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Der Abend des Mittwoch war ohne bedeutendere Ereignisse vorübergegangen. Der Widerstandsausschuß, der fortwährend seine Quartiere wechselte, um von den Gegnern nicht überrascht zu werden, fuhr fort in dem Versuch, die Truppen durch unbedeutende Demonstrationen zu ermüden; auf den Boulevards schrie die Menge: » Vive la Republique!« und » à bas les Ratapoils!« und ließ sich langsam von dem Militär vertreiben; auf dem Boulevard St. Martin trug man die Leichen zweier auf den Barrikaden Gefallenen mit großem Geschrei umher, aber die Truppen zerstreuten die Leute sehr rasch; um Mitternacht rückten starke Militärmassen auf die Boulevards, vor das Café de Paris, das Café Tortoni und das Maison dorée, die Hauptsammelplätze des eleganten Paris bei Nacht; die Cafés wurden geräumt, und alle Personen von den Hauptstraßen fortgewiesen.
Um diese Zeit war alles ruhig; die Stille der Nacht, die mit leichtem Regen verging, nur hin und wieder durch ein Kavallerie- oder Linienregiment unterbrochen, das vorüberzog, um andere Truppen abzulösen, denn nur ein Teil von ihnen biwackierte vor dem Palast der Nationalversammlung, vor dem Stadthause und auf den Boulevards. Die andern waren in ihre Kasernen zurückgezogen.
Um ein Uhr begann die Stille der Nacht auf unheimliche Weise unterbrochen zu werden.
Haufen dunkler, schweigender Gestalten sah man aus den Gassen des Temple aufbrechen, und sich nach verschiedenen Stellen der Stadt begeben.
Es waren wilde verwegene Gestalten darunter, jene Meute der Verbrechen und der Gefahr, die sich für gewöhnlich in einer großen Stadt dem Auge des Bürgers und der Behörde entzieht und nur zum Vorschein kommt, wenn etwa der Aufstand seine Woge schlägt, wenn ein Kopf auf dem Schafott fällt, oder der rote Schein der Flamme die Gelegenheit zu Unheil und Plünderung verkündet.
Diese dunkle Haufen verteilten sich auf das große Trapez zwischen den Markthallen, der Straße Rambuteau, der Temple-Straße, den Boulevards und der Straße Montmartre, auf jenes Centrum von Paris, das durch hundert kleine winklige Gassen durchkreuzt wird.
In diesem Trapez begannen sie mit einer merkwürdigen Übereinstimmung Barrikaden zu bauen.
Die Punkte, an denen diese errichtet wurden, schienen vorher bestimmt. Sie schoben ihre Vorposten südlich bis an die Quais, im Norden bis an die Vorstadt St. Martin. Alle diese Barrikaden waren ziemlich leicht konstruiert von Rinnsteinbohlen, Fensterläden, Pflastersteinen, umgeworfenen Wagen und ähnlichen Gegenständen.
Nirgends während der Nacht wurde der Bau der Barrikaden durch einen Angriff des Militärs gehindert, obschon alle zehn Minuten neue Berichte über das Fortschreiten dieser Festung in dem Hotel der Rue Jerusalem, dem Sitz des Polizei-Präfekten, einliefen.
Um 4 Uhr morgens berichtete Herr Maupas an den Minister des Innern Morny durch den elektrischen Telegraphen, daß das Netz der Barrikaden bereits den ganzen Stadtteil des Temple umfasse und die Gefahr immer größer werde, und frug, was zu thun sei.
Der Bescheid lautete: Legen Sie sich schlafen!
Am Morgen, als Paris erwachte – Paris erwacht nicht vor 8 Uhr, mit Ausnahme der Kärrner, der Wasserträger und der Milchhändler – war der ganze oben bezeichnete Teil der Stadt mit Barrikaden bedeckt, mehr oder weniger gut konstruiert.
Jetzt, nachdem er während der Nacht so unerwarteten Beistand gefunden, bemächtigte sich der Widerstands-Ausschuß der Organisation des Kampfes. Der Vicomte de Flotte übernahm die Leitung und setzte das Quartier latin in Bewegung; Agenten eilten durch alle Arrondissements der Stadt und selbst in die Banlieu; die Zahl der Barrikaden wuchs, der Aufstand begann gefährlichere Dimensionen anzunehmen.
Ihrerseits begannen die Polizei und das Ministerium ihre Thätigkeit in den Morgenstunden mit dem Anschlag von Plakaten.
Eine Proklamation des Präsidenten hob jenes Dekret, das eigentlich bei der Masse die erste Mißstimmung gegen den Staatsstreich hervorgerufen: die Bestimmung, daß bei den Wahlen jeder Wähler den Wahlzettel mit seinem Namen unterzeichnen solle, auf und stellte das geheime Skrutinium wieder her.
Der Streich war geschickt; er war eben nur der schlau berechnete Köder, der beweisen sollte, daß das Elysee bereit sei, sich dem Volkswillen zu fügen.
Eine Proklamation des Kriegsministers erklärte das Kriegsgericht permanent, und teilte mit, daß jeder, der Widerstand leiste oder mit den Waffen in der Hand betroffen würde, erschossen werden solle.
Eine Bekanntmachung des Polizei-Präfekten ging noch weiter, die blutige Tragödie des Tages vorbereitend: sie verbot alles Zusammenstehen von Menschengruppen und drohte, daß auf solche Ansammlungen ohne vorherige Warnung geschossen werden würde.
Das Publikum lachte über die letzte Verfügung; sie war so unerhört, daß niemand an ihre Ausführung glaubte.
Um 8 Uhr begannen dichte Truppenmassen die Boulevards zu besetzen; Reiter, Infanterie, darunter die Jäger von Vincennes, und Artillerie.
Von der Madeleine bis zur Vorstadt Poissonnière, also die Boulevards Poissonnière, Montmartre, des Italiens, war die Linie der Boulevards, diese Pulsader des Pariser Lebens und Verkehrs, frei und wurde unbehindert von den Truppen besetzt. Von dem Theater du Gymnase bis jenem der Pforte St. Martin war sie von der Empörung verbarrikadiert, ebenso die Straße Bondy, Meslay, de la Lune und alle anderen Straßen, die um die beiden Thore St. Denis und St. Martin liegen, oder dahin auslaufen. Oberhalb der Pforte St. Martin wurde der Boulevard wieder frei bis zur Bastille mit Ausnahme einer Barrikade, die auf der Höhe des Château-d'eau errichtet wurde. Zwischen der Pforte St. Denis und der Pforte St. Martin war die Fahrstraße des Boulevard in kurzen Zwischenräumen von sieben oder acht Barrikaden durchschnitten, die Pforte St. Denis in einem Viereck von vier Barrikaden eingeschlossen. Da hier der Macadamisierung wegen die Pflastersteine fehlten, war man in eine Messagerie gebrochen und hatte die Omnibusse und Möbelwagen herausgeholt und umgestürzt, ebenso die Bänke der Boulevards, die Steinplatten der Treppe und das eiserne Geländer der Trottoirs dazu benutzt; die Lücke auf der Seite der Mazagranstraße füllte ein Tollkopf, ein junger wohlgekleideter Mann, Armand Lachapelle, wie er sich selbst später gegen seinen Genossen rühmte, indem er auf das Gerüst vor einem neuen Hause stieg und ganz allein alle Stricke desselben losschnitt – unter dem Beifallsklatschen aus den benachbarten Fenstern. Einen Augenblick danach stürzte das ganze Gerüst, wie aus einem Stücke mit Krachen zusammen und vervollständigte die Barrikade.
Während so die große Barrikade vollendet wurde, drang eine Anzahl von Personen in das Gymnase-Theater und holte aus der Requisitenkammer die alten Flinten, eine Trommel und eine rote Fahne. Mit der Trommel schlug man Generalmarsch, die Fahne wurde auf der Barrikade aufgesteckt.
Wie bereits bemerkt, hatten die Truppen den freien Teil der Boulevards besetzt. Anfangs blieb die Passage in der Mitte des Straßendamms frei, und die Truppen bildeten Chaine an beiden Seiten des Dammes und an jedem Übergang; gegen Mittag aber durfte das Fuhrwerk nicht mehr passieren. Für die Fußgänger war die Cirkulation unbehindert, und dichte Menschenhaufen füllten die Trottoirs, auf- und niederwogend, während alle Fenster und die Balkons der Cafés mit Neugierigen besetzt waren.
An dem Balkonfenster des Café Tortoni saß seit drei Tagen der Viscount von Heresford mit seinem Gast, dem Kapitän Peard. Er wartete von morgens 10 Uhr bis zur Stunde des Diners in Geduld, daß Herr Bonaparte, wie er sich ausdrückte, seine Herausforderung erfüllen würde.
An diesem Vormittag hatte sich der Graf von Montboisier zu ihnen gesellt.
Die drei saßen um eines der runden Tischchen des Cafés und schlürften plaudernd ihre Schokolade. Von Zeit zu Zeit erschien der Kammerdiener des Lords, der im Erdgeschoß wartete, und überreichte seinem Herrn auf einem silbernen Teller ein Papier, einen oft mehr oder minder schmutzigen Zettel, mit den Berichten der Agenten des Lords aus allen Teilen der Stadt.
Der Viscount las sie und warf sie zerrissen auf die Straße oder steckte eine Cigarre damit an. Alle Balkonfenster der Cafés waren natürlich, trotz der unangenehmen Witterung, weit geöffnet.
Eben hatte der Lord einen solchen Zettel empfangen.
» By Jove,« sagte er, indem er ihn zu einem Fidibus zusammendrehte, »es scheint, daß man beginnt, Herrn Bonaparte warm zu machen. Sehen Sie, die croques morts Die Träger der Verwundeten bei der Ambulance. und die Tragbahren mit den blauen Zetteln, die vom Boulevard Montmartre herkommen, vermehren sich, und der Kanonendonner wird stärker. Was zum Teufel schlägt die Polizei da wieder an, das die guten Pariser mit Lachen beantworten? Gehen Sie, Master Brown, und sehen Sie nach.«
Der Kammerdiener, ein großer starker Mann mit rotem Gesicht und englischem Backenbart, in feinster Toilette, der einige Augenblicke auf die Befehle seines Gebieters gewartet hatte, entfernte sich.
»Die Mairie des fünften Arrondissements,« fuhr der Lord fort, »ist soeben von den Republikanern genommen worden. Es scheint, daß das Pantheon nochmals seine Bestimmung wechseln wird. Man hat die Nationalgarde des Quartiers ihrer Gewehre und Patronen beraubt, die Gewehrläden sind geplündert worden, und es fehlt den Republikanern nicht an Waffen. Die Kommandanten der Barrikaden fragen nur: Seid Ihr ein guter Schütze? Wer ›ja‹ antwortet, bekommt sofort die Anweisung auf ein Gewehr; die andern nehmen Lanze und Säbel.«
»Aber das Kanonenfeuer? Man hört aus dem Knall, daß es Kartätschen sind!«
»Man schlägt sich an der Kirche St. Eustache und an den Markthallen. Magnan ist soeben dort angekommen!«
»Warum gehen wir nicht dahin, Mylord?« fragte Master Peard, indem er die gelben Glacés musterte, in die seine Hände eingezwängt waren. »Es muß viele pikante Scenen da geben.«
»Ich glaube, Kapitän, Herr Bonaparte bereitet uns hier eine Überraschung.«
»Wie so?«
»Haben Sie seit zwei Stunden die Soldaten da unten beobachtet?«
»Nein! Warum sollte ich meine Zeit verschwenden?! Es sind Bursche wie alle Soldaten!«
»Wenn Sie ein wenig aufgepaßt hätten, statt sich mit Ihren Nägeln und Ihren Handschuhen zu beschäftigen, würden Sie merkwürdige Dinge gesehen haben,« sagte kalt der Viscount.
»Was haben Sie bemerkt, Mylord?« frug der Graf. »Ich gestehe, daß ich seit der halben Stunde, die ich in Ihrer Gesellschaft bin, mich mehr mit dem Publikum als mit dem Militär beschäftigt habe.«
Der Viscount wies ruhig durch das Fenster: »Was sehen Sie dort?«
»Ein Weinfaß und eine hübsche Cantinière.« Marketenderin.
» Yes. Aber der Wein wird gratis ausgeschenkt und die Liqueurs dazu. Alle hundert Schritt steht eine Marketenderin, und die Weinfässer sind bereits zweimal durch frische ersetzt worden.«
»Die Soldaten können unmöglich das Wetter und die Strapazen aushalten, wenn sie nicht eine Erfrischung erhalten.«
»Ja, aber sie sind betrunken, man hat sie betrunken gemacht! Hören Sie!«
In der That ereignete sich eben vor dem Café eine jener Scenen, welche das was kommen sollte, dem kundigen Auge verraten konnten.
Um das Weinfaß einer jungen Cantinière hatte sich eine Gruppe von Vincenner Jägern gesammelt und zechte und lachte. Die Offiziere thaten, als sähen sie es nicht, oder sie tranken mit den Mannschaften. Die Soldaten standen, den Kolben auf dem Boden, lehnten sich auf ihre Gewehre, und viele wankten.
» A bas des Beduines!«
» Vive la Charcuterie!« »Fleischhacken«, auch die Fleischwaren auf dem Butterbrot. Wenn wir satt sind, dann wollen wir aus den Beduinen da eine Fleischhackerei machen!«
»Wein her! wenn es nicht mehr gratis geht, bezahlen wir! Sapristi! wir haben Geld! Der Kleine läßt es nicht daran fehlen!«
Der Soldat warf eine Handvoll blanker Fünffrankenthaler auf den improvisierten Tisch der Marketenderin.
»Haben Sie das gesehen?« fragte der Viscount.
