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... Solche Rede enttäuschte mich überaus.
Ein paar Minuten zuvor hätt ich mich wenig dran gekehrt. Einmal, weil die Urheberin sich auch sonst ziemlich gemein verständlich machte, und dann, weil soviel Angst daraus sprach, der Onkel könne uns im Verlaufe unseres Fehltritts ertappen. Aber mit der Sattheit kommt eben die Tugend, kommen die schönen Manieren, Gewissensbisse und Aufregung ...
Dann, wie's dann immer ist, sahen wir einander an. Und unsere Gesichter waren, wie sie seit Jahrtausenden nach einer solchen Sache zu sein pflegen: Das ihrige von einer ziemlich vernunftlosen Dankbarkeit, auf dem meinigen blödsinnigste Genugtuung...
Daß meine dialektsprechende Cypria schwieg, war gut, war unverhofft. Ich wünschte, daß dem recht lang so wäre. Da brach sie das Schweigen. Glücklicherweise kann der Inhalt die Form beeinflussen, so wie ein Mönch ein Kleid – ihre Ausdrucksweise mäßigte sich ein wenig vor den ernsten Dingen, die auch mich schon Augenblicke lang quälten. Sie verfolgte einen Gedanken:
»Kleiner!«
»Ja?«
»Wo wir doch schon einmal so weit miteinander waren, wär's dumm von uns, wenn wir die Gelegenheit dazu nicht so oft wie möglich ausnützen. Aber ich bitte dich! Keine Unvorsichtigkeiten! Wir müssen immer sicher dabei gehen können! Lerne, siehst du ... Lerne! ... Du zweifelst doch wohl nicht, daß das Gefahren für uns hat ... für dich, besonders für dich ...«
Ich sah, daß sie tragische Vorkommnisse stark beschäftigten.
»Aber was für Gefahren?«
»Das ist ja das allerschlimmste, daß ich nicht weiß, was für welche! Ich kann nichts von alldem begreifen, was um mich geschiehtnichts, nichts, nichts! ... Außer daß Doniphan Mac-Bell wahnsinnig geworden ist, weil ich ihn geliebt hab ... und daß ich dich auch liebe!
»Also, Emma, nur immer kaltes Blut! Wir zwei sind jetzt Verbündete; wir zwei werden die Wahrheit wohl herausbekommen! – Wann kamst du nach Fonval? Und was ist seitdem passiert?
Und sie begann mit Erzählen. Ich geb es hier nach besten Kräften zusammengestellter und klarer wieder ... denn in Wirklichkeit war das ein langer Dialog, den ich bald eindämmend, bald ableitend überwachte und führte. Übrigens ging die Unterhaltung auch nicht in einem hin, da waren niedliche Intermezzos, es war ein Drama mit eingelegten Chansons – und aus diesem Grunde verzichte ich gleichfalls darauf, hier in extenso zu berichten ... meine Sentimentalität würde mich nie ein Ende finden lassen. Es gibt keine ununterbrochene Konversation mit einer so ausschweifenden Geliebten, um so mehr, wenn sie als einziges Kleidungsstück ihr Bett hat, und, was noch dazu kommt, immer gleich hübsch den Faden verliert, sowie sich etwas anspinnt ....
Zuweilen hielt auch ein Knistern oder sonst ein Geräusch unser vertrauliches Gespräch oder unsern Zeitvertreib plötzlich auf einem Wort oder auf einem Kuß an. Dann wand sich Emma in Schrecken vor Lerne, und mich selber fröstelte, wenn ich sie so sah: genügte doch ein Ohr an der Wand, ein Blick durchs Schlüsselloch, und mir geschah, was mir erzählt ward ...
So und so erfuhr ich von der Herkunft und den Anfängen Emmas. Diese Dinge haben auf diesen Blättern nichts zu schaffen, und man kann alles in die Worte zusammenfassen: »Wie ein Findling eine Verlorene ward.« Und Emma war während ihrer ganzen Beichte von einer Aufrichtigkeit, die man anders für Zynismus hätte halten können.
Dann fuhr sie fort zu berichten:
»Lerne lernte ich vor fünf Jahren – ich war fünfzehn – im Hospital zu Nanthel kennen. Ich war zu ihm gekommen. Als Krankenschwester? – Nein. Ich hatte mich mit einer Kameradin von mir, mit Léonie, wegen Alcide geschlagen. Alcide war mein ... – Na was denn? Ich werde deshalb nicht rot. Er ist herrlich. Er ist ein Koloß, mein Kleiner. Mit dir würde er Ball spielen! Mein Gürtel war ihm als Bracelet zu eng! ...
