo an der Thür eine elegant, aber auffallend und schauspielermäßig geputzte Dame jedem eine rote oder blaue Karte abnahm.

»Ah, das ist schön, daß Sie kommen, liebster Rat,« sagte die Frau, »ich glaubte schon, Sie wären verhindert, und das wäre in der That schade gewesen. Diese Herren –?«

»Es sind Freunde von mir, ich bürge für sie!«

»O gut, man muß sich nur jetzt so in acht nehmen, die Polizei wird wieder unverschämt und bekümmert sich um Dinge, die sie nichts angehen. Sie hätten etwas Exquisites verloren. Ich weiß nicht einmal, ob ich's uns werde erhalten können, es hat viel Mühe gekostet, die Kleine dazu zu bringen!«

»Wer ist sie denn?«

»Eine kleine Französin oder Schweizer Bonne – ich glaube aus Neufchatel. Das arme Ding war ohne Kondition und fast am Verhungern, während sie doch einen Körper hat wie ein Engel.«

»Wird man sie in den großen Stücken sehen?«

»Nein, wir müssen langsam anfangen, sonst wird sie kopfscheu. Das letzte Bild der ersten Abteilung: ›Esmeralda mit der Ziege‹, und dann noch eine kleine Rolle in den ›Badenden Mädchen‹. Hier haben Sie das Programm!«

» Bon! Aber eine Bemerkung! Ihre Gesellschaft wird immer gemischter, liebste Doktorin; nehmen Sie sich in acht, es könnte doch einmal schlimme Folgen haben.«

»O, es sind lauter anständige Herren! Man will leben, und die Sympathie für die göttliche Kunst ist jetzt unter allen Ständen verbreitet!«

Der Agent lachte auf diese mit halb frecher, halb begeisterter Miene gesprochenen Tiraden und folgte den bereits eingetretenen Freunden.

Die Gesellschaft war schon ziemlich zahlreich und stand in Gruppen an den Wänden ungeniert und laut plaudernd oder hatte auf den Stuhlreihen Platz genommen, die zwei Dritteile des Zimmers füllten. Ein an die Seite gestelltes Klavier und eine kleine Rampe mit innerer Lampenbeleuchtung trennte die vordere Stuhlreihe von einem großen Vorhang, der den Hintergrund des Salons oder wenigstens eine große Bogenthür schloß, die ihn mit dem anstoßenden Gemach verband.

Wie der Agent mit scharfem Blick bemerkt, war die Gesellschaft ziemlich gemischt. »Dennoch,« erwiderte er auf eine entsprechende Bemerkung des Offiziers, »würden Sie bei einer besseren Beleuchtung vielleicht manchen erkennen, dem Sie an ganz anderen Orten begegnet sind. Betrachten Sie den Herrn dort am Sofa; wenn er sein breites Bullenbeißergesicht nicht so sorgfältig bis fast an die buschigen Augenbrauen verhüllte, würden Sie selbst wissen, daß es ein Geheimrat ist, der hohen Personen sehr nahe steht, aber einen merkwürdigen Geschmack an Backfischen hat. Von den beiden würdigen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses dort, das bereits nach Leichen riecht, soll der eine seine Kammerbilletts an die Straßenhändler verkaufen und bezahlt damit wahrscheinlich sein Entree bei Madame Wohlbrück. Dem dicken gemütlichen Advokaten neben ihm kratzte seine hagere Frau die Augen aus, wenn sie eine Ahnung davon hätte, daß er hier den lebenden Bildern huldigt, statt Opposition gegen das Ministerium zu machen. Die Gruppe dort gehört wahrscheinlich zur Kategorie der Sonntagsreiter und Ladenjünglinge, die ihren Prinzipalen das Geld aus der Kasse stehlen. Da ist einer der Verfasser der ›berühmten Häuser Berlins‹, er wird hier einen Beitrag finden, und ich müßte mich sehr irren, wenn das nicht Fräulein Ottilie aus dem demokratischen Frauenklub ist, die sich in Männerkleidern das Vergnügen machen will, die Nuditäten ihres eigenen Geschlechts zu bewundern.«

Er unterbrach sich plötzlich. »Warum hören Sie auf mit der pikanten Schilderung,« fragte lachend der Offizier, »haben Sie ein Gespenst gesehen?«

Der Agent warf einen scharfen Blick auf eine fast unkenntliche Gestalt in der dunkelsten Ecke, sah aber gleich nach einer anderen Richtung.

»Nein, aber etwas ziemlich Ähnliches! Ich soupierte allerdings einmal mit einem unsrer vormärzlichen Minister in lustiger Damengesellschaft, die bis auf die Chaussüre nicht mehr bekleidet war, als Eva im Paradiese zur Herbstzeit, aber ich glaubte nicht, daß auch die exquisit frommen Teile derselben Provinz ein Kontingent zu unseren Kunststudien liefern würden. Da drüben ist reines Vollblut der Bourgeoisie, ich müßte mich sehr täuschen, oder mein weißköpfiger Uhrmacher ist auch dabei und mein cidevant Kompagniechef der seligen Bürgerwehr, die nach den neuesten Berechnungen dem Staat doch bloß für achtundzwanzigtausend Thaler Waffen gestohlen hat!«

»Ich will mich in Ihren Lavaterschen Studien versuchen, Kommissionsrat,« lachte der junge Edelmann, »ich wette, die beiden Herren dort in der ersten Stuhlreihe sind Bankiers und gehören zum Stamme Aron.«

»Mindestens der eine von ihnen, der andere ist schon in der zweiten Generation getauft. Sie sind Feinschmecker und bilden mit dem Destillateur und unserm konditorlichen Kunstmäcen aus der Leipziger Straße eine Coterie, die selbst noch jungen Herren von der Aristokratie das Feinste wegschnappt, trotz der Perücken, die sie tragen. Sie glauben nicht, junger Herr, was unsere Rentiers und Hausbesitzer über Fünfzig für Kunstfreunde sind! Sie haben die nächsten Plätze in der Oper und hier. Ich wette, daß heute noch die kleinen Kabinette am Gendarmenmarkt interessante Scenen sehen werden!«

»Sieh da, Kommissionsrätchen,« sagte ein noch junger Mann, dessen Stirn aber bereits hoch hinauf von Haaren entblößt war und dessen Gesicht die schlaffen Züge eines wüsten, zwischen Spiel, Trunk und Weibern verbrachten Lebens trug. »Sie gehören also auch zu den Frommen?«

»Es ist das erste Mal, daß ich mich zu diesem Gange eitler Weltlust habe verführen lassen,« meinte näselnd der Agent. »Ich hoffe, daß man hier nichts zeigen wird, was gegen Religion und Moral ist, und worüber ein solider Staatsbürger zu erröten nötig hätte!«

Der junge Herr und seine beiden Begleiter lachten. Diese waren ein gewandt und gefällig aussehender, in einen weißen Sürtout gekleideter blonder Mann und ein langer dürrer Mensch mit finniger Habichtsnase und stechendem Blick. Sie wechselten noch einige Worte mit dem Rat, und als sie sich weiter schoben, fragte dieser den Offizier: »Kennen Sie die beiden?«

»Ich habe nicht das Vergnügen!«

»Dann freuen Sie sich, und hüten Sie sich für die Folge davor. Der eine ist ein verkommener Baron, der andere ein ehemaliger Tänzer, zwei der berüchtigsten Spieler in Berlin, und die Beute, die sie in ihren Klauen haben, entschlüpft ihnen selten, bevor sie vollständig ruiniert ist. Der Bursche, den Sie bei ihnen sahen, ist vor zwei Jahren zu einer Erbschaft von zwanzigtausend Thalern gekommen, und ich wette, daß er kaum noch dreitausend davon übrig hat. Wenn auch diese fort, wird er Schulden und Wechsel machen, und das Ende ist Amerika oder das Zuchthaus, ich habe mehrere solcher Fälle erlebt.«

»Eins sollten Sie sehen, liebster Rat! Hoffentlich verschaffe ich Ihnen heute noch den Anblick!«

»Das ist?«

»Unsern amerikanischen Freund hier spielen sehen. Es ist ihm gleichgültig, ob er gewinnt oder verliert.«

Leutnant François zuckte spöttisch die Achseln. » Mon Dieu, wie kann man sich über Gold echauffieren. Was nützt mir sein Besitz oder sein Verlust. Es gießt nur ein aufregendes Spiel für den Mann!«

»Was meinen Sie?«

»Das Spiel, wo das Leben der Einsatz ist, der Kampf, die Gefahr, wo Mut und Kraft das Glück an unsere Fersen binden, wo von dem festen Auge, der sichern Hand und dem flüchtigen Ruf des treuen Rosses das Leben abhängt!«

»Puh, ich danke! Wir lieben hier ein ruhigeres Vergnügen, obwohl freilich manchmal ein Leben auch in diesem Spiel verloren geht!«

Obschon der größte Teil des früheren Gespräches zwischen den beiden französisch geführt worden, hatte der junge Freischaren-Offizier doch wenig darauf geachtet. Jetzt setzte er die Unterhaltung fort. »Welches Schauspiel werden wir eigentlich hier zu sehen bekommen?«

»Die Schönheit, Herr Leutnant, die Schönheit in ihrer höchsten göttlichen Form, ohne die Entweihung der Ansichten des Zuchtpolizeigerichts über Verletzung der öffentlichen Schamhaftigkeit und so weiter. Antike Statuen ohne Trikots, Rubenssches Fleisch von der Leinwand herabgestiegen in all seiner plastischen Natürlichkeit, Tizians Wonnegestalten im Modell, die Raphaelschen Grazien so natürlich in der Kehrseite, daß der dicke Bankier dort noch morgen an der Börse in der Erinnerung des köstlichen Anblicks die österreichischen Metalliques um zwei Prozent höher verkaufen könnte, als sie der Courszettel notiert, oder Herr X. da aus der Kammer-Opposition sich plötzlich bekehren und für die Moralität der Prügelstrafe votieren würde, wenigstens fürs weibliche Geschlecht und in der Hoffnung, bei dem projektierten Gutskauf auch die Gerichtsbarkeit zu erhalten.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz,« sagte der junge Mann zurückhaltend, »meine Erziehung ist zu einfach und rauh, ich bin ein Kind wilder Scenen und wilder Länder, wo die Leidenschaften feurig durch die Adern rollen, und das Menschenleben leicht in der Hand des Feindes wiegt wie in der eigenen Schätzung. Doch wenn die Sitten dort auch rauh und blutig sind, man liebt und bewundert die Schönheit, aber man entweiht sie nicht! Wenn das die Vorteile Ihrer vielgepriesenen europäischen Kultur sind, dann bedaure ich, das Meer und die Pampas verlassen zu haben!«

Der Kommissionsrat warf einen erstaunten Blick auf seinen andern Begleiter. »Mit diesen Ansichten werden Sie wenig Ehre bei der Justizrätin einlegen. Sie waren in London und Paris, Herr?«

»Nur kurze Zeit, mein väterlicher Freund und Beschützer, der General liebt nicht, daß man sich entnervendem Müßiggang hingiebt!«

»Nun wenn Sie mir es nicht übel nehmen, ein längerer Aufenthalt in Europa und namentlich in Paris wird Ihre Erziehung und Ihre Ansichten vervollkommenen. Was wir hier sehen, ist nichts als Klassik, wir beschäftigen uns einzig und allein mit der Kunst in reellen Formen. Unserm Volk fehlen die römischen und hellenischen Ideale und der poetische Himmel darüber, es macht seine Kunststudien auf andere Weise.«

Dem Fremden schien der Sarkasmus des üppigen Lebemannes wenig zu gefallen, und er brach das Gespräch ab. Zugleich gab der Ton einer Klingel das Zeichen zum Beginn der Vorstellung, die matte Beleuchtung des Zuschauerraumes wurde noch gedämpfter, ein bleicher, hagerer Mensch mit langen schwarzen Haaren hatte sich an das Klavier gesetzt und ließ seine Finger über die Tasten gleiten, zuerst eine fade, damals beliebte Polka, die das versammelte junge und alte Publikum mit Summen und Klopfen und Lachen begleitete:

»Komme doch, komme doch, Preuß'sche Garde,
Komme doch, komme doch nach Berlin,«

und die man den Willkomm der Garden nannte. Dann ging die Musik in ein rauschendes Furioso über und fiel plötzlich in die sanfte, sehnsüchtige Melodie des Rosenliedes aus der Martha. Es klingelte hinter der Gardine, ein allgemeines Pscht! und der Vorhang flog auseinander.

So empörend frivol und auf die Sinnenlust spekulierend die gezeigten Bilder dieses die freie Moral charakterisierenden Instituts sich auch darstellten, so ließ sich doch nicht leugnen, daß sie mit künstlerischer Meisterschaft arrangiert und von wohlberechneter Wirkung waren. Die Wahl der Farben der freilich etwas spärlich verwendeten Stoffe, des Hintergrundes und die Verteilung von Schatten und Licht zeigten die Künstlerhand, die sich zu einem so entwürdigenden Zweck hergegeben; denn das Ganze, ursprünglich wohl auf wahrhaft künstlerische Darstellungen in Farben berechnet, auf jenen künstlerischen Kultus des Fleisches, den zwölf Jahre vorher das junge Deutschland von Berlin und Leipzig aus versucht, war in dem unwiderstehlichen Strom der Straßenfreiheit zur Obscönität herabgesunken.

Der Kommentar des Publikums verwischte denn auch sofort jeden bessern Eindruck und charakterisierte Darstellung und Versammlung.

Das erste Bild war eine Kopie der berühmten Tizianschen Venus, eine stehende Darstellung, die sich die Schauspielerin selbst nicht nehmen ließ, und mit der die Bilderreihe jedesmal eröffnet wurde.

Der Leser kennt dieses Bild in seinen üppig runden Konturen, wozu die Formen der Schauspielerin ausgezeichnet paßten, den linken Arm auf die schwellenden, mit dem reichen Faltenwurf des Vorhangs dahinter den Fleischton hebenden Kissen gestützt, die Rechte über dem leichten Schamtuch auf das vorgeneigte Bein gelegt in all dem Sinnenzauber üppiger Ruhe.

»Ausgeseuchnet!«

»Faul! Alles schon dagewesen, sagt Akiba!«

»Das rechte Bein ein bißchen höher, Venus Wohlbrücken!«

Ein schallendes Gelächter folgte.

»Still gelegen!«

»Wie oft sollen wir die medizinische Venus denn noch sehen? Rrrr! ein ander Bild!«

»Stadtgerichtsaktuar! – Gehört die Venus da noch unters Pupillen-Kollegium?«

»Robert, wo bleibst Du? Venus wird ungeduldig!«

Die Schaumgeborene schien aber in der That eine himmlische Geduld zu besitzen, oder an dergleichen kritische Beurteilungen sehr gewöhnt zu sein, denn die Worte gingen spurlos an ihr vorüber, als plötzlich ein kleines Intermezzo selbst die olympische Fassung unterbrach.

Es war auf das Strengste verboten, Hunde in die hochachtbare Gesellschaft mitzubringen, um zu keiner Störung Veranlassung zu geben, und Madame Wohlbrück, die ihr Publikum kannte, kontrollierte äußerst streng an der Kasse. Dennoch war es irgend einem Taugenichts gelungen, ein kleines Wachtelhündchen, wahrscheinlich im Paletot verborgen, mit einzuschmuggeln, und als er nun die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Bild gefesselt sah, nahm er das Tier am Fell und schleuderte es mit dem Ruf: »Faß, Amor!« über die Rampe weg auf die Bühne.

Die Wirkung war elektrisch. Während die Hälfte des Publikums vor Lachen bersten wollte, die anderen, namentlich die alten Gourmands der Kunst, schimpften und schmälten, und »Amor« kläffend auf der Bühne umhersprang und gegen Frau Venus anbellte, schnellte diese halb wütend, halb erschrocken in die Höhe, ballte mit dem Ruf: »Dumme Jungen-Streiche!« die Faust gegen das Publikum und flüchtete hinter die Coulissen.

» Venus posteriora!«

»Dableiben! Zulage haben!«

Der schlechte Witz vermehrte womöglich noch das schallende Gelächter; zum Glück fuhr – freilich einige Sekunden zu spät – jetzt der Vorhang zusammen und alle Augen forschten nach dem unglücklichen Missethäter, den sofort einige dienstfreundliche Finger bezeichneten.

»Der da ist's!«

»Hinaus mit dem Störenfried!«

»Ich dachte mir's fast, als ich das Hündchen erblickte,« sagte noch immer lachend der Kommissionsrat zu seinen Begleitern, »der Streich kommt von den Spielern dort. Die neue Liebhaberei zur Kunst entzieht ihnen Kunden. Der Bursche, der den Hund geworfen, ist einer der berüchtigsten Schlepper. Aber die Scene war kostbar.«

»Ich gebe sie nicht um zehn Louisdors.«

Selbst der junge Abenteurer lachte; die Scene hörte auf, verletzend zu sein, sobald sie komisch wurde.

»Warten wir das Ende ab,« meinte der Rat, »ich müßte meine Berliner nicht kennen, wenn der Spaßvogel zum Dank für den guten Witz nicht noch an die Luft gesetzt werden sollte.«

In der That erschien jetzt auch der würdige Gemahl der spekulativen Künstlerin, der sich gewöhnlich retiré zu halten und nicht zu zeigen pflegte, vor der Bühne und erklärte, daß die »Damen« sich weigerten, die Vorstellung fortzusetzen, wenn der Herr, der sich solchen beleidigenden Unfugs schuldig gemacht, nicht sofort aus der geehrten Gesellschaft entfernt würde. Das wandte alsbald das Blatt – wo könnte in Berlin auch ein Vergnügen existieren ohne eine gemütliche Exmission?!

Sofort ertönte denn auch von mehreren Seiten der klassische Ruf: »Rausschmeißen!« woran sich namentlich die in ihrem Vergnügen bedrohten älteren Herren beteiligten, und selbst die mit Humor versuchte Entschuldigung des Missethäters, daß das Bild nicht vollständig gewesen sei und er nur Amor zu Venus geschickt habe, konnte ihn vor dem rächenden Schicksal nicht retten.

Der Mann, ein hagerer, in der letzten Hälfte der Zwanziger stehender Mensch mit sehr verlebtem Gesicht, in einen gelben Sackpaletot gekleidet, nahm die Exekution übrigens mit großem Stoizismus auf und schien an dergleichen gewöhnt zu sein. Nur als der bei solchen Gelegenheiten jovialer Weise nie ausbleibende Ruf: »Haut nieder!« sich in das Drängeln mischte, beschleunigte er seinen Rückzug und erreichte glücklich die Thür, die von innen abgeschlossen war.

Wer scharf beobachtet hätte, würde bemerkt haben, daß, ehe der Mensch ganz verschwand, er sich umwandte und mit den beiden bei dem kleinen Intermezzo unthätig gebliebenen Spielern ein bedeutsames Nicken tauschte.

Selbst dem sonst so sichern Blick des Agenten war das kleine Telegraphenspiel entgangen, und er nahm ohne Besorgnis wieder mit den andern Platz.

Es dauerte eine Weile, bevor die lockere Gesellschaft wieder zur Ruhe kam, dann begann sogleich der Ruf: »Anfangen! Ein ander Bild!«

Als endlich der Vorhang aufging, entschädigte das Tableau vollkommen auch den liberalsten Geschmack. Es war die Gruppe der drei Grazien mit den Äpfeln. Die drei Gestalten in dem naivsten Kostüm der Ältermutter der Menschheit wurden von drei jungen, ziemlich hübschen Mädchen dargestellt, die jedoch jene höchste Zierde des Weibes, die Scham, gänzlich verloren zu haben schienen, denn nicht einmal das Erröten der bewußten Schande vermehrte die Schminke der Wangen, während die Scheibe, auf welcher die Gruppe gestellt war, von unsichtbarer Kraft getrieben, sich langsam umdrehte, um ja recht jede Nüance des Bildes den lüsternen Augen und Operngläsern der Zuschauer Preis zu geben.

Wir ersparen uns die Bemerkungen, welche die Schaustellung begleiteten, und die in einem allgemeinen Applaus endeten, der das verkörperte Bild der deutschen Trikolore da capo verlangte.

Die Harmonie zwischen Publikum und Direktion war vollkommen wieder hergestellt, und die Blicke, welche von den lebendigen Grazien mit den alten Roués der vorderen Stuhlreihen gewechselt wurden, verkündeten ein Einverständnis, das nicht ohne Nachspiel bleiben würde.

»Was sagen Sie zu unseren Grazien der Bernburger Straße?« fragte lachend der Kommissionsrat. »Das Museum würde ganz anderen Zulauf haben, wenn man solche Bilder ausstellte. Die Kleine mit dem blonden Haar und dem vollen Wuchs ist noch nicht siebzehn, die einzige Tochter eines ehrbaren Schustermeisters, die den Eltern davon gegangen, aus Liebe zur Kunst.«

»Das Mädchen ist wirklich hübsch, aber ich ziehe die Schwarze vor. Der Blick, den sie vorhin da nach der Ecke schleuderte, war reiner Vesuv!«

»Ich sehe, Sie haben Geschmack. Im vorigen Jahre war das Mädchen die Braut eines etwas simpel erzogenen jungen Menschen, der eher einen Kirchendiebstahl begangen, als einen Versuch auf die Tugend seiner Angebeteten gewagt hätte. Die sehr wohlhabenden Eltern des Burschen hatten in die Heirat nur aus Liebe zu dem einzigen Sohn gewilligt, da das Mädchen, die Tochter einer Witwe von guter Familie, mittellos war, obschon sie immer elegante Toilette machte. Aber die Gefühle eines Bräutigams halten nicht immer mit dem dreimaligen Aufgebot Schritt. Der liebesehnsüchtige Bräutigam wandte sich an Mama Röhl in der Artilleriestraße und verlangte etwas Exquisites. Man bestellte ihn mit allem Geheimnis zu einem Abend, und als er da erschien und nach Abnahme des Versprechens größter Verschwiegenheit in das halbdunkle Boudoir zu der seiner harrenden privatisierenden Schönen geführt wurde, wen meinen Sie wohl, daß er im Negligée antraf?«

»Nun?«

»Niemand anders, als seine vielgeliebte Braut, die sich auf solche Manier ihr Taschengeld verdiente.«

»Die Scene muß nicht schlecht gewesen sein,« lachte der Offizier, »der Anblick wird ihn von seiner Liebe kuriert haben!«

Der Agent nickte etwas ernst. »Die Kur war so vollständig, daß man zwei Tage später seine Leiche am Unterbaum aus der Spree zog. Die Eltern hatten den einzigen Sohn verloren und starben bald darauf, und Fräulein Henriette macht seitdem noch elegantere Toiletten als früher.«

Der junge Franzose hatte ernst, fast finster dem obscönen Schauspiel zugesehen. In der von der Moral der großen Städte noch unverdorbenen, frischen Natur zeigte sich der Widerwille gegen dies Raffinement.