Der Graf gab keine Antwort, sondern beobachtete aufmerksam die Scene. »Diese Leute sind betrunken!«
» Yes; aber nicht diese Leute allein, sondern das ganze Bataillon, das ganze Regiment! Dort der Sergeant verteilt zum zweitenmal Geld an die ganze Reihe; seit einer Stunde hat jeder Soldat mindestens zwanzig Franken in Silbergeld erhalten. Die Offiziere, die in die Kaffeehäuser traten, bezahlen nur in Gold, sie haben ganze Rollen bei sich und brechen sie, als wäre es eine Schokoladenstange.«
»Aber woher dies Geld?«
» Damn! Wenn man fünfundzwanzig Millionen aus der Bank von Frankreich erhoben hat, kann man sich immerhin eine Extra-Ausgabe erlauben.«
»Ich habe von dem Dekret gehört, aber zugleich, daß Fould es leugnet!«
»Herr Fould hat allerdings Anstand genommen, die Verantwortung zu übernehmen, deshalb war von seiner Ernennung Herr Abbatucci auf 12 Stunden zum Finanzminister und sein Sohn zum Staatssekretär gemacht worden. Nachdem die beiden Herren die Ordre contrasigniert, haben weder Herr Fould noch Herr d'Argout etwas einzuwenden gehabt, obschon die Nichte des letztern jetzt ihre Heirat verschieben muß.«
»Der arme Cavaignac! Es geht ihm wie Miron. Wissen Sie, was man mit dem General gemacht hat?«
»Er ist einstweilen nach Ham gebracht worden. Aber da kommt Master Brown. Nun, Sir, was enthalten die Plakate?«
»Die Polizei schlägt Depeschen an mit der Nachricht, daß die Departements den Staatsstreich billigen.«
»Das ist gut für die Wechselagenten, weiter nichts!« Der Kammerdiener überreichte ein kleines, schmutziges Papier. In diesem Augenblick hörte man ein wütendes Geschrei von den Trottoirs her: »Es lebe die Republik!« Es lebe die Konstitution! Nieder mit den Ratapoils!«
»Ah, man beginnt sich zu regen,« sagte der Lord. »Es wird Sie interessieren, zu hören, meine Herren, daß Ledru-Rollin, Caussidière und Louis Blanc in Paris angekommen sind! Haben Sie noch keine Nachricht von Herrn Samson empfangen, Master Brown?«
»Nein, Mylord. Er hat sich gestern Mittag auf den Barrikaden von St. Eustache geschlagen, seitdem aber keine Mitteilung mehr geschickt.«
»Das ist merkwürdig; ich rechnete gerade auf ihn. Am Ende ist er getötet – es wäre schade! Lassen Sie sich erkundigen!«
Der Graf war, während Kapitän Peard auf den Balkon getreten war und die Scene lorgnettierte, bei dem Namen aufmerksam geworden.
»Sagten Sie Samson, Mylord?«
»Ja, Sir, kennen Sie den Mann?«
»Ich weiß nicht, ob es derselbe ist, aber Sie erinnern sich des unterbrochenen Duells des Herrn von Miron, von dem ich Ihnen erzählte.«
»Jawohl!«
»Der zweite Sekundant, den der Gegner des Herrn Miron, derselbe Offizier, dem Sie mit uns Ihre Loge in der komischen Oper abtraten, gewählt hatte und uns vorstellte, hieß Samson, und war ein Mann aus dem Volk, ein Arbeiter nach seinem Äußern zu schließen.«
»Groß, breitschultrig, mit rotem Bart? Eine tiefe Narbe auf der rechten Wange?«
»Die Beschreibung trifft ganz, so viel ich in den wenigen Augenblicken, die ich ihn sah und in dem ungewissen Licht der Laterne habe bemerken können.«
»Es ist mein Mann, ich brachte ihn aus Afrika herüber. Er hat mir dort einen großen Dienst geleistet, wenigstens nach der Meinung anderer. Er sagte mir nur, daß er Samson hieße und nicht, daß er der Sohn eines der Katakombenaufseher wäre. Und Sie erzählten, daß er mit Ihrem Kapitän diesen Herrn – zum Henker, wie hieß er doch? – richtig, Miron, entführt habe und spurlos verschwunden sei?«
»Ja, Mylord!«
»Dann muß etwas gethan werden. Er hat mir seinen Aufenthalt nicht genannt und nur gesagt, daß ich in einem kleinen Wirtshaus zwischen der Rue des Bourdignons und de la Santé, zur ›goldenen Kanone‹ genannt, ihm Nachricht geben könne.«
Der Menschenjäger unterbrach vom Balkon her das Gespräch, indem er in die Hände klatschend rief: »Bravo! Bravo! Der Hieb war vortrefflich! schade, daß er nur den Baum traf; kommen Sie her, meine Herren, kommen Sie her!«
Sie waren zu ihm getreten. »Was giebt's, Sir?« frug der Lord.
»Ei, sehen Sie den Offizier da, ich glaube, er ist vom Generalstab, der das Bataillon aus der Rue Ricsolini auf die Boulevards führt? er hieb soeben nach einem der Schreier, aber er traf nur das Bäumchen. Es ist mitten durchgehauen! der Hieb hätte den Kopf gespalten!«
Es war ein Journalist, dem für den Ruf: »Nieder mit Soulouque!« der Hieb zugedacht gewesen war. Die Menge fiel über den Offizier her und riß ihn unter Heulen und Pfeifen vom Pferde. Die Soldaten mußten ihn mit Kolbenstößen und Bajonettstichen befreien. Der Lärm und das Gedränge auf den Trottoirs nahm mit jedem Augenblick zu.
»Hier ist mehr!« sagte der Viscount, indem er sein Glas nach der Ecke der Rue Taibout fast unter ihnen richtete.
Diese Nebenstraße des Boulevard war mit einer dichten Menschenmasse gefüllt: Männer, Frauen und Kinder. Soeben bog die Tête des ersten Lanzier-Regiments aus der Straße auf die Boulevards.
Der Oberst Rochefort zog mit seinen Offizieren an der Spitze des Regiments.
Der Vorgang in der Straße Richelieu hatte die Menge aufgeregt. Ein lautes Geschrei: »Es lebe die Republik! Nieder mit Soulouque!« begrüßte die Lanziers.
Der Oberst spornte als Antwort sein Pferd in die Menge durch die Stühle des Trottoirs hindurch; etwa zwanzig bis dreißig Lanziers folgten ihm und hieben scharf auf die Masse ein. Das Geschrei der Frauen und Kinder erfüllte die Luft, und eine ziemliche Anzahl mehr oder weniger schwer Verwundeter blieb auf dem Platz.
Der Vorgang hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Das Regiment nahm seinen Platz auf den Boulevards ein.
» Goddam! Sehen Sie, sehen Sie, Mylord, wie das junge Mädchen sich dort auf dem Trottoir windet! sie hat einen Säbelstich im Leib! Es ist wahrhaftig schade, daß die Canaille die Aussicht versperrt!«
Der Graf hatte den Arm des Viscount gefaßt. »Beim Teufel! das fängt an, Ernst zu werden!«
Der Lord sah ihn spöttisch an. »Haben Sie daran gezweifelt? Ich denke, wir werden bald die neue Glocke von l'Auxerrois hören!«
»Aber ganz Paris wird sich erheben!«
»Im Stallhofe des Elysee stehen drei angespannte Wagen. Begreifen Sie nicht, daß es va banque gilt? Da beginnt der Ball!«
Die Truppen hatten jetzt den ganzen Damm gefüllt, von einer Passage war nicht mehr die Rede, fast die ganze Division Carrelet, bestehend aus den fünf Brigaden de Cotte, Bourgon, Canrobert, Dülac und Reibell, über 16 000 Mann, füllten den Raum zwischen der Rue de la Paix und der Vorstadt Poissonnière. Jede Brigade war von einer Batterie begleitet. Auf dem einzigen Boulevard Poissonnière standen elf Kanonen. Zwei derselben von einander abgekehrt, wurden, die eine am Eingange der Vorstadt, die andere gegen die Rue Montmartre aufgestellt. Zwei Mörser wurden soeben, etwa 150 Schritt von der kleinen Barrikade, am Wachtposten Bonne Nouvelle aufgefahren. Beim Auffahren der Geschütze zerbrachen die Trainsoldaten die Deichsel eines Pulverwagens; sie waren vollständig betrunken.
Jetzt, es war etwa halb 3 Uhr, blitzte es auf, die Geschütze hatten das Feuer gegen die Barrikade begonnen. Die erste Kugel schlug weit darüber hinaus und tötete am Chateau d'eau einen Knaben, der eben Wasser aus dem Becken schöpfte.
Für die Pariser ist die Revolution ein Schauspiel.
Statt daß die beginnende Kanonade die Menge hätte verscheuchen sollen, schien der Pulverdampf neue Massen Neugieriger auf die Trottoirs zu führen.
Die Menge stand dicht gedrängt. An allen Fenstern lagen Neugierige, als wären es die Logenreihen der Oper.
Plötzlich kam die Boulevards entlang ein Guiden-Offizier gejagt und parierte sein Pferd vor dem General, der unter dem Café Tortoni hielt.
»Das ist der junge Marquis von Massaignac,« sagte der Graf; »er ist seit gestern Adjutant des Kriegsministers. Der Bursche wird Carriere machen trotz seines heimtückischen Gesichts. Man sagt, der alte Haciendero, sein Vater, soll fast so reich sein, wie Sie, Mylord!«
Der Viscount betrachtete den Offizier durch sein Glas. Die drei standen jetzt auf dem Balkon des Cafés.
» Valga me dios! was bedeutet das? der General winkt herauf nach den Fenstern! Treten Sie zurück, Mylord, zurück!«
Der Viscount machte sich kaltblütig von seiner Hand los. » Damn! was denken Sie! Es scheint, daß mein Duell mit Herrn Bonaparte beginnen soll!«
In einem Kabinett des Erdgeschosses im Elysee neben dem vergoldeten Saal, in dem Napoleon I. seine zweite Abdankung unterzeichnete, saß um diese Zeit ein Mann einsam am Kamin, an einen Tisch gelehnt, die Füße auf dem Feuerbock vor der lodernden Flamme, den Kopf auf der Rücklehne des Armstuhls, und stierte in die lodernde Flamme.
Es war der Prinz-Präsident.
Er war ganz einsam, der strenge Befehl war gegeben, niemand vorzulassen.
Von Zeit zu Zeit nur öffnete sich die Thür, um den greisen Adjutanten, General Roguet, einzulassen. Er allein durfte eintreten. Er brachte die Rapporte, die jeden Augenblick von den Truppen und der Polizei-Präfektur im Elysee einliefen.
Diese Nachrichten wurden von Viertelstunde zu Viertelstunde beunruhigender, der Aufstand begann sich über ganz Paris auszubreiten bis in die Banlieu. In Batignolles wurde Generalmarsch geschlagen, Madier de Montjau hatte Belleville in Bewegung gesetzt, in Chapelle-Saint-Denis waren schon drei große Barrikaden entstanden.
Morny und mehrere Führer der Armee hielten bereits Rat, ob es nicht nötig sei, daß der Prinz unverzüglich die Vorstadt St. Honoré räume und sich nach dem Hotel der Invaliden oder nach dem Luxembourg zurückziehe, zwei strategische Punkte, die gegen einen Handstreich leichter zu verteidigen seien, als das Elysee. Die einen stimmten für die Invaliden, die andern für das Luxembourg. Man zankte sich darum.
Als General Roguet wiederum eintrat, brachte er einen Brief. Er war von dem greisen Exkönig von Westfalen, Jérome Bonaparte, der in Besorgnis um den Ausgang des Staatsstreichs seinen Neffen im Namen seines Bruders beschwor, nachzugeben.
Auf die Meldungen des Generals, die gewöhnlich mit den Worten schlossen: »Es geht nicht!« oder »es geht übel!« hatte der Prinz nur den Kopf halb zur Seite gewandt und ohne die mindeste Bewegung zu verraten mit der größten Ruhe geantwortet: »Man vollziehe meine Befehle!« Dann hatte er sich wieder zu dem Feuer gekehrt.
Als Roguet das letzte Mal eintrat und den Brief überbrachte, war es 1 Uhr.
Der Prinz las den Brief, faltete ihn wieder zusammen und legte ihn ohne ein Wort auf den Tisch.
Der General blieb stehen.
»Was haben Sie noch?«
»Die Barrikaden in dem Centrum von Paris halten sich und vermehren sich.«
»Es ist Mangans Sache, sie zu nehmen!«
»Aber die Menge auf den Boulevards nimmt eine drohende Haltung an. Man hört überall den Ruf: ›Nieder mit dem Diktator!‹« Er wollte nicht sagen: »Nieder mit Soulouque!«
»So lassen Sie sie schreien!«
»Man begnügt sich nicht mehr damit. An der Galerie Jouffroy ist ein Unteroffizier von der Menge zu Boden geschlagen worden, am Café Cardinal hat man soeben einen Hauptmann vom Generalstabe vom Pferde gerissen!«
»Ah so, das ist etwas anderes!«
Der Prinz erhob sich langsam und kehrte sich gegen den General.
Sein gewöhnlich fahles Gesicht zeigte eine leichte Röte, namentlich auf den Augenlidern. Die Mundwinkel waren fest zusammengezogen.
»Also die Herren Pariser mischen sich in meinen Streit mit den Roten?«
Der General zuckte die Achseln. »Sie kennen Paris, Hoheit!«
Der Prinz zog von dem Finger der linken Hand einen einfachen Ring, ein Andenken seiner Mutter, und gab ihn dem General.
»Schicken Sie das auf der Stelle durch einen sichern Boten an St. Arnaud, und lassen Sie ihm sagen, es sei Zeit, meine Befehle zu vollziehen!«
Der General schien noch etwas sagen zu wollen, aber der Prinz-Präsident winkte abwehrend.
Roguet verließ das Gemach, der Prinz blieb allein zurück.
Er wußte, daß in diesen Augenblicken seine Zukunft, die Zukunft Frankreichs sich entschied!
Plötzlich entstand eine Bewegung unter den versammelten Truppen. Es war wie ein elektrischer Schlag, der durch die Reihen der Infanterie und der Kavallerie ging.
Die Truppen machten Front gegen die Trottoirs der Boulevards.
Man hörte einen schwachen leichten Knall.
Der Beobachter erbebt in den Tiefen seines Herzens, wenn er bedenkt, an welchen Zufälligkeiten und kleinen Ereignissen oft das Geschick von Tausenden, ja das Schicksal von Nationen hängt!
Aus dem oberen Stockwerk eines Hauses an der Rue du Sentier war ein Flintenschuß gefallen. Der Ruf ging durch die Kolonnen: »Man schießt auf die Truppen!«
In demselben Augenblick sah man vom Boulevard Poissonnière eine Rauchwolke aufsteigen und hörte das entfernte Krachen einer Charge.