Kurz, ich hatte einen Messerstich abbekommen, einen wohlgezielten, das schwör ich dir. Nein, sieh doch lieber her! Hier!
Sie warf die Decke ab und zeigte mir in der Falte ihrer Leiste eine dreieckige blasse Narbe, den Denkzettel der abscheulichen Léonie.«
»Natürlich darfst du ihn küssen, komm!« sagte sie. »Der Stich war beinah mein Tod gewesen. Und dein Onkel, das muß man sagen, der hat mich gepflegt und gerettet.«
»Gott! Was war damals dein Onkel für ein braver, gar nicht stolzer Kerl! Er hat oft mit mir geredet. Und ich fand das sehr schmeichelhaft! Der Professor! Der Chef! Denk nur mal an! ... Und er redete so fein! Er predigte wie ein Pfarrer von meinem Leben: ›Mein Leben war sündig und ich will mich bekehren‹ und so trallalala ... Und ohne sich vor mir zu ekeln, so ernsthaft, daß ich einen Ekel von allem bekam, vor der Liederlichkeit und vor Alcide ... – So 'ne Krankheit, nich, die macht das Blut fein ruhig ...«
»Und eines schönen Tages sagte Lerne: – ›Du bist geheilt. Kannst gehn, wohin du willst. Aber mit guten Vorsätzen allein ist nichts getan. Willst du zu mir kommen? Du sollst bei mir Wäschenäherin sein und dir dein Brot – weit von allen deinen Genossen verdienen. Und alles in allen Ehren, du weißt!‹«
»Das verblüffte mich. Ich sagte mir: ›Quatsch du nur zu. Du schwindelst mich nicht an. Wenn ich erst einmal bei dir bin ... dann zieh Leine, platonische Liebe! Wer dich immer so reden hörte, hätte das von dir nicht für möglich gehalten.‹ Aber es gibt eben keine Heiligen mehr. Aus Liebe zur Kunst hält man keine Frau aus ...«
»Er war gütig. Er war von Rang, er hatte Renommee. Und er hatte auch ... so was wie Chic, ich kann dir das nicht erklären. Also alles das zusammen, das machte meine Dankbarkeit zu ihm noch größer und wurde, weißt du, so etwas fast wie Zuneigung. Ich nahm denn seinen Vorschlag an, aber immer mit der festen Gewißheit, daß das andere schon nicht ausbleiben würde.«
»Na, und? Absolut nichts! Es gab noch einen Heiligen: ihn. Ein ganzes Jahr durch hat er mich nicht angefaßt.«
»Ich war heimlicherweise bei ihm. Der Gedanke, daß mich Alcide wiederfinden könnte, ließ mich nachts nicht schlafen. – ›Nur keine Angst‹, sagte Lerne, ›ich bin nicht mehr Chirurg am Hospital. Ich will an Entdeckungen arbeiten. Wir gehen aufs Land, da wird dich schon niemand finden.‹
Und wirklich, er brachte mich hierher.«
»Ah! Das Schloß und den Park mußte man gesehen haben! Gärtner, Diener, Wagen, ein Pferd ... da gab's keinen Mangel. Ich war glücklich.«
»Wie wir hier ankamen, waren Arbeiter mit den Anbauten am Gewächshaus und mit dem Laboratorium fast fertig. Lerne beaufsichtigte die Arbeiten. Er scherzte beständig und sagte immer wieder: ›Was wird sich da drinnen tun! Was wird da drinnen alles geschehen können!‹ Genau wie die Schulkinder, wenn sie rufen: ›Hoch die Ferien!‹«
»Das Laboratorium wurde möbliert. Was da viel Kisten kamen! Und als alles da war, ging Lerne eines Morgens nach Grey.«
»Die Allee war damals noch grade. Und dann sah ich deinen Onkel mit fünf Reisenden und einem Hund zurückkommen. Die er vom Bahnhof abgeholt hatte: Doniphan Mac-Bell, Johann, Wilhelm, Karl, Otto Klotz – den großen schwarzen, weißt du, auf der Fotografie – und Nelly. Der Schotte hatte die Deutschen in Nanthel getroffen. Ich bin sicher, daß er sie vorher nicht gekannt hat.«
»Die Gehilfen logierten sich im Laboratorium ein. Mac-Bell sollte in einem Zimmer im Schloß wohnen – grad wie der Doktor Klotz.«
»Vor dem Doktor fürchtete ich mich sofort. Er war so schön und so groß. Ich konnte nicht anders, ich mußte Lerne fragen, woher dieser Schwurgerichtskopf käme.