»Jetzt passen Sie auf, jetzt kommt das beste, die kleine Französin. Ich bin wirklich neugierig auf sie, und welche Rolle die Doktorin ihr zugeteilt hat!«

Der Vorhang rauschte auf – ein allgemeines Ah! folgte dem Anblick; dann wurde es still in dem Salon, und die gewöhnlichen lockeren und frivolen Bemerkungen schwiegen für einige Minuten.

Es war das Seltsame, Eigentümliche des Anblicks, das die Gemeinheit in die Schranken des Schweigens wies und den natürlichen Tribut für das Schöne forderte.

Das Bild, das sich in einem künstlerisch arrangierten und dem Effekt überaus günstigen Halbdunkel zeigte, war das Gemälde von Delavigne: »Esmeralda mit der Ziege.«

In der dunklen Umgebung der ärmlichen Hütte saß die junge Tänzerin, jenes zierliche poetische Bild hingebender Liebe des Dichters, die französische Mignon, das die brutale Materie entweiht und vernichtet, auf dem von dem Teppich bedeckten Steinlagen an dessen Fuß das Tambourin und die kleinen goldgestickten Schuhe lehnten. Das entblößte Bein, bis zum Knie sichtbar aus dem leichten Faltenwurf des gleichsam von dem Zauber unbewußter Unschuld gewebten linnenen Röckchens, stützte sich auf den Boden, während das linke Knie untergeschlagen verräterisch aus der leichten Hülle hervorlauschte und der ruhenden Ziege ihren Halt gab, die, von dem linken Arm der Tänzerin umschlungen, ihren Kopf an einen Busen drückte, so jungfräulich und weiß, daß er zum erstenmale jener bergenden Hülle sich entledigt zu haben schien, welche die wilden und tapferen Völker des Elbrus um die Büsten ihrer Töchter in der Kindheit legen, und die bei Todesstrafe nur der Dolch des Gatten in der Brautnacht, oder – die Schere des Käufers im Harem lösen darf.

Es war eine zierliche, duftige Gestalt, die Darstellerin der poetischen Zigeunerin; die Lockenmasse des schönen schwarzen Haares, das um das liebliche, zu der Ziege kosend niedergebeugte Gesicht herab auf die nackten Schultern floß, vergrößerte die Ähnlichkeit mit der Schöpfung des Malers. Es lag, trotz der indecenten Stellung, ein unleugbarer Zauber von jugendlicher Züchtigkeit und Unschuld auf dieser Gestalt, die reine weiße Stirn schien nicht allein von der vorgeschriebenen Situation niedergebeugt, sondern mehr noch von der Scham, in dieser Weise den Blicken Fremder preis gegeben zu sein, und dunkle Glut färbte ihre Wangen.

Das große Opernglas des dicken Bankiers neben ihnen schien sehr scharf zu sein. »Teufelmäßig niedlich,« murmelte er halblaut, »aber ich glaube gar, die Närrin weint! Wahrhaftig, sie zittert wie der präsentierte Wechsel in der Hand eines Schuldners, der nicht bezahlen kann!«

Ja, Thränen fielen aus den langen dunklen Wimpern des Mädchens auf das Ziegenbild in ihrem Arm. Dann, fast unbewußt und ihre Aufgabe vergessend, richteten sich diese dunklen Augen nach oben, das Gesicht hob sich empor, und ein anklagender Blick heftete sich an die Decke des Zimmers.

Die unwillkürliche Bewegung schien auch den moralischen Bann der Gesellschaft zu lösen. Ein »Sehr gut!« – »Bravo!« – »Jung und hübsch!« wurde laut und wandte das Auge des jungen Mädchens mit dem Ausdruck wirren Schreckens auf den Zuschauerraum, aber die kluge Direktion ließ in demselben Moment den Vorhang zusammen rauschen und entzog damit der Versammlung den Gegenstand der lasciven Bewunderung.

Der erste Teil der »Kunstausstellung« war zu Ende und die Gesellschaft bildete sich sofort in Gruppen und begann die frühere Unterhaltung, deren Gegenstand meist die bis ins Widrige gehende Zergliederung und Kritik der dargestellten Bilder war.

»Die Kleine ist allerdings hübsch, aber sie scheint noch gar zu blöde!« sagte der Agent. »Doch das ist ein Fehler, den man ihr hier schon abgewöhnen wird, dafür ist die Doktorin Mutter. Aber zu arrangieren versteht sie's vortrefflich. Und wie hat Ihnen Ihre kleine Landsmännin gefallen?«

»Meine Landsmännin?«

»Nun ja! wenigstens eine halbe, die neue Esmeralda ist aus der französischen Schweiz, wie ich höre, eines jener armen Mädchen, die zu Hunderten – außer durch Uhren scheint die abgefallene preußische Enklave sich wirklich durch Mädchenfabriken auszuzeichnen – alljährlich nach Rußland, Polen, Schweden, Deutschland und den Donauländern hinausgeschickt werden, um unsere ungezogenen Rangen Französisch zu lehren und sich, halb Magd, halb Gesellschafterin, mit einem warmen Herzen und allen Ansprüchen auf Freundlichkeit das harte Brot unter Fremden zu verdienen. Jeder Verführung preisgegeben, von Weibern, die aus ihrer Aufnahme ein Geschäft machen, bis zum letzten Groschen ausgebeutet und oft wie eine Ware verkauft, junge, blühende Geschöpfe am Hungertuch, ohne in der fremden Sprache oft nur betteln zu können – was bleibt ihnen übrig, als sich dem ersten besten Liebhaber in die Arme zu werfen!«

»Sie malen ein Nachtbild!« sagte der Franzose gedankenvoll.

»Wie es deren unzählige giebt! Lernen Sie erst die Civilisation kennen, dann werden Sie einsehen, daß die Freiheit, mit der Ihr Heiliger die alte Welt beglücken will, verlorene Mühe ist, solange die Völker ganz andere, Sklavenketten tragen, als die ihrer Fürsten.«

In der Gruppe hinter ihnen, zu der die beiden Abgeordneten gehörten, unterhielt man sich eifrig.

»Der Kerl ist ein Spion, ich habe es immer gesagt und ihm nie getraut. Er hat die Versammlung selbst der Polizei verraten.«

»Unsinn! ich war Zeuge, wie Ewest die Hähne der Gasröhren zuzudrehen versuchte, und ein Konstabler ihn daran verhinderte. Während Gubitz verhaftet wurde, ließ er Waldeck, Jung und mich durch die Küche entwischen. Krackrügge und einige andere protestierten vergeblich. Das Ministerium muß interpelliert werden, weil man gewagt hat, freie Bürger und Abgeordnete des Volkes auf die Polizei zu schleppen!«

»Ich meine,« sagte ein Mann von etwas geistlichem Ansehen mit dünnem Haar um das runde, frische Gesicht, das den Genußmenschen bekundete, »Sie werden wohlthun, diesmal selbst von der Geschichte so wenig als möglich zu sprechen. Der Charakter der Versammlung läßt sich nicht leugnen, und ihr Zweck, eine Demonstration der Bürger während der Anwesenheit der Deputierten hervorzurufen, ist einmal mißlungen. Man kann mit diesen Spießbürgern nichts anfangen, und ich glaube schwerlich, daß die Soldaten unter Wrangel sich so ruhig beschmutzen lassen, wie sie es am 18. März vor dem Schloß thaten, ehe die beiden Schüsse in die Luft gingen. Ich freue mich übrigens, daß ich nicht zugegen war!«

»Nein, Sie amüsierten sich besser bei Fräulein Ottilie oder bei der Aston. Auch der Graf fehlte aus gleicher Ursach'!«

Der Ton des Vorwurfs war scharf und bitter, aber der andere achtete nicht darauf. »Ich habe gehört, daß der Zuträger dieser verdammten Kreuzzeitung in der Versammlung entdeckt worden ist! Warum haben Sie der Canaille nicht einen Denkzettel gegeben, daß er genug daran hatte?«

Der große Dicke lachte. »Es war eine schöne Verwechselung. Wissen Sie, wer in der Verwirrung und im Halbdunkel des Hinterzimmers dafür gehalten wurde und die Kniffe und Schläge bekam?«

»Nun?«

»Der unglückliche Pape war's. Ich rettete ihn selbst aus den Händen der Wahlmänner. Wir hatten diesmal für andere Dinge zu sorgen! Aber wissen möchte ich wohl, wer der Verräter ist. Heute Abend bringt das Schandblatt bereits mit Hohn die Nachricht, daß Julius von Brüssel gekommen und verkleidet der Versammlung beiwohnte.«

»Ich traue keinem mehr, seit herausgekommen, daß der Redakteur der demokratischen Korrespondenz selber die Klubberichte an den ›Zuschauer‹ verkauft hat.«

»Er darf sich in den Versammlungen nicht mehr blicken lassen. Hat es sich bestätigt, daß Feenburg von Magdeburg entkommen ist?«

»Noch nicht.«

»Und Techow?«

»Er hat die Erlaubnis erhalten, in Begleitung eines Unteroffiziers beliebig auszugehen.« Der Deputierte sah sich vorsichtig um, dann flüsterte er seinen beiden Freunden einige Worte zu.

Hinter dem Vorhang hatte man wiederholt ziemlich laut und heftig reden hören, die eifernde Stimme der Schauspielerin war nicht zu verkennen, dazwischen klang es den Nächststehenden, und dazu gehörte der Kommissionsrat mit den beiden Offizieren, wie leichtes Schluchzen. Dann ein zweimal wiederholtes Klatschen.

Die Doktorin wird doch die Kleine nicht mißhandeln!?«

»Nichts da, Freundchen! Wir dürfen hier kein Aufsehen machen. Ich werde mich nachher erkundigen.«

Die Warnung galt dem jungen Franzosen, der Miene gemacht, das Podium zu überschreiten. Der Ruf der Ungeduldigen: »Anfangen!« »Wohlbrück heraus!« »Wo bleiben die badenden Jungfern?« brach wie ein Sturm los und übertäubte die einzelnen Gespräche. Zugleich ertönte die Klingel, und jeder suchte seinen Platz.

Das geschriebene und in einigen Exemplaren unter den Zuschauern verbreitete Programm verkündete ein ganz neues Bild: »Badende Mädchen im Walde,« und der langhaarige Klavierspieler à la Liszt wirbelte auf den Tasten die Ouvertüre des Zampa dazu.

Wieder flog der Vorhang auseinander, wieder das allgemeine »Ah« der Bewunderung. Zwei Mädchen, blond und braun, eine von ihnen die kleine üppige Blondine von vorhin, badeten in einem stein- und blumenumkränzten Bach, bis über die Knie in der klaren Flut vergraben, die teils aus gemalter Leinwand, teils aus geschickt angebrachten Spiegeln bestand, deren Reflex der Lüsternheit der Zuschauer nichts von der ihnen rückwärts zugekehrten Gestalt der einen entzog. Eine dritte – es war die kleine Französin – stand, die Kleider bewachend, am Ufer, den linken Arm um einen überhängenden Zweig der mächtigen Eiche geschlungen, mit der andern Hand das Unterröckchen züchtig erhebend, um den Fuß in die helle klare Flut zu tauchen.

Das Bild wäre vollendet schön, wäre reizend gewesen, wenn es eben nicht an diesem Ort, vor diesen Augen gestellt gewesen wäre.

Der Bann, den die erste Erscheinung der jungen Fremden auf die Gesellschaft geübt, war längst verflogen, die Lust am Skandal wieder in voller Blüte.

»Rock in die Höh'! Höher! Ins Wasser!« klang der freche Ruf.

Man sah das Mädchen erbeben, purpurne Glut färbte das zarte Gesicht – dann wurde es totenbleich.

»Kleider fort! Baden! Baden!«

Ein unverschämter jüdischer Lümmel drängte sich durch die Reihen bis an das Podium. »Ins Wasser, Kleine! Soll ich machen die Kammerfrau?«

»Sie versteht nicht deutsch! A bas le jupon!«

Die Linke des jungen Mädchens sank von dem Zweig nieder, die Hände schlugen krampfhaft zusammen vor das Gesicht, die zarte Gestalt brach in die Knie. – » Mon Dieu! ma mère! ma mère!«

Die Mutter lag längst im kalten Grab dort in dem Schatten der Berge von Le Suchier, aber eine kräftige Hand antwortete dem Ruf der Verzweiflung einer armen gebrochenen Seele.

Ein Faustschlag des jungen Condottiere stürzte den Judenbengel mitten hinein in die Lampen, so daß er ein Zetergeschrei erhob.

Halb bekleidet, im Kostüm einer Bachantin des nachfolgenden Bildes, sprang die Madame, die Mutter dieser Vorstellungen, auf die Bühne und gegen das arme Wesen hin, sie mit Faustschlägen bedrohend. »Canaille! Bettlerin! Hinaus mit dem Balg, wenn er nicht folgen will!«

Aber zwischen ihr und dem Mädchen stand der Rächer und Schützer und ein Stoß warf die Furie zurück.

» Prenez garde! n'osez pas, de toucher cette dame!«

Die Verwirrung war unbeschreiblich, denn in dem Augenblick donnerten Faustschläge an die verschlossene Thür. »Öffnen Sie! Im Namen des Gesetzes!«

»Donnerwetter! die Polizei!«

Dies Wort, so wenig sich sonst in dieser Zeit die Berliner daraus zu machen pflegten, schlug wie ein Blitzstrahl in die Versammlung. Die Schauspielerin rang die Hände, ihr würdiger Gatte, der Doktor, versuchte die Lampen auszulöschen.

»Fort! rette sich jeder, wie er kann!«

Die nackten Dirnen sprangen aus der Wasserdekoration und flüchteten zwischen den Männern hindurch nach ihren Kleidern, alles drängte in dem Dunkel – denn eine einzige Lampe brannte noch an der Wand – durcheinander dem hintern, den Hausfreunden und Stammgästen wohlbekannten Ausgang zu und riß die Thür auf. Die blaue Uniform der Konstabler, die Hüte mit der Nummer starrten ihnen entgegen.

»Niemand passiert! Sie sind alle arretiert!«

Zugleich donnerten scharfe Schläge gegen den vorderen Eingang. »Aufgemacht, oder ich lasse die Thür einschlagen!«

Der Spieler stand hinter ihr und zog den Riegel fort. »Es wäre doch vergeblich!« sagte er entschuldigend zu den Nächststehenden.

Durch die geöffnete Thür, die vergeblich mehrere Männer zuzuhalten versuchten, drängte sich ein kleiner Mann ohne Hut mit braunrotem Gesicht, einen doppelt genommenen Riemen in der Hand. »Wo is die Canaille? – ick wer' ihr det Bilderstehen ausdreiben, ihr un de olle Vettel, die sich Doktern schimpfen läßt!« Hinter dem Mann drangen mehrere Polizeibeamte ein, ein breitschulteriger Revier-Kommissar an ihrer Spitze.

»Niemand rührt sich von der Stelle, bis er sich legitimiert hat. Wer nicht gehorcht, wird arretiert! Zünden Sie die Lichter an, und bewachen Sie die Thür.«

»Der Balkon! Der Balkon!«

Einige Mitglieder der Gesellschaft, mit der Lokalität vertraut, hatten den Vorhang herabgerissen, welcher die Thür zu dem Balkon bedeckte, der um beide Seiten des Hauses läuft, und diese geöffnet. Das dichte Gedränge verhinderte die Polizei vorzudringen. Aber eine andere Kraft durchbrach die Flüchtenden.

Der junge Franzose hatte versucht, das noch immer knieende, zusammengesunkene, verzweifelnde Mädchen aufzurichten, ohne sich um seine Begleiter und die Scene umher zu kümmern. » Courage, Mademoiselle!«

» Grand Dieu! je suis perdu! la honte! Oh que je sois mort!«

Er hob sie empor. » Suivez moi! je vous défenderai!« Aber sie hatte nicht die Kraft, willenlos, halb ohnmächtig hing sie in seinem Arm.

Mit der ihm zur zweiten Natur gewordenen raschen Entschlossenheit warf er den Blick umher, hinter der Felsencoulisse lag ein großes altes Shawltuch am Boden, im Nu hatte er es über die halb entblößte Gestalt geworfen und hob sie wie ein Kind in seine Arme.

Die Lippen zusammengepreßt, sprang er vorwärts. Der dicke Bankier, den er zwischen die Stühle schleuderte, stöhnte Zeter, der alte Tänzer fluchte über seine Hühneraugen, die sein Fußtritt getroffen, aber schon war er an der Thür des Balkons, noch ehe die Polizei diesen versperren konnte.

»Donnerwetter,« sagte der Leutnant, »das ist eine verfluchte Geschichte. Ein tausend Glück, daß man nicht in Uniform ist. Aber ich hoffe, man wird doch keine Unannehmlichkeiten haben.«

Der Kommissionsrat schien von dem Ruf: »Die Polizei!« weniger tangiert, als die meisten anderen, und sich um seine und seiner Begleiter Person wenig zu kümmern. Seine Blicke suchten in dem Dunkel und Gedräng den Herrn im Mantel, der von der Fensternische aus seinem Kunstgenuß gefrönt, und der sich jetzt ängstlich hin und her bewegte und gern möglichst unbemerkt gemacht hätte. Der Agent faßte den Offizier am Arm. »Kommen Sie! schweigen Sie still, ich bürge für alles. Wenn Groß wüßte, in welche Brennesseln er hier greift, er hätte den Henker gethan und dem alten Narren von Schuster seine liederliche Tochter mit Polizei herausgeholt, nachdem er so lange ein Auge zugedrückt!«

»Aber Leutnant François?«

»Kümmern Sie sich um ihn nicht, dergleichen Abenteurer finden sich überall durch. Sehen Sie nicht den Donquixotestreich, den er beginnt?« Er hatte sich bis dicht an den Herrn im Mantel gedrängt. »Verzeihung, Excellenz, daß ich es wage,« flüsterte er, »aber die Lage zwingt mich zur Indiskretion. Ich bitte, folgen Sie mir, wenn Sie unerkannt zu bleiben wünschen.«

Der Herr im Mantel nickte. Den Kragen noch höher geschlagen, drängte er hinter dem Agenten her, der so beweglich und gewandt, als hätte er keine Sechsundfünfzig und kein Embonpoint, durch die Zankenden und Zagenden schlüpfte, ohne auf den Vater Schuster zu achten, der die ungeratene Tochter in Evas Kostüm an den Haaren hinter der Gardine hervorschleifte. So kamen sie ins Nebengemach und zu der zweiten Ausgangsthür, die nach der Küche und der Hoftreppe führte.

Aber sie war, wie bereits bemerkt, durch zwei Schutzleute versperrt, die niemand passieren ließen.

»Zurück!«

»Einen Augenblick, Herr Wachtmeister!« sagte der Agent, indem er ihm eine Karte hinhielt, »bitte lesen Sie die Unterschrift.«

Es war eine jener einfachen Karten, die nichts enthielten als die Worte:

»Vorzeiger ist legitimiert und passiert allein und mit Begleitung.

Hinckeldey

aber der Name hatte bereits damals eine solche diktatorische Gewalt erlangt, daß es eben nur dieser Unterschrift bedurfte, um jedes andere Gesetz zu beugen.

Der Wachtmeister wich zur Seite und gab mit einer Verbeugung die Karte zurück.

»Entschuldigen Sie!«

Der Agent verließ eilig die Küche und nahm mit seinen beiden Begleitern den Weg durch den Korridor und über die Hintertreppe. Im Hausflur und vor der Thür begannen sich bereits Menschen zu sammeln; verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft war es durch die Lokalkenntnis noch zeitig genug gelungen, zu entkommen, andere hatten geradezu den Sprung von dem niedern Balkon gewagt. Unter dem sich versammelnden Publikum, in dessen Mitte das scharfe Auge des Agenten den gelben Paletot des hinausgeworfenen Schleppers bemerkte, schien der Glaube verbreitet, daß es sich um die Aufhebung einer demokratischen Versammlung handle, und bei der damals herrschenden Stimmung nahm man bereits laut Partei gegen die Polizei.

»Sie haben Kanonen aufgefunden! Man hat Sprengkugeln im Hause fabriziert und zehn Fässer Pulver entdeckt!«

»Lassen Se sich nischt weiß machen, Männeken,« sagte ein kupfernasiger Gemüsebutiker, »et is der demokrat'sche Frauenklub, die da is de Präsidenten, ick weeß't sicher, meine Olle schimpft alle Dage uf sie, weil sie't bei de Abjeordneten durchsetzen woll'n, det nich mehr jetraut wird, un jeder Mann zwei Frauens nehmen derf oder ooch jar keene, von wegen, weil't in Berlin sehr ville Frauensleute jibt!«

»Richtig! so is et! Haben Se jeseh'n, wie er runterjesprungen is?«

»Wer?« fragte eifrig der neu Hinzugekommene. »Der Klub?«

»Nee, det wäre zu ville! Aber die eene is mit ihm runterjesprungen – er war jewiß en Seildänzer un hätte mir beinah über'n Haufen gerennt, als er davon lief. Wenn de Konstabulöre ihn hätten fassen woll'n, er hätte eh'r dreie dodt jemacht, sonne Oogen machte er. Na, er is jlicklich fort un de andern ooch, die Kurahsche jehabt haben!«

Die Bemerkung galt dem jungen Franzosen. Als er, energisch alles vor sich niederwerfend, mit seiner Last auf den Balkon gelangt war, befanden sich bereits einige Personen dort, um zu versuchen, von hier aus sich vor dem jedenfalls unangenehmen Renkontre mit der Polizei zu salvieren, aber keiner hatte zur Zeit noch den Mut oder das Geschick gehabt, den Sprung zu wagen. Dem jungen Offizier kam die Erfahrung und Gewandtheit seines Schiffslebens zu gute. Einen Augenblick nur maß er die Höhe und die Gelegenheit, und dann, ohne zu zögern, drängte er sich auf dem Balkon bis zum Ende desselben in der Seitenstraße und schwang sich, das ohnmächtige Mädchen fest an sich drückend, über das Geländer. Mit der rechten Hand dasselbe erfassend, ließ er sich gewandt an den Stäben niedergleiten, bis er frei in der Luft über dem Trottoir hing und bei der niedern Lage des ersten Stockwerks und des Balkons höchstens noch drei Ellen entfernt war; dann, die Hand öffnend, fiel er auf die Fußspitzen nieder, nur sorgfältig bemüht, das junge Mädchen vor jeder Verletzung zu schützen. Rasch sich emporraffend, eilte er mit ihr, ohne auf die herbeikommenden Neugierigen zu achten, davon. Sein Beispiel hatte gewirkt, und mehrere versuchten den bei einiger Geistesgegenwart ungefährlichen Sprung, oder kamen mit Hilfe des sich versammelnden Publikums, das stets bereit ist, der Polizei ihre Opfer zu entziehen, eben so leicht und glücklich davon, wie der Kommissionsrat mit seinen beiden Begleitern.