Aber dieser Rauch, dieser Pulverblitz, dieser Knall begann wie eine feurige, schreckliche Schlange sich die Boulevards hinaufzuwinden, immer näher und näher, immer deutlicher und deutlicher, und sich mit einem wahrhaft erschütternden Geheul und Wehklagen zu mischen.
»Fertig! – Schlagt an!«
Montboisier trat entsetzt von dem Balkon einen Schritt zurück. »Um Gotteswillen, sie werden doch nicht auf das Volk schießen! Auf die Tausende von Unschuldigen!«
»Feuer!«
Ein Blitz, ein Krach! eine dichte Pulverwolke über dem Boulevard und dann ein gellendes Angst- und Hilfegeschrei!
Die Truppen hatten in nächster Nähe auf die dichtgedrängte Menge geschossen.
Die Trottoirs waren im Nu mit Toten und Verwundeten bedeckt; ein ununterbrochenes Feuer, ein Hagel von Kugeln vom Straßenpflaster bis zu den Dächern hinauf! Der Anblick war grauen-, jammervoll: eine flüchtende Bevölkerung, Männer, Weiber und Kinder, die von den Kugeln ihrer Söhne und Brüder decimiert wurde. Erhobene Arme, stürzende Gestalten in der Flucht übereinander her, junge Männer, die mit der noch brennenden Cigarre im Mund, die Hände in den Taschen, plötzlich niederfallen, Frauen in Seiden- und Sammetkleidern, Mütter aus dem Volk mit den Säuglingen auf dem Arm, Mutter und Kind von einer Kugel durchbohrt; ruhige Bürger in ihren Hausthüren, an den Fenstern ihrer Wohnungen getötet: fliehende Arbeiter und entsetzte Flaneurs, der Reiche und der Arme, der Verschwörer und der Neugierige, die ganze Bevölkerung über- und durcheinander, ein Wall, eine Ernte von Leichen und Sterbenden!
Die Jäger von Vincennes und die Liniensoldaten schossen vortrefflich, das Ziel war ja in nächster Nähe. Die Kavallerie hielt ein Scheibenschießen mit Pistolen. Dann, auf Kommando, öffneten sich die Kolonnen und während das Schützenfeuer, diese Jagd auf das Volk ununterbrochen fortdauerte, spieen die Kanonen einen Hagel von Kartätschen und Granaten gegen einzelne Häuser, den Bazar, das Haus des berühmten Teppichfabrikanten Sallandrouze, das Maison d'or etc.
Das Volk floh entsetzt! Man drängte sich in die Nebenstraßen, man suchte Schutz in den Hausthüren vor den schrecklichen Kugeln, aber vergeblich; denn die Angst der Bewohner schloß und verriegelte eilig diese Thüren; freilich ohne Nutzen, denn die Kugeln drangen durch die Fenster bis in die obersten Stockwerke, bis in die Tiefe der Gemächer, und die Kolben der wütenden Soldaten schlugen die Thüren ein.
In dem Hause von Sallandrouze – man behauptete, daß aus diesem geschossen worden – wurden die Bewohner bis zur Giebelstube hinauf mit Säbelhieben und Bajonettstichen nieder gemacht, das Blut floß die Treppenstufen hinunter, auf der Schwelle lagen die Leichen übereinander.
Zwei unglückliche Buchhändler, die in ihren kleinen Häuschen in der Nähe ihren Markt hatten, wurden von den Soldaten herausgeschleift und fielen unter ihren Kugeln. Die Frau des einen, die sich dazwischen warf, erhielt einen Schuß in den Schenkel und wurde wahnsinnig, die Tochter rettete nur das Fischbein ihres Korsetts, an dem die Kugeln abprallten.
Es ist unmöglich, die Schreckensscenen alle zu schildern. Wie gewöhnlich wurden aus jenem einen Schuß, den viele noch bezweifeln, den andere aus der Mitte des Militärs aufsteigen gesehen haben wollen, zehn andere aus zehn anderen Häusern durch das Gerücht gemacht. Die Soldaten schlugen die Thüren ein, sie drangen in die Stockwerke, sie schleppten die Bewohner heraus, sie füsilierten oder durchbohrten sie in ihrer eigenen Wohnung. Aus manchen gußeisernen Röhren, die aus dem Innern der Häuser des Boulevard das schmutzige Wasser in die Gossen führen, dampfte das Blut. Die Mobil-Gendarmen und Soldaten lauerten förmlich an den Ecken wie die Jäger auf das Wild, und schossen alles nieder, was sich zeigte: die Jäger, die eine der Barrikaden des Boulevard mit dem Bajonett genommen, hielten von ihrer Höhe ein Scheibenschießen mit den weit tragenden Büchsen und wetteten förmlich um das unglückliche Ziel. Vergebens war das Flehen der Unglücklichen, die Beteuerung ihrer Unschuld! – Niedergeschossen!
Wir erwähnen unter den zahllosen nur einen Fall seiner Merkwürdigkeit halber.
Einem vorübergehenden Gerichtsboten zielten die Soldaten nach der Stirn und trafen ihn. Er fiel auf die Hände in die Knie und flehte um Gnade! Dreizehn neue Kugeln in den Leib waren die Antwort. Dennoch kam der Mann mit dem Leben davon. Durch einen unerhörten Zufall war keine der Wunden tödlich, die Kugel auf die Stirn hatte bloß die Haut aufgerissen und war an der Hirnschale hingeglitten, ohne sie zu zerschmettern.
Es ist eine traurige bestialische Erfahrung an der menschlichen Natur, daß der Anblick des vergossenen Blutes berauschend wirkt und die Leidenschaften aufstachelt.
Das Feuer der Truppen gegen die Barrikaden, gegen die Flüchtenden, gegen die Bewohner der Häuser, gegen die Häuser selbst dauerte ununterbrochen eine ganze Stunde lang. Selbst in die Kellerlöcher wurde geschossen.
Die Trottoirs der Boulevards von Tortoni bis an das Gymnase waren mit Leichen bedeckt. Vom Eingang der Straße Montmartre bis zur Fontäne, etwa sechzig Schritte weit, zählte man deren sechzig, vor dem Laden von Barbédienne auf dem Boulevard Poissonnière zählte man allein dreiunddreißig. Überall Haufen von Leichen und einzelne, auf den Trottoirs, quer über die Rinnsteine, an den Mauern der Häuser, auf ihren Schwellen, in den Buden der Zeitungsverkäufer und Buchhändler, Greise und Kinder, Frauen und Männer aus allen Ständen, Blousen und Überröcke, der arme Cocoverkäufer mit seinem blechernen Horn neben dem Stutzer mit den lackierten Stiefeln und gelben Handschuhen!
Die Südseite des Boulevards war mit zerrissenem Patronenpapier bedeckt, das Trottoir der Nordseite verschwand unter den Gipstrümmern, welche die Kugeln von den Häusern gerissen. Zwischen dieser weißen Bedeckung die dunklen großen Blutlachen! Von der Rue Montmartre bis an die Rue du Sentier ging man thatsächlich in Blut; man fand fast keine Stelle, um nicht hinein zu treten. Jedes abgeschnittene Viereck im Asphalt um den Fuß der Bäume war noch am andern Tage eine Blutlache. Einige Häuser waren von den Kartätschen und Kanonenkugeln so beschädigt, daß sie einzustürzen drohten. Die Artilleristen schossen mit zwei Geschützen aus nächster Nähe wie unsinnig darauf, so daß es von unten bis oben gespalten war, bis der Befehl eines herbeispringenden Offiziers Einhalt that und verhinderte, daß das Haus mit dem nächsten Schuß nicht Kanonen und Kanoniere begrub.
Während des Blutbades waren die Barrikaden auf dem Boulevard von der Brigade Bourgon genommen worden. Die Leichen der Verteidiger bildeten nur ein kleines Kontingent zu dem großen Schlächterladen der Boulevards.
Es gab während dieses Gemetzels Augenblicke, wo die berauschten Soldaten aufeinander feuerten; die Batterie des 6. Artillerie-Regiments hatte keine Bespannung mehr, bei anderen Geschützen flüchteten die Artilleristen und Trainsoldaten unter die Lafetten und Pulverwagen gegen die umherfliegenden Kugeln, Kavalleristen machten ihre Pferde zum schützenden Wall, eine Abteilung Lanziers war genötigt, sich in einen Schuppen der Straße Saint Fiacre zu flüchten, die Fähnchen der Lanzen waren von Kugeln durchbohrt; einzelne Offiziere, die Unglückliche retten und schützen und eine unsinnige Greuelthat in den Häusern verhindern wollten, wurden von den toll gewordenen Soldaten verhöhnt und als Verräter bedroht, andere vermehrten noch die Wut durch Befehle und Anfeuerung. Der Ruf der Unteroffiziere: »Schlagt auf die Beduinen! nieder mit den Beduinen!« – so nannten die Soldaten ihre Gegner – hetzte die Rasenden. Nur mit Mühe gelang es oberen Offizieren, dem zwecklosen Blutbad Einhalt zu thun und diejenigen zum Teil zu retten, die sich in die Häuser geflüchtet.
Während auf den Boulevards das furchtbare Henkeramt geübt wurde, hatten andere Truppen das Carré, in dem sich die Emeute festgesetzt, von allen Seiten gefaßt und eingekeilt. Hier wurde mit erbittertem Haß gekämpft. Von Barrikade zu Barrikade geworfen, fielen die Republikaner unter den Kugeln und Bajonetten des siegenden Militärs. Wer mit den Waffen in der Hand ergriffen wurde, ward ohne Pardon auf der Stelle niedergeschossen oder gefangen nach den Kasernen geschleppt, um am Abend oder am andern Tage in der Ecole militaire oder auf dem Marsfeld in einer Massenexekution füsiliert zu werden.
Manche der Verhafteten wurden in der Nähe der Seine von den eskortierenden Soldaten und Polizeisergeanten beim geringsten Anlaß und selbst ohne denselben erschlagen und in das Wasser geworfen.
Ein Arbeiter eilt über den Pont-au-Change, die Mobilgendarmen halten ihn an. Man riecht an seinen Händen und glaubt, den Pulvergeruch zu erkennen. Der Arbeiter wird mit vier Kugeln durch den Leib geschossen. Ein Sergeant befiehlt, ihn ins Wasser zu werfen; die Gendarmen fassen den Körper beim Kopf und den Füßen, und schleudern ihn über das Geländer. Erschossen und ertränkt scheint sein Ende unvermeidlich, aber dennoch ist der Mann nicht tot. Das eiskalte Wasser bringt ihn ins Leben zurück; er ist nicht fähig, eine Bewegung zu machen, das Blut entrinnt aus vier Wunden, aber seine Blouse hält ihn noch auf der Oberfläche des Flusses und die Strömung treibt ihn gegen einen Brückenbogen. Dort finden ihn die Quaiarbeiter, heben ihn auf, tragen ihn in ein Spital, und er wird geheilt.
Als er das Spital verlassen, ward er verhaftet und nach Lambessa geschickt.
Es ist niemals genau bekannt geworden, wie viele Menschenleben der Aufstand gekostet hat. Die Regierung veröffentlichte später ein Namensverzeichnis von Gefallenen – 191 –, und giebt an, daß etwa 25 Soldaten geblieben sind; aber die amtlichen Berichte der Truppenkommandeure sprechen von 1250 Toten seitens der Einwohner, die Verwundeten nicht mitgezählt; man rechnete nach den Augenzeugen auf den Boulevards allein 800 Leichen; dazu das Gemetzel in der Cité Bergère, in der sich die Mitglieder der geheimen Gesellschaften verschanzt hatten und Mann vor Mann von den erbitterten Truppen niedergemacht wurden, und die Massenfüsiladen der Gefangenen auf dem Marsfeld.
Mit der sinkenden Nacht war der Kampf zu Ende; an der Barrikade der Rue du Petit Carreau schlug man sich zuletzt: hier fiel der Volksvertreter Dussoubs.
Man hatte allen Widerstand aufgegeben, Paris war in den Händen der Truppen, das Ziel war erreicht, Paris war ruhig – denn Paris zitterte!
Dieses leichtsinnige, leicht bewegliche, mit Tod und Blut scherzende Paris, zu dessen Lebensbedarf die Unruhe und die Emeute gehörte, es hatte zum zweitenmal seinen Meister gefunden.
Das Schauspiel, das sich im Dunkel der sinkenden Nacht jetzt entwickelte, war fast noch grauenhafter, als der blutige Akt des Nachmittags.
Vom Boulevard des Italiens bis zur Bastille war fast kein Fenster ganz, viele Häuser waren von oben bis unten mit den Spuren der Kugeln bedeckt. Wie zum Hohn, wie zur Drohung blieben die Leichen einzeln und aufeinander geschichtet während der Nacht und bis zum nächsten Morgen auf den Trottoirs, an den Häusern und über den Rinnsteinen liegen.
In den Quadraten um die Wurzeln der Bäume stand das gesammelte Blut zollhoch.
Bei dem Schein von Fackeln, bei dem Licht der zum Teil zerstörten Laternen, aus deren Röhren das Gas in lodernderm Strom emporschoß, bankettierte das Militär auf dem Fahrdamm der Boulevards und biwackierte mit Jubel und Lachen vor dem Stadthaus und auf den großen Plätzen. Die Cantinièren zapften Wein und Branntwein, die Sergeanten verteilten Geld und Belobigungen, unter Triumph und Scherzen wurden die einzelnen Thaten des Tages besprochen, die glücklichen Schüsse gerühmt und das » Vive Napoleon!« bereits hin und wieder mit dem offenen Ruf: » Vive l'empereur!« vermischt, hallte unter Gläserklingen durch die Nacht!
Wachtposten der Kavallerie, die Pistole gegen die Trottoirs gerichtet, hielten von zwanzig zu zwanzig Schritt bereit, bei dem geringsten mißliebigen Zeichen auf die Vorübergehenden von neuem Feuer zu geben.
Aber kein solches Zeichen ließ sich hören. Angstvoll und schweigend oder mit leisen unterdrückten Wehlauten schlichen die Gestalten die Trottoirs entlang, schaudernd bei den oft rohen Späßen der Soldaten: arme weinende Frauen, die nach ihren Männern fragten, Männer, die ihre Frauen und Kinder in der schrecklichen Flucht bei dem Beginn des Feuers verloren hatten, Kinder, die ihre Mütter und Väter, Schwestern, die ihre Brüder, Greise, die ihre Ernährer suchten.