Die Frage belustigte ihn sehr: ›Immer ruhig‹, antwortete Lerne. ›Du siehst überall Helfershelfer von deinem Herrn Alcide! Professor Klotz kommt aus Deutschland. Er ist sehr gescheit, und er ist ein Ehrenmann. Das ist kein Angestellter, sondern mein Mitarbeiter, der besonders die Arbeiten seiner drei Landsleute zu bewachen haben wird ... !‹«
»Verzeihung, Emma,« fiel ich ihr ins Wort. »Aber konnte mein Onkel damals Deutsch und Englisch?«
»Sehr wenig, wie mir scheint. Er übte alle Tage. Aber ohne großes Resultat. Erst gradezu nach einem Jahr sprach er einigermaßen fließend. Übrigens konnten die Gehilfen schon ein paar französische Brocken und Klotz dafür ein bißchen Englisch. Mac-Bell konnte absolut nur Englisch. Lerne erzählte mir, er hätte ihn nur nach Fonval genommen, weil der Vater es so sehr wünschte, daß der junge Student einige Zeit hier unter dem Professor arbeiten sollte.«
»Wo schliefst du, Emma?«
»Neben der Wäschekammer. Oh! Weit weg von Mac-Bell und Klotz, fügte sie lächelnd hinzu.«
»Wie standen die Herren unter sich?«
»Wie gute Freunde. Aber ob sie aufrichtig waren? Ich glaub's nicht. Es ist nicht unmöglich, daß die vier Deutschen von Anfang an auf Mac-Bell etwas wie eifersüchtig waren. Ich sah böse Blicke. In jedem Fall hatte Doniphan nicht viel unter ihrer Intimität zu leiden, denn er arbeitete nie mit ihnen im Laboratorium, sondern im Schloß und im Treibhaus. Erst mußte er nichts als aus französischen Büchern büffeln. Wir trafen uns oft, denn ich lief viel im Hause um. Er war zuvorkommend und ehrerbietig – wohlverstanden durch Gestikulationen – und mir war aufgetragen worden, liebenswürdig zu sein ....«
»Diese kleinen Geschraubtheiten zwischen uns beiden wurden dann – ich bin ganz und gar sicher – die Ursache der heimlichen Antipathie zwischen ihm und Klotz. Ich sah's: wie sie ihre Animosität auch verbergen wollten, Nelly konnte das nicht und knurrte bei jeder Gelegenheit gegen den Deutschen; und das galt in meinen Augen. Aber dein Onkel, ach, der sah nichts. Und ich, ich wollte sein Glück nicht durch solche Jeremiaden stören. Ich wagte es einerseits nicht ... und andererseits konnte mir das Rivalentum doch nicht mißfallen. Denn wenn ich Lerne hundertmal versprochen hatte, ich würde ganz, ganz artig sein, regte ich mich an der Sache schließlich auf, und ich kann dir nicht sagen, was dabei herausgekommen wäre, wenn nicht – ja, da trat dann plötzlich eine große Änderung für uns alle ein ....«
»Ein Jahr waren wir nun schon da. Heut etwas vor vier Jahren also ....«
»Ah! rief ich aus.«
»Was hast du?«
»Nichts, nichts! Weiter!«
»Vor vier Jahren also. Da reiste Doniphan Mac-Bell nach Schottland auf ein paar Wochen Ferien zu seinen Eltern. Am Tag nach seiner Abreise – früh morgens ging Lerne aus: ›Ich geh mit dem Doktor Klotz nach Nanthel, und wir bleiben den ganzen Tag dort.‹«
»Auf den Abend aber kam Klotz allein zurück. Ich fragte ihn nach Lerne. Und da schien's, als ob der Professor wichtige Nachrichten bekommen hätte, die ihn ins Ausland riefen – und als ob er in etwas wie drei Wochen erst wiederkäme. – ›Wohin ist er denn?‹ fragte ich weiter. – Klotz zögerte und sagte endlich: ›Nach Deutschland .... Wir bleiben also während dieser ganzen Zeit allein hier, Emma ....‹ Und er nahm mich um die Taille und sah mich mit dem Weißen seiner Augen an ....«