Dieser hatte sich, sobald er das Haus und die Menschenversammlung hinter sich gelassen, nach dem Askanischen Platz zu gewandt und ging mit dem Offizier, diesem irgend eine Geschichte aufbindend über die Ursache ihres glücklichen Entkommens, bis zur Ausmündung der Straße, ohne sich anscheinend weiter um seinen zweiten Protegé zu kümmern. Hier aber blieb er stehen und deutete mit einer stummen Verbeugung an, daß alle Gefahr vorüber sei, und daß sie sich trennen könnten.

Der Herr im Mantel ging noch einige Schritte voran, dann wandte er sich und winkte dem Agenten.

»Bitte, Herr.«

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« bat dieser den Offizier. »Wenn ich nicht irre, hält dort vor dem Bahnhof noch eine Droschke. Nehmen Sie dieselbe in Beschlag, ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Dann folgte er eilig dem Winke des Herrn. »Haben Euer Excellenz noch etwas zu befehlen?« fragte er leise.

»Nein, ich wollte Ihnen nur danken. Sie haben mich also erkannt?«

»Der unangenehme Einbruch der Polizei gebot mir, indiskret zu sein!«

»Es hat zuweilen sein Gutes, doch in den seltensten Fällen. Sie verstehen mich! Ich überzeuge mich gern selbst von den Verhältnissen in Berlin, auf diese Weise allein kann man ändern und bessern. Es ist allerdings die höchste Zeit, daß Herr von Hinkeldey der öffentlichen Sittlichkeit seine Aufmerksamkeit zuwendet! Wer ist der Herr in Ihrer Begleitung?«

»Leutnant von Röbel, ein Neffe des Geheimrats Baron von Werben!«

»Hat er mich erkannt? Oder haben Sie mit ihm von mir gesprochen?«

»Excellenz! Herr von Röbel hat keine Ahnung davon. Überdies marschiert er morgen Vormittag mit den Truppen nach Schleswig.«

»Es ist gut. Ich danke Ihnen nochmals, liebster Rat. Besuchen Sie mich recht bald, und – à propos! Sind Sie nicht an der Bewerbung wegen der neuen Lieferung beteiligt?«

»Ich habe mich allerdings gemeldet, weil ich in Hamburg bedeutende Geschäftsverbindungen habe.«

»Wissen Sie, sprechen Sie mit Löwenstein, es ist ihm halb und halb zugesagt, aber es läßt sich hoffentlich ein Arrangement treffen. Sie können auf meinen ganzen Einfluß rechnen.«

Er reichte ihm herablassend die Hand, die der Agent sehr respektvoll berührte.

Der Herr im Mantel wandte sich nach der Hirschelstraße, der Agent schaute ihm spöttisch nach. »Alter Sünder,« sagte er lachend, »wer die Geschichte mit der hübschen Bäckersfrau und Deiner Flucht durchs Fenster nicht wüßte! Aber die Begegnung ist unbezahlbar, und Herr Löwenstein wird sich diesmal schon bequemen müssen, den Profit zu teilen, und wenn er's nicht will, werd' ich ihm eine Geschichte erzählen, nicht ›wie man Präsident wird!‹ sondern wie man hübsche Haushälterinnen im Schlafrock empfangen muß!«

Er ging nach dem Thor, wo der Offizier bereits mit der Droschke auf ihn wartete.

Als Leutnant François mit seiner Last glücklich die Straße erreicht, war er, ohne sich um das sich versammelnde Publikum zu kümmern, weiter geeilt, und der entschlossene Blick hatte die ersten, die sich ihm neugierig nahten, zurückgescheucht. Es war natürlich, daß er seinen Weg nicht nach dem Innern der Stadt, sondern dahin nahm, wo das Ende der Straße ihm eine Aussicht ins Freie bot.

So gering auch die Last des jungen Mädchens sein mochte, so war sie doch natürlich zu schwer, um lange auch von solchen Stahlmuskeln, wie die des jungen Abenteurers, getragen zu werden, und indem er sie nach und nach aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachen und an seinem Herzen vor Frost und Angst erbeben fühlte, ging er langsam vorwärts und suchte eine Stelle, wo er sie niederlassen könnte, ohne ihre unbekleideten Füße den Boden berühren zu lassen.

Zur Zeit unserer Geschichte zeigte jene Stadtgegend nur wenige oder gar keine Häuserbauten nach dem Kanal hinaus, der ebenso wie das Hafenbassin erst im Bau begriffen war. Der Platz war wenig geebnet, mit Materialien bedeckt, am Tage von Arbeitern, spielenden Kindern und Wäscherinnen benutzt, des Nachts von liederlichem und gefährlichem Gesindel, das die nahe Feldmark hierher sandte.

Allein in einer ihm gänzlich fremden Gegend der fremden Stadt, nur weniger Worte der deutschen Sprache mächtig, ein nur mit Hemd und Röckchen bekleidetes, vor Kälte und Angst zitterndes Mädchen in seinem Arm, wuchs die Verlegenheit, die dem jungen Franzosen aus seiner rasch entschlossenen guten That erwuchs, mit jedem Augenblick.

Endlich erreichte er einen Haufen von Bauholz und Mauersteinen, der geeignet war, wenigstens seine Last aufzunehmen. Er ließ sie einen Augenblick nieder, warf seinen Paletot ab und bereitete ihr mit diesem einen Sitz, auf den er sie dann brachte, sie sorgfältig in das große Shawltuch einhüllend.

Das junge Mädchen ließ alles still mit sich geschehen, ihr Kopf mit dem langen schwarzen Haar und den geschlossenen Augen ruhte rückwärts an dem harten Lager eines Balkens, der Mondschein zeigte das totenbleiche Gesicht.

Der Offizier wußte nicht, ob er sie in diesem Zustand verlassen sollte, um womöglich Hilfe in der Nachbarschaft zu suchen, oder ob er bei ihr bleiben müsse, bis ihr volles Bewußtsein zurückgekehrt sei, und sie ihm dann selbst angeben könne, was geschehen solle.

Plötzlich zuckte sie empor, ihre Hände preßten gefaltet die Brust, ihre Augen rollten wild umher in der unbekannten Umgebung.

» Mon Dien! mon Dieu! – wo bin ich!«

»Beruhigen Sie sich, Mademoiselle,« sagte ehrerbietig der junge Franzose, »Sie sind sicher vor allen Unannehmlichkeiten, Sie befinden sich im Schutz eines Landsmannes, der aufrichtig wünscht, Ihnen zu dienen, wie Sie bestimmen werden.«

Sie sah ihn mit unsicherem Blick an, dann glitt ihr Auge nieder auf ihre eigene in das Tuch gehüllte Gestalt, das sich bei ihren Bewegungen geöffnet hatte. Die kalte Nachtluft schauerte über ihre Glieder, und die ganze schreckliche Wirklichkeit stand mit einem Schlage vor ihr.

» Ma mère! ma mère! je suis perdu! laissez moi mourir!«

Sie sprang empor, sie wollte nach dem schmutzigen Spiegel des Bassins eilen, den das Mondlicht ihr zeigte, aber er hielt sie mit Gewalt zurück und drückte sie nieder auf den Sitz, indem er aufs neue ihre zitternden Glieder mit ehrerbietiger Züchtigkeit in das schützende Tuch hüllte.

»Hören Sie mich an, Mademoiselle,« sagte er fest, »ich werde nie zugeben, daß Sie einen solchen Entschluß der Verzweiflung ausführen, so lange ich es hindern kann. Wenn Sie auch nicht ganz meine Landsmännin sind, so giebt Ihnen das Band gemeinsamer Sprache doch vollen Anspruch auf meinen Schutz. Ich bin ein Fremder in dieser Stadt, wie Sie es sind, und meine Pflichten rufen mich schon in den nächsten Tagen von hier. Durch einen Zufall habe ich gehört, daß Sie nur durch Not in diese traurige Lage gekommen sind, und daß es das erste Mal war, daß Sie sich in dieser nichtswürdigen Gesellschaft befanden.«

Ein Thränenstrom stürzte aus ihren Augen. »Barmherziger Gott, ich hätte lieber sterben sollen! Aber der Hunger thut so weh, sie mißhandelten mich so viel …«

»Der Hunger?« Seine Hand ballte sich.

»O, Monsieur, verachten Sie mich nicht zu sehr. Ich hatte seit gestern nichts genossen, man wollte mir nicht eher zu essen geben, als bis ich eingewilligt, und drohte mir, mich aus dem Hause zu werfen. Aber ich war so erschreckt von den vielen Augen, die sich auf mich richteten, als ich die Esmeralda darstellte, man hatte mir nicht gesagt, daß das Bild« – eine dunkle Glut der Scham überzog bei diesen Worten ihr Gesicht – »so abscheulich sein würde, ich weigerte mich, weiter zu helfen, und da schlug man mich.«

»Die Canaillen!«

Sie hatte das Auge zagend zu ihm aufgeschlagen und schien allmählich Mut und Vertrauen zu gewinnen. Es lag so viel Energie in seiner Entrüstung, so viel Achtung für das Unglück in seinem Benehmen.

»Mein Gott! mein Gott! was werden Sie von mir denken! – O, glauben Sie nicht, daß ich schlecht bin!« sagte sie demütig und zitternd.

»Beruhigen Sie sich, Mademoiselle, ich weiß, daß nur Not und Zwang nichtswürdiger Menschen Sie in diese falsche Lage gebracht haben. Aber wie kamen Sie in das Haus dieser Frau?«

»Ich hatte seit sechs Monaten meine Stelle verloren, die Familie, in der ich Bonne war, änderte ihre Verhältnisse. So kam ich hierher und gab mich einstweilen in Pension bei einer Frau, die, wie man mir sagte, Bonnen und Gouvernanten Stellen verschafft. Aber die Zeit ist so schlimm, es wollte sich kein Platz für mich finden, und ich verzehrte das wenige Geld, das ich gespart, denn ich hatte von meinem Honorar meine arme Mutter zu unterstützen gehabt. Zuletzt mußte ich alles verkaufen, um nur meine Wirtin zu befriedigen, und als ich nichts mehr hatte, als den Anzug, den ich trug, und dies kleine Medaillon mit den Haaren meines verstorbenen Vaters, und die Schuld, die bereits aufgelaufen, nicht befriedigen konnte, da …«

»Nun?«

»Da wies sie mir die Thür und zwang mich, zu jener Frau zu gehen, die sie kannte, und die mir angeboten, mich zu engagieren, aber ich schwöre Ihnen, ich wußte nicht, zu welchem Zweck! Ich mußte bleiben, ich hatte niemand auf Gottes Welt, an den ich mich um Hilfe und Schutz wenden konnte!«

Er verlängerte, trotz der drängenden Situation, absichtlich dies Gespräch, um ihr dadurch Ruhe und Fassung wiederzugeben.

»Darf ich fragen, woher Sie sind, Mademoiselle?«

»Aus Serrières bei Neufchatel!«

»Und Ihr Name?«

»Elise!«

»Aber der andere? Ich frage in aufrichtiger Teilnahme.«

Sie sah zu ihm empor, bittend, schmerzlich. »O, verlangen Sie es nicht! es ist der Name meiner Mitter, und ich habe ihn entehrt!«

Dieser Zug wahrer Scham rührte ihn aufs tiefste; er fühlte, daß die Aufwallung edlen Gefühls, die ihn zu der raschen, von anderen vielleicht für unbesonnen gehaltenen Handlung getrieben hatte, gerechtfertigt war.

»Ich ehre Ihre Zurückhaltung und rechne darauf, später Ihr volles Vertrauen zu verdienen. Vor allem gilt es jetzt, Kleider und ein Unterkommen für diese Nacht für Sie zu besorgen. Können Sie mir in dieser Beziehung einen Rat geben?«

Sie weinte nur.

»Ich würde Sie nach meinem Hotel bringen, aber ich besorge, Sie einer Indiskretion auszusetzen in diesem Zustande. Ich bin selbst noch jung und unerfahren und mit den Sitten dieses Landes unbekannt, aber ich fürchte, die Polizei hat alle jene Mädchen in dem Hause verhaftet, und das war es eben, was ich bei Ihnen verhindern wollte. Wenn Sie so das Thor passieren, könnte man leicht Verdacht schöpfen!«

»Es ist unmöglich, ich schäme mich zu Tode!«

»Es ist ein Unglück, daß ich die deutsche Sprache nicht verstehe. Sie auch nicht?«

»Sehr wenig!«

»Dennoch muß schleunig etwas geschehen, Sie erkälten sich hier. Wollen Sie es wagen, einige Augenblicke allein zu bleiben?«

Sie sah ihn schüchtern und ängstlich an, dann sagte sie vertrauensvoll: »Ich will es. Sie werden ein armes, freundloses Wesen in ihrer letzten Hoffnung nicht täuschen!«

»Gewiß nicht, aber Sie versprechen mir auch, sich nicht von der Stelle zu rühren und die thörichten Gedanken aufzugeben, die Sie vorhin hegten.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Ich danke Ihnen; in zehn Minuten werde ich wieder bei Ihnen sein!«

»Still! gehen Sie noch nicht! dort kommen Menschen, man sucht uns vielleicht! O Gott, stehe mir bei!«

Der Franzose stellte sich vor sie hin, um sie zu verbergen oder vor jeder Unannehmlichkeit zu schützen, denn in der That kamen drei Männer von dem Kanal her auf sie zu.

Das zuweilen von Wolken verdeckte Licht des Mondes ließ deutlich ihre Gestalten erkennen. Zwei von ihnen schienen Schiffsleute zu sein von den Spreekähnen, die im Kanal lagen, der Dritte trug einen langen Oberrock, den Kragen in die Höhe geschlagen und den runden Hut tief in die Stirn gedrückt. Er hatte eine Figur von mittlerer Größe, so weit unter der Verhüllung zu beurteilen war, hager aber muskulös. In kurzer Entfernung von dem Paar, das durch eine Wand von hier aufgestapelten Ziegelsteinen vor ihren Augen verborgen war, blieben die Männer stehen und setzten ihr Gespräch halblaut fort.

Aber selbst wenn der junge Abenteurer unter seine in dem wilden Leben des Westens gewonnenen Sprachkenntnisse auch das Deutsche gezählt hätte, würde er wenig davon verstanden haben; denn die Reden waren mit so vielen seltsamen Ausdrücken vermischt, daß auch ein geborener Berliner ihren Sinn nicht begriffen hätte.

»Die Soore Soore: Das gestohlene Gut. – Die Ausdrücke gehören sämtlich dem Rotwälsch der Berliner Diebe an. muß gebracht werden noch heute Abend fort von hier,« sagte der im Rock mit einem scharfen Anflug von jüdischem Dialekt, »der Geneiwte wird machen großen Spektakel und die Greifferei Die Kriminalpolizei. fängt an zu werden gefährlich.«

»Der Pallopeten Der Polizeikommissar. thut uns nichts, er liegt längst im Senftling.« Das Bett.

»Das ist egal, wir haben zu thun mit der Greifferei. Die Kabohre Das verwahrte Gut. muß geführt werden zum langen Thomas, dort baldowert Ausspionieren. es niemand und ich werde schicken den Keim Jüdischer Hehler. morgen früh. Heute und morgen müßt Ihr Euch halten ruhig, am Mittwoch Abend komme ich zu Euch nach dem Stralauer Thor!«

»Na,« sagte der eine Kerl unwirsch, »wir sollen immer arbeiten und unser Helling Der Anteil der Kabbern oder Gehilfen bei einem Diebstahl. ist nicht der Rede wert. Es ist heute Montag und in der Schmorpfanne ist Tanz, die Dirnen sind alle dort und es wird luftig hergehen.«

»Sie haben einen Streich vor, wie ich höre,« sagte der andere.

»Ich habe nichts dawider, wenn Ihr später hingeht, aber erst muß die Soore in Sicherheit. Also Mittwoch Abend seid mit dem Kahn an der Waschbank.«

»Und morgen schickt Ihr den Keim?«

Der Mann im Rock legte die Hand rasch auf seinen Arm. Schmuse betuke, Schweigt still. ich hörte einen Husten, es sind Lampen Störende Personen. in der Nähe!«

Er griff nach der Brusttasche unter dem Rock und trat um die Ecke der Ziegelwand, sein scharfer Blick fiel sogleich auf das Paar. »Sollt Ihr verschwarzen, warum horcht Ihr da?«

Seine beiden Gefährten waren sofort herbeigekommen, und alle drei machten Miene, sich auf die Fremden zu werfen, aber die entschlossene Haltung des jungen Mannes, und das verdächtige Blinken eines Terzerollaufs in seiner Hand hielt sie zurück.

» Prenez garde, mes amis,« sagte der junge Offizier, » n'approchez pas un pas!«

»O,« sagte der im Überrock, »es ist ein Franzose. Kommt das französische Gesindel auch noch hierher, um uns zu brennen? Anteil fordern. Qui êtes vous, Monsieur!«

» Vous parlez français?« sagte der Offizier erfreut, indem er die Waffe senkte.

»Ein wenig, mein Herr,« erwiderte der andere in französischer Sprache, »ich lernte es, als ich der Gesellschaft des Direktor Carré angehörte. Aber wer sind Sie, und wie kommen Sie hierher?«

»Dann kann Ihnen gleichgültig sein,« sagte der junge Mann mit bestimmtem Ton. »Aber ich halte es für einen glücklichen Zufall, jemanden getroffen zu haben, der Französisch versteht. Wollen Sie Geld verdienen, mein Freund?«

»Warum nicht, dazu ist man stets bereit!«

»Ich bin in einer fatalen Lage. Hier ist eine Dame, der man die Kleider gestohlen hat; könnte ich durch Ihre Vermittelung schnell Schuhe und Strümpfe, einen Rock und Hut und Mantel haben, wenn es auch geringe Kleider sind, nur reinlich und warm; ich bezahle, was Sie verlangen.«

Der Unbekannte warf einen scharfen Blick auf das zitternde, in ihr Tuch geduckte Mädchen; die Sache kam ihm merkwürdig genug vor, aber er sah doch so viel, daß er hier mit Personen zu thun habe, bei denen zu verdienen war, nicht mit solcher:, die ihn in seinen eigenen Geschäften beschränkten, und der Gedanke an den Vorteil überwog alle anderen Bedenken.

»Ich hoffe zu erfüllen Ihren Wunsch, Monsieur, wenn Sie zahlen wollen gut.« Dann wechselte er die Sprache und redete den älteren seiner beiden Gefährten in dem früheren Gaunerdialekt an. »Komm hierher, Mann. Hat Deine Keibe Frau. Malmische Kleidung. für den Sonntag, Schuhe, einen Oberhänger und Obermann?« Mantel und Hut.

»Natürlich hat die Olle ihre Kluft. Kleidung. Sie hält darauf und sieht verteufelt sauber aus, wenn sie in die Kirche geht. Warum fragt Ihr?«

»Weil ich sie langen Kaufen. will. Du sollst haben zwanzig Räder Thaler. für den ganzen Bettel, aber ich muß ihn haben zur Stelle!«

»Zwanzig Thaler? Die Olle wird nicht wollen, sie hält darauf.«

»Sei kein Gamel Esel. Schiffer-Schulze. Du sollst haben fünfundzwanzig, und ich müßte mich nicht verstehen, darauf, wenn Du nicht kannst wieder kriegen morgen den ganzen Bettel. Nimm die Mesumme und hol' die Kluft.«

»Na – meinetwegen! Aber ich muß ihr die Mepaie Geld. zeigen, sonst giebt sie's nicht.«

»Haben Sie Geld bei sich, Monsieur?« fragte der Leiter der Versammlung. »Die Frau des Mannes ist auf dem Schiff dort im Kanal und kann geben ihre Feiertagskleider aber er will haben zehn Louisdor.«

»Hier sind zwölf. Aber lassen Sie die Kleider sofort bringen.«

Die Augen der drei funkelten, als sie den jungen Mann eine schwer mit Gold gefüllte Börse öffnen und eine Anzahl Louisdors herausnehmen sahen, die er dem Mann im Rock in die Hand gab. Ihre Blicke kreuzten sich fragend, ob man nicht über den Fremden herfallen und ihn der Börse berauben solle, aber der klügere Anführer schüttelte unmerklich das Haupt.

Mit großer Überwindung zählte er von dem empfangenen Gelde unter allerlei Ausflüchten, wofür der Rest der Summe bestimmt sei, fünf Louisdors in die Hand des Schiffers und trieb diesen samt seinem Sohn fort, die Kleider zu holen. Darauf blieb er allein mit dem Franzosen.