Bei dem Schein einer Handlaterne forschte man unter den blutigen Leichen nach der bekannten geliebten Gestalt, und wenn man sie gefunden, konnte selbst die Furcht den jammernden Schrei des Schmerzes nicht zurückdrängen.
Manchen wurde von mitleidigen Offizieren die Fortschaffung ihrer toten Lieben gestattet, an anderen Stellen verweigerte man es bis zum Eingang eines allgemeinen Befehls; die meisten Leichen blieben unerkannt, ungesucht liegen, denn der Schrecken, die Furcht herrschte in allen Familien.
Am andern Morgen wurden die nicht abgeholten Toten nach den Leichenhäusern gebracht, aber bis zum Mittag des 5. noch lagen Körper in den Buchhändlerbuden des Boulevards und in der Rue Grange Batelière. Die nach und nach wieder zu sich kommende Menge strömte mit jener Neugier, die selbst im Entsetzen den Pariser nicht verläßt, nach den Stellen, wo die Leichen ausgestellt waren, namentlich in die Cité Bergère. Die Polizei mußte, da die Masse immer zahlreicher und drängender wurde, zuletzt den Zutritt mit einem Anschlagzettel am Eingang hemmen: »Hier sind keine Leichen mehr!«
Eine gräßliche Totenschau fand auf dem Kirchhof Montmartre im Lauf des 5. statt.
Man hatte eine Anzahl – über vierzig – hierher gebracht. Ein weiter bisher ungebrauchter Platz wurde zur vorläufigen Bestattung eines Teils der Toten benutzt. Man hatte sie noch angekleidet in Reihen neben einander flüchtig eingescharrt, aber den Kopf frei gelassen, damit ihre Verwandten oder Freunde sie erkennen möchten. Aber es war der Erde so wenig, daß bei den meisten die Füße noch aus dem Boden ragten. Das Publikum strömte herbei in dichter Menge, neugierig bald dahin, bald dorthin sich wendend und drängend; plötzlich, wenn man so zwischen diesen Gräbern wandelte, fühlte man, daß der Boden wich; der Fuß glitt auf den Leib eines Toten. Wenn man sich dann umkehrte, sah man auf der einen Seite Stiefel, Holzpantinen oder Frauenschuhe aus der Erde kommen, auf der andern den Kopf sich bewegen, den der Druck des Gehenden auf die Leiche aus seiner Lage gebracht.
Und hier konnte man noch die Verlorenen suchen und finden! Aber wer fand die spurlos Verschwundenen, jene Mutigen, die mit den Waffen in der Hand bei der Verteidigung ihrer Meinung gefangen worden waren, jene Unschuldigen, die ein unglücklicher Zufall in die Hände der Soldaten oder der Polizei geführt, vielleicht gar oft Bosheit oder Haß, und für die jetzt auf der dunklen Fläche des Marsfeldes die weite Grube gegraben wurde, die sie alle aufnehmen sollte mit der Todeswunde in der Brust, ohne daß das thränenvolle Auge der Zurückgelassenen den Trost haben sollte, dem Toten den letzten Scheidegruß zu geben, ja, ohne daß sie es wissen sollten, wo die Erde den Freund, den Sohn, den Geliebten deckte!
Der Morgen des 5. brachte eine Proklamation des Präsidenten an die wohlgesinnten Bürger von Paris, ein Manifest an die Truppen, das ihre Treue und Tapferkeit belobte.
Die Kriegsgerichte blieben drei Tage lang in Permanenz, aber ein strenger Polizeibefehl wies bereits am Sonnabend die Hausbesitzer an, bei Strafe der sofortigen Verhaftung alle Spuren des Geschehenen an ihren Häusern zu vertilgen, und man sah in den nächsten zwei Tagen Maurer, Tischler und Glaser, ja die Hausbesitzer selbst auf das Eifrigste damit beschäftigt; so groß war die Furcht, welche die vorhergegangenen Ereignisse den Bürgern einflößten.
Die Ordre zur Entnahme der 25 Millionen aus der Bank ist später geleugnet und unterdrückt worden.
Vom Balkon des Café Tortoni hatte vor Beginn des Blutbades der Graf gesehen, wie der kommandierende General hinauf nach dem Fenster winkte, und versucht den Engländer in das Innere des Hauses zu ziehen.
Er hätte ebenso gut einen Felsen bewegen können. Der Lord blieb, das Lorgnon in das Auge gekniffen, weit vorgebeugt, über den Balkon, um besser zu sehen, als die erste Salve auf die Volksmenge der Trottoirs krachte und das Wehegeheul die Luft zerriß.
Wie der Schakal, der feine Beute wittert, streckte Kapitän Peard bei diesem Jammergeschrei den Kopf wieder heraus und trat neben den Lord.
In diesem Augenblick krachte ein zweite Salve gegen die Mauern und Fenster der Häuser.
Die Kugeln flogen um sie her wie Spreu und platteten sich an den Steinen ab oder zerschmetterten das Holzwerk. Mehrere flogen bis in die entgegensetzte Wund des Salons oder blieben in dem Plafond stecken. Eine Kugel riß dem Menschenjäger den Hut vom Kopf, und er flüchtete eilig mit einer Verwünschung auf den Schützen, der ihn den schönen Castor verdorben, hinter den Spiegelpfeiler, wo sich der Graf geborgen, der nicht die geringste Lust verspürte, sich unnötig dem Bataillonsfeuer zur Scheibe zu stellen. Eine andere streifte den Rockkragen des Lords, aber er blieb unverletzt. Mit vollkommener Ruhe und Gleichgültigkeit erhob er den Hut wie zum Gegengruß und setzte sich auf einen der Stühle dicht am Geländer.
»Ei, kommen Sie doch her, meine Herren! das Schauspiel, das uns Herr Bonaparte verschafft, wird interessant, und Sie werden die besten Scenen verlieren!«
Die Soldaten, die anfangs in blinder Hast auf alles geschossen, was sich ihnen bot, blieben einige Augenblicke ganz erstaunt über diesen Widerstand, bald aber wich die Bewunderung für die kaltblütige Ruhe dem Ärger über den Trotz, und mehrere von ihnen begannen ein förmliches Scheibenschießen von der gegenüberliegenden Straßenseite her nach dem Lord, der dies gar nicht zu beachten schien und ruhig seine Beobachtungen über die Perspektive der Boulevards hin, über die fortwährend der Pulverdampf hinrollte, fortsetzte, zu seinen Gefährten im Innern hin und wieder eine Bemerkung machend.
Zwei Kugeln zerrissen den Rock des Excentric, eine andere traf den Stuhl, auf dem er saß, eine vierte schlug dicht unter seiner Brust in die Brüstung des Balkons, auf die er den Arm stützte, aber wie durch ein Wunder entging er selbst jeder Verwundung, bis Oberst Rochefort, der den Viscount erkannte, herbeisprengend die Gewehre niederschlug und den Leuten das Schießen verbot.
»Zum Henker, Mylord!« rief er hinauf, »was thun Sie dort? sehen Sie denn nicht, daß Sie jeden Augenblick erschossen werden können? Warum gehen Sie nicht fort?«
Der Viscount lehnte sich außerordentlich freundlich über das zerschossene Geländer herunter. »Sieh da, Oberst Rochefort, wie befinden Sie sich? By jove! es ist ein höchst interessantes Schauspiel, was Sie uns da zum Besten geben, und ich bin Seiner Hoheit sehr dankbar, daß er mir diesen Platz angewiesen!«
»Wie, Mylord, der Prinz hat Ihnen diesen Platz gegeben?«
»Warum nicht? die Prosceniumslogen des ersten Ranges sind die besten, und er schuldet mir einige Gefälligkeiten. Goddam! Es ist in der That interessant, besonders für die Zuschauer. Ich glaube, dort demolieren Ihre Herren Soldaten eben das Café Anglais, und ich denke, die Reihe wird bald an uns kommen! Genieren Sie sich nicht im geringsten!«
Der Oberst, ein enragierter Bonapartist, biß sich auf die Lippen, murmelte etwas von verwünschten Engländern! und galoppierte nach dem Café Anglais, in dem die wütenden Soldaten alles demolierten und die Anwesenden mit dem Tode bedrohten, weil man behauptete, daß auch aus diesem Hause auf die Soldaten geschossen worden sei.
Bald darauf, während die Füsilade auf den Boulevards fortdauerte, drang eine Abteilung Soldaten auch in das Café Tortoni und begann die Anwesenden zu mißhandeln und zu durchsuchen.
Der Lord hatte sich, sobald die Soldaten die Thür geöffnet, in den Salon zurückgezogen und behauptete kaltblütig seinen Platz bei seinen beiden Gefährten.
Ein Offizier der Linie trat rauh auf die Gruppe zu.
»Was thun Sie hier? Untersuchen Sie die Pequins, Sergeant, ob sie Waffen bei sich führen!«
»Ich bedaure,« sagte der Lord kalt, »daß ich meine Pistolen in meiner Wohnung gelassen habe. Sie könnten mir vielleicht dienen, mir unter solchen Umständen die meinem Range passende Behandlung zu sichern.«
»Wer sind Sie?«
»Wenn Sie Lord Lowley, den britischen Gesandten, fragen wollen, so wird er sich für den Viscount von Heresford verbürgen und Ihnen sagen, junger Mann, daß die Macht des Präsidenten Louis Napoleon auch nach dem Trauerspiel dort unten noch keineswegs stark genug ist, um die Satisfaktion zu weigern, welche die britische Regierung für jede einem Mitglied ihres Oberhauses angethane Beleidigung fordern wird.«
»Ihre Unverschämtheit beweist wenigstens Ihre Nationalität! Und diese da?«
»Meine Freunde!«
Der Graf übergab dem Offizier seine Karte. »Ich bin der Graf Montboisier, Kapitän außer Dienst. Dieser Herr ist in der That Lord Heresford, und Sie werden sich wenig Dank durch eine Beleidigung desselben verdienen, da er ein Freund des Prinz-Präsidenten ist.«
Der Lord hatte sich gleichgültig, ohne an den Erörterungen des Grafen weiter teil zu nehmen, in seiner: Stuhl zurückgelehnt, und begann sich eine Cigarette zu drehen. Dabei fiel sein Blick auf den Kammerdiener, der soeben in der Thür des Salons hinter den Soldaten erschien.
»Kommen Sie hierher, Master Brown, bringen Sie mir eine Nachricht?«
Der Kammerdiener, der dieselbe Gleichgültigkeit gegen die drohende Umgebung zeigte, wie sein Herr, verschaffte sich mit einer ruhigen Bewegung Platz durch die Soldaten und näherte sich seinem Gebieter mit einer Verbeugung.
»Mylord,« sagte er so gleichgültig, als handle es sich um das Ableben eines Tiers, das man zur Schlachtbank führt, »Lafleur ist aus der ›goldenen Kanone‹ zurückgekommen, wohin ich ihn geschickt.«
»Nun?«
»Er hat Monsieur Samson nicht dort gefunden, aber seinen jüngern Bruder.«
»Aber der Mann? Sie langweilen mich, Master Brown.«
»Monsieur Samson ist diese Nacht mit einem Freund am Observatoire bewaffnet von einer Militär-Patrouille verhaftet und nach der Kaserne d'Orsay gebracht worden. Er ist verurteilt, erschossen zu werden, und das Urteil wird in einer Stunde vollstreckt.«
Der Lord erhob sich rasch, alle Apathie seiner gewöhnlichen Haltung war verschwunden, ein entschlossener energischer Gedanke prägte sich in seinem Gesicht aus, als er auf den französischen Offizier zutrat, der einigermaßen eingeschüchtert oder zweifelhaft über die Folgen seines Verfahrens sich begnügt hatte, die anderen Gäste des Cafés durch wilde Drohungen und die brutalen Durchsuchungen seiner Soldaten zu erschrecken.
»Monsieur, wie ich sehe, sind Sie Leutnant. Sie wünschen gewiß, Kapitän zu werden?«
Der Offizier sah ihn erstaunt an. » Parbleu! es ist sehr natürlich, daß ich das wünsche!«
» Very well! Sie werden es binnen drei Tagen sein, wenn Sie mich nach der Kaserne d'Orsay schaffen!«
Der Leutnant glaubte anfangs, der Engländer wolle ihn verhöhnen, aber da jeder Franzose jeden Briten von vorn herein für wunderlich und überspannt zu halten gewohnt ist, begann ihm die Sache Spaß zu machen.
»Es werden wenige Ihren Wunsch teilen, Mylord,« sagte er, »aber wenn Sie wünschen, nach der Kaserne d'Orsay transportiert zu werden, brauchen Sie bloß der bewaffneten Macht sich zu widersetzen.«
» Well!«
Der Lord zog gemächlich die-Hand aus der Rocktasche und versetzte dem Offizier einen kunstgerechten Boxerschlag auf den Magen, so daß dieser der Länge nach den Boden maß.
Die Soldaten wollten über den Excentric herfallen, und der Offizier, vom Boden aufspringend, drohte ihn mit dem Säbel zu durchbohren, aber der Graf, der trotz der schrecklichen Scene vor den Fenstern kaum ein Gelächter unterdrücken konnte, warf sich zwischen sie und beschwor seinen Landsmann, sich zu mäßigen; der Viscount aber war sehr verwundert, daß man ihn wegen der Ausführung des Rats mit Bajonettstichen oder Säbelhieben bedrohte.
» Goddam,« sagte er, »ich denke, jetzt können Sie meinen Wunsch erfüllen und, auf mein Ehrenwort! Sie werden Ihr Patent in drei Tagen haben.«
Die Gleichgültigkeit des Briten übte noch mehr Einfluß auf das Militär, als die Beschwörungen des Grafen, und der Offizier befahl, sich den Leib reibend, halb lachend halb ärgerlich und unter dem Gelächter seiner Soldaten, die ganze Gesellschaft aus dem Café zu entfernen und wenn der tolle Engländer es verlangte, ihn wirklich nach der Kaserne d'Orsay zu transportieren.
Lord Heresford hatte unterdes Gelegenheit gefunden, seinen Kammerdiener zu sich zu winken.