»Ich konnte mir das Verhalten Lernes nicht erklären. Er, der mich doch so tugendhaft haben wollte, lieferte mich ohne ein Wort der Gnad und Barmherzigkeit eines Fremden aus. – ›Wie gefall ich dir?‹ fragte mich Klotz und preßte mich an sich, daß es schon keine Art mehr hatte.«
»Ich hab dir doch vorhin erzählt, Nicolas, daß er groß und kräftig war. Seine Muskeln, fühlte ich, waren aus Eisen, und ich gab mich drein, ohne daß ich es wollte: ›Los, Emma, los! Haben wir uns heute! Denn ... du wirst mich nicht wiedersehen!‹«
»Ich bin nicht feige. Ich ward, unter uns gesagt, schon von Händen zärtlich umgefaßt, die Mörderhände waren. Meine ersten Liebhaber taten in ihrer Liebe so zu mir, als ob sie mich mit Faustschlägen traktierten ... so schwer und so hart; man ist ihnen einfach Opfer; man weiß nicht, spürt man Schmerz oder Vergnügen. Was übrigens gar nicht so unangenehm ist. Aber all das war nichts gegen dies. Die Nacht mit Klotz war furchtbar. Wie eine Notzüchtigung. Ich hab heut noch den Schrecken und die Mattigkeit davon im Leibe.«
»Spät am Vormittag erwachte ich. Er lag nimmer neben mir. Ich hab ihn nie wiedergesehen.«
»Drei Wochen. Dein Onkel schrieb nicht und blieb immer länger aus.«
»Ganz urplötzlich war er dann wieder da. Ich sah ihn nicht einmal ankommen .... Er sei bei seiner Ankunft gleich ins Laboratorium gelaufen, sagte er mir. Von da kam er auch – am Mittag – als ich ihn sah .... Aber seine Blässe tat mir fast weh. Er mußte furchtbar unglücklich sein. Er ging wie hinter einem Leichenwagen her. Was hatte er erfahren? Was hatte er getan? Welche Sündflut war über ihn hereingebrochen?«
»Ich fragte ihn sanft aus. Er antwortete nur stockend und mit dem Akzent des Landes, aus dem er herkam: – ›Emma‹, sagte er, ›ich denke, du liebst mich?‹ – ›Das wissen Sie doch nur zu gut, mein teuerer Wohltäter, ich bin Ihnen mit Leib und Seele ergeben.‹ – ›Mich interessiert nur dein Leib. Du fühlst dich also imstande, mich zu lieben ... mit Liebe? ... Oh!‹ grinste er. ›Ich bin ja kein Jüngling mehr, aber ....‹«
»Was sollte ich ihm darauf antworten? Keine Ahnung. Lerne runzelte die Stirn: – ›Gut!‹ sagte er eilig. ›Von heut Abend ist mein Zimmer das deinige!‹«
»Ich gesteh dir, Nicolas, daß mir das das natürlichste von der Welt schien. Aber ich wußte ja bis dahin nichts von dem argwöhnischen und brutalen Frederic Lerne, der sich mit einem Mal zu erkennen gab. Er riß mich an beiden Händen, und seine Augen brannten heimtückisch: ›Jetzt‹, schrie er, ›ist es aus mit Lachen! Zu Ende mit so niedlichem Zeitvertreib! Ha! Jetzt gehörst du mir, ausschließlich mir! Ich hab alles wohl durchschaut, was sich hier begeben hat, und was für Süßlinge ständig um dich herum waren! Ich hab mir den Klotz vom Halse geschafft! Und was jenen Doniphan Mac-Bell angeht, so sieh dich vor, meine Liebe! Wenn er gut bleibt, hat er's auch gut! Nimm dich in acht !‹«
»Dann entließ Lerne alle Domestiken, engagierte als einzigen Dienstboten die klägliche Barbara und legte die Labyrinthwege an.«
»Am angesagten Tag zog Mac-Bell, von seiner Hündin begleitet, wieder im Schloß ein – und war ganz verdutzt, Wald und Allee, alles in einem solchen Drunter und Drüber zu finden. Lerne fuhr ihn an, daß er seine Siebensachen noch in der Hand hielte, und schalt ihn mit so scheußlichen Gestikulationen und einem so widerlichen Gesicht aus, daß Nelly mit gesträubtem Fell und knurrend die Zähne wies.«