»Wenn ich kann thun dem Herrn einen weitern Dienst,« meinte er kriechend, »bin ich bereit mit Leib und Leben. Ich hab' schon gedient den Herren Kavalieren sehr viel.«

»In der That,« sagte der junge Mann, »ich befinde mich in Verlegenheit. Diese Dame, meine Landsmännin, steht unter meinem Schutz, ich habe sie von einem Ort retten müssen, wo ihr Gefahr drohte, und weiß nicht recht, wohin mit ihr für diese Nacht, da ich sie unmöglich nach meinem Hotel führen kann.«

»O, wenn's ist nichts weiter als das,« erbot sich der Jude, »ich will dem gnädigen Herrn schaffen eine extrafeine Gelegenheit vor das Vergnügen von die Nacht, wo Sie beide sollen sein ganz ungestört und so bequem bleiben, wie ins beste Hotel.«

»Schuft, was denken Sie? Kein Wort mehr in diesem Tone, oder ich schlage Ihnen den Schädel ein,« sagte der junge Mann, beschämt, daß die Unglückliche den Vorschlag mit angehört. »Ich werde morgen für diese Dame sorgen und bin nur augenblicklich in Verlegenheit, wie ich ihr für diese Nacht ein sicheres Unterkommen verschaffen soll, wo sie unbelästigt vor Nachfragen ist. Ich verlasse Berlin in einigen Tagen, und werde sie mit mir nehmen, bis dahin aber muß sie verborgen bleiben.«

Der Gauner – denn daß er zu dieser würdigen Zunft gehörte, hatte das Gespräch und die Spitzbubensprache von vorhin zur Genüge dargethan – sann einige Augenblicke nach. »Wenn sich das Fräulein nicht fürchtet vor einem harten Lager, wüßte ich wohl ein Unterkommen, wo sie ist so sicher wie in Abrahams Schoß.«

»Helfen Sie mir dazu, und seien Sie meiner Dankbarkeit gewiß.«

»Ich will sehen, was sich läßt machen! Da kommt der Mann mit den Kleidern zurück.«

In der That kam der alte Stromschiffer mit seinem Sohn vom Kanal her, beide ein Paket tragend, das der Alte vor das Mädchen hinwarf.

»Da, da ist's, 's hat Mühe genug gemacht, bis wir die Olle dazu gebracht. Hätten die Füchse Goldstücke. nicht so blank ausgesehen, der Teufel soll mich holen, wenn sie die Fetzen herausgegeben hätte!«

»Lassen Sie uns ein wenig beiseite treten,« sagte der Franzose, »bis die Dame sich angekleidet hat. Es ist alles, Mademoiselle, was ich Ihnen in diesem Augenblick bieten kann, aber die Not zwingt uns, davon Gebrauch zu machen. Morgen sollen Sie passendere Sachen haben.«

Sie sah ihn schüchtern, dankbar an. »O, es ist alles gut genug für mich, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich will sogleich fertig sein.«

Sie waren hinter den Steinhaufen gegangen, der ihnen das Mädchen verbarg. »Haben Sie eine Auskunft gefunden?« fragte der Franzose.

»Warten Sie einen Augenblick.« Darauf wandte der Jude sich an die Schiffer. »Der Kober Liebhaber. will haben für seine Kalles Geliebte. eine kesse Penne Sichern Aufenthalt. wo er sie kann verstecken. Ich weiß nicht, was ist geschehen, aber es ist nicht koscher Rein. mit ihnen und der Kerl hat Kies, Geld. es ist zu machen ein Rebbes. Vorteil. Ihr werdet sie nehmen in Euern Kahn und sie bringen mit der Soore zum langen Thomas. Er soll ihr geben ein Lager zum Joschen Schlafen. für die Leile, Die Nacht. bis ich komme morgen früh.«

»Aber Ihr wißt, Schwarzer Schmul,« wandte der Schiffer ein, »daß der fremde Matrose noch immer in der Kajüte krank liegt.«

»Die rote Pest über sein Mitleid! was braucht er den Hanne Tölpel. aufzunehmen, warum gießt er ihn nicht ins Spital? Aber er wird finden einen Platz, wo die Kalle ist sicher, bis ich komme. Wir können vielleicht verdienen viel Mesumme Geld. von dem Kober. Schicke den Goldfuchs und laß machen bereit den Kahn, und hinein bringen die Kabohre. Es ist nicht nötig, daß Deine Keibe weiß, was es ist mit der Dirn'.«

Der Sohn des Schiffers, wegen seiner roten Haare unter seinen Genossen der Goldfuchs genannt, entfernte sich auf die Weisung seines Vaters nach dem Kahn hin, und der schwarze Schmul, wie ihn der Schiffer geheißen, wandte sich wieder zu dem Franzosen.

»Der Mann ist ein ehrlicher Mann,« sagte er, »aber sein Weib ist eine böse Sieben und würde nicht dulden, daß er ein Mädchen brächt' ins Schiff auch nur eine Nacht. Er will führen die Dame in seinem Kahn sicher zu einem Freund, wo sie kann bleiben die Nacht und so viele Tage als sie will, ohne daß jemand sie sucht. Es ist ein sehr anständiger Mann, der Freund, und wird's thun um einen kleinen Erwerb, die junge Frau wird sein so sicher wie in des Königs Schloß, ich bürg' mit meinem Leben dafür.«

Obschon dem jungen Mann die drei Männer gerade nicht sonderlich Vertrauen einflößten, wußte er doch in seiner Verlegenheit und in der späten Stunde nicht, was anders anfangen, und mußte noch sehr froh sein, daß ihm der Zufall diese Hilfe gesandt. Er glaubte, wenn er den Eigennutz der Männer rege mache, ihres Beistandes und ihrer Sorge für die ihnen Anvertraute sicher zu sein.

Als er nun nach der Anfrage, ob sie fertig sei, hinter den Steinhaufen trat, um seine Schutzbefohlene von dem Beschlossenen zu unterrichten, mußte er unwillkürlich lächeln über die Gestalt, die ihm entgegen kam. Der Schiffer-Schulze hatte sich natürlich gehütet, die besten Kleider seines Weibes zu bringen, wie er versprochen hatte, und der Anzug beschränkte sich auf einen groben Friesrock, eine Jacke, die natürlich viel zu weit und groß für den zarten Körperbau des jungen Mädchens war, und ein Paar wollene Strümpfe nebst unförmlichen Schuhen. Aber die Verlassene hatte mit dem Geschick und Takt der Frauen daraus gemacht, was möglich war, und wenn sie in dieser Garderobe auch ziemlich unförmlich erschien, so daß es das Lächeln des jungen Mannes erregen mußte, so war die Kleidung doch wenigstens warm und gewährte mit Hilfe des Tuches, das sie um den Kopf geschlungen, vollen Schutz gegen die Witterung und die Blicke Fremder.

»Sie lachen über mich, mein Retter,« sagte sie freundlich, »aber ich bin so glücklich, diese Kleider durch Ihre Güte zu haben, daß ich es Ihnen nicht ausdrücken kann und daß nur noch die Sorge, Ihnen so viele Mühe zu machen, meinen Dank überwiegt. Was haben Sie über mich Arme beschlossen? Ich gestehe es offen: Sie sind meine einzige Hoffnung!«

Er sagte ihr, daß die Männer, die sie zufällig gefunden, sie in ein Asyl führen wollten, bis er morgen andere Anstalten werde treffen können.

Das junge Mädchen richtete ängstlich die Blicke auf die beiden Fremden, die mit einander flüsternd zurückstanden, aber sie wagte nicht zu widersprechen und sagte nur: »Ich bin bereit. Ich weiß, Sie werden alles am besten mit mir machen.«

Er reichte ihr den Arm und geleitete sie hinter den beiden Männern drein, die nach dem Ufer des Kanals gingen. Ein Spreekahn, der Baumaterialien hierher gebracht, lag einige Schritte vom Ufer; ein Licht schimmerte aus der Kajüte, aber die Verbindungsbretter, die während des Tages vom Bord zum Ufer führten, waren eingezogen. Der Schiffer führte seine Begleiter jedoch nicht zu dem Kahn, sondern weiter hin zu einer Landungstreppe, an der bereits der Goldfuchs mit einem kleinen Nachen hielt. Ein mit einer alten Decke verhüllter Packen lag im Hinterteil des Nachens, der unmöglich mehr als drei Personen fassen konnte.

»Hier, Monsieur,« sagte der Jude, »lassen Sie einsteigen die Dame, damit sie kommt unter Dach und Fach, denn das Wetter wird sich ändern sehr bald.«

»Ich werde sie natürlich bis zu dem Ort, wohin man sie bringt, begleiten.« Sie hielt seine Hand fest, und ihr leiser Druck sagte ihm, wie sehr sie dies wünschte und seine Sorge fühlte.

»Unmöglich, Monsieur, die beiden Leute sind notwendig und es findet kaum noch die Dame Platz darin. Sie sind ehrliche Leute und werden sie sicher geleiten an Ort und Stelle, wo Sie sie können treffen morgen früh.«

»Aber wie soll ich sie wiederfinden, wenn ich nicht weiß, wo sie ist?«

»Sie können nicht verraten ihr vertrautes Logement, und Sie würden auch nicht finden können den Platz, ohne zu werden geführt. Wollen Sie mir geben Ihre Adresse, oder bestimmen die Zeit und den Ort, so werd' ich sein pünktlich zur Stelle, um Sie zu führen zur Madame und alles zu besorgen, was Sie werden befehlen.«

Der junge Mann sann einige Augenblicke nach, aber er wußte in der That keinen andern Ausweg. »Ich logiere im Hotel St. Petersbourg,« sagte er endlich entschlossen, »fragen Sie morgen früh um 8 Uhr nach Leutnant François Laforgne, Sie sollen gut belohnt werden für Ihre Mühe. Wir müssen uns leider hier trennen,« fuhr er zu dem ängstlich dem Gespräch lauschenden Mädchen fort, »aber fürchten Sie nichts, Mademoiselle, es ist nur für diese Nacht, daß ich Ihren Schutz andern überlassen muß. Morgen früh um 9 Uhr bin ich bei Ihnen. Sie laufen nicht die geringste Gefahr, diese Männer sind Schiffer von jenem Fahrzeug, und ich werde ihre Aufmerksamkeit für Sie zu fesseln wissen.«

Er nahm aus seiner Börse zwei Louisdors und gab sie den beiden auf den Stufen der Treppe stehenden Schiffern. »Sagen Sie den Leuten,« befahl er dem Juden, »daß sie morgen eben soviel erhalten sollen, wenn sie für Mademoiselle gut gesorgt haben. Und hier, liebe Landsmännin, nehmen Sie selbst diese Börse an sich, denn Sie dürfen sich in keinerlei Verlegenheit befinden, und es wird gut sein, wenn die Leute wissen, daß Sie Geld haben, um alles zu bezahlen.«

»O, mein Herr!«

Sie sträubte sich gegen die Annahme, aber er drang sie ihr auf. Hätte er den Blick gesehen, den Vater und Sohn bei dem Anblick der wohlgefüllten Börse wechselten, er wäre vorsichtiger gewesen.

Der Jude, in seinen Rockkragen vermummt, stand am Ufer. Er beobachtete die Scene und zuckte spöttisch die Achseln, als er das unvorsichtige Benehmen des jungen Franzosen und den Wink der beiden Schiffer sah. »Der Mensch ist blind,« murmelte er, »er ist selber Schuld daran und verdirbt mir's Geschäft. Ich will wenigstens daran haben meinen Helling.«

»Sollen wir hier eine Stunde lang stehen, bis die Leileschmiere oder der Pallopeten kommt? Macht ein Ende, schwarzer Schmul!«

Der Jude wandte sich zu dem Offizier. »Es ist die höchste Zeit, Monsieur, wenn Sie nicht erregen wollen Aufmerksamkeit; ich werde Sie zurückführen bis zum Thor.«

»So leben Sie wohl, Mademoiselle – bis morgen!«

»Leben Sie wohl! – Meinen ewigen, ewigen Dank!«

Dunkle Wolken, vom Wind gejagt, eilten am Mond vorüber, die Scheiben der Laterne, die in der Nähe der Treppe am Ufer stand, klirrten und zitterten im sich verstärkenden Lufthauch, der über das Wasser strich, und ihr flackernder Strahl fiel auf den jungen Mann und das Mädchen.

Aus dem das liebliche blasse Gesicht verhüllenden Tuch heraus, das seine Angst und seine Scham verdeckte, sah das Auge des jungen, so früh den Gefahren und dem Verderben überlieferten Wesens auf den kräftig kühnen, jungen Mann, als wolle ihr scheidender Blick dieses Gesicht und diese Gestalt sich einprägen fest und unvergänglich für immer.

»Leben Sie wohl!«

Er fühlte, wie ihre Hand bebte, als er ihr in den Nachen half, aber er begnügte sich, um sie nicht mutlos zu machen, diese Hand ehrerbietig zu küssen und die Zagende auf das schmale Brett niederzulassen; dann trat er zurück.

»Auf morgen!«

»Ab!«

Der Goldfuchs stieß den Nachen mit der Stange vom Ufer, der Schiffer-Schulze legte die Ruder ein.

»Gute Nacht, Schiffer-Schulze, und nimm Dich in acht!«

»Das ist unsere Sache; kümmert Euch nicht darum!«

Der Nachen verschwand im Dunkel.

» Auf morgen

Bis zum Brandenburger Thor begleitete der Jude den fremden Offizier, dort schied er von ihm mit dem wiederholten Versprechen, am andern Morgen Punkt 8 Uhr bei ihm zu sein.


Der Wind hatte sich rasch erhoben – auf die Fläche des stillen Kanals ohne Einfluß – nur droben am Nachthimmel peitschte er die Wolken und sie verhüllten fort und fort den Mond.

Über den dunklen Spiegel des Kanals zwischen den öden hohen Ufern glitt der Kahn stromaufwärts, der kaum merklichen Bewegung des Wassers entgegen.

In der Mitte des Kahnes saß das Mädchen, vor ihr der Schiffer, der die Ruder führte, hinter ihr aufrecht stehend der Bursche mit der Stange – sie tauschten über dem niedergebeugten Kopf des Weibes Zeichen und leise Worte.

Einsamer als jetzt war die Gegend, eine leere Chaussee in einiger Entfernung an der einen, öde Gärten an der andern Seite des Wassers.

Über der großen mächtigen Stadt lag die rote Gasatmosphäre der Nacht, gespenstig in das Dunkel hinaus, im Rücken der Schiffenden, glühten gleich sprühenden Vulkanen die Coaks-Öfen des Anhalter Bahnhofs, rings umher mit dem dicken vom Winde getriebenen Dampf die Luft verpestend.

»Wenn Ihr's thun wollt, ist's Zeit, Vater, es muß geschehen sein, ehe wir ans Thor kommen.«

Der Mann mit der Stange sagte es.

»Fang' Du an!«

»Nein – Ihr!«

»Ich fürcht' mich; 's ist zwar nur ein Weib – aber wenn's heraus käm' – er hat Teufelslichter im Kopf.«

»'s sind ja Fremde, sie verstehen kein Deutsch nicht. Eh' er morgen kommt, sind wir längst fort, der Wind ist gut. Ich brauche Kies, die Ulanenguste spricht allemal von einer neuen Kluft, und der blasse Ede ist teufelsmäßig hinter ihr her. Ich muß ihr's geben.«

»Vielleicht geht's, wenn wir's ihr ganneven.«

»Nein, sie würde assern. So oder so!«

»Dann thu's selber!«

»Wenn Ihr's nicht anders wollt!«

Wie von einer innern Ahnung getrieben, wandte sich das Mädchen im Kahn um. Der Bursche in ihrem Rücken hatte sein baumwollenes Sacktuch zusammengeballt, mit diesem führte er einen Schlag gegen ihre Schläfe, daß die Frau mit einem leisen Schmerzensschrei, noch mehr erstickt durch das schwere Tuch, umsank, über den Rand des Kahns, mit dem Kopf in das kalte Wasser.

»Witsche Hanne!« Dummer Tölpel.

Der alte Schiffer stemmte das Ruder, aber vergeblich! Die Last des Burschen, der sich auf das Weib geworfen, um ihr Schreien zu verhindern und der Börse sich zu bemächtigen, war zu groß.

Der Kahn schlug um.

Dann – – –


Die Hauptmannswitwe Frau von Berenburg und ihre Tochter gehörten zu den »verschämten Armen«.

Es giebt Tausende von Personen in Berlin, die allein von der Firma »verschämte Arme« leben; Familien, die bessere Tage gesehen, die vielleicht einen glänzenden Namen tragen und durch Unglück oder eigene Schuld herabgekommen, nicht arbeiten können oder in falschem Stolz einer Arbeit sich schämen; Personen, die sich redlich durchbringen möchten, aber von hundert schmerzlichen Rücksichten und Leiden in einem öffentlichen Erwerb beschränkt werden und das öffentliche Almosen verschmähen müssen, und solche, die aus Namen und Armut eine Spekulation machen, um mit Täuschungen aller Art die Wohlthätigkeit auszubeuten.

Es leben in der Hauptstadt zahlreiche Personen, die aus Bettelbriefen ein förmliches Geschäft machen! Keine fremde Fürstlichkeit läßt sich im Bereich der Residenz blicken, und hunderte, ja tausende solcher Briefe hängen sich an ihre Fersen!

Es giebt Leute, die über die Ankunft aller Gutsbesitzer und wohlhabenden Personen der konservativen Partei förmlich Liste führen und jede mit ihrer »darbenden Familie« anpumpen!

Gastierende Künstler werden um bescheidene Darlehen und Unterstützungen bis zu 500 Thalern ersucht!

Die verschämte und unverschämte Armut suppliciert in den Gasthöfen und mit der Post, mit Besuchen und par postillon d'amour. Die Ausbeutung der Armut ist eine Industrie geworden; die Wahrheit frißt ihre Thränen, und die Frechheit säuft Champagner!

Das mehrfach erwähnte Haus in der Jakobsstraße, das nur aus Parterre und einem Stockwerk bestand, wurde im ganzen nur von vier Familien bewohnt, den Eigentümer, einen alten Juden ohne Frau und Kinder, der auf Pfänder lieh und Trödelgeschäfte machte, auch als Familie gerechnet. Er hatte mit einer Nichte, die ihm die Wirtschaft führte, das Parterre inne, und hatte anscheinend eine ziemlich ausgebreitete Handelsbekanntschaft, denn es verkehrten viele Personen aus verschiedenen Ständen bei ihm während des Tages und des Abends. In seiner Abwesenheit fertigte seine angebliche Nichte, ein pfiffiges, listiges Ding von kaum 15 Jahren, die Besuche ab.

Der Pfandleiher – er trieb das Geschäft freilich nur privatim und ohne Konzession – war ein gebücktes, zusammengekrümmtes Männchen mit spärlichem, rotem Haar und kriechend jüdischem Wesen. Bei der Polizei stand Herr Samuel Jonas in gutem Ansehen; denn er bezahlte pünktlich seine Abgaben, schickte der Frau Kommissarin – beileibe nicht dem Revier-Kommissär – jedes Neujahr, seitdem er das Haus bewohnte, zwei Flaschen Danziger Goldwasser und hatte bereits mehrere unglückliche Diebe angezeigt, die thörichter Weise bei ihm gestohlenes Gut hatten versetzen oder verkaufen wollen. Auch beschäftigte er sich nur mit »reinlichen« Käufen, und sein Trödlerbuch war stets in bester Ordnung. Selbst das scharfe Auge Dunckers hatte nichts an ihm auszusetzen gefunden.

Endlich, und das war vielleicht die Hauptsache, schien er eines gewissen geheimen Schutzes aus vornehmen Kreisen zu genießen.

Thatsache war, daß seine beiden Mieterinnen – von dem versoffenen Schuster mit seinem Weibe im Parterre des Hintergebäudes wird später die Rede sein – vornehme Verbindungen hatten.

Die gesellschaftliche Stellung der beiden Mieterinnen war freilich sehr verschieden und gab in der Nachbarschaft zu mancherlei Reden Veranlassung.

Im Vorderhause wohnte eine verwitwete Justizrätin von Wengern, eine reiche Dame von mittleren Jahren, wie es hieß, denn fast niemand bekam sie zu sehen. Sie hielt keinen großen Hausstand, sondern nur eine ältere Köchin; andere Hausgeschäfte und Gänge besorgte Sarah, die Nichte des Trödlers, oder die Schusterfrau. Dazu lebte die Witwe ziemlich zurückgezogen und ging nie aus, schien aber keineswegs geizig, denn die Nachbarn wußten, daß sie an Küche und Keller sich nichts abgehen ließ; und daß es bei ihr gut genug herging, das bewiesen die Braten und Leckereien, welche die Aufwärterin für sie einkaufte, oder die von Burschen und Kellnern, doch immer nur des Abends, gebracht wurden. Einmal in der Woche empfing sie auch größere Gesellschaft; denn an einem bestimmten Abend von 8 oder 9 Uhr ab, kamen Herren und Damen zu Fuß oder in Droschken, die sie jedoch immer in einiger Entfernung halten ließen, und schlüpften, tief in den Mantel gehüllt, in den dunklen Hausflur. Und ob schon die Fenster durch Jalousieen und Rouleaux hermetisch verschlossen waren, konnte das doch nicht verhindern, daß die munteren Tanzmelodieen eines Klaviers von dem Amüsement der Gesellschaft Kunde gaben.

Die Gesellschaften hatten schon vor dem März 1848 bestanden, waren während des Sommers und Herbstes ausgefallen und hatten erst seit kurzem wieder begonnen.

Man sieht, die Witwe gehörte in der That zur Aristokratie und hatte, wie diese, sich während der Pöbelherrschaft zurückgezogen.

Hin und wieder kam auch während des Tages Besuch, ohne es auffällig zu machen, Herren und Damen, diese jedoch immer tief verschleiert. Niemand aber wurde eingelassen, den auf sein Schellen die alte Dame oder die Aufwärterin nicht durch das Guckloch wohl kontrolliert. Bettler und andere unnütze Persönlichkeiten gelangten nicht über den ersten Treppenabsatz, dafür sorgten der Jude und seine Nichte. Auch wußte man, daß hier nichts gegeben wurde für die Armen.

Wann die Gesellschaft endete, danach fragte man nicht; einzelne gingen zeitig, andere spät; die Bewohner jener Gegend haben überhaupt meist mit ihren eigenen Angelegenheiten zu thun, der Nachtwächter wußte nichts oder sprach nicht davon, und Samuel Jonas hätte jeden schlimm angelassen, der sich nach Dingen erkundigte, die nicht seine Sache waren.

Die zweite Haushaltung – im ersten Stock des Hintergebäudes – war ganz anderer Art, still und christlich, denn Mutter und Tochter gingen regelmäßig alle Sonntage zweimal mit großen Gesangbüchern zur Kirche; das eine Mal in die Kirche der Parochie, das andere Mal nach der Dreifaltigkeitskirche, ungerechnet den Besuch der Missionsstunden und der Abendsegen.

Die Hauptmännin von Berenburg sah gar nicht aus wie eine notleidende Arme, die Dürftigkeit und das Mitleid schienen ihr im Gegenteil recht gut zu bekommen. Sie war groß und starkknochig, eine Frau an die fünfzig und hätte wohl arbeiten können; aber das vertrug sich nicht mit der Ehre ihres Standes und dem Andenken ihres Mannes.