»Eilen Sie nach meinem Hotel, Master Brown,« befahl er, »und bringen Sie mir das grüne Portefeuille Nr. 2 nach dem Arrest. Sammeln Sie unsere Leute, und seien Sie damit vor dem Eingang der Kaserne auf jeden Wink bereit. Halten Sie einen Wagen mit vier Pferden an der Kirche St. Clotilde bereit.«
Master Brown neigte zum Zeichen, daß er die Befehle verstanden, den gepuderten Kopf und verschwand unbehindert.
Die Soldaten trieben und stießen die Gäste des Cafés aus den Thüren. Ein Teil wurde nach der Passage der Oper transportiert, der Lord aber auf sein ausdrückliches Verlangen, unterstützt von zehn Napoleonsdor, die er dem eskortierenden Sergeanten in die Hand drückte, als Gefangener über den Boulevard nach der Kaserne d'Orsay geführt.
Der Graf und Kapitän Peard wollten ihn nicht allein lassen und begleiteten ihn.
Das Feuer auf den Boulevards dauerte ununterbrochen fort.
Es war bereits dunkel, als infolge der Verzögerungen des Weges der freiwillige Gefangene mit seinen Begleitern an dem Eingang der Kaserne d'Orsay auf dem Quai gleichen Namens eintraf.
Die Quais waren in ihrer ganzen Länge von Militär besetzt; auf dem Place de la Concorde biwackierten Kavallerie und Artillerie.
Der Kampf in der innern Stadt dauerte noch fort, man hörte von dem Temple herüber deutlicher das Kanonenfeuer. Fortwährend brachten Gendarmen, Mobilgarden und Linienpiketts von dorther einzelne oder mehrere Gefangene und lieferten sie an die Kasernenwache ab.
Diese Männer und Jünglinge waren teils mit Blut bedeckt, finster und stumm, die Zähne auf einander geknirscht, die gebundenen Hände geballt, teils schwatzend und protestierend ohne Ahnung des Schicksals, das sie bedrohte.
Die Soldaten machten jedoch sehr wenig Umstände mit ihnen. Der kommandierende Offizier der Wache sandte die Gefangenen mit einem oder zwei der Transporteurs in eine große Stube des Parterre, wo das Kriegsgericht seit dem Morgen in Permanenz saß. Die Wache berichtete kurz die Umstände, unter denen man die Person verhaftet, und das Kriegsgericht sprach eben so kurz das Urteil: Erschießen oder zurückstellen, bis man bessere Zeiten haben werde, sich etwas ausführlicher mit dem Prozeß zu beschäftigen.
Alle, von denen angezeigt wurde, daß sie beim offenen Widerstand oder bewaffnet ergriffen worden, wurden zum Tode verurteilt; die Verdächtigen sperrte man einstweilen in einen zweiten Hof der Kaserne.
Aber der Unterschied wurde nicht besonders genau gehalten und blieb auch sehr oft der Willkür der Soldaten überlassen.
Wir haben bereits erwähnt, daß der britische Excentric sich mit seiner militärischen Begleitung auf einen sehr guten Fuß gestellt und sie offenbar bloß auf freilich etwas sonderbare Weise erlangt hatte, um in die Kaserne d'Orsay zu kommen.
Als sie sich dieser näherten, wandte er sich mit der Kaltblütigkeit, die ihn keinen Augenblick verlassen, an den begleitenden Sergeanten.
»Sie werden begreifen, Sergeant,« sagte er zu diesem, indem er ihn zur Seite winkte, »daß ich nicht beabsichtige, mich von Ihren Herren Soldaten totschießen zu lassen, oder an einem so interessanten Tage in Ihrer sonst wahrscheinlich ganz angenehmen Kaserne eingesperrt zu sitzen, und daß es sich bloß darum handelte, in guter Gesellschaft dahin zu kommen. Wenn Sie ein gescheiter Mann sind, und danach sehen Sie mir aus, giebt es zu den zehn Napoleonsdors, die Sie für sich und Ihre Leute erhalten haben, noch zwanzig andere, die für Sie allein bestimmt sind.«
Der Sergeant spitzte die Ohren. » Sacredieu! Eure Excellenz oder Eure Herrlichkeit, ich weiß nicht recht, wie Ihr Titel ist, haben eine Manier zu reden, die überzeugend ist. Wenn es nichts gegen seine Ehre und seinen Dienst ist, wird sich Sergeant Robineau eine Ehre daraus machen einem so generösen Herrn, wie Sie sind, gefällig zu sein.«
»Nichts gegen Ihre Ehre und Ihren Dienst, mein Freund! Sie wissen, daß ich nur Gefangener auf eigenen Wunsch bin, es genügt also, wenn Sie sich als meine Begleitung gerieren, ohne erst das Kriegsgericht mit einer Anzeige zu belästigen. Ich wünsche mich zu überzeugen, ob eine gewisse Person noch am Leben ist und sich unter den Gefangenen der Kaserne befindet. Sie werden mich daher an den Ort bringen, wo die Gefangenen sich befinden und mir durch Ihre Begleitung freien Ein- und Ausgang sichern. Der Vorwand ist natürlich Ihre Sache!«
Der Sergeant strich sich den Schnurrbart. »Bah! die Sache ist leicht, da die Kaserne zu unserm Regiment gehört. Mein Bruder ist Ökonom der fünften Kompagnie, und ich bin wohl bekannt. Ich werde sagen, daß Sie einen der meuterischen Schurken rekognoszieren sollen.«
» Well! Da ist Master Brown. Ich habe einen Augenblick mit meinem Diener zu sprechen!«
In der That erwartete der Kammerdiener bereits seinen Herrn vor dem Thor der Kaserne, das von vielen Neugierigen umlagert war.
Der Sergeant trat zur Seite und gab seinen drei Mann einen Wink. Der Kammerdiener näherte sich seinem Herrn.
»Haben Sie das Portefeuille, Master Brown?«
»Hier, Mylord! Nummer zwei, Paris, wie Sie befohlen!«
»Und die Leute?«
»Peppo, Ihr Jäger, mit acht handfesten Burschen. Sie befinden sich hier unter der Menge, und Eure Herrlichkeit brauchen nur die Hand zu erheben, so werden sie bei Ihnen sein.«
»Gut! Es ist nur für den Notfall. Jetzt bitte ich Sie, liebster Graf, und Sie, Kapitän, mich hier zu erwarten. Ihre weitere Begleitung würde mich nur hindern.«
»Aber Mylord,« meinte Kapitän Peard, »wenn es eine Exekution giebt, so möchte ich sie gern sehen.«
»Sie sollen nicht übergangen werden, mein Wackerer, ich möchte um alles in der Welt willen Sie nicht in Ihren Unterhaltungen verkürzen. Lassen Sie uns eintreten, Sergeant.«
Der Sergeant Robineau gab seinen Leuten ein Zeichen vorwärts zu gehen, und nachdem er mit dem Posten am Thor einige Worte gewechselt, traten sie in das Innere der Kaserne.
Der Thorweg und die Korridors waren mit Soldaten und ab- und zugehenden Offizieren gefüllt. Der Sergeant ließ seine drei Mann im Eingang und drängte sich mit dem Lord durch die Soldaten. Man ging über den großen Hof, wo mehrere Haufen eingebrachter Gefangener, zum Teil verwundet, finster und ängstlich blickend bei einander standen, von Soldaten bewacht. Zwischen den Unglücklichen hindurch, die entweder die Entscheidung ihres Schicksals oder den Transport nach anderen Räumen erwarteten, führte der Sergeant seinen Gefangenen nach dem Zwischenflügel, wo in einem Saal des Parterre das Kriegsgericht in Permanenz saß. Die Thür war offen und durch das Gedränge von Soldaten aller Waffengattungen und neugieriger Angehörigen der Kaserne führten drei Mobilgarden eben zwei Verurteilte heraus. Der eine war ein Mann, offenbar den besseren Ständen angehörig, obschon sein Rock zerrissen und mit Schmutz und Blut besudelt war. Er hatte sein Taschentuch um die Stirn gebunden und einzelne dunkle schwere Blutstropfen quollen darunter hervor und träufelten langsam an seinen Schläfen nieder in den schwarzen Bart. Sein Gesicht war vom Blutverlust blaß, aber der Ausdruck wilder Aufregung und finstern Grimmes lag in den blitzenden großen Augen, in dem zusammengepreßten Mund und der geballten Faust. Der andere war ein Jüngling, fast ein Knabe noch, totenbleich, von den Spitzen der langen Haare der Angstschweiß perlend, das Auge starr gläsern, während über die Glieder der Schauer der Todesfurcht lief.
Die Soldaten betrachteten mit Spott und Hohnlachen die beiden. »Nun? werden sie springen?«
»Zum zweiten Transport nach dem Marsfeld!« sagte eine tiefe Stimme. »Sie sind verurteilt. Die Beduinen sind auf der Flucht ergriffen worden von der Barrikade an der Straße Petit Carreau. Wir wollen den Canaillen austreiben, sich der rechtmäßigen Regierung zu widersetzen.«
Der ältere der Verurteilten blieb stehen und warf einen wilden zornigen Blick auf den Sprecher.
»Der Tyrannei haben wir uns widersetzt,« rief er empört aus, »nicht dem Gesetz und der beschworenen Konstitution. Seid Ihr Franzosen, daß Ihr von Recht sprecht, wo alles Recht dieses unglücklichen Landes mit Füßen getreten wird? Elende Schergen der Tyrannei seid Ihr, die über kurz oder lang eben so zur Schlachtbank geschleppt werden, wie wir jetzt, die …«
Ein Kolbenstoß ins Genick von einem der begleitenden Soldaten stürzte ihn vorwärts und schnitt seine Worte ab; er wäre zu Boden gefallen, wenn der Lord ihn nicht mit kräftigem Arm aufgefangen hätte.
Der junge Mensch weinte laut. »Bruder, um Gotteswillen, schweig', Bruder!«
Der Republikaner spie einen Mund voll Blut aus und richtete sich mühsam empor mit einem kurzen, dankenden Blick auf den Helfer.
»Mut, Gaston, Mut, bei dem Andenken unsers Vaters, der vor zwanzig Jahren für die Freiheit dieses undankbaren Landes starb, wie wir heute sterben werden.«
»O, ich habe Mut, Aimée, glaube mir – aber der Tod ist nur so schrecklich …«
Die Scene wurde durch die Flüche der erbitterten Soldaten unterbrochen, welche die Verurteilten mit erneuerten Stößen und Schlägen vorwärts trieben.
Der Lord, so sehr er auch sonst seinen Gleichmut wahrte, konnte sich nicht enthalten, der rohen Brutalität gegenüber seinem Unmut Worte zu geben. »Pfui! Schämt Euch! Ein wahrer Soldat,« sagte er unwillig, »sollte als Sieger nicht den Besiegten, dem Tode verfallenen mißhandeln!«
Ein zweiter Blick des ihm unbekannten Unglücklichen traf ihn, aber die beiden wurden nach dem Ausgang zum innern Hofe fortgeschleppt, der durch ein Gitter verschlossen war.
»Hoho Pequin! Wer kräht denn da? Wirst zeitig genug dran kommen, Spitzmaus! Wen bringst Du da, Robineau? Hier herein mit dem Burschen! Wie steht's auf den Boulevards?«
Der Sergeant aber machte sich Platz durch das Gedränge und zog den Lord nach sich, an dem Eingang des Gerichtssaals vorbei.
»Nicht da!« sagte er lachend, »das ist nichts für die Offiziere da drinnen. Ein vornehmer Herr, ein Engländer, ein Mylord, der bloß hierher kommt, um unsere schöne Kaserne zu sehen. Die Engländer, wißt Ihr doch, sind närrische Käuze und verstehen unser Französisch immer nur halb!« So zog er ihn halb mit Gewalt durch die Menge und führte ihn einen Korridor entlang.
»Ich muß gestehen, Mylord, Sie sind verteufelt bereit, sich und andere Leute in eine Patsche zu bringen. Aber hier ist der Ausgang nach dem Hof, in dem sich die Verurteilten befinden. Der erste Transport wird, wie ich eben gehört, in fünfzehn Minuten abgehen. Sehen Sie also zu, ob Sie die Person darunter finden, die Sie suchen und sagen Sie ihr Lebewohl, denn helfen können Sie doch nicht. Gegen das Urteil des Kriegsgerichts gilt keine Appellation.«
An der Seitenthür, durch die sie in den Hof traten, stand ein doppelter Posten; Schildwachen mit gespanntem Hahn, die Gefangenen bewachend, waren ringsum postiert.
Die letzteren teilten sich in zwei Haufen. Den einen – es waren siebenundsechzig Personen aus verschiedenen Ständen und von verschiedenem Alter – bildeten diejenigen, die binnen wenigen Minuten nach dem Marsfeld transportiert werden sollten.
Auf der andern Seite befanden sich jene, über welche das Kriegsgericht erst seit Mittag verhandelt und abgesprochen hatte. Man erwartete nur die Bestätigung des Kriegsministers und den Befehl, die Exekutionen alsbald vollstrecken zu lassen, und eine Kompagnie Infanterie hatte sich bereits zur Eskorte im vordern Hofe aufgestellt, während eine starke Abteilung Lanziers vom Place de la Concorde her sich an dem Ausgang der Kaserne sammelte, um den Transport nach dem Marsfeld zu sichern.
In der Begleitung des Sergeanten schritt der Lord zu den Gefangenen, die teils finster und stumm in starrer Resignation, teils mit bangem Entsetzen oder in großer nur mühsam unterdrückter Erregung das drohende Schicksal erwarteten; denn jede laute Äußerung wurde von den wachhaltenden Soldaten mit Mißhandlungen und Binden der Gefangenen unterdrückt.
Auf einer Steinbank an der Mauer saßen zwei Männer in ernstem stillem Gespräch oder trauerndem Nachsinnen. Ihre Hände waren nicht gebunden, die Soldaten behandelten sie vielmehr mit einer gewissen Achtung, da die militärische Haltung des einen Gefangenen unverkennbar war, und beide sich mit Resignation in das Unabänderliche gefügt hatten.
Es waren Samson, der algierische Kolonist, und Kapitän Fromentin.
Bewaffnet, im Widerstand gegen eine Schildwache ergriffen, der Arbeiter schon wegen seiner Teilnahme an der Juni-Emeute verbannt und ohne Erlaubnis zurückgekehrt, der Offizier als Unzufriedener und Antibonapartist, ein ehemaliger Adjutant Lamoricières, aus dem Dienst geschieden, waren sie ohne weiteres infolge der Proklamation des Standrechts zum Erschießen verurteilt worden. Der Kolonist wußte, daß er auf keinen Beistand rechnen könne, der Offizier war zu stolz und zu erbittert, den eines Freundes anzurufen. Ohnehin war der Sturm der Ereignisse so rasch und gewaltig, so überstürzend, daß auf gewöhnliche Wege gar nicht zu rechnen war.