»Kam, was kommen mußte! ... Vor dem Altar und den geistigen Qualitäten unseres Wirts hatten Mac-Bell und ich alle Hochachtung gehabt und hätten die Ehre seines Hauses wohl respektiert, wie man zu sagen pflegt. Aber jetzt, da es sich nur noch darum handelte, einen gehässigen und tyrannischen Wüstling zu betrügen – jetzt ließen wir ihm Hörner wachsen.«
»Währenddessen wurde der Professor von Tag zu Tag grausamer und wütender. Er befand sich in einem namenlos überreizten Zustand. Ging nicht mehr aus. Arbeitete unablässig. Genial vielleicht. Aber war krank auf den ersten Blick. Beweis? Sein Gedächtnis verließ ihn. Er wurde ungemein vergeßlich, ja, er fragte mich oft sogar über seine eigene Vergangenheit aus. Und wußte zuletzt nur noch in seiner Wissenschaft Bescheid.«
»Es war aus mit Lachen – wahr und wahrhaftig! Es war Schluß mit dem Glück mit ihm! Beim geringsten Argwohn schmähte er mich; beim winzigsten Verdacht schlug er auf mich ein. – Mir tun weder Beleidigungen noch Schläge viel an, das kann ich wohl behaupten, aber nur, wenn ich zu jenen weinen kann und bei diesen blute, wenn die Lippen, die mir fluchen, geliebte sind, und die Faust, die mich trifft, eine echte ist. Dann, ja, dann meinetwegen bis ans selige Ende ... aber .... Ich erklärte dem alten, schlappen Affen, daß ich die Einsamkeit und Armut nun satt hätte: ›Ich geh fort‹, sagte ich .... Na, Kleiner, da hättest du ihn aber sehen sollen! Da umfaßte er meine Knie und rutschte auf dem Boden hin und her: ›Wie! Wie! Emma! Bleib, ich beschwöre dich! Warte! ... Warte zwei Jahre noch! Dann reisen wir zusammen fort, und du sollst das Leben einer Königin führen! Ich werde reich sein, sehr reich! ... Geduld! Ich weiß es ja, du bist nicht dazu gemacht, um ewig hier wie im Kloster zu leben! Glaub mir! Ich verschaff uns ein Vermögen, das nicht auszurechnen ist .... Noch zwei Jahre so einfach bürgerlich und du lebst das Leben einer Kaiserin! ...‹«
»Ich ließ mich bequasseln und blieb auf Fonval.«
»Aber die Jahre kommen, die Frist läuft ab, und von Luxus: 'n Dreck! Ich warte und warte, vertraue auf das Vertrauen Lernes und auf sein Genie: nischt. – ›Verlier den Mut nicht, gib's nicht auf, wir nähern uns dem Ziel‹, sagte er immer wieder. ›Alles kommt, wie ich's vorhersagte, du sollst Milliarden haben ....‹ Und um mich in meinem Müßiggang zu erheitern, ließ er mir in jeder Saison aus Paris Roben, Hüte und allen möglichen Flitterkram schicken: ›Sieh, daß du sie tragen lernst, geh deine Rolle durch, spiel Zukunft ....‹«
»So lebte ich drei Jahre zwischen Lerne und Mac-Bell: von dem einen grob angefahren, mit Füßen getreten und dann wieder wie eine Mutter Gottes angebetet und mit unnützem Putz überhäuft und von dem andern heimlich gehabt, da und dort, wie sich's grad machte, auf einem Kanapee oder auf einem Teppich.«
»In diese Zeit fällt dann Lernes große Reise. Von zwei Monaten; während welcher Zeit Mac-Bell zu seinen Eltern auf angebliche Ferien expediert wurde.«
»Sie kamen auf den gleichen Tag zurück. Ich glaube, der Professor und er hatten erst ausgemacht, sich in Dieppe wiederzutreffen.«
«Lerne war finster und knirschte: ›Du mußt noch warten, Emma.‹ – ›Was war denn los? Es ist nichts?‹ – ›Man ist der Meinung, meine Erfindungen seien noch nicht genug vervollkommnet .... Aber du hast nichts zu fürchten! Ich finde schon noch!‹«
»Und nahm seine Versuche im Laboratorium wieder auf.«
Wieder einmal unterbrach ich Emma in ihrem Bericht.