Die hohe, feste Gestalt hatte in der That etwas Aristokratisches und hätte in der geraden, steifen Haltung auch etwas Soldatisches gehabt, wenn das demütige Neigen des Kopfes nicht gewesen wäre, das von dem Gefühl ihres Unglücks und christlicher Ergebung sprach.

Daß sie wohl und kräftig aussah, war eine unverdiente Gabe des Himmels, aber doch, wie sie stets hinzufügte, nur äußerlicher Schein; denn niemand kannte ihre Nerven-Leiden, den traurigen Blutandrang zum Kopf, der sie oft zwang, ganze Vormittage im Bett zuzubringen. Die würdevollen, resignierten Manieren, die sie besaß, verschafften ihr überall Wohlwollen und jene freundliche Achtung, die der Arme leider so selten findet. Hatte sie doch der Sorgen so viele; außer der um ihre kärgliche Existenz noch die um die Gesundheit und Zukunft ihres einzigen Kindes, des einzigen geliebten Pfandes eines unvergeßlichen Gatten, den sie, beiläufig gesagt, in den Trunk und das Spiel hineingeärgert hatte, bis er zu einer schlimmen Handlung griff, kassiert wurde und sich eine Kugel vor den Kopf schoß. Aber das Unglück, das liederliche Männer über die Familien bringen, ist natürlich nie durch die Frauen von Erziehung verschuldet, sie sind stets die bedauerten Opfer.

Die arme Agnes mußte in der That eine sehr zarte Gesundheit haben. Denn wenn ihre Gestalt auch ziemlich voll und rund war, der Teint blieb so blaß und leidend, und die dunklen Schatten unter den Augen bewiesen, daß sie mit der unermüdlichen Arbeit ihrer Nadel bis tief in die Nacht hinein ihre Lebenskraft untergrabe.

Aber sie wollte nun einmal nicht anders, wie Frau von Berenburg klagte, sie hatte den Stolz ihres Vaters und wollte wenigstens zeigen, daß sie soviel als möglich aus eigenen Kräften dazu beitragen wollte, sich zu ernähren.

Die Stickereien des Fräulein Agnes waren auch wirklich allerliebst und zeugten von der Geschicklichkeit ihrer Hand. Die vornehmen Damen kauften sie zu sehr guten Preisen und sandten sie als eigene Arbeiten an die Ausstellungen und Verlosungen zu wohlthätigen und patriotischen Zwecken.

Die arme Agnes! Eine passende Partie zu machen, war keine Aussicht. Wer von der stolzen, reichen Aristokratie würde ein blutarmes Fräulein heiraten wollen, und eine Partie unter ihrem Stande konnte sie doch unmöglich eingehen. Vielleicht hätte sie's gern gethan, aber es fand sich eben keine!

Und Agnes hatte doch ein an Liebe so reiches Herz! Nur um ihrer Neigung willen zu den unschuldigen Geschöpfen, den Kindern, und damit sie mit dem fortwährenden Sitzen sich nicht ganz verderbe – sie hatte noch kurz vorher eine schwere Krankheit überwunden, die sogar einen Aufenthalt auf dem Lande nötig gemacht – hatte die gnädige Frau es über sich gewonnen, Ziehkinder aufzunehmen.

Dieser Liebe zu der Jugend mochte es auch zuzuschreiben sein, daß die sechsundzwanzigjährige Agnes vielen Umgang mit Damen hatte, die weit jünger waren als sie. Obschon sie ihre Arbeiten wegen nur selten die Familien besuchte, deren Wohlwollen und Unterstützung ihre Mutter den Unterhalt verdankte, so wurde sie doch nicht selten von jungen Damen aus den höheren Ständen besucht.

Mutter und Tochter bewohnten zwei Zimmer in dem baufälligen Hintergebäude des Hauses. Das Parterre desselben nahm das Magazin des Trödlers und die ärmliche Wohnung eines Schuhflickers ein, dem der Schnaps lieber war als die Arbeit. Im übrigen aber hielt ihn seine Frau in Ordnung, und wenn er des Abends spät und betrunken nach Hause kam, kroch er still in sein ärmliches Lager, solchen Respekt hatte er vor seiner Frau.

Diese besorgte die Bedienung der Hauptmannswitwe mit ihrer Tochter für die groben häuslichen Arbeiten, denen sich die verschämten Armen nicht unterziehen konnten und nach dem Willen ihrer Freunde nicht unterziehen durften.

Es war eine mittelgroße, grobknochige Frau von finsterm, strengem Ansehen, mürrisch und wenig gesprächig. Sie that schweigend und ohne Widerspruch ihre Arbeit; mit der alten Haushälterin im Vorderhause, für das sie gleichfalls die groben Arbeiten verrichtete, oder der jungen, schlauen Jüdin, wechselte sie nur die notdürftigsten Worte. Sie war überaus fleißig und unterhielt mit ihrer Arbeit allein die armselige Wirtschaft, denn ihr Liederjahn von Mann, den sie erst in späteren Jahren geheiratet – sie mochte fünf- bis sechsunddreißig Jahre zählen – verdiente herzlich wenig, obschon er die Worte und, wie es hieß, selbst die Hand seiner Frau fürchtete, wie ein fauler Schulknabe seinen Präceptor.

Es war, als läge ein Verbrechen oder eine gewaltige Erinnerung auf der Seele dieser finstern, armen, arbeitenden Frau.

Die Stube der Hauptmannswitwe und ihrer Tochter sah ziemlich ärmlich aus, während einzelne Gegenstände an ehemaligen Wohlstand und angesehene Familienverbindungen erinnerten. Dazu gehörte vor allem ein Porträt des seligen Hauptmanns in breitem Goldrahmen an der weißgetünchten Wand, unter dem Degen und Schärpe befestigt. Auch ein Paar andere alte Familienbilder waren da und zeigten in gepuderter Frisur die Großmutter und den Großvater der Frau von Berenburg, von denen der letztere Mitglied des Kammergerichts noch unter Friedrich dem Großen gewesen sein sollte. Einige verblichene Stickereien, ein altmodischer Kommoden-Sekretär mit eingelegtem Porzellan und einige Nippsachen deuteten ferner auf die Vergangenheit. Auf der Kommode unter dem Bilde stand ein aus Ebenholz geschmackvoll gearbeitetes Kruzifix mit der Gestalt des Erlösers aus Elfenbein, das Geschenk einer der vornehmen Wohlthäterinnen. Dahinter lag eine recht abgegriffene Bibel, der letzte Jahresbericht der Gesellschaft zur Versorgung verschämter Armen mit Brennholz und die neuesten Nummern des Missionsblattes.

Um den großen runden Tisch in der Mitte, auf dem eine gewöhnliche Messinglampe brannte, saßen drei Personen, die Hauptmannswitwe, ihre Tochter und ein großer Mann mit einem Bullenbeißergesicht, in einen warmen Paletot behaglich eingeknöpft, einen schönen Stock mit einem Elfenbeinknopf zwischen den Beinen, an dem er zuweilen mit den dicken wulstigen Lippen sog. Er wußte aber, wahrscheinlich aus Gewohnheit, den Stock immer so zu drehen, daß das Schnitzwerk des Kopfes nach innen blieb. Wäre der Strahl der Lampe voll darauf gefallen, so hätte man wahrscheinlich bemerkt, daß das Elfenbein eine aus dem Bade steigende Venus darstellte, ein chicanöses Geschenk der Freunde des würdigen Mitgliedes der Armen-Kommission aus der Dienstag-Whistpartie.

Besagtes Mitglied der Armen-Kommission, ein reicher Buchdruckereibesitzer mit überaus brüsken Manieren, saß in dem alten ledernen Lehnstuhl der gnädigen Frau, während diese auf einem Rohrstuhl ihm gegenüber in steifer, würdevoller Haltung Platz genommen, nur den Kopf wie gewöhnlich demütig und ergeben gesenkt. In der Hand hielt sie einen Strickstrumpf. Die graue Farbe der Wolle hätte auch schärfere Augen als die des würdigen Armen-Kommissars nicht erkennen lassen, wie oft der unglückliche Strumpf schon hatte herhalten müssen, ohne weiter zu kommen, als die wenigen Maschen, die bei solchen Gelegenheiten ihm zugefügt wurden.

»Sie haben Recht, Frau Hauptmännin, daß Sie so fleißig sind,« sagte der Armen-Kommissar, »es giebt noch viele Leute, die es schlechter haben als Sie. Ein jeder muß ihnen von seinem Überfluß abgeben!«

»Überfluß! großer Gott!« sagte die Witwe, die grauen Augen zum Himmel aufschlagend. »Wie gern wollten wir geben, wenn wir nur eben etwas zu geben hätten. Diese geringe Arbeit ist alles, was ich bei meiner Kränklichkeit zu leisten vermag, sie ist für den Frauenverein zur Erziehung verwahrloster Kinder in Syrien bestimmt!«

»Hm,« meinte der Armen-Kommissar, »die Damen könnten es hier näher haben. Ich wollte ihnen eine Anzahl Rangen nachweisen, daß sie genug daran haben sollten.«

»Es ist ein so schönes christliches Werk,« sagte erhaben die Witwe. »Aber freilich, die heutige Welt will von Mitleid und Nächstenliebe nichts wissen, nur der Egoismus regiert noch.«

Herr Stillberg, der Armen-Kommissar, ließ einen bedeutsamen Blick über die Gestalt der Witwe gleiten. »Ich sollte doch meinen, Frau Hauptmännin, daß Sie sich nicht über das Mitleid zu beklagen hätten.«

Fräulein Agnes, die mit einer groben Stickerei beschäftigt, zwischen beiden saß, stieß ihre Mutter unter dem Tisch mit dem Fuß an. Der Stoß bedeutete natürlich: ich hoffe, Du wirst es ihm geben.

Frau von Berenburg richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl empor: die aristokratische Gestalt überragte fast die des Mannes.

»Es ist sehr traurig und sehr schmerzlich für Personen von Zartgefühl und Familie,« sagte sie vornehm, »sich jede geringe Wohlthat vorwerfen zu hören, die man unglücklichen Frauen, wie wir sind, reicht. Mein Großvater hat gewiß nie geglaubt, daß ein Staat, zu deren ersten er gehörte, die traurige Lage seiner Enkelin mißbrauchen würde.«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen,« murmelte Herr Stillberg, »aber es ist doch Thatsache, daß Sie von der Armen-Kommission eine Erhöhung des monatlichen Unterstützungsgeldes verlangen, und das ist eben, weshalb …«

»Glauben Sie denn, mein Herr,« fuhr die Witwe mit gekränkter Würde fort, »jene Bettler und Almosenempfänger, denen Ihre Stadt jährlich Hunderttausende opfert …«

»Zweimalhundertfünfundsechzig Tausend Thaler,« schaltete seufzend das Mitglied der Armenverwaltung ein.

»Ja – Hunderttausende opfert, sie wären nicht besser daran, als zwei arme Frauen unseres Standes? Können wir an den Thüren betteln gehen – können wir unsere Bedürfnisse befriedigen, wie sie es thun, oder sollen wir vielleicht Aufwärterdienste verrichten? Soll dies unglückliche Kind, das einen durch Jahrhunderte unbefleckten Namen trägt, statt daß sie jetzt wenigstens in der Verborgenheit in unerhörtem Fleiß ihre Gesundheit opfert, nur um nicht in Lumpen einhergehen zu müssen, sich etwa als Magd bei einer Schneiderfrau oder einer Schreiberfamilie verdingen?«

Der Armen-Kommissar warf einen Blick auf das unglückliche Kind und wagte zu bemerken, daß es für das Fräulein ja wohl eine geeignetere Stellung geben würde, als in Dienst zu gehen. Viele sehr anständige und wohlhabende Bürgerfamilien ließen ihre Töchter als Verkäuferinnen in Magazinen, als Lehrerinnen und Gouvernanten eintreten oder ein kleines Geschäft etablieren.

Die Witwe führte ihr Taschentuch an die Augen. »So will man mich denn auch des letzten Trostes, den ich habe, berauben, mein Herr! Mein einziges Kind soll seine leidende Mutter verlassen! Wer soll mich pflegen und mit seiner Liebe die schmerzlichen Krankheiten mir tragen helfen, die meinen gebeugten Körper zerstören! Denn, mein Herr, lassen Sie sich nicht von dieser Außenseite täuschen, ich kann Sie versichern, mein Nervensystem ist total zerstört, und meine Leiden sind unbeschreiblich.

Fräulein Agnes war aufgestanden und kam, ihre Mutter zärtlich zu umarmen. Das Fräulein war, wie gesagt, ziemlich üppig gewachsen, was selbst der weite Hausrock nicht verbarg. Aber der würdige Armen-Kommissar, der unter anderen Umständen ein sehr empfängliches Auge für weibliche Formen hatte, durfte diesmal nur für seine Aufgabe Sinn haben, und diese war unter den Verhältnissen ziemlich unangenehmer Natur.

»Ich werde Sie nie verlassen, Mama! Lieber die größte Not mit Ihnen tragen, als meine unglückliche Mutter in den Händen herzloser, fremder Menschen wissen!«

»Aber so hören Sie mich doch erst an,« sagte ärgerlich der Kommissar. »Ihre Verhältnisse sind allerdings in der Sitzung der Armen-Kommission zur Sprache gekommen. Es ist ein Platz leer in der Amalien-Stiftung, und ich soll Ihnen den Antrag wiederholen …«

»Wie? Sie wollen mich in ein Armen-Hospital bringen? Und mein unglückliches Kind …«

»Ich habe bereits gesagt, daß das Fräulein gewiß leicht ein passendes Unterkommen finden wird. Sie haben, wie wir wissen, Verbindung und Protektion in vornehmen Kreisen, die Armen-Kommission muß auf Ersparungen denken bei günstiger Gelegenheit, und zehn Thaler war bereits der höchste Satz, den sie geben konnte.«

Die unglückliche Mutter hielt ihr bedrohtes Kind im Arm, wie eine verteidigende Löwin.

»Was haben wir denn gethan, daß man uns so zu behandeln wagt – was hat man uns denn gegeben? – Kann man noch beschränkter und einsamer wohnen als wir es thun? Wie leben wir? Glauben Sie denn, daß man von den zehn Thalern der Armen-Direktion etwas anderes genießen kann als Brot und Wasser? Und das alles bei meiner Krankheit und meinen Nerven! Wenn dieses arme Kind nicht Tag und Nacht arbeitete, müßte ich oft selbst einer Suppe entbehren! Können wir einfacher uns kleiden? Zehn Thaler! und davon macht man soviel Aufhebens! Nicht einmal Holz gießt man uns für eine warme Stube, oder glaubt diese Gesellschaft für verschämte Arme etwa, bei ihrer Neuntel-Klafter könne man mehr als einen Kaffee kochen?«

»Man will Ihre Tochter am Fastnachtsball bei Kroll gesehen haben in einer sehr eleganten Garderobe,« erklärte der in die Enge getriebene Abgesandte.

Aber er hatte in ein Wespennest gestochen. Ob der Aufschrei des Fräulein Agnes mehr von Entrüstung oder von dem derben Zwicken veranlaßt wurde, das ihr die Mama heimlich zu teil werden ließ, konnte er freilich nicht unterscheiden. Aber die gekränkte Moralität war so niederschmetternd, daß er sich trotz seiner kräftigen Gestalt hätte in ein Mauseloch verkriegen mögen. »Agnes bei Kroll! Auf einem Ball! Gerechter Gott! die Arme, die jene ganze Nacht für mich Thee und warme Umschläge bereitete, weil ich mein trauriges Rückenleiden hatte! Also auch die Verleumdung ruft man zu Hilfe gegen zwei arme schutzlose Frauen, bloß um uns die geringe Unterstützung noch zu entziehen, die man uns giebt! Großer Gott, das ist mehr als ich ertragen kann! Meine Nerven, meine Nerven!«

Die Witwe sank in ihren Stuhl zurück und bekam Zuckungen; der arme Armenpfleger wußte kaum, wo er bleiben sollte.

»Aber so beruhigen Sie sich doch, Frau Hauptmännin,« bat er, »es wäre ja kein Verbrechen; wenn man jung ist, macht man auch einmal einen dummen Streich. Es ist nur wegen der verschämten Armut und der neuen Forderung! Die Armen-Kommission hat in letzter Zeit so viele unangenehme Erfahrungen gemacht. Die Geschichte mit den Mamsells Walter ist sogar in die Zeitungen gekommen …«

»O –«

»Das Stiftsfräulein von Blumenberg hatte zwei Unterröcke gestickt, um sie auf den Weihnachtsbazar für die Verschämten zu geben und von dem Ertrage den verwaisten Mamsellen Walter, die seit drei Jahren von der Unterstützung des Vereins lebten, warme Kleider extra zum Christfest beschert. Als sie am zweiten Feiertag Nachmittag durch den Tiergarten promeniert, da sieht sie zwei Damen in eleganter Wintertoilette vor sich hergehen, und beim Aufheben der Kleider, daß sie ihre teuren, im Bazar verkauften Unterröcke tragen. Sie freut sich, daß die mühsame Arbeit in so gute Hände gekommen ist, da – denken Sie sich den Schreck und den Ärger, beste Frau Hauptmännin! da drehen sich die Frauenzimmer zufällig nach einem vorübergehenden Windbeutel um, und wen, wen glauben Sie wohl, daß sie erkennt?«

»O! meine Nerven! …«

»Die leibhaften Mamsells Walter selbst, dieselben, denen sie den Ertrag ihrer Arbeit zu einem warmen Winterkleide bestimmt hatte. Es ist schändlich, wie man heutzutage betrogen wird!«

Die schöne Agnes verbarg ihr Köpfchen an dem Busen der noch immer stöhnenden und zuckenden Mama, um dem Erzähler nicht geradezu ins Gesicht zu lachen. »Sehen Sie denn nicht, wie Mama leidet, Herr Stillberg? Geschwind die Flasche mit dem Wasser, wenn Sie keine Eau de Cologne bei sich haben! Wie konnten Sie mich auch so abscheulich verdächtigen!«

Der Armen-Kommissionär, der in seinem Leben keine Eau de Cologne brauchte, aber trotz seines Amtes gegen das Fräulein gern galant sein wollte, sah verwirrt im Zimmer umher, ohne die Wasserkaraffe vor seiner Nase zu erblicken. Dann schoß er auf eine Ecke zu, wo hinter dem alten Schrank ein dunkler Flaschenhals hervorlugte, aber die Ohnmächtige hatte zum Glück seine gefährliche Absicht bemerkt und kam ihm zuvor.

Ihr Anblick war wahrhaft majestätisch, als sie so vor ihm stand und im Gefühl ihrer gekränkten Unschuld ihn am Arm festhielt.

»Also mit solchen Personen vergleichen Sie uns, Herr Stillberg? Haben Sie vergessen, welchen Namen wir tragen, ich und mein unglückliches Kind, von welcher Familie wir sind? Wenn es nach Recht und Verdienst ginge in dieser Stadt, wo man alle Achtung vor Geburt und Unglück durch diese liberalen Ideen schon lange mit Füßen getreten hat, da hätte freilich meine Tochter den Fastnachtsabend nicht in dieser elenden Baracke zwischen ihrer kranken Mutter und den Kindern fremder Leute zubringen dürfen, sondern bei Ihresgleichen, wo allein wahrhaft noble Gesinnung und Mitgefühl herrschen.«

»Das noble Mitgefühl scheint sich doch nicht viel um das Fräulein zu kümmern,« sagte ärgerlich der Armen-Kommissär, indem er nach seinem Hut griff. »Es thut mir leid, Madame, aber ich muß meiner Pflicht gehorchen und Ihnen daher anzeigen, daß, wenn Sie unsern Vorschlag nicht annehmen, Sie sich vom Ersten ab auf Ihresgleichen verlassen müssen und die Armenunterstützung …«

»O, daß gerade Sie mich so schmerzlich kränken müssen, Herr Stillberg,« unterbrach ihn klagend die Witwe, »Sie, auf den ich so vieles Vertrauen setzte, der so sehr geachtet in der ganzen Stadt bis in die nobelsten Kreise ist! Noch vorgestern sprach ich mit meiner Cousine, der Kammerherrin, von Ihnen, und daß Sie so gut königlich gesinnt wären und selbst als Hauptmann der Bürgerwehr Ihren Patriotismus bewiesen hätten!«

»O,« sagte der Armen-Kommissär, zögernd stehen bleibend, aber einigermaßen verlegen, »man mußte damals sich bemühen, eine öffentliche Stellung einzunehmen, wenn man wirken sollte.«

»Das habe ich auch stets gesagt,« meinte die Witwe, »auch wenn von dem fatalen Plakat gegen die Rückkehr des Prinzen von Preußen die Rede war. ›Sein Name ist mißbraucht worden,‹ sagte ich, ›ich weiß es bestimmt, denn ich besitze das Plakat selbst. Er hat von der Unterschrift gar nichts gewußt.‹«

»Sie haben sehr Recht, gnädige Frau, ich habe nichts gewußt,« murmelte der Armen-Kommissär noch verlegener. »Und was das Monatsgeld betrifft, so werde ich nochmals …«

Aber die Dame hatte bereits Oberwasser bekommen. »Sie wissen, ich gehe nur selten aus, Herr Stillberg, ich bin gar zu leidend. Aber zuweilen läßt sich's nicht vermeiden. Neulich noch ließ der Präsident mich rufen, er sprach sehr freundlich mit mir und erkundigte sich nach unseren Verhältnissen. Auch von der Armenpflege und von Ihnen war die Rede. Er meinte, es sei sehr Unrecht, daß Sie bei der Ordensverteilung diesmal noch übergangen wären, aber vielleicht ließe sich's vorläufig mit dem Titel als Kommerzienrat ausgleichen. Manteuffel müsse Ihre konservative Gesinnung kennen lernen und wissen, daß man sich auf Sie verlassen darf. Wie schade, daß ich nun nicht mehr Gelegenheit haben werde …«

»O!« Der Kommerzienrat in spe hatte den Hut wieder fort gesetzt. »Ängstigen Sie sich nicht unnötig, ich habe mich überzeugt, daß ich die Sache nochmals zum Vortrag bringen muß. Aber« – er schien etwas mißtrauisch durch die Namen geworden – »Sie haben schon mehrmals von meiner Ernennung zum Kommerzienrat gesprochen. Ich will nicht sagen, daß es nicht noch Verdientere giebt, als ich, aber ich gehöre nicht zu denen, die sich vordrängen! Ich weiß, was ich für den passiven Widerstand gewirkt habe. Ich habe schwere Opfer gebracht … man verschreit mich in meinem Viertel als Reaktionär. Sie haben schon öfter von Ihren vornehmen Bekanntschaften gesprochen, aber – nehmen Sie's nicht übel! – man scheint nichts von Ihnen wissen zu wollen, sonst wäre es den Herrschaften doch gewiß ein Leichtes gewesen, für Sie selber zu sorgen …«

Ein Schellen an der Außenthür unterbrach seine Rede. Hätte der Armen-Kommissär ein aufmerksames Ohr gehabt, so würde er eine eigentümliche Resonanz des Klingelns wie in einiger Entfernung im Innern des Hauses gehört haben.