Nicht einmal den Knaben, seinen Bruder, hatte der Kapitän gesprochen; sein letzter Wunsch und seine Absicht war, es zu vermeiden, daß der alte Invalide, sein Vater, beunruhigt werde, bevor alles vorbei sei. Das frevle, egoistische und herzlose Spiel der Frau, die er so aussichtslos und schmerzlich geliebt, das unglückliche Schicksal des armen, halbirren Mädchens, dessen ganze schwärmerische Liebe er erst bei ihrem strömenden Lebensblut erkannt, sie hatten einen tiefen, das Leben ihm gleichgültig machenden Eindruck auf ihn hervorgebracht.
Der Gamin war gegenwärtig gewesen beim raschen Spruch des Kriegsgerichts. Von den rauchenden Trümmern ihrer Wohnung, als er nirgends seinen greisen Vater auffinden konnte, war er nach der Kaserne geeilt, wohin, wie er wußte, die beiden Gefangenen vom Observatoire gebracht werden sollten, während Mutter Tirebouchon, die er in seiner Not herbeigeholt, die Leiche der armen Mortelle in ihr Haus bringen ließ. Er hatte Armand treu auf seinen Posten gefunden, und die beiden jungen ratlosen Burschen hatten sich vergeblich den Kopf zerbrochen, was sie thun könnten. Der Gamin wußte, daß sein Vater dem Prinz-Präsidenten persönlich bekannt sei, und hierauf baute er seine letzte Hoffnung zur Rettung des Bruders.
Aber Stunde auf Stunde verstrich, aus den Straßen der inneren Stadt rollte der Donner des blutigen Kampfes herüber, und nirgends war eine Spur des Leierkästners zu ermitteln. Auch der Fossoyeur, den er befragen wollte, war verschwunden; wo sollte er sie suchen in dem unermeßlichen Paris, das in diesem Augenblick ein Tod und Verderben speiender Vulkan war!
Der Lord, das Glas ins Auge geklemmt, von dem Sergeanten begleitet, schritt spähend durch die Reihen der Gefangenen.
Plötzlich blieb er stehen; er hatte den Kolonisten erblickt, den er selbst aus Afrika mit herübergebracht hatte.
»Sieh da, Master Samson, treffen wir uns hier? Sie sind etwas nachlässig gewesen mit den versprochenen Berichten!«
Er reichte ihm die Hand, der arme Arbeiter starrte ihn erstaunt an.
»Um's Himmelswillen, Mylord, wie kommen Sie hierher? Sie sind verhaftet und verurteilt wie wir?«
Der Wackere dachte zuerst an die Gefahr des andern.
»Beruhigen Sie sich, mein Braver, ich gebe zwar nicht viel auf meine Pairschaft, aber sie verhindert wenigstens, mich so mir nichts, dir nichts einzusperren. Ich habe von Ihrer Gefahr gehört und bin gekommen, Ihnen zu helfen.«
»Das ist zu spät, Herr! Es ist schwer, jung zu sterben, wenn man im fernen Lande Weib und Kind hilflos zurückläßt. So, Mylord, wenn Sie etwas für den armen Renaud thun wollen, nehmen Sie sich der Seinen an!«
»Ich denke, ihnen ihren Ernährer selber zurückzugeben. Aber es ist keine Zeit mehr! Mein Braver!« er wandte sich gegen den Sergeanten, »haben Sie sich erkundigt, wie ich Sie bat, aus welchen Mitgliedern das Kriegsgericht besteht?«
»Ja, Mylord!« Er nannte sie.
Der Engländer hatte das Portefeuille geöffnet, das sein Kammerdiener ihm gebracht und verglich rasch die genannten Namen mit einem Verzeichnis, das ein Blatt enthielt.
»General … es ist nichts mit ihm aber hier – Oberst Daguerre! halten Sie einmal, mein Lieber, es genügt.« Er schrieb mit Bleistift einige Worte auf seine Karte und gab sie dem Sergeanten. »Händigen Sie das sofort Oberst Daguerre ein, und sorgen Sie für einen Ort, wo ich mich ungestört fünf Minuten mit ihm unterhalten kann, es wird mir den Weg zu Herrn von St. Arnaud ersparen, der wahrscheinlich so genug beschäftigt ist.«
Er drängte den Sergeanten fort, denn im Vorhof ließ sich verdächtiger Trommelschlag hören.
»Ich denke, mein Lieber,« fuhr der Lord zu Samson fort, »Sie werden in zehn Minuten frei sein und in einer Stunde auf dem Weg zu Ihrer Familie, wenn Sie sonst nichts weiter in Paris zurückhält. Brown soll Sie bis Marseille begleiten, damit Ihnen unterwegs kein Hindernis aufstößt. Sie sehen, daß ich den Löwen nicht vergessen habe!«
»Mylord,« sagte der Überraschte mit keuchendem Atem, denn die unerwartete neue Aussicht schnürte ihm das Herz zusammen, »selbst wenn es Ihnen gelänge und wozu hätten Sie nicht die Macht! ich könnte Ihre Güte doch nicht annehmen!«
» Goddam! Das wäre! Haben Sie vielleicht eine besondere Liebhaberei dafür, sich füsilieren zu lassen?«
»Nein, Mylord, aber ich werde unter allen Umständen das Schicksal meines Freundes, Kapitän Fromentins teilen!«
Der Lord verneigte sich leicht. »Bah! das ist kein Hindernis. Ich habe nicht die Ehre gehabt, dem Herrn Kapitän weiter bekannt zu sein, als durch eine flüchtige Vorstellung, sonst hätte ich ihm schon meinen Beistand angeboten! Graf Montboisier hat mir von Ihrem unterbrochenen Duell bei den Katakomben erzählt. Ich werde ihm jedenfalls einen Dienst erweisen, wenn ich Sie bitte, die meinen anzunehmen!«
Der Kapitän schüttelte die dargebotene Hand. »Es wäre eine Thorheit, den Beistand eines Gentleman zurückzuweisen, wenn ich auch fürchte, Ihre Bemühungen kommen zu spät.«
»Bah! wenn es so nicht geht, wird es auf einem andern Wege gehen. Mehr als ein Dutzend entschlossener und wohlgeeigneter Männer harren vor dem Thor der Kaserne auf meinen Wink, halten Sie also für den Notfall die Augen offen und sich bereit. Aber ich glaube, es wird nicht nötig sein, denn dort kommt mein braver Sergeant!«
In der That kam dieser eilig über den Hof. »Mylord,« sagte er, »der Oberst erwartet Sie. Aber beeilen Sie sich, denn der Befehl zum Abmarsch der Gefangenen ist soeben gegeben.«
Der Lord öffnete das grüne Portefeuille, prüfte auf dem Papier die Nummer bei dem Namen des Oberst Daguerre und suchte nach dieser aus den zahlreichen Briefschaften, die das Portefeuille in seinen Taschen enthielt, ein Papier. Als er es gefunden, steckte er es zu sich und verschloß sorgfältig die Mappe.
»Sie werden mir erlauben, dieses Portefeuille einige Minuten Ihrer Ehre anzuvertrauen, Monsieur Robineau,« sagte er zu dem Sergeanten, »und nun lassen Sie uns gehen.«
Mit einem ermutigenden Kopfnicken gegen seine Schützlinge folgte er dem Soldaten über den Hof nach der Seitenthür des Korridors. Er sah noch, wie ein Offizier mit starker Wachmannschaft in den Hof trat, und die Gefangenen von ihren Wächtern zusammengetrieben wurden.
Der Sergeant öffnete die Thür eines Zimmers und winkte dem Lord einzutreten, dann schloß er sie und wartete auf dem Gange neugierig auf den Erfolg des seltsamen Originals.
Der Viscount, der mit dem Tritt über die Schwelle ganz die ruhige kalte Haltung des englischen Aristokraten annahm, sah sich einem großen Offizier mit finsterer Miene und einem schiefen Blick des linken Auges gegenüber.
»Lord Heresford?«
»Der bin ich, Sir!«
»Sie haben gewünscht, mich in dringender Angelegenheit unverzüglich zu sprechen. Hier bin ich, womit kann ich Ihnen dienen?«
»Mit zwei Menschenleben!«
Das finstere Gesicht des alten Offiziers wurde noch dunkler. »Ich verstehe Sie nicht, mein Herr, Sie sprechen in Rätseln.«
»Um kurz zu sein, Sir, ich wünsche die Begnadigung und Rettung zweier Personen, die unter den Verurteilten sich befinden, die soeben fortgeführt werden sollen. Hätten wir Zeit, so würde ich mich sicher an den Prinz-Präsidenten gewandt haben und wäre der Begnadigung gewiß. So bin ich gezwungen, mich an Sie zu wenden.«
Der Oberst lächelte höhnisch. »Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mylord, für das Vertrauen, das Sie mir schenken, aber ich fürchte, daß ich ihm nicht entsprechen kann.«
»O doch, Sir, wir wollen einen Handel machen!«
»Ich bin kein Engländer, Mylord, und im Augenblick sehr pressiert.«
»So verweigern Sie meine Bitte?«
»In einer halben Stunde werden die Meuterer erschossen sein.« Er machte eine kurze Verbeugung zum Zeichen des Abschieds.
»Es ist wahr, Sir, ich vergaß, daß Sie immer mit Meuterern sehr streng sind und das Erschießen für die einzige Kur halten.«
Der Oberst, der bereits an der Thür stand, blieb stehen.
»Wie meinen Sie das?«
»O nichts! Sie haben bloß Ihre Pflicht erfüllt. Ich werde meinem guten Bekannten, Herrn Louis Bonaparte, dem gegenwärtigen Präsidenten und wenn mich nicht alles trügt, dem baldigen Kaiser von Frankreich, nur diesen Brief zeigen, um ihm zu beweisen, wie nahe er nach dem Boulogner Attentat selbst am Erschießen war, damit er künftig auch Rebellen gegenüber etwas milder verfährt.«
Der Oberst trat auf ihn zu. »Was für ein Brief, Sir?«
»O, einen kleinen Vorschlag, den ein gewisser Major im Jahre 1840 an den König Louis Philipp richtete.«
»Diesen Brief?«
»Hier ist er; der alte Herr war so gütig, mir ihn in Clarendon für meine Sammlung zu schenken, da er wußte, ich interessiere mich ein wenig für die Nachkommen des alten Napoleon. Die darin ausgeführten Gründe sind vortrefflich und die Beförderung für so gute Gesinnung war wohlverdient.«
Der Oberst war sehr blaß geworden; er warf einen raschen Blick im Zimmer umher und auf seinen Besuch, als wolle er sich versichern, ob er mit Gewalt gegen ihn einschreiten könne. Aber die ruhige Haltung des Engländers und sein bekannter Ruf mochten ihm wahrscheinlich bessern Rat geben, und er trat noch näher zu seinem Gegner.
»Bitte, Mylord – können Sie mir den Brief zeigen?«
»Sehr gern, Sir, nur muß ich Ihnen bemerken, daß ich, wie Sie vorhin sehr richtig bemerkten, als Engländer Kaufmann und daher etwas vorsichtig bin.«
Er zeigte ihm den Brief der Art, daß der Offizier die Schrift erkennen konnte.
Sie schien großen Eindruck auf diesen zu machen, doch war der Kampf nur kurz. »Mylord,« sagte er sehr höflich, »ich muß Sie benachrichtigen, daß auch ich ein sehr größer Liebhaber von Autographieen bin, und ich Sie daher bitte, mir diesen Brief zu verkaufen.«
»Mit Vergnügen – nur beschmutze ich mich bei einem Handel nie mit Geld.«
»Und der Preis?«
»Sind die Herren Fromentin und Samson, die soeben in recht zahlreicher Gesellschaft nach dem Marsfeld geführt werden sollen.«
»Es ist unmöglich, das Urteil zurückzunehmen,« sagte nachdenkend der Beisitzer des Kriegsgerichts. »Der General ist streng und hat seine Instruktionen. Wenn man wenigstens sicher wäre, daß die Leute nicht in Paris blieben!«
»O, es ist alles bereit, sie nach Algerien zu schicken! Überdies wird heute manches Versehen mitunterlaufen.«
»Das ist wahr! wohin wünschen Sie die Männer?«
»Nach welcher Seite werden die Verurteilten abgeführt?«
»Über die Quais!«
»Dann werde ich Sie in zehn Minuten an dem Ausgang der Rue de Lille erwarten. Wenn Sie etwa eine helfende Hand brauchen können, die bekannt in der Kaserne ist, so empfehle ich Ihnen den Sergeanten, der Ihnen meine Karte gebracht hat und mich vor der Thür erwartet. Ich schulde ihm 20 Napoleonsdors für seine Gefälligkeiten.«
»Es ist gut! Kommen Sie, Mylord.«
Er öffnete ihm die Thür und ging ihm voran nach einem der Fenster, die auf den inneren Hof führten. Die Gefangenen waren bereits zu einem Zuge fünf Mann hoch aufgestellt.
»Können Sie mir von hier aus die Personen zeigen?«
»Sehr leicht! Dort im dritten Glieds die beiden Männer nach unserer Seite, der eine trägt eine Blouse, der andere den dunklen Überrock. Sie sind nicht zu verkennen.«
»Nein! Gehen Sie jetzt, Mylord, und erwarten Sie mich. Und das Autograph?«
»Es steht Ihnen in der Straße de Lille zu Diensten.«
»In zehn Minuten. Bringen Sie diesen Herrn an das Thor zum Quai, Sergeant, und sorgen Sie dafür, daß er keinen Aufenthalt erfährt. Dann kommen Sie hierher zurück und erwarten mich auf dieser Stelle.«
»Zu Befehl, Colonel!«
Der Offizier machte dem Engländer eine kurze Verbeugung und ging eilig nach dem Hof, wo bereits die Trommel zum Antreten rasselte. Der Viscount folgte seinem Führer.