»Verzeihung, aber arbeitete Mac-Bell zu dieser Zeit gleichfalls im Laboratorium?«
»Nie! Lerne gab ihm Manipulationen auf, die er im Treibhaus – und zwar vom Professor hinter Schloß und Riegel gesetzt – erledigen mußte! Mein Freund! Der arme Doniphan! Wär er doch bei seinen Eltern geblieben! Aber nur um meinetwillen kam er aus Schottland zurück! Er sagte es mir oft genug auf sein Kauderwelsch: »Für Sie! Für Sie!« Recht viel mehr brachte er nicht aus sich heraus. Für mich, barmherziger Gott!, wurde er dann auch einige Wochen später – – –«
»Hör zu. Jetzt kommt der Irrsinn.«
»Diesen Winter. Es schneit. Nach dem Frühstück. Lerne nickt neben dem Eßzimmer, im kleinen Salon, in einem Lehnstuhl ein. Es scheint wenigstens so, als ob er ein Schläfchen machen wollte. Doniphan wirft mir einen Blick zu. Tut dann, als ob er ginge, und als ob er, kindisch genug, im Schneetreiben draußen herumlaufen wollte und geht übern Flur hinaus. Man hört ihn draußen eine Arie pfeifen. Und hört, wie er immer weiter fortgeht. Ich, wie um der Magd beim Tischabräumen zu helfen, geh ins Eßzimmer. Doniphan trifft mich an der Tür, die der vom kleinen Salon gegenüber liegt – und ich hab die Tür vom kleinen Salon natürlich offen gelassen, um Lerne immerzu hören zu können. Doniphan schließt mich in seine Arme; ich drück ihn an mich. Ein Kuß. Leise, leise.«
»Plötzlich verfärbt sich Doniphan. Wird grün. Ich schau hin, wo er hinschaut .... Die Tür vom kleinen Salon ist mit einem kleinen Fensterchen versehen – du weißt? – und dahinter, dahinter seh ich die Augen Lernes, die uns abpassen ....«
»Und dann stürzt er herein! ... Meine Knie zitterten .... Mac-Bell ist sehr klein, Lerne hat ihn zu Boden geschlagen .... Sie ringen. Blut fließt. Dein Onkel dringt mit Tritten, Kratzen und Beißen auf ihn ein! ... Ich schreie. Reiße Lerne die Kleider vom Leib. Plötzlich steht er auf. Mac-Bell ist ohnmächtig. Lerne lacht wie ein Irrer, ladet Doniphan auf seine Schultern und trägt ihn gegen das Laboratorium. Ich schreie immerzu, dann fällt's mir ein und ich rufe: ›Nelly! Nelly! Nelly! ...‹ Die Hündin läuft herbei. Ich hetze sie auf den Professor los, und sie stürzt sich auf ihn, in dem Augenblick, als der Professor mit seiner Bürde hinter den Bäumen verschwindet. Nelly hinterdrein. Ich horche. Bellen. Ich hör nichts mehr als das fast Unhörbare, daß große Flocken fallen.«
»Lerne riß mich an den Haaren. Und er mußte alle seine Beredtsamkeit aufbieten und tausend reiche Versprechungen tun am nächsten Morgen, sonst wär ich ihm davon.«
»Seit meiner Untreue übrigens liebte er mich nur um so wilder.«
»Tage, Tage ....«
»Ich getraute mich fast nicht zu hoffen, daß es Mac-Bell so wie Klotz ergangen war: einfach fortgeschickt. Weder von ihm noch von seiner Hündin sah ich wieder was. Endlich bat mich der Professor, ich möchte das gelbe Zimmer für den Schotten herrichten. – ›Er lebt also noch?‹ fragte ich dumm. – ›Halb‹, sagte Lerne. ›Er ist irrsinnig. Das ist das traurige Ende deines Fehltritts, Emma! Erst glaubte er, der liebe Gott zu sein, dann der Tower in London. Jetzt bildet er sich ein, er sei ein Hund. Morgen wird er sich sicher wieder als etwas anderes meinen.‹ – ›Was haben Sie ihm angetan?‹ stammelte ich. – ›Mein Kleinchen‹, schrie der Professor, ›man hat ihm nichts getan! Laß dir das gesagt sein und halt deinen Mund, statt daß du so einen Quatsch daherredest! Als ich Mac-Bell nach unserm Streit im Eßzimmer forttrug, war's, um ihn zu pflegen. Hast du nicht gesehen, daß er ohnmächtig war? Er hat sich im Hinfallen schwer am Kopf verletzt – Gehirnerschütterung, Irrsinn. Und das ist alles. Hast du verstanden?‹«
»Ich sagte nichts mehr und war überzeugt, daß dein Onkel den Doniphan nur nicht beiseite geschafft aus