»Mein Gott, wer kommt denn noch so spät,« sagte nicht ohne Zeichen von Verlegenheit die Witwe. »Wir empfangen so selten Besuch, Herr Stillberg, daß ich erstaunt bin …«

Das Mißtrauen des Armen-Beamten war trotz des angenehmen Köders von vorhin wieder stark erwacht, denn die Verlegenheit des Fräuleins Agnes war offenbar noch größer, als die ihrer würdigen Mama.

»Genieren Sie sich nicht, Frau Hauptmännin, vielleicht ein angenehmer Besuch, eine Ballbekanntschaft!«

»Was denken Sie, Herr Stillberg. Nimm das Licht, Agnes, und sieh, wer da ist!«

»Sie brauchen sich nicht zu bemühen, Fräulein,« sagte barsch der Armenpfleger, indem er ihr das an der Lampe angezündete Licht aus der Hand nahm. »Ich wollte ohnehin gehen, und das Leuchten geht dann in eins ab. Gute Nacht, Madame!«

Er hatte den Hut auf den Kopf gesetzt und öffnete ohne weiteres die Stubenthür, die durch eine kleine Küche zur baufälligen Treppe führte. Fräulein Agnes, die mit ihrer Mutter einen hastigen Blick wechselte, folgte ihm und machte draußen in der Küche wahrscheinlich eine beschwichtigende vertrauliche Bewegung, denn die Bullenbeißer-Physiognomie des wackern Armen-Vorstehers wurde noch grimmiger als vorher, und er riß ungestüm die Thür auf.

Aber sein Argwohn hatte ihn getäuscht.

Auf dem engen, finstern und schmutzigen Hausflur stand eine Frau, in einen weichen, eleganten Burnus gehüllt, den Schleier über den schwarzen Sammethut niedergelassen, Gestalt und Kleidung trotz der Einfachheit voll Zierlichkeit und aristokratischer Eleganz.

»Ist es erlaubt, bei Ihnen einen Augenblick einzutreten, meine liebe Agnes?« Ihre schmächtige, schmale Kinderhand, den feinen weißen Glacée von einem goldschweren Bracelet halb bedeckt, schlug den Schleier zurück.

»Mein Gott! Frau Gräfin, Sie sind es!«

»Wie Sie sehen! Ich kam in der Nähe vorüber und wollte mir das Vergnügen nicht versagen. Mein Wagen hält weiter hinauf an der Ecke. Aber bitte, lassen Sie uns eintreten, es ist so unangenehm und eng hier, Sie wohnen wirklich sehr bescheiden, mein liebes Kind.«

Fräulein Agnes warf dem unglücklichen Armenpfleger einen vernichtenden, triumphierenden Blick zu. Er hatte bereits den Hut sehr devot wieder in der Hand, und obschon er soeben noch gehen wollte, trat er doch, den Frauen leuchtend, rückwärts wieder in die eben verlassene Stube und setzte das Licht auf den Tisch.

Der erhobene Schleier der Dame zeigte ein feines, blasses Gesicht, dem unverkennbar der Stempel der Vornehmheit aufgedrückt war. Sie war noch jung, vielleicht noch nicht so alt wie das verschämte Armenfräulein, und es lag in dem schmalen wohlgeformten Oval, in dem feinen Profil der Stirn, der Nase und des kleinen Mundes etwas überaus Liebliches und Mildes, das der sanfte, traurige Blick des braunen Auges noch vermehrte.

»Bitte, liebe Freundin,« sagte die junge Frau, auf die Witwe zugehend, »bleiben Sie sitzen, ich weiß, Sie sind so leidend, und ich wollte bloß im Vorüberkommen mich einmal nach Ihnen erkundigen, da ich Sie so lange nicht gesehen. Sie sollten wirklich Fräulein Agnes öfter zu den Personen schicken, die es gut mit Ihnen meinen.«

»Ach, gnädigste Gräfin, der gute Gott weiß es, wie gern wir Ihr liebes Gesichtchen sehen, aber das arme Mädchen hat so viel zu thun, und ich bin so leidend. Entschuldigen Sie nur, daß sie Ihnen die Arbeit noch nicht gebracht hat.«

»Das ist mit eine Ursache meinest Besuches. Ich wollte – aber darf ich fragen, wer dieser Herr ist?« sagte die Dame offenbar geniert.

»O, ich hatte bereits die Ehre, Ihnen früher von ihm zu sagen. Es ist Herr Stillberg, ein wohlhabendes und geachtetes Mitglied der Stadtverwaltung …«

Der Armen-Kommissär machte eine Reverenz, welche die Dame mit kalter Höflichkeit erwiderte.

»Wir sind Herrn Stillberg recht vielen Dank schuldig,« fuhr die Witwe vornehm fort, »und werden es nicht vergessen, wenn er auch leider heut Abend uns schwer gekränkt hat. Aber ich hoffe, der liebe, gute Gott wird uns arme Frauen nicht verlassen, auch wenn der reiche Berliner Magistrat das kärgliche Almosen, das er uns reicht, uns entzieht, um davon vielleicht einigen demokratischen Stadträten die Gratifikation zu erhöhen.«

Der Armen-Kommissär hätte sich für sein Leben gern unsichtbar gemacht, so verwundert und gemessen sah ihn die vornehme Dame an.

»Wie?« sagte sie, »man könnte so herzlos sein?«

»Aber, gnädige Frau,« sprach der würdige Vorsteher, der alle Aussichten auf den Kommerzienrat in eine unabsehbare Ferne schwinden fühlte, wenn solche Meinungen über ihn sich erst in den hohen Kreisen verbreiteten, »ich versichere Sie, es ist ein reines Mißverständnis; ich bürge Ihnen dafür, daß davon nicht mehr die Rede ist.«

»Die Herren von Berlin,« sagte die junge Frau, »scheinen Mißverständnisse sehr zu lieben.«

»Sie wissen, beste Frau Hauptmännin, daß ich ganz unschuldig bin. Ich werde Ihr Gesuch …«

Die Witwe begann eifrig zu schluchzen. »Mein Gott,« weinte sie, »wenn es um das elende Geld wäre, wir wollten uns ja gern noch mehr einschränken und die kärglichste Kost genießen. Aber man nimmt zu so niederen Mitteln die Zuflucht, man verleumdet uns –«

Das feine, blasse Gesicht der Gräfin rötete sich stolz, das sonst so milde Auge begann zu funkeln. »Mein Herr, ich will nicht hoffen …«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« murmelte der Armenverweser, »verlassen Sie sich darauf, ein bloßer Irrtum, gnädige Frau, die Armen-Kommission wird nach wie vor ihre Pflicht thun, verlassen Sie sich darauf! Ich habe die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen!«

Damit schoß er zur Thür hinaus, durch die dunkle Küche und die Treppe hinunter, ohne abzuwarten, daß Fräulein Agnes ihm leuchtete.

Mutter und Tochter wechselten hinter dem Rücken der jungen Frau einen bezeichnenden Blick. Diese hatte auf einem Stuhl am Tisch Platz genommen. »Ein eigentümlicher Mann! Was wollte er eigentlich von Ihnen?«

Die Hauptmännin hielt es nicht für angemessen, ihrer vornehmen Protektorin nähere Mitteilung zu machen. »O, gnädigste Gräfin, die gewöhnlichen Chikanen und Plackereien, denen die Bedürftigen ausgesetzt sind; diese Herren Bürger lieben es, einem jedes vorzurechnen, was sie etwa thun!«

»Wir dürfen es nicht dulden, daß Sie von diesen herzlosen Menschen mißhandelt werden,« sagte teilnehmend die junge Frau. »Es wird sich eine Versorgung finden auf dem Lande. Fräulein Agnes wird eine Stelle als Gesellschafterin suchen, bis dahin biete ich ihr Aufnahme in meinem Hause.«

Der Vorschlag war weit gefährlicher zu parieren, als der Angriff des Armen-Kommissars, aber die Witwe war nicht die Person, die um Auskunftsmittel verlegen war. Die Thränen halfen wieder aus. »Ach, meine gnädigste Wohlthäterin,« schluchzte sie, und Fräulein Agnes stimmte in das Konzert ein, »das ist es eben, was jener Mann auch zur Bedingung der ferneren Wohlthaten machte, eine Trennung, eine Trennung von meinem einzigen Kinde! Ich überlebe sie nicht, sie ist meine Pflegerin, mein alles; die Religion und sie allein haben mich in meinen Leiden aufrecht erhalten!«

»Mama,« sagte das Fräulein pathetisch, »ich verlasse Sie nicht; ich will noch mehr arbeiten, als bisher!«

»O, meine gnädigste Gräfin,« schluchzte die Mama, »sollten meine teueren Beschützer grausamer sein, als diese Bürger? Ich weiß gewiß, wenn Sie das heilige Gefühl erst kennen werden, Mütter zu sein, Sie würden begreifen, was es heißt, sein Kind zu verlassen!«

Ein schmerzlicher Seufzer entrang sich dem Busen der jungen Frau, sie stützte die schöne Stirn auf die Hand, um die Thränen nicht sehen zu lassen, die ihr in die Augen traten. »Ja,« sagte sie leise, »ich begreife Ihre Gefühle, denn es muß köstlich sein, ein Kind lieben zu können. Reden wir nicht mehr von meinem Gedanken! Es werden sich andre Mittel finden. Ich werde mit meinem Gemahl darüber sprechen und ihn eines Besseren belehren. Denken Sie, daß er mich neulich, als ich von Ihrer traurigen Verlassenheit und schweren Existenz sprach, auslachte!«

Die Witwe wurde etwas dunkel im Gesicht, auch Fräulein Agnes errötete. »Die Männer sind so leichtsinnig,« sagte die erstere, »sie wissen nicht, was Leiden heißt!«

Wiederum schwellte ein leiser Seufzer den Busen der schönen, jungen, vornehmen Frau. »Wohl wahr! sie wissn nicht, was Leiden heißt! – Aber, ich kam, um Sie zu fragen, liebe Agnes, ob der Lampenteller, den Sie für mich die Güte haben wollten, zu sticken, fertig ist? Ich hielt Sie für krank, weil Sie ihn mir nicht brachten, und Sie wissen doch, es ist übermorgen der Tante Generalin Geburtstag.«

»O, gewiß! Ich hätte ihn morgen gebracht!«

»Meine Tochter war auch krank, sonst hätten die Frau Gräfin ihn längst.«

»Bitte, lassen Sie mich ihn sehen, die Arbeit ist so allerliebst, und Sie sind so geschickt.«

Fräulein Agnes war in Verlegenheit, aber die vorsorgende Mama rasch bei der Hand. »Nein, meine beste Gräfin, thun Sie das dem Kinde nicht an, es will sich den Eindruck nicht verderben; denn der Rand ist noch nicht darum gesetzt, morgen gegen Abend bringt sie ihn fix und fertig.«

Die junge Frau bestand nicht weiter darauf. Es schien ihr auch etwas anderes mehr am Herzen zu liegen, als die Stickerei; denn sie saß, das hübsche Köpfchen auf die Hand gestützt, längere Zeit in tiefem Nachdenken, während Mutter und Tochter erstaunte und ungeduldige Blicke wechselten.

»Wer bewohnt das Vorderhaus?« fragte sie endlich plötzlich, das Auge erhebend.

»Nur zwei Familien, Frau Gräfin, der Wirt und eine Dame.« Die Witwe war doch etwas überrascht von der Frage.

»Wie heißt sie?«

»Es soll eine verwitwete Justizrätin von Wengern sein; wir kennen sie nicht und bekümmern uns um die Nachbarschaft nicht.«

»So sind Sie nie in Berührung mit ihr gekommen?«

»Nicht, daß ich mich erinnerte, vielleicht, daß ich ihr ein- oder zweimal begegnet bin. Wir haben keinen Umgang mit einander.«

»Ist sie jung und hübsch? So viel sehen doch Frauen, auch bei einer einzigen Begegnung?«

Die Hauptmännin lachte, etwas gezwungen freilich, aber die schuldlose Natur der andern merkte es gewiß nicht. »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu denken, Frau Gräfin? Die Justizrätin hat mindestens ihre Sechzig!«

»So? – ich wußte das nicht!« Die Dame schien etwas überrascht von der Antwort. »Ich hörte, sie gäbe viele Gesellschaften!«

»Nicht, daß ich wüßte! Zuweilen wohl! Sie scheint ziemlich wohlhabend und manchmal einen kleinen Cirkel zu haben, wo man musiziert oder ein L'hombre macht. Ich kümmere mich, wie gesagt, nicht um die Nachbarschaft und dränge niemand die Gesellschaft einer armen Witwe und Waise auf. Die Leute reden so viel, was nicht wahr ist, und verleumden so gern. Müssen wir es uns doch selbst bei unserm stillen, ärmlichen Leben gefallen lassen. Aber das Bewußtsein, Frau Gräfin, das Bewußtsein! –«

»Sie haben Recht, liebe Freundin – die Menschen machen sich ein Vergnügen daraus, das Harmloseste zu verdächtigen und tropfenweis Gift in die Seele zu träufeln. Aber es thut doch weh, selbst wenn man weiß, daß nur Neid und Bosheit die Ursachen sind. Sagen Sie, wissen Sie vielleicht, ob mein Mann, Graf Alfred, zufällig auch die Dame kennt und ihre Cirkel besucht?«

»Aber wo denken Sie hin, gnädigste Gräfin!« sie lachte hell auf und Fräulein Agnes stimmte ein. »Ein junger, lebenslustiger, vornehmer Herr, wie der Herr Graf, wie käme er zu der Gesellschaft alter Frauen!«

»O –« sagte die Gräfin hastig und in den wenigen Worten lag die ganze Last ihres Busens und die Ursache, die sie hierher geführt – »es sollen auch junge in der Gesellschaft sein!«

»Ich weiß es nicht,« bemerkte die Witwe kalt, »vielleicht Töchter der Familien, mit denen Frau von Wengern bekannt ist, obschon sie, wie ich zufällig hörte, erst seit zwei Jahren in Berlin lebt, und die sie mit ihren Müttern besuchen. Es ist sonst ein sehr ruhiger, achtungswerter Haushalt, die alte Dame ist so wenig neugierig, wie ich, und spricht mit niemand im Hause. Wenn Sie es wünschen, will ich mich bei ihrer Köchin oder Haushälterin, auch einer alten, würdigen Person, erkundigen lassen, ob Ihr Herr Gemahl Frau von Wengern besucht?«

»Um Gotteswillen nicht! Ich bitte Sie, meine Beste, thun Sie das ja nicht!« bat die kleine Frau. »Es war auch nur zufällig, daß ich fragte, weil man mir neulich, ich weiß nicht mehr wer, erzählt hat, daß bei Frau von Wengern viele Herren aus der guten Gesellschaft verkehrten. Was wäre es auch weiter! Die Männer bewegen sich so viel in Gesellschaften, die wir nicht kennen, und mein Alfred ist so gut! – Aber ich plaudere hier und vergesse ganz meinen Zweck, um den ich doch eigentlich gekommen. Es ist neulich bei der Baronin von Kalkow eine kleine Lotterie veranstaltet worden für unbemittelte Witwen, und ich habe es übernommen. Ihnen Ihren Anteil zu bringen. Ich habe mir erlaubt, gleich das kleine Honorar für die schöne Stickerei unserer lieben Agnes beizulegen, ich … aber was ist das? Ein Kind …?«

In der That unterbrach das leise Weinen eines aufwachenden Kindes die Worte der jungen Frau. Das verschämte Armenfräulein horchte einen Augenblick hin, dann aber, als erkenne sie die Stimme, nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

Die Gräfin war befremdet aufgestanden, aber die Witwe kam jeder Frage zuvor. »Ach richtig, die Frau Gräfin wissen es noch nicht! Um mich doch auch, so viel es mein Zustand und meine Kränklichkeit erlauben, nützlich zu machen, habe ich zwei arme, verlassene Kinder in Pflege genommen. Es ist ein Werk Gottes, und ich habe die Kinder immer so gern gehabt.«

Die junge Frau war bereits an den Vorhang getreten, der eine Art Nische oder Ecke von der Stube schied. Sie drückte der Witwe die Hand. »O, das ist schön von Ihnen, ich beneide Sie fast darum; denn auch ich liebe die Kinder so sehr! Erlauben Sie?«

Sie schlug den Vorhang zurück und trat zu dem Bett, in dem die beiden Kinder lagen. Es war ein dürftiges, hartes Lager, das Bett der Witwe, wie sie sagte, während ihre Tochter in der Kammer schlief. Aber selbst auf diesem einfachen, den beiden Kindern gemeinsamen Lagern, herrschte ein Unterschied; denn das eine der Kinder war in weichere, feinere Kissen gebettet, als das andere. Und doch waren sie gleich lieblich und gleich arm auf die Welt gekommen, nackt und hilflos, Kinder der Liebe, der Sünde, der Sorgen!

Als der Lampenschein aus dem Zimmer auf das Bett fiel, ward das schreiende Kind ruhig und blickte mit den großen, blauen, unschuldigen Augen auf die Frauen; auch das zweite Kind erwachte und öffnete die Augen.

Es waren zwei allerliebste kleine Mädchen, beide etwa zehn bis elf Monate alt. Ihre Händchen streckten sich spielend aus der Decke, und die kleinen Gesichtchen verzogen sich halb zum Weinen, halb zum Lachen.

»Wie allerliebst! Bitte, liebe Agnes, lassen Sie das Licht etwas mehr hierher fallen, aber so, daß es den Kindern nicht wehe thut.« Die junge Frau kniete neben dem Bett und tätschelte mit den beiden Kleinen, die so viel Liebe zu Verstehen schienen, denn anstatt zu weinen, zogen sich die kleinen Mäulchen zum Lächeln.

Es war so viel Lust und Schmerz in dem Herzen der schönen, zarten Gestalt, als sie mit diesen Kindern spielte, selbst ein Kind, so viel sehnsüchtige Mutterlust, so viel trauernder Schmerz der Entsagung des tiefsten und reinsten Gefühls, das die Menschennatur kennt.

O, wie sie so gern mit Kindern spielte, wie sie so sehr sich ein Kind wünschte!

Ein Kind hätte sie entschädigt – für die getäuschten ersten Blüten des Herzens, für die Gegenwart und für die Zukunft.

Als die sanfte junge Frau noch jünger war, in Wahrheit ein halbes Kind, da liebte sie, eine schöne, glänzende Gestalt, einen Offizier, der vielleicht das erste Mal mit ihr getanzt, ihr einige Aufmerksamkeiten erwiesen hatte.

Aber der Mann hatte das jugendlich klopfende Herz nicht verstanden, vielleicht gar nicht beachtet. Das Leben des Genusses und der Leidenschaft trug ihn auf seinen Fittichen zu anderen Bahnen; er liebte vielleicht auch, aber anders, kein Idol, sondern reelle Wirklichkeit.

Bald trat sie zum Altar mit einem andern Manne.

Der Gemahl der jungen Gräfin war reich, schön, vornehm, wie sie, ein galanter Ehemann, ein heiterer Lebemann. Alle Welt rühmte das Glück des schönen, jungen, reichen Paares.

War sie glücklich?

Die Herzen der jungen Aristokratinnen sind früh geschult. Wo nicht Eitelkeit und das Füllhorn des Vergnügens sie abstumpft, da haben sie doch gelernt, sich den Verhältnissen zu fügen.

Nur zuweilen bricht eine überheiße Sturmglut empor und reißt die prächtigen, goldenen Schranken mit sich in die wogende See des Lebens und Liebens.

Das junge Mädchen, dessen knospendes Herz keine Beachtung gefunden, hatte sich dem stattlichen Gemahl angeschlossen, wie die Liane dem Stamm, der sie schützen soll für ein ganzes, langes oder kurzes Leben.

Die Gräfin sah den Gegenstand ihrer ersten jugendlichen Neigung oft, sie lebten und verkehrten ja in denselben Kreisen; aber ihr junges Herz schulte sich treu dem Gemahl an, sie fühlte so sehr das Bedürfnis, geliebt zu werden, die kleine, hübsche Frau.

Als er dann fiel, der Mann ihrer ersten Träume, wie er gelebt, ein Soldat, ein Edelmann, im Straßenkampf, von der meuchlerischen Kugel an jenem achtzehnten März! da weinte sie freilich viel, aber ganz im stillen. Sie weinte um ihn, weil er gestorben war und weil sie so gar nichts hatte, woran das arme, sehnsüchtige Herz sich klammern konnte.

Hätte sie ein Kind gehabt, wie glücklich wäre sie gewesen! Wie ging all ihr Sehnen nach so unschuldigen, treuen Augen, die strahlend in das Mutterauge blicken. Wie hätte sie all ihr Lieben und Denken, das nirgend ein Echo fand, nicht im kalten Grabe, nicht im fashionablen Dandyleben des Gemahls, auf solch kleines, liebes Wesen konzentrieren wollen, das ganz ihr eigen war.

Arme, junge Frauen, denen das Auge des Kindes fehlt!

Wie der Lampenschein so auf die beiden kleinen Mädchen fiel, das eine braun, das andere blond, sagte sie:

»Merkwürdig!«

Sie beugte sich zurück, um sie besser betrachten zu können. Ihr Herz war in ihren Augen.

»Welche Ähnlichkeit! o wie seltsam und doch wie allerliebst!«

Der Lampenschein vibrierte ein wenig an der Wand – vielleicht zitterte die Hand des verschämten Armen-Fräuleins, welche die Lampe hielt.

Aber es war gewiß nicht seltsam, es war ja so natürlich, daß sie die zwei Bilder, die sie immer in dem armen, kleinen Herzen hielt, auf alles übertrug, was ihr Freude und Sehnsucht machte.