Der Oberst war über den Hof rasch zu der Kolonne geschritten, die sich soeben in Marsch setzen wollte. »Einen Augenblick,« sagte er zu dem Offizier der Eskorte. »Das Gericht wird in die Notwendigkeit kommen, noch des Zeugnisses dieser zwei Burschen zu bedürfen. Sie können mit dem nächsten Transport folgen.« Er fixierte die beiden ihm bezeichneten Männer und überzeugte sich, daß sie die rechten. »Tretet aus und folgt mir!«
»Aber, Colonel,« wandte der Offizier ein, »hier ist meine Ordre, ich habe an den Kommandierenden auf dem Marsfeld 67 Personen abzuliefern und muß dafür einstehen.«
»So nehmen Sie zwei von jenen dort; es ist gleich, ob sie eine Stunde früher oder später die Kugel bekommen.« Er wies auf die beiden Unglücklichen, die Brüder, die vorhin unter Mißhandlungen aus dem Gerichtssaal gebracht worden waren. »Bringt sie hierher!«
Rohe Soldatenhände griffen nach ihnen; aber der Ältere, mit dem Tuch um die blutende Stirn schritt fest und hoch aufgerichtet zu der Lücke, die er mit seinem Herzblut zu füllen bestimmt war.
»Komm, Gaston, wir werden um so eher frei und bei unserm Vater sein!«
Die Trommel wirbelte. »Marsch!«
Während der Zug sich nach dem Hauptportal in Bewegung setzte, führte Oberst Daguerre die beiden Gefangenen nach dem Korridor zurück, von zwei Schildwachen begleitet, die er am Eingang fortschickte. Dann ließ er die beiden in die Stube eintreten, in der die Unterredung mit dem Lord stattgefunden und kehrte zu dem Sergeanten zurück, der nach dem erhaltenen Befehl bereits seiner mit sehr guter durch die erhaltenen 20 Napoleonsdors erweckter Laune harrte.
Wenige Worte genügten zur Verständigung, und der Oberst trat alsbald wieder in das Zimmer, wo die beiden Freunde der Entscheidung ihres Schicksals warteten.
»Sind Ihre Namen Fromentin und Samson?«
»Ja, Colonel!«
»Dann kündige ich Ihnen Ihre Rettung an, unter der Bedingung, daß Sie, ohne zu fragen, sich den Anordnungen fügen, Frankreich sofort verlassen und Ihr Ehrenwort geben, nie von dem Anteil zu sprechen, den ich an Ihrer Rettung gehabt habe!«
Der Entschluß der Freunde war rasch gefaßt; ein nutzloser Tod auf der einen Seite, ein neues Leben voll Thätigkeit und Hoffnung auf der anderen. Der Kapitän gab in beider Namen sein Ehrenwort.
Der Oberst öffnete die Thür, Sergeant Robineau trat mit zwei Militärmänteln und Kappen ein, mit denen sich die Freunde rasch bekleideten. So führte der Sergeant sie durch den langen Seitenflügel der Kaserne, während der Oberst vorausging und bei der hinteren Thorwache stehen blieb, bis sie diese ungehindert passiert hatten.
Erst jetzt wagten die Verurteilten an ihre so plötzliche und wunderbare Rettung zu glauben, und der Atemzug der Freiheit schwellte ihre Brust.
Der Oberst blieb unweit des Ausgangs der Kaserne stehen; er hatte noch keine Minute gewartet, als von der Seite her, wohin sich die Flüchtenden entfernt, ein zweimaliges Händeklatschen ein Signal gab, und darauf sofort aus dem Dunkel der Kammerdiener des Lords hervortrat und sich ihm näherte.
»Oberst Daguerre?«
»Der bin ich!«
»Dann habe ich Ihnen den Dank Seiner Herrlichkeit, des Lords Heresford, zu sagen und Ihnen dies auszuhändigen.«
Der Offizier riß das Couvert im Licht der nächsten Laterne ab und erkannte die Handschrift seines jetzt so gefährlichen Berichts.
Er zerriß das Papier in kleine Stücke und streute sie umher. Erst nachdem dies geschehen, kehrte er, ohne den Boten weiter eines Wortes zu würdigen oder sich um die Befreiten zu kümmern, eilig nach der Kaserne zurück.
Auch der Sergeant mochte es für gefährlich halten, sich weiter mit ihnen zu beschäftigen, denn an der Ecke der Straße Courty hatte er sie verlassen und eilte auf einem andern Wege nach dem Quai zurück.
Die beiden Männer waren nicht so bald allein, als Kapitän Fromentin sich von zwei Armen umschlungen und von Meister Jacques, dem Gamin, unter nur mühsam unterdrücktem Jubel umarmt sah.
Zugleich zogen Freundeshände sie mit sich fort aus der gefährlichen Nähe. Erst auf dem Place St. Clotilde hielt ziemlich atemlos die Gruppe an. Ein Wagen, mit vier Pferden bespannt, stand an dem Seitenportal der Kirche.
» Goddam!« sagte der Lord, denn dieser selbst mit dem Grafen hatte sie hierher begleitet, »wir sind zur Stelle, und Sie können abreisen. Monsieur Samson, ich denke, wir sind quitt für Ihren Schuß auf den Löwen!«
Der Kapitän faßte seine Hand. »Wir schulden Ihnen Leben und Freiheit, Mylord,« sagte er warm. »Wie soll ich Ihnen danken, daß Sie sich eines Fremden angenommen?«
»Bah, Sie hören ja, daß Monsieur Samson nicht allein mir das Vergnügen machen wollte, ihn Seiner Majestät dem künftigen Kaiser von Frankreich zu eskamotieren. Überdies hat mir hier Herr von Montboisier so viel von Ihrem unterbrochenen Duell erzählt, daß ich neugierig war, den Ausgang zu erfahren.«
Der Graf war näher getreten und reichte dem ehemaligen Rivalen die Hand. »Nehmen Sie meinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihrer Rettung, Kapitän. Hier durch den Burschen, Ihren Bruder, der, wie er sagt, bei unserm Rendezvous in der Rue des Catacombes mich gesehen und mich vorhin, als wir auf dem Quai d'Orsay auf den Erfolg des Versuchs Mylord Heresford warteten, wiedererkannt und angesprochen hat, hörte ich mit Sicherheit, daß auch Sie gefangen und verurteilt wären. Gott sei Dank, daß Mylord Ihre Rettung gelungen, denn valga me Dios! die Zeit wäre etwas kurz gewesen zu jedem andern Versuch!«
» Parbleu!« sagte der Gamin, »sie hätten ihn nicht erschießen sollen, so lange ich und Papa Touron noch dabei waren!«
»Wo ist der Vater, Jacques?«
»Zum Präsidenten, um das Urteil dieser Spitzbuben von Richtern kassieren zu lassen. Er hat vornehme Bekanntschaften, Papa Touron, und wird ihnen im Elysee einen schönen Lärm machen, daß sie einen so braven Offizier, seinen Sohn, wie einen Rebellen erschießen wollen. Du und Renaud, Ihr wäret längst frei gewesen, wenn der Vater eher als vor einer Stunde nach unserm verbrannten Hause zurückgekommen wäre. Das ist eine Geschichte, Hektor, die Du auch noch nicht weißt – aber ich habe es dem Spitzbuben gesalzen, es war Blut auf der Stelle, wo er in den Garten gesprungen. Der Teufel weiß, wo Papa Touron die Nacht und den Tag gesteckt hat, denn er selbst will kein Wort davon sagen.«
Der Lord unterbrach den Gamin, der sich der Hand des Bruder bemächtigt hatte und unter seiner Erzählung mit hundert possenhaften Liebkosungen seine Freude äußerte. »Wenn Sie mich nicht ins Hotel der englischen Gesandtschaft begleiten wollen,« sagte er, »so wird es am besten sein, wenn Sie abreisen. Der Wagen steht hier, um Monsieur Samson nach Marseille zu schaffen, wo er sich einschiffen kann. Master Brown wird ihn sicher an Bord eines Schiffes bringen, denn es ist nicht mehr als billig, daß ich für seine Rückkehr sorge, weil ich ihn mit nach Paris gebracht. Was Sie betrifft, mein Herr, so beschließen Sie selbst über das, was Sie thun wollen: doch dünkt mich. Sie thäten wohl, ihn zu begleiten, bis Ihre Freunde Ihnen volle Sicherheit erwirkt haben.«
Der Kolonist warf sich in die Arme seines Freundes. »Komm mit mir, Hektor; in der Wüste, unter den Löwen und Arabern wird uns wohler sein, als in dieser mit Fluch beladenen Stadt!«
Der ehemalige Artillerie-Offizier reichte ihm die Hand. »Du hast recht, Renaud, in der Wüste, unter der glühenden Sonne Algeriens können wir vielleicht beide vergessen. Der Name Hektor Fromentins wird hoffentlich seinen Kriegsgefährten am Atlas noch so gut im Gedächtnis sein, daß sie ihm eine Freistätte gewähren!«
»General Pelissier,« bemerkte der Lord, »ist ein Republikaner und schwerlich mit diesem Streich des Herrn Bonaparte einverstanden. Ich werde dafür sorgen, daß Sie in Marseille Briefe an ihn vorfinden. Und nun vorwärts, meine Herren, denn die Zeit ist kostbar.«
Der Kapitän drückte seinen Bruder ans Herz und bestellte ihm den Abschiedsgruß an den Vater, dem er, sobald er in Sicherheit, schreiben werde. Dann reichte er Montboisier und dem Lord die Hand.
»Sagen Sie jener Frau,« sprach er, »daß ich sie in all ihrem stolzen Reichtum verachte, wie ihren Bruder, denn ihr fehlt des Weibes beste Zierde, das Herz, ein Herz, wie es jene Arme in der Brust trug, die das blutige Opfer ihrer Falschheit geworden. Leben Sie wohl, Mylord, und wenn Sie in Ihrem seltsamen Leben und Thun zweier Männer bedürfen, die bereit sind, ihr Leben für Sie einzusetzen, so rufen Sie uns. Leben Sie wohl, und Gott schütze das arme Frankreich vor der Hand seines Tyrannen!«
Der Ansiedler saß bereits im Wagen, während Master Brown in seinen Mantel gehüllt auf dem Bock Platz genommen, und der Kutscher ungeduldig die Pferde hielt. Der Kapitän hatte eben den Fuß auf den Tritt gesetzt, als der Lord ihn noch einmal aufhielt.
» Damn! Ich hätte beinahe das Wichtigste vergessen, Ihr Duell, Kapitän. Wo zum Henker haben Sie diesen Kavalier von der Börse gelassen?«
»An der Source d'Oubli in den Katakomben!«
»Ich hätte darauf tausend Pfund wetten wollen. Aber tot oder lebendig?«
»Er wäre des Pulvers nicht wert gewesen, das ein ehrlicher Mann an ihm verschwendet hätte! Er lebt, es müßte ihn denn seine eigene Feigheit getötet haben.«
»Die Börsenjobbers haben ein zähes Leben,« sagte der Lord. »Und damit Gott befohlen!«
Der Postillon schlug auf die Pferde, und der Wagen rasselte davon.
Der Lord und der Graf sahen ihm einige Augenblicke noch, der erstere rieb sich spöttisch lachend die Hände. »Ich denke,« sagte er, »Seine Hoheit der Präsident von Frankreich hat diesmal die Partie an mich verloren, und wir können uns entfernen!«
Montboisier sah sich um. »Ich sehe Ihren Begleiter nicht mehr bei uns, Mylord?«
»Bah, was wollen Sie! Der Mann hat seine kleinen Henker-Liebhabereien und wird sich die Exekution auf dem Marsfeld nicht entgehen lassen. Ich meine, es wird interessanter sein, Ihren künftigen Schwager aufzusuchen, als Master Peard, den Menschenjäger, der im Elysée seinen Meister gefunden hat!«
Der alte Invalide von der Ponte de la Concorde war durch General Roguet bis zum Nachmittag des verhängnisvollen Tages, wie der Präsident befohlen, in dem Palais Elysée unter strenger Bewachung zurückgehalten worden. Als alter Soldat fügte er sich dem Befehl, obschon der bis ins Elysée schallende Donner der Kanonen und die militärischen Bewegungen ihm verrieten, daß in der Stadt aufs neue gekämpft wurde, und obwohl die Besorgnis um seine Söhne – um den älteren, weil er den Ausgang des Duells nicht kannte, und ihn in der Gesellschaft eines früheren Mitgliedes der Klubs wußte; um den jüngeren, weil er überhaupt seinen Leichtsinn kannte, der ihn sicher veranlassen würde, die Nase in den Kampf zu stecken – sein Herz drückte.
Er sah sich daher kaum frei, als er, ohne sich um die politischen Vorgänge zu kümmern, nach seinem Häuschen eilte.
Er fand zu seinem Schrecken nur die Brandstätte und erst nach langem Forschen ward ihm bei seiner Freundin, der Wirtin zur goldenen Kanone, Erklärung. Dort traf er auch seinen jüngeren Sohn wieder, der seit dem Brande seine Zeit zwischen dem Aufsuchen des Alten und den Versuchen, zu seinem Bruder zu dringen, geteilt hatte, und dessen Angst um beide mit jeder Stunde gestiegen war.
Gleich dem Löwen, dessen Brut der Jäger bedroht, richtete der alte Krieger sich empor, als er die Gefahr erfuhr, die seinem Stolz, seinem Sohne Hektor drohte. Mit jenem fanatischen Vertrauen für den Namen Napoleon zweifelte er keinen Augenblick, daß sein hoher Gönner nichts eiligeres zu thun haben werde, als ihm den Sohn zurückzugeben, und indem er Jacques an der Kaserne zurückließ, machte er sich eilig auf den Rückweg zum Elysée.
Aber hier fand er, so rasch sie sich seiner Entfernung geöffnet hatten, zu seinem Entsetzen die Thüren gesperrt und den Zutritt in jeder Weise erschwert.
Der alte Soldat, der die kostbare Zeit verrinnen sah, bat und flehte vergeblich, ihn wenigstens zu General Roguet zu führen, auf den er sich berief. Der General war bei dem Präsidenten und das strengste Verbot erlassen, den Prinzen zu stören.
Die Angst begann den Alten aller Besonnenheit zu berauben, seine Kraft war fast erschöpft und er lehnte mit Verzweiflung, die brennende kahle Stirn in die Hand gestützt, an den Pfeilern der Auffahrt, als eine Hand sich auf seine Achsel legte und eine Stimme, die ihm wie der Gesang der Engel klang, ihn freundlich beim Namen nannte.