»Sehen Sie einmal, liebe Agnes, ähnelt der kleine Engel hier mit den braunen, gelockten Härchen, den Sie so sorglich eingehüllt, nicht meinem Gemahl? – Und der andere …«

Ein Seufzer schwellte ihre Brust. »Aber Sie kennen ja meinen Mann kaum, ich glaube kaum, daß Sie ihn schon bei mir gesehen. Sagen Sie, liebe Hauptmännin ist es nicht so? Bitte, wem gehören die Kinder?«

»Ach, gnädige Gräfin, Sie wissen wohl – die armen, verlassenen Würmer! Dem Himmel sei es geklagt! aber die Welt ist gar so schlecht. Kinder der Sünde und des Leichtsinns!« flüsterte sie mit zarter Rücksicht auf die keuschen Gefühle der Unverheirateten.

»Aber – wessen Kind?«

»Das braune hier gehört einem Bankier, er muß es vor seiner Familie verbergen. Der Mensch hat sich so weit vergessen, sich mit seinem Dienstmädchen einzulassen. Er ist reich, aber bei alledem ein Knauser, wie diese Geldleute alle sind, und feilschte um jeden Thaler.«

»Ah! also Sie kennen ihn?« Die Frage klang ordentlich wie eine Erleichterung der Gedanken.

»Ja wohl! Eine Dame aus dem Verein für Haltekinder, der ich meinen Wunsch vertraut, hat ihn durch den Doktor zu mir gewiesen.«

»Und das andere Kind?«

Die Witwe hob die Augen gen Himmel. »O, schelten Sie mich nicht, gnädige Frau, aber die Armen haben so viel Mitleid! Es ist freilich unrecht, wo wir selbst so bedürftig sind, aber wer darf dem Ruf widerstehen, wenn der Heiland uns treibt, barmherzig zu sein!«

»So haben Sie es aus Mitleid ausgenommen? – das ist edel von Ihnen!«

»Wir wollen es in Ehrbarkeit und Gottesfurcht erziehen; es heißt eine Seele dem Himmel gerettet! Die Mutter ist eine jener verlorenen Personen, eine Schenkmamsell oder dergleichen, sie wohnte hier nebenan in einem Dachstübchen, und Agnes bat so lange, bis ich mich entschloß. Viele Personen haben es uns zwar sehr verübelt, aber – man hat doch auch ein Herz und Christenpflicht.«

Die Wange der jungen Frau war feucht von Thränen des Mitgefühls. »Thut der Vater denn nichts für das Kind? Es ist doch gar so hübsch.«

»Irgend ein Soldat, der davon gegangen oder im vorigen Jahre gefallen ist, wie man mir gesagt hat. Der Leichtsinn dieser Geschöpfe ist so groß!«

»Ein gefallener Soldat! Bitte, lassen Sie mich einen Augenblick die Kleine aufnehmen! Das arme Wesen ist ja so unglücklich! Sie sollten mir erlauben, Ihr schönes Werk der Barmherzigkeit mit Ihnen zu teilen!«

Das Wort »ein gefallener Soldat« hatte ihr Mitgefühl aufs neue erregt, und sie hob das Kind empor und sah ihm lange und zärtlich in das kleine, hübsche Gesicht, so daß sie selbst den Eintritt einer vierten Person überhörte, bis diese sich trotzig, trotz der erschrockenen Winke und Zurückweisungen der Witwe und ihrer Tochter, durch diese drängte und ihr an das Bett gegenüber trat.

»Wer erlaubt Ihnen, mein Kind zu nehmen? Geben Sie mir mein Kind!«

Unwillkürlich hatte die Gräfin, noch ehe sie zu der trotzigen Förderin emporsah, das unschuldige Wesen wie schützend an ihren Busen gedrückt, wobei es leise zu weinen begann.

Die Fremde, die vor ihr stand, war sicher eine auffallende, ihr ungewohnte Erscheinung. Es war eine große und üppig geformte Gestalt, die in der knappen, kleidsamen Tracht der Tiroler Bänkelsängerinnen, wie sie in vielen öffentlichen Lokalen Berlins auftreten, sich noch vorteilhafter hervorhob. Das Mieder war so tief ausgeschnitten, daß es die schöne Form der Büste zeigte, und in anständiger Gesellschaft Anstoß erregen mußte. Selbst der nachlässig umgeworfene Frauenmantel, halb von den hastigen Bewegungen herabgefallen, machte die Tracht kaum dezenter.

Das Antlitz der Geliebten des unglücklichen Ferdinand von Röbel – denn sie war es – hatte einen ganz anderen Ausdruck gewonnen, ein gewisser Trotz, ein entschlossenes Bewußtsein, das an die Grenze der Frechheit gestreift hätte, wenn es nicht durch einen gewissen Ernst gemildert worden wäre, lag auf dem schönen runden Gesicht, um den üppig aufgeworfenen Mund. Die blauen festen Augen entsprachen diesem ganzen Ausdruck und hatten sogar etwas drohendes, der frühere prächtige Haarschmuck der blonden Flechten umrahmte das Gesicht, aber er war achtlos, liederlich niedergedrückt von dem bebänderten Tirolerhut, der schief auf dem Kopf hing. Es war eine gewaltige Veränderung vorgegangen zwischen dem Mädchen, das der Groll des stolzen Aristokraten niederwarf an der Leiche ihres Geliebten, und dem, das jetzt kam, sein Kind zu sehen.

»Wie kommen Sie hier herein, Mamsell, was unterstehen Sie sich?«

Die Polkamamsell achtete kaum auf die Frage. Ihre hohe, kräftige Gestalt stand trotzig und unbewegt, ihre Hand faßte den Arm der jungen Gräfin.

»Was thun Sie mit meinem Kinde? Geben Sie mein Kind her!«

»Ah, es ist Ihr Kind! Verzeihen Sie, Mademoiselle, es ist so allerliebst, daß ich nicht widerstehen konnte. Sie sind sehr glücklich, ein solches Kind zu haben!«

Die junge Frau legte es sanft in die Arme der Mutter. Ihre Augen begegneten sich über dem Kinde, das sie beide suchten, die der Pseudo-Tirolerin verloren den wilden, trotzigen Ausdruck, gegenüber der offenen Herzensgüte und der stillen Trauer, die aus dem Blick der vornehmen Dame sprachen.

Sie bedeckte mit hundert Küssen das kleine Wesen und setzte sich auf den Rand des Bettes nieder, um mit ihm zu kosen.

»Werden Sie mir endlich Antwort geben, Mamsell,« sagte die Witwe ärgerlich. »Wie kommen Sie herein, und wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, abends hierher zu kommen? Das ist gegen die Abrede.«

»O, Madame, verzeihen Sie mir, ich hatte so unendliche Sehnsucht nach dem Kinde, eine seltsame Angst, als könnte ihm etwas geschehen, ließ mir keine Ruhe, ich hätte den Abend nicht in meinem Geschäft aushalten können, wenn ich es nicht zuvor gesehen. Ich nahm einen Augenblick wahr, um hierher zu laufen.«

»Aber die Thür war verschlossen!«

»Entschuldigen Sie, Madame, sie wär vielleicht durch Versehen offen geblieben, und so trat ich ein.«

Die Gräfin schlug sich ins Mittel. Sie hatte mit einer gewissen Scheu vor dem kecken Wesen und der zweideutigen Stellung der Eingedrungenen, aber auch nicht ohne Interesse dieselbe betrachtet; denn die energische Mutterliebe, die Zärtlichkeit für das Kind in dem Busen einer solchen Mutter, hatte ihr Herz und ihre Teilnahme gewonnen.

»Bitte, lassen Sie sie, mich stört es nicht. Ohnehin ist es die höchste Zeit, daß ich gehe, ich habe schon so lange verweilt, und meine Leute werden gar nicht wissen, wo ich geblieben bin. Leben Sie wohl, Frau Hauptmännin, und nehmen Sie die hübschen Kleinen recht in acht, beide, hören Sie? Sie wissen, ich habe jetzt auch Pflichten. Adieu, Agnes, ich erwarte Sie! Adieu, Madame!«

Die Polkamamsell erwiderte stumm den Gruß und verfolgte mit den Augen die Gräfin, welche die Witwe und ihre Tochter mit unzähligen Dankesbezeugungen über die große Ehre eines solchen Besuches und mit Entschuldigungen über die ausdringliche Störung begleiteten.

Noch unter der Thür sah die Gräfin nach ihr und dem Kinde zurück.

Mutter und Tochter kamen nach wenigen Augenblicken zurück, die Gräfin hatte ihnen durchaus nicht gestattet, ihr weiter als die gebrechliche Treppe hinab zu leuchten.

Jetzt fielen sie wie zwei erboste Katzen über die junge Mutter her, die noch immer, ihr Kind im Arm, sich nun mit diesem beschäftigte.

»Wie können Sie so unverschämt sein, hierher zu kommen, wenn Fremde da sind?«

»Und in diesem Aufzug! Sie haben uns kompromittiert!«

»Ich werde Ihnen den Balg zurückgeben, wenn das noch einmal passiert!«

»Eine solche Impertinenz! was die Gräfin denken muß!«

Sie ließ alles ruhig über sich ergehen, sie hatte nur Augen für ihr Kind.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, eine unüberwindliche Angst trieb mich hierher. O, nicht wahr, gnädige Frau, es ist meiner kleinen Ferdinandine doch nichts geschehen? es geht ihr gut!«

»Sie sehen es ja, aber nun gehen Sie und merken Sie sich, Sie dürfen nur des Sonnabends Nachmittag kommen, und in anständiger Kleidung, sonst sind wir geschieden.

»Einen Augenblick noch, es ist jetzt so süß und blickt mich so lieb an. Hier – ich habe einige Tücher mitgebracht und dies Jäckchen, das ich genäht. Das habe ich gestern zum Geschenk erhalten« – sie legte einen Thaler auf das Bett – »ich hoffe, es ist bald genug zu einem Bettchen.«

»Hoffentlich!« Der Thaler verschwand in der Tasche der Witwe, während ihre Tochter das Papier am Tisch öffnete, das die Gräfin zurückgelassen, und ungeduldig der Mutter Zeichen gab, die Lästige fortzuschaffen.

»Wer war die Dame, die so freundlich aussah?«

»Das geht Sie nichts an, solche Namen gehören nicht in die Kneipen und in den Mund von Personen, wie Sie. Aber nun gehen Sie und sorgen Sie, daß ihr Kind ordentlich ausstaffiert ist. Wenn Sie es in einer vornehmen Pension haben wollen, müssen Sie auch die nötigen Mittel herbeischaffen.«

Es zuckte wie ein ausbrechendes Gewitter über das trotzige Gesicht der jungen Mutter, aber sie unterdrückte die zornige Antwort mit einem Blick auf das Kind. »Ich werde alles aufbieten,« sagte sie ernst, »und ich denke, ich lasse es nicht fehlen. Wenn das Kind es nur gut hat, wenn es nur keinen Mangel leidet und ihm nur kein Leides geschieht, sonst …«

Ihr kaltes Auge flammte bei dem Gedanken.

»Sonst? – was denken Sie, Mamsell? Was soll das? Wagen Sie, um Ihres Sündenkindes willen einer anständigen christlichen Frau zu drohen zum Dank für all die Sorgfalt und Pflege?«

Die Polkamamsell sah sie finster an. »Es ist wahr, es ist ein Kind der Sünde! aber es giebt deren größerer Sünden! Verzeihen Sie, ich habe nur solche Angst um das Kind, es ist mein einziges, mein alles, und ich weiß ja, daß es hier bei Ihnen gut aufgehoben ist und keine Not leiden wird, wie bei jenen Frauen –« sie schauderte und preßte das Kind an die Brust bei dem Gedanken an das unglückliche Schicksal der Verlassenen bei den Weibern, die den bezeichnenden Namen der »Engelmacherinnen« führen.

»Aber nun gehen Sie, Sie können hier nicht länger bleiben. Die Kinder müssen ihre Ruhe haben, es thut nicht gut, wenn sie im Schlaf gestört werden.«

»Es ist wahr!«

Sie küßte noch einmal das Kind und legte es sorgfältig auf das Lager.

»Und vergessen Sie nicht, daß Sie den ersten Zahn noch schuldig sind. Es muß Ordnung sein in dergleichen.«

Sie nickte stumm, ihr Auge ruhte auf dem Kinde, als könne sie sich gar nicht losreißen von ihm.

Endlich ging sie. »Ich bitte Sie, halten Sie es nur recht lieb, ich werde ja alles gut machen, so viel ich kann!

Mutter und Tochter hielten es nicht der Mühe wert, ihr zu antworten oder sie zu begleiten. Sie achteten nur darauf, daß draußen die Thür der Küche gehörig ins Schloß fiel.

»Der gemeine, zudringliche Nickel! ich glaube sie stichelte mit den Kindern größerer Sünden!«

»Larifari! was weiß das Geschöpf. Was hat sie gegeben?«

»Wer?«

»Dumme Frage! Die Gräfin!«

»Drei Louisdors!«

»Nicht mehr? Das ist nicht wahr! Du hast gewiß wieder einen oder zwei unterschlagen. Zeig das Papier her, wie kannst Du Dich überhaupt unterstehen, es aufzumachen!

»Red' nicht so einfältig! es ist für meine Arbeit!«

»Für Deine Arbeit? Mach Dich nicht lächerlich! Wo ist das Papier?«

Die Tochter gab keine Antwort, sondern war bereits vor den Spiegel getreten und arrangierte in aller Eile ihr Haar.

Die Hauptmannswitwe aber hatte das Papier vom Boden aufgehoben. »Da siehst Du's, zwei Kniffe, in jedem zwei Friedrichsdors. Gieb das Geld augenblicklich heraus!«

Fräulein Agnes fuhr unbefangen in ihrer Beschäftigung fort. »Sie thäten besser, sich anzuziehen es ist schon spät.«

»Du willst das Geld wieder verthun! Wenn's noch mit Vorsicht geschehe, Du wirst uns aber einmal kompromittieren, daß alles ein Ende hat.«

»Bah! ich bin des Zwanges ohnehin müde. Ewig das Versteckspielen. Man kommt gar nicht dazu, sein Leben zu genießen!«

»Unsinnige – Du weißt nicht, was Du sprichst. Denkst Du nicht an das Kind dort?«

»Er mag dafür sorgen!«

»Er wird es bleiben lassen – die Männer sind nicht mehr so dumm; Du hast gehört, wie sie über uns reden. Es war ein tausend Glück, daß die kleine Gräfin dazu kam, das unschuldige Lamm, sonst hätte der Orden und der Kommerzienrat nicht einmal mehr bei dem Tölpel von Armen-Kommissär gezogen.«

Das Fräulein hatte das sehr einfache Hauskleid bereits abgeworfen, zeigte darunter einen sehr elegant gestickten Unterrock, und hob ihn empor, um Strümpfe und Schuhe zu wechseln.

»Ich sehe auch gar nicht ein, warum man ihn nicht einweiht,« meinte sie. »Er ist reich und hat längst ein Auge auf mich. Es wäre das Gescheiteste!«

»Unsinn! wie kannst Du nur daran denken, ihn in gute Gesellschaft zu bringen? Ein Plebejer, während wir nur mit Unsersgleichen umgehen. Du hast viel zu gemeine Ansichten, das kommt von dem Umgang bei Kroll und auf den Tanzsälen. Man muß nie vergessen, was man seiner Familie und seiner Geburt schuldig ist.«

Auch die Witwe hatte ihre Toilette begonnen und wusch und frisierte sich mit Macht.

Fräulein Agnes lachte hell auf. »Deine Familie, Deine Geburt, Mama? Ja, wenn der verstorbene Vater nicht geplaudert hätte!«

»Unverschämte! Das hat er im Trunk gethan, der Lump war immer besoffen! Meine Familie … Sie glühte im Gesicht vor Zorn und hatte drohend die Hand erhoben.

»Bah! Sie können schon an Ihren Manieren nicht verleugnen, daß Sie in Ihrer Jugend Apfelsinen verkauften! Doch das ist egal. Sie hatten Spekulationsgeist, und das ist heut zu Tage die Hauptsache, und man muß gestehen. Sie haben sich wirklich recht gut hinein gefunden und herausgebildet. Es laufen noch ganz andere Damen herum, die in ihrer Jugend mit den Hökerkörbchen saßen, Herr von Hardenberg hatte einmal Geschmack am Derben, und wenn Sie den Vater nicht so kujoniert hätten, könnten wir eine ganz respektable Rolle spielen. Nur müssen Sie mir nicht mit solchen Dingen kommen, das ist gut für die anderen!«

»Undankbares Kind!« Die Witwe weinte und schluchzte, fuhr aber dabei eifrig fort, ihren Anzug zu besorgen.

»Haben Sie sich nicht närrisch, Mama! Sie wissen ja, wie wir stehen! Wenn Sie nicht zu sehr die Herrin spielen wollten, kämen wir ganz gut aus. Sie wissen, ich lasse mir das nun einmal nicht mehr gefallen.«

Fräulein Agnes hatte die seidenen Strümpfe glücklich nach französischer Manier über die Knie befestigt, was ihrer Wade die volle runde Form erhielt, und setzte nun ihre Toilette weiter fort, die übrigens sehr merkwürdiger Natur war. Sie bestand nämlich einzig aus dem gestickten Unterrock und einem blousenartigen leichten Gewand, das sie aus der Kammer holte und das übergeworfen und durch eine leicht zu lösende Schnur um die Taille zusammengehalten wurde.

»Weißt Du, Mama« – die junge Dame war wieder guter Laune geworden – »bei dem Apfelsinenhandel fällt mir die Anekdote von Deiner frühern Kollegin, der Geheimen Rätin, mit den Slowaken ein. Es muß gar zu komisch gewesen sein, die sieben Burschen an dem Hause stehen und sehnsüchtig nach den Fenstern hinaufblicken zu sehen. Das kommt von den ausländischen Gelüsten!«

Sie lachte wie toll über die skandalöse Anekdote. Ihre Lustigkeit steckte selbst die Mutter an, die froh war, so wohlfeilen Kaufs von dem Streite loszukommen. »Du wirst die Kinder wieder aufwecken, Agnes, und dann haben wir das Geschrei wieder auf dem Halse.«

»Dann laß die Webern heraufkommen und die Kinder holen, es ist ohnehin die höchste Zeit, und ich wundere mich, daß die Charlotte noch nichts hat hören lassen.«

»Aber Kind, Du wirst doch zugeben müssen, daß es eine große Unvorsichtigkeit von Dir bei Kroll war. Und dann, Du mußt mehr Ordnung halten mit der Arbeit! Diese Vornehmen warten nun einmal nicht. Sag' mir um Himmelswillen, wie Du es mit der Stickerei der Gräfin machen willst?«

»Die arme Luise ist krank, ich war gestern bei ihr! Das Mädchen dauert mich in der That in ihrer kalten Dachstube! Ein Lager wie ein Hund und dazu die Schwindsucht; es war traurig anzuhören, wie sie hustete.«

»Aber die Stickerei?«

»Sie ist bald fertig, noch einen oder zwei Tage Geduld! die Gräfin muß warten, es wird sich irgend eine Ausrede finden!«

»Nichts da! die alberne Trine mag die Nacht durch arbeiten, dazu ist sie da! Die Gräfin darf nicht warten, sie ist unsere beste Kundin! Ich werde die Webern sogleich zu ihr schicken – ist der Lampenteller bis morgen früh nicht fertig, daß der Buchbinder ihn noch zum Abend machen kann, so kriegt sie keinen Pfennig mehr zu verdienen. Es laufen Hunderte herum, die es gern thun werden. Du verstehst nur nicht mit dem Volk umzugehen. Das Kranksein ist leerer Vorwand, sie wollen nur nichts thun!«

»Aber die Luise, Mama …«

»Papperlapapp! sie ist eben nichts besser wie die anderen und stirbt sie, so ist eben nichts dran verloren, eine Näherin mehr oder weniger auf der Welt ist ganz egal! Da fangen die Plagen schon den Lärm an …« Sie ging nach der Küchenthür, öffnete sie und rief: Frau Weber!«

»Ich komme!«

Gleich darauf trat die Frau des Schuhflickers mit dem finsteren verschlossenen Gesicht nach bescheidenem Klopfen ein.

»Nehmen Sie die Kinder mit hinunter, und gehen Sie dann zu der Luise, der Stickerin in der Linienstraße. Pochen Sie sie heraus, wenn die Faullenzerin schon schläft; ich ließe ihr sagen, wenn der Lampenteller morgen Vormittag bis 10 Uhr nicht fertig wäre, kriegte sie in ihrem Leben nichts mehr zu thun, die faule Schlumpe! Und die zwei Thaler, die sie voraus hat, wollte ich zur Stelle wieder haben!«

Frau Weber nickte stumm und packte die weinenden Kinder zusammen.

»Aber Mama,« – sagte die junge Dame mit einem Anflug von Gefühl – »wenn Frau Weber so weit geht, bleiben ja die Kinder allein!«

Die Mama zuckte die Achseln. »Sie werden sich nicht gleich tot schreien. Und für was ist denn ihr Mann da?«

»Ja, für was ist denn mein Mann da?« Der Ton, mit dem sie die Frage wiederholte, klang wie tiefer Hohn.

»Nehmen Sie sie fort, und bringen Sie sie morgen wieder. Hier sind fünf Groschen für Milch; den Rest behalten Sie. Sie wissen, wir sind für niemand mehr zu Hause heute Abend.«

»Ich weiß es!«

Sie ging, ohne viel Worte zu machen, mit den weinenden Kindern fort. Die würdige Hauptmannswitwe hielt nicht einmal für nötig, ihr zu leuchten. Als sie die Thür sorgfältig verschlossen hatte und zurück kam, wär Fräulein Agnes seltsamer Weise nicht mehr allein, obschon niemand durch die äußere Thür eingetreten war.

Ihre Gesellschafterin war eine Frau, etwa acht bis zehn Jahre älter, als die Witwe, groß und hager und mit einem eckigen Gesicht, in dem trotz der verschiedenen Bildung doch jene leichte Ähnlichkeit mit dem der Hauptmännin bemerkt werden konnte, die sich so häufig in den verschiedenartigsten Familiengesichtern findet, ohne daß man eigentlich sagen kann, worin sie besteht.

Der Witwe schien die Anwesenheit durchaus nicht befremdend. Sie sagte bloß: »Na – was giebt's? Sind schon welche da?«

»Freilich, schon seit einer halben Stunde. Die kleine Registratorfrau aus der Oranienburger Straße, und der Baron mit dem Zwickelbart. Die beiden Fräulein von Warbeck sind eben gekommen, und die kleine Emilie – es ist eine Schande, so ein Kind, sie kann kaum sechzehn Jahre sein!«

»Was geht's uns an!«

»Die Baronin ist auch da, sie hat sich mit dem großen Tölpel, der nie ein Trinkgeld gießt, in das grüne Kabinett eingeschlossen.«

»Sie muß bald nach Hause, ihr Alter ist so eifersüchtig. Ist der Champagner gekommen?«

»Vor zwei Stunden schon! Vierundzwanzig Flaschen!«

»Es ist gut! Du hast doch vier zurückgestellt?«

»Versteht sich! es stehen andere mit Wasser im Eis. Auch von dem Rotspohn hab' ich sechs beiseite gestellt!«

»Und die Austern?«

»Sie sind in der Küche! ich weiß nicht, wie Ihr das Zeug nur essen könnt – pfui Teufel!«

»Das verstehst Du nicht! Ist der Spieltisch arrangiert?«

»Na, ob! Aber es ist die höchste Zeit, daß Ihr anfangt. Die kleine liederliche Durchlaucht hat schon zweimal gefragt, wann der Spektakel eigentlich anginge. Ich kam bloß herüber, um zu sehen, was los wäre, daß Ihr nicht kämet, und muß auf meinen Posten. Der Leutnant mit der Schmarre im Gesicht – wie heißt er doch gleich? hat gesagt, es würden heute viele kommen!«

»Desto besser! Mach', daß Du fortkommst; Agnes kann mitgehen, sie ist fertig. Ich werde gleich da sein!«

Das Fräulein hatte sich noch einmal in dem Spiegel besehen und dann eine halbe Sammetmaske ohne Bart aus einer Schublade genommen, die sie zwischen ihrer blonden Frisur befestigte.

»Na komm, Herzchen! ich hoffe, Du wirst heute viel Vergnügen haben. Sei nur klug und wähle Dir den besten aus und eh' sie beim Spiel sind; nachher haben die Männer für nichts anderes Sinn mehr!«

»Unbesorgt, Tante Charlotte,« lachte frech das Fräulein. »Ich kenne sie zur Genüge durch die Bank. Aber nun komm!«

Die Haushälterin oder Köchin, was sie nach ihrem Anzug war, ging voran in die Kammer, man hörte die Thür eines Schrankes öffnen, dann eine andere, – das Fräulein und die Haushälterin waren aus der Wohnung der verschämten Armen verschwunden. Die Hauptmannswitwe beeilte ihre Vorbereitungen.


Es mochte etwa zwei Stunden später sein – in drei, in einer Linie belegenen Zimmern, von denen das mittlere sehr geräumig war und eine eigentümliche Ausstattung hatte, war eine mehr als lustige Gesellschaft versammelt.

Der Komfort des ersten Zimmers ließ nichts zu wünschen übrig. Dunkle Tapeten, schwere bauschige Vorhänge, die heruntergelassen mit den inneren Läden fast hermetisch die Fenster schlossen. Weiche Polstermöbel an den Wänden, üppige Bilder, an der Decke ein Kronleuchter, der mit mehreren Ampeln ein helles Licht verbreitete.

An einer Seite des Zimmers stand ein großes Buffett, darauf geöffnete und noch verschlossene Champagnerflaschen in Eis, Rotwein, geleerte Austerschalen und einige kalte Speisen und Leckereien.

In der Mitte stand ein großer ovaler Tisch, mit einer grünen Decke behangen, auf der Mitte dieser Decke befand sich, in bunter Seite gestickt, jene ominöse Zeichnung, die, vom Palast bis zur Kellerkneipe, immer wieder neue Gesellschaft um sich zieht und schon so unendliches Unglück gebracht hat, der Tempel.

Gold und Kassen-Anweisungen, darunter Visitenkarten mit Namen und Zahlen beschrieben, lagen in größeren und kleineren Haufen auf dem Tisch vor dem Bankier, der in der Mitte vor dem Tempel saß und eben die Karten mischte.

Es war ein großer, schmächtiger Mann, mit dunklem, rund um das Gesicht laufenden Bart. Die feurigen Augen waren mit halb spöttischem Ausdruck auf den ihm gegenüber sitzenden Spieler gerichtet.

»Nun, Graf, bist Du schon auf dem Trocknen? Du pointierst nicht mehr?«

»Er soll nicht mehr spielen! Komm in den Salon, Alfred, das ist weit gescheiter!«

Ein runder, nackter Frauenarm streckte sich über die Schulter des sitzenden Spielers, und die Hand legte sich auf die seine, die eben den König mit einer Anzahl Doppel-Louisdors besetzen wollte.

Dieser nackte Arm kam aus einem blauseidenen Domino, der blauseidene Domino hatte sich bei der Bewegung geöffnet und zeigte eine nackte, starke Frauenbrust. Der blauseidene Domino machte mit der kurzen sammetnen Halbmaske vor dem Gesicht, die ganze Bekleidung der weiblichen Gestalt aus, die sich über den Stuhl des Spielers lehnte.

Das seltsame, noch über das Feigenblatt der Eltermutter hinausgehende Kostüm, schien übrigens der Gesellschaft um den Spieltisch ganz und gar nicht aufzufallen, denn sie befand sich in keinem besseren Zustande, als der blaue Domino, nur daß einzelne auch noch die Maske abgelegt hatten.

Der Graf, der soeben am Fortspielen verhindert worden, trug einen braunen Männer-Domino, sein Vis-à-vis, der Bankhalter, einen schwarzen, eben so waren die zehn oder zwölf Männer kostümiert, die um den Spieltisch saßen oder standen, Champagner tranken, spielten, lachten und plauderten.

Noch zwei Frauen waren anwesend, die eine jung, eine reizend zierliche Figur in feuerrotem Domino, die andere am Schenktisch beschäftigt und mit zwei Herren plaudernd, eine große Figur, im grauen Seidenkleide, mit fliegender Haube auf dem Kopf; ihr schon die mittleren Jahre zeigendes Gesicht ohne Maske.

Merkwürdig! die Ähnlichkeit dieses knochigen Gesichts mit dem der verschämten Armenwitwe ging bis zur Täuschung.

»Der Kontretanz soll losgehen; komm, Alfred, sonst tanze ich mit dem dicken Weddern!«

»Kind, das muß ein Schauspiel für Götter sein, ich abonniere auf das Proscenium!«

Damit Sie wieder klatschen und schlechte Witze machen können,« sagte die Dame vom Buffett her ärgerlich. »Ihre Indiskretion ist Ihnen nicht geschenkt, mein Kleiner, denn wäre die Gräfin –«

»Still, Mama Justizrätin, Sie wissen, was ein- für allemal in diesem Bezug hier abgemacht ist. Über mich fallen Sie her, wie Sie wollen, Sie sehen, ich bin ohne Rüstung, ich ergebe mich auf Gnade und Ungnade und will's nicht wieder thun.«

»Wer nimmt die Bank, die Reihe ist um, ich bin engagiert!«

»Macht eine Pause!«

»Unsinn! man amüsiert sich hier besser als mit dem ewigen Umherschwingen! Zehn Friedrichsdor auf die Dame!«

»Ungalanter Mensch!«

Der kleine feuerfarbene Domino schlug dem Spiellustigen mit dem Fächer auf die Finger. »Seid Ihr Spielratten dazu hier? Allons! au bal!«

»Ich bin noch müde von der letzten Woche, habe mich zwei Tage krank melden müssen und auf dem Sofa gelegen!«

»Zittwitz läßt sich pensionieren!«

»Er ist fertig. Seht nur, er hat schon einen ganzen Paradeplatz auf seinem Scheitel!«

»Die kleine Tänzerin ruiniert ihn!«

»Bah! er kann nicht aufkommen gegen die Herren von der Raffinade. Fünfzigtausend Thaler Neugeld ist kein Spaß – sehen Sie sich vor, Durchlaucht!«

»Oh!« sagte ein blonder, junger Mann, »ich hoffe mit einer Einrichtung davon zu kommen!«

»Dann will ich Ihnen einen guten Rat geben, Durchlaucht! Bezahlen Sie um Gotteswillen nicht an die Schwiegermutter; denn Sie können sicher sein, am ersten Januar die Rechnung noch einmal vom Tapezier zu erhalten!«

»Es ist ein Satan! Wissen Sie, daß die Alte jedesmal die Schüsseln und Teller behält, wenn man ein kleines Souper hinschickt?«

»Die Geschichte mit den Leuchtern ist auch nicht schlecht!«

»Was ist damit? ich kenne sie nicht!«

»O! die Jungens sind so gut dressiert, wie die Mädchen. Der vierzehnjährige Bursche ist Hausfreund bei einer alten Rentiere unter den Linden. Er läßt sie Wechselchen und Schenkungen für seine Gefälligkeiten unterschreiben. Neulich hat sie für eine Schäferstunde ein paar silberne Armleuchter blechen müssen!«

»Anlage zum Halsabschneider!«

»Wißt Ihr, was dem kleinen Prinzen neulich begegnet ist, als er Vormittag etwas zeitig Besuch machte?«

»Nun? Er spricht ja mit großer Erbitterung von ihr!«

»Das Dienstmädchen war malitiös und öffnete ihm das Putzzimmer. Ein lautes Gekreisch: mitten in der Stube saß das Fräulein Tochter auf jenem unnennbaren Gerät, das gewöhnlich im Nachttisch seinen Platz hat!«

Ein schallendes Gelächter um den Tisch.

»Ich hätte die Situation sehen mögen! Ob sie wohl sitzen geblieben ist?«

»Eine neue Art, die Liebe zu kurieren! Die Dreieck versteht's besser, sie empfängt ihre Morgenbesuche auf einem Eimer Eis sitzend, im Pudermantel sehr ungeniert!«

»Ist es wahr, daß der Baron mit ihr gebrochen?«

»Mensch, kommst Du aus den Urwäldern von Amerika, daß Du es nicht weißt? Die Pariser Reiterin Paul hat's ihm angethan! Auf Taille! Das ist zu stark! Wieder verloren auf Coeur! Doublee!«

»Der arme Prinz! Sie wird ihn ausziehen l«

»Was thut's? er wird einmal ein reicher Erbe.«

»Hat jemand diesen skandalösen Aufzug heute Mittag mit angesehen? Die Frankfurter Canaille machte sich breit, als ob ihr Berlin gehörte; und diese Canaille schrie Hurra! Ich hatte meinen Burschen hingeschickt, um zu pfeifen, natürlich in Civil! aber ein langer Schlingel hat ihm den Hut über den Kopf geschlagen!«

»Keine Politik hier, Du weißt, es ist gegen die Statuten!«

Der eine Spieler am Tisch, an dem während der Unterhaltung ungestört das Spiel fortgegangen war, sprang auf und warf seine mit Nadeln durchstochene Karte auf den Tisch.

»Auf Wort! ich bin blank!«

»Die dreihundert Louisdors, die Du verloren, gegen Deinen Percival!«

Der Spieler bedachte sich einen Augenblick. »Ich habe für das zweite Handicap gemeldet.«

»Gut! ich übernehme es! Gewinnt er, halb Part!

»Vorwärts!« Das Pferd hatte Ruf unter den Sportsmen, sie sammelten sich um den Tisch und jeder sprach von den glänzenden Eigenschaften des Tieres.

»Er ist ein Teufel! Ich war zugegen, wie er das letzte Mal den zehnfüßigen Graben im Fluge nahm.«

»Er hat ›Puce‹ geschlagen und den ›Obotrit‹ um eine Kopflänge. Der Satan weiß sich zurückzuhalten bis zu den letzten Biegungen, dann schießt er vor.«

»Hat er Kondition für diesen Boden? Ich gebe fünfzig mehr, wenn Sie ihn verkaufen wollen, Baron!«

Die Antwort war nicht nötig, eben fiel die Karte – Treff Sieben. Der Renner war verloren!

Einen leisen Fluch konnte der Besitzer nicht unterdrücken. »Mein Alter wird wütend sein! Ich muß das Pferd wieder haben, um jeden Preis!« Er war aufgestanden und stürzte ein Glas Champagner hinunter.

Dann wandte er sich zu der Dame in der grauen Seide, die vom Büffett aus dem Spiel zusah und es keineswegs daran fehlen ließ, sich selbst mit dem besten, was da war, zu bedienen.

»Ich bin ausgebeutelt, Justizrätin, auf Ehre, ganz ausgebeutelt! Aber ich muß meine Revanche haben. Können Sie mir hundert Friedrichsdor leihen?«

»Ich? hundert Friedrichsdor? Wie kommen Sie mir vor! Sie machen Ihren Spaß, Baron!«

» Par Dieu! es wäre nicht so merkwürdig! Ich pariere noch hundert, daß Sie mehr in Ihrer Schatulle haben. Ich dächte, wir lassen Geld genug bei Ihnen!«

Sie hob beide Hände in die Höhe. »Sie Ungeheuer! Wollen Sie mich verleumden? Glauben Sie, daß Ihr Vergnügen nichts kostet? Wenn's nicht der noblen Passion halber wäre, von meiner Arbeit muß ich noch zugeben!«

Der Spieler lachte hell auf. »Genug, genug! Ich weiß schon, der Teufel wird eher eine Seele, als Sie einen Louisdor herausgeben, den Sie in den Fingern haben! Sie sind zäh wie Leder! Ich hoffe doch, daß Schmul zu Hause ist!«

»Gewiß! An solchen Abenden fehlt er nicht!«

»Das glaube ich, weil dreihundert Prozent zu verdienen sind! Lassen Sie die Canaille heraufkommen!«

»Ich will's der Rebecca sagen. Aber warum wollen Sie nicht lieber hinunter gehen?«

»In seine Höhle? in diesem Aufzug? Lassen Sie das Geld holen! à propos – die Kleine ist allerliebst! Sie weiß um unsere Amusements und doch thut sie so spröde.«

Die Justizrätin lachte. »Das ist nichts für Sie, Barönchen! Der Jude hält reines Haus und will sein Vergnügen für sich. Wie viel soll ich ihm sagen lassen?

»Sagen Sie hundertzwanzig – auf zwei Monat!«

»Da geh' ich nicht erst hinunter. Sie wissen aus Erfahrung, er thut's grundsätzlich nur auf vier Wochen und nicht unter der Hälfte!«

»Der Spitzbube – richtige sechshundert Prozent! aber was hilft's! Holen Sie das Geld!«

»Einen Augenblick – warten Sie, Justizrätin!« Ein grauer Domino, der eben mit einer gleichen, in Schwarz gehüllten Gestalt eingetreten war und die Geldforderung gehört hatte, hielt sie auf.

»Was giebt's?« fragte sie ärgerlich. »Ach, Sie sind's, Herr von Röbel. Haben Sie etwa ein Californien entdeckt?«

»Sie brauchen nicht nach Schmul zu schicken, Baron,« sagte der Eingetretene, ohne auf die Einrede der Dame zu achten. »Hier ist ein Freund, der sich ein Vergnügen daraus macht, Ihnen zu dienen!«

»Aber ich kenne den Herrn nicht.«

Der Leutnant flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Dann wandte er sich ebenso an den Mitgekommenen. »Es ist der Sohn des Ministers …« sagte er leise. »Sie können Ihr Geld nicht besser anwenden, der Alte hat das Ohr der Majestät!«

Der Herr in Schwarz, eine etwas korpulente, schwerfällige Figur, nahm ein Portefeuille aus der Tasche seines Dominos und holte fünf Hundertthalerscheine heraus.

»Wird das genügen?«

»Vollkommen, Sie sollen sofort den Wechsel erhalten!«

»Ihr Ehrenwort genügt.«

»Aber ich habe doch auch ein Wort drein zu reden,« sprach die Justizrätin, erbost, daß ihr die Prozente beim Juden durch die Finger geschlüpft. »Wen haben Sie da mitgebracht, junger Herr? Ich kenne den Herrn nicht!«

»Paragraph zehn der Statuten,« lachte der Leutnant. »Fremde, verbürgt durch zwei Mitglieder …«

»Aber Sie sind bloß eins!«

»Und der Baron?«

»Schlaukopf! Das ist ein teurer Spaß. Na, was geht's mich an. Ist er gut?«

»Famos! Er wird Stammgast!«

»Und verschwiegen?«

»Wie eine Kirchenmauer! Pscht! Seien Sie hübsch artig, es ist ein goldener Vogel!«

Die Justizrätin knixte. »Befehlen die Herren Champagner?«

»Geben Sie her, der Witz bei der Wohlbrück hat mir die Kehle trocken gemacht. Darf ich erzählen, Rätchen?«

Sein Begleiter nickte. »Morgen weiß es doch die ganze Stadt. Der Spaß ist ein für allemal zu Ende!«

»Was giebt's? Röbel, was ist geschehen?«

Das Spiel hörte einen Augenblick auf. Das Champagnerglas in der Hand, erzählte der junge Offizier das Abenteuer.

»Süperb! Auf Parole, ich hätte dabei sein mögen!«

»Waren die Mädchen hübsch?«

»Schade, daß man das nicht gewußt. Diese Bourgeoisie hat wirklich manchmal gute Einfälle!«

Durch die Portiere des Salons streckte sich ein hübscher Frauenkopf. »Meine Herren, zum letztenmal, der Contre geht an! Sieh da, Fritz, engagieren Sie geschwind eine Dame. Pfui, wer wird so faul sein!«

Der junge Offizier hatte seinen Begleiter am Arm gefaßt und zog ihn zur Portiere, die er ein wenig lüftete.

»Aufgepaßt! der Hexensabbath geht los. Werden Sie nicht schamrot, Freundchen, denn Sie werden etwas zu sehen bekommen. Bleiben Sie hier stehen, das Zusehen ist zwar verboten, aber man wird Sie nicht bemerken, wenn Sie nicht etwa Lust bekommen, mit zu tanzen.«

Dann war er mitten im Sabbath!

Und ein Hexensabbath war's in der That! Die obscönen Tänze des heidnischen Blocksbergs schienen erneuert, die priapischen Feste wieder auferstanden, Messaline den Scepter zu schwingen.

Der Salon, ein großes dreifenstriges Zimmer, war nur matt erhellt. Es war, als wenn das gedämpfte Licht der vier Ampeln, aus denen die Krone bestand, der Scene sich schämte, die es beleuchten mußte.

Eine dunkle Tapete ließ das Gemach kleiner erscheinen, als es wirklich war. Die Fenster waren, wie in der Spielhölle, dicht geschlossen, das ganze Mobiliar bestand aus einem Fortepiano in der einen Ecke, vor dem in diesem Augenblicke eine Dame in jenem evaitischen Maskenkostüm saß, das wir vorhin angedeutet, und die ersten Takte eines Contretanzes spielte. Rings um die Wände lief dagegen, etwa zwei Fuß hoch von dem parkettierten Fußboden, ein breiter türkischer Diwan, aus lockeren Kissen aller Art bestehend, so daß man bequem sich darauf setzen und noch bequemer liegen und sich strecken konnte. In den drei anderen Ecken, wie um Harmonie mit dem Klavier zu geben, standen drei niedere Bergèren oder Chaiselongues, von jener eigentümlichen Form, die ein junger Herzog ausdrücklich seinem Berliner Tapezierer vorgeschrieben und welche die Damen des Schauspiels so reizend und so bequem gefunden.

Über den Diwans an den Wänden, ihr einziger Schmuck, hingen breite Spiegel in starkem Winkel.

» En avant deux!«

Es waren zwölf oder fünfzehn Paare, die tanzten; die Feder scheut sich weiteres zu schreiben, als die Andeutung des Kostüms, die sie vorhin gegeben.

»Vorwärts schöne Damen!« Die Töne des Klaviers trillerten die Passagen.

» Dos-à-Dos!«

»Wie schade, daß man die Augen nur vorn hat, aber ich werde mich entschädigen!«

» Balancez!«

Und mit der Grazie und Tournüre, die sie auf einem Hofball hätten entwickeln können, balancierte die Damenreihe, die Seiten des Dominos mit den zierlichen rosigen Fingerspitzen gelüftet, und die Kavaliere chassierten mit der Nonchalance, die man in der Modewelt Tanzen nennt.

Wieder wechselte die Tour, die zierlichen koketten Passagen, so echt französisch, leichtsinnig und graziös, riefen die Tänzer.

» Les Dames en avant!«

»Bravo! köstlich!« die seidenen Dominos rauschten in den graziösen schamlosen Pirouetten.

» En avant Messieurs!«

Der Cancan des Château rouge war züchtig gegen diese tollen Grimassen; höchstens der letzte taumelnde Tag des Fasching vor den Barrieren hätte es ohne Kostüm gewagt, hätte sich mit ihnen in die Schranken stellen können.

Und das sollte die Jugend sein, bereit, auf den Schlachtfeldern des Vaterlandes mutig zu sterben, glänzend in den Sälen der Fürsten, Namen, die mit leuchtender Schrift in den Büchern der Geschichte verzeichnet sind – die Jugend, die zum Teil ihre Hand bereits in den wichtigsten Fragen und Verhandlungen der Staaten und Völker hatte?!

» Grande promenade!«

In den stürmischen Wirbel des Galopp löste sich die höllische Chaine – durcheinander – über einander hinweg – die fliegenden Dominos – die gelockerten Masken – taumelnd – lachend, schreiend – dazwischen die rasende Galoppade-Melodie – schallendes Gelächter – keuchende Busen, Brust an Brust – in wahnsinniger Lust flammende Augen – Stöhnen der Erschöpfung – ein Höllenwirbel, bis sie auf die breiten, schwellenden Diwans stürzten, Paar um Paar, in wilder Umschlingung, zum Keuchen erschöpft oder jede Fiber erregt, alles um sich her vergessend – und dazu das ausgelassene, tolle Gelächter der hübschen jungen Frau am Klavier, wie ihre Finger, während das Köpfchen sich rückwärts bog und den langen, verzehrenden Kuß des jungen Offiziers sog, den Sturmmarsch wirbelten.

Die Portiere fiel! Der Kommissionsrat rieb sich lachend die Hände. »Es ist stark! Ganz jeunesse dorée! Der Henker halte das aus!«

Er trat an den Spieltisch und besetzte die Dame.


Die Fortsetzung und zweite Abteilung des Romans Villafranca trägt den Titel »Zehn Jahre.«

 

Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.

 


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