» Pardioux, Kamerad,« sagte der Anredende, »ich hätte Dich im Schein dieser Flambeaux beinahe nicht wieder erkannt. Ich hätte Dich heute Morgen aufgesucht, wenn es nicht so verteufelt blutig in Paris zugegangen wäre. Aber was hast Du, Kamerad? Du siehst aus, als hätten die Preußen oder Russen Dir über Nacht Deine Batterieen gestohlen!«
Es war der Haciendero, der Veteran, den er am Abend vorher in den Gemächern des Prinzen getroffen und wieder erkannt hatte, der ihn jetzt so freundlich ansprach, indem er das Elysée verließ. Wie ein Blitz kam ihm der Gedanke, daß Gott diesen Mann sende, um ihm beizustehen.
Er streckte ihm flehend die Hand entgegen.
»Um Gotteswillen, Colonel, helfen Sie, stehen Sie mir bei, oder alles ist verloren!«
»Was giebt's, was hast Du, Kamerad?«
»Ich muß zum Prinzen, ich muß ihn sprechen, Tod und Leben hängt davon ab, und diese Schurken von Rekruten verweigern einem alten Soldaten den Eintritt!«
»Es ist unmöglich, zum Prinzen zu gelangen,« sagte der Oberst. »Er hat sich eingeschlossen und sieht niemand als Roguet!«
»Er muß mich sehen, wenn er das Herz eines Bonaparte für seine alten Soldaten hat! Die Augenblicke vergehen und meines armen Hektor Leben hängt von Minuten ab, es ist vielleicht schon zu spät, während ich hier müßig um Eingang bettele. Um Gottes Barmherzigkeit willen, bei der Erinnerung an die Beresina, Oberst, führen Sie mich zu General Roguet!«
»Du sollst ihn sehen! aber was ist geschehen, Mann, rede! sprich!«
»Meinen Sohn, den Stolz meines Alters! meinen Hektor – sie wollen ihn töten!«
Der Colonel zog ihn zur Seite. »Das ist ernsthaft! Komm hierher, wo wir ungestörter sind. Nun rede, Kamerad, Du weißt, daß meine Person und mein Vermögen Dir zu Diensten stehen!«
Der Invalide berichtete in fliegender Eile, was er von Jacques gehört. Der Haciendero sah nach der Uhr.
»Dann ist es die höchste Zeit, denn ich hörte drinnen, daß der Befehl zur Exekution so eben gegeben worden. Die beiden Gefangenen müssen gerettet werden, ich zahle Dir mein Leben mit dem Deines Sohnes! Komm mit, Kamerad, wir wollen den Befehl zur Freilassung haben, und sollte ich die Thüren eintreten.«
Vor dem Ansehen des vornehmen Edelmanns wichen die Schildwachen, und der Colonel führte den Invaliden rasch ins Innere des Palais, wo sich jetzt Offiziere und Beamten drängten.
Aber so sehr er dort auch bekannt war, gelang es ihm nur mit Mühe, sich durchzuwinden, und er war gezwungen, den Invaliden in dem untern Foyer zu lassen, um den alten Adjutanten und Vertrauten des Prinzen aufzusuchen.
Die Minuten wurden dem armen Vater zu Jahren, während er so harrte, das Herz war ihm wie von eisernen Klammern zugeschnürt, und kalter Schweiß perlte von seiner Stirn.
Sein Auge starrte fest auf die Treppe, wo sein Gönner, seine letzte Hoffnung, verschwunden war.
Wie eine Bergeslast fiel es endlich von seinem Herzen, er hätte laut aufschreien mögen, als er nach einer bangen halben Stunde den Colonel auf der Höhe der Treppe erscheinen sah. Er schwang ein Papier in der Hand, sein Gesicht strahlte vor Freude und Genugthuung.
Der Colonel kam eilig zu ihm. »Sie sind gerettet, mein Alter! hier ist die Ordre!«
Der Invalide hob andächtig die Kappe. »Ich wußte es wohl. Der Neffe des Kaisers ist wie er! furchtbar gegen seine Feinde, ein Herz voll Güte für seine Treuen! Es lebe der Kaiser!«
Der Ruf pflanzte sich durch die Menge fort und draußen vor dem Portal donnerte aus tausend Kehlen der Ruf: » Vive Louis Napoleon! Vive l'Empereur!«
Der Haciendero hatte den Arm des Invaliden genommen. Er war selbst zu erfreut über den Dienst, den er ihm leisten konnte, als daß er ihm hätte sagen mögen, wie er nur nach langem Mühen und Drängen die Begnadigungsordre hatte erwirken können. »Und nun fort, Kamerad, ich begleite Dich und will mir selbst das Vergnügen machen, Deinen Sohn Dir wieder zu geben. Gott sei Dank! noch ist es nicht zu spät, wie die Adjutanten versichern, aber besser ist besser, und wir wollen unsere Zeit nicht verlieren.«
Die beiden Veteranen verließen eilig das Elysee, Papa Touron konnte kein Ende finden, den Nachfolger seines großen Kaisers zu rühmen und auf die Roten zu donnerwettern, die sich ihm zu widersetzen gewagt.
Vergeblich hatte der Colonel sich auf dem Platz nach einem Wagen umgesehen; alles Gefährt war infolge der Ereignisse von den Straßen verschwunden.
Sie schritten rasch vorwärts, aber die auf dem Concorde-Platz kampierenden Truppen verzögerten ihren Weg. Erst nach einer halben Stunde kamen sie an dem Eingang der Kaserne an.«
Die erste Frage galt den Verurteilten.
Die erste Abteilung war vor einer Viertelstunde nach dem Marsfelde eskortiert worden.
Selbst das Bronzegesicht des Colonel erbleichte einen Augenblick, denn er wußte, besser als der Invalide, was jenes Ziel zu bedeuten hatte. Er eilte nach dem Saal, wo das Kriegsgericht noch in Permanenz saß.
Wenige Augenblicke nachher kam er zurück, sein Gesicht war noch bleicher als vorher.
»Ich mag Dir nicht verhehlen, Kamerad,« sagte er erregt, »daß Dein Sohn nicht mehr hier ist und sich bei den Verurteilten befindet, die nach dem Marsfeld transportiert worden. Ihre Namen stehen auf der Liste. Aber sie können noch nicht weit sein, wir holen sie ein und ich rette Dir den Sohn, so wahr ich Massaignac heiße, und wir beide das Kreuz tragen!«
Der alte Leierkästner antwortete nicht, er eilte vorwärts, den Quai entlang.
»Hierher Kamerad! über die Esplanade, es verkürzt den Weg!«
Über den Place Boubon, die Esplanade der Invaliden und die Rue de Grenelle eilten sie vorwärts. Die Brust des alten Invaliden keuchte, und einzelne Worte der Angst machten den Gefühlen, die sein Herz bedrängten, Luft, aber der Haciendero sprach ihm Mut ein und versicherte ihn, daß keine Gefahr vorhanden sei, obschon er selbst sich nicht der Besorgnis erwehren konnte.
Sie hatten die Avenue de la Motte Piquet eingeschlagen und kamen aus ihr auf den kolossalen Platz, der sich vor der Ecole Militaire in unabsehbarem Parallelogramm ausbreitet.
In demselben Augenblick, in dem sich ihnen ein das Blut in ihren Adern erstarrender Anblick darbot, sprengte hinter ihnen ein Reiter in vollem Galopp heran.
Der Colonel sah empor, während der Invalide, den Arm weit vorgestreckt, wie eine Bildsäule nach dem Platz starrte.
Aus dem Dunkel, desselben, denn die Gaslaternen waren zum großen Teil zerstört, hob sich ihnen gegenüber eine helle Stelle hervor. Hier brannten die Laternen, außerdem mehrere Flambeaux. Eine Chaine von Lanzenreitern trieb einen Haufen von Menschen vor sich her in die Mitte eines großen Carrés, das nur nach der Seite der Gebäude offen war. Auf jeder der drei Seiten des Carrés stand eine Abteilung von Jägern.
Den Ankommenden gegenüber sah man eine Gruppe von Offizieren halten, der befederte Hut ließ einen General erkennen, dicht davor standen sechs Tambours.
Man vernahm durch die Stille der Nacht deutlich das Kommando.
» Halte-là!«
Die Lanziers drängten den Haufen zusammen auf einen Platz, die Zögernden mit Lanzenstößen, neben der Stelle im Licht der Flambeaux, die man umher aufgestellt, gähnte eine weite dunkle Öffnung im Boden! der Menschenknäuel blieb in der Mitte des Carrés. Fäuste ballten sich drohend in die Höhe, andere umarmter: sich wie Brüder und Freunde, die Abschied von einander nehmen wollen, noch andere sanken in die Kniee und rangen verzweifelnd die Hände.
»Gusmann!«
Der Ordonnanz-Offizier parierte bei dem Ausruf sein Pferd, es war in der That der frühere Spahi, seit zwei Tagen der Ordonnanz-Offizier des Kriegsministers, der Sohn und Erbe des Haciendero.
»Senjor! Sie hier?«
»Dich sendet Gott! woher kommst Du?«
»Eine Ordre Seiner Excellenz an den General! die Exekution dieser rebellischen Schurken da soll auf der Stelle vollstreckt werden!«
»Dann Gott sei Dank ist noch Rettung! Hier eine Ordre des Prinzen zur Begnadigung zweier Verurteilten. Die Unglücklichen sind dort! im Carriere zu dem kommandierenden Offizier, Gusmann, bring' ihm die Ordre – wir holen die Begnadigten.«
»Hektor, mein Sohn! Du sollst nicht sterben!« Der alte Touron durchbrach die Posten-Chaine und lief nach der Mitte des Platzes, der Oberst folgte ihm trotz des Zurufs der Soldaten. »Ich begleite Dich, Kamerad, ich halte Dir Wort! Dein Sohn ist gerettet!«
Einen Augenblick blieb der junge Ordonnanz-Offizier auf der Stelle halten, wo ihn sein Vater verlassen. Er sah, wie dieser dem alten Invaliden nacheilte zur Gruppe der Gefangenen, eine dunkle Röte, wie ein finsterer unheimlicher Gedanke schoß über sein gelbes widriges Gesicht.
Dann galoppierte er hinter dem Carré entlang.
Plötzlich schmetterte ein Trompeten-Signal, die Lanziers machten Kehrt und kamen im Galopp nach den Linien der Postenkette zurückgesprengt.
Der Leiermann und der Millionär, die beiden alten Soldaten des Kaiserreichs, hatten atemlos den Haufen der Gefangenen erreicht.
»Hektor, mein Sohn! Hektor, wo bist Du? Dein Vater ist da!«
Der alte Mann drängte sich durch den Haufen, seine Blicke fuhren irr umher.
»Barmherziger Gott! mein Sohn! wo ist mein Sohn?«
Der Mann mit der Binde um die Stirn, an dessen aufrechter Gestalt sein Bruder niedergesunken war, seine Kniee wie zum Schutz erfassend, streckte die Hand nach oben. »Suchen Sie ihn dort, wo wir alle in einem Augenblick sein werden.«
Man hörte einen kurzen Trommelwirbel, der von den beiden andern Seiten des Carrés erwidert wurde.
Der Oberst stürzte vor den Haufen. »Die Wahnsinnigen – sie werden doch nicht schießen! Haltet ein! haltet ein! Gott sei Dank! da ist Gusmann bei dem General! er übergiebt das Papier!«
»Fertig! schlagt an!«
Der Oberst schwenkte sein Tuch. »Haltet ein! Es sind Unschuldige hier! Gusmann, mein Sohn!«
»Feuer!«
In dem kurzen Trommelwirbel mischte sich das Krachen einer dreifachen Salve und ein herzzerreißendes Geschrei.
Auf dem im Nu mit Blut bedeckten Boden krümmten und wanden sich schwer Getroffene, andere zuckten im letzten Kampf oder waren in die Knie gesunken, die Hand auf die Todeswunde gepreßt.
Sieben Männer standen aufrecht, darunter der Mann mit dem verbundenen Haupt.
Der Haciendero stieß einen leichten Schrei aus, warf die Arme in die Höhe und drehte sich um sich selbst. Dem Peloton entgegen eilend, hatte er die Kugel in die Brust erhalten.
»Zu Hilfe, Kamerad! ich sterbe – mein Sohn!«
Der alte Sergeant war bei ihm und fing ihn mit seinem gesunden Arm auf: »Um Gottes willen, Oberst, Sie sind getroffen?«
»Fertig! Schlagt an!«
Der Mann mit der blutigen Binde riß sie von der Stirn und schwang sie um sein Haupt. »Zielt besser, elende Knechte des Tyrannen! Es lebe die Republik!«
Der Oberst war in das Knie gesunken. »Ich sterbe Kamerad – die Rasenden morden uns mit, und er läßt sie schießen auf des Vaters Haupt.«
»Feuer!«
Durch den Rauch sprühte der Pulverblitz, von den sieben standen noch zwei, der Mann mit der Binde und der alte Sergeant von der Garde!
»Fluch dem Tyrannen! Nieder mit Bonaparte!« Der Republikaner stürzte in sein Blut.
Der Invalide hob seine Hand.
» Vive l'Empereur!«
Dann fiel auch er, der Ruf, mit dem er so oft in blutigen Schlachten dem Tode getrotzt, war sein letzter Hauch.
Durch die Nacht ritt langsam ein Reiter über den öden Platz der Invaliden.
Seine zuckenden Finger zerrissen ein Blatt Papier und streuten die kleinen Stücke umher, die Ordre zur Befreiung des Kapitän Fromentin und seines Gefährten.
Dann blickte der Reiter scheu über die Schulter zurück, sein Gesicht war bleich, bleicher als die der Toten, die man auf dem Marsfeld in die Grube warf; seine Zähne klapperten.
»Es ist vorbei,« murmelte leise der Reiter, »es ist nicht mehr zu ändern!«
Er schauderte zusammen, erschreckt von seinem eigenen Schatten, vor dem Laut der eigenen Stimme. Dann stieß er dem Pferde die Sporen in den Leib und jagte wie wahnsinnig davon.
Aber hinter ihm saß das Gespenst mit dem weißen Haar und dem starren Auge – –
Sein Vater!
»Der Teufel war bei mir, aber jetzt bin ich der Herr, und alles – alles ist mein!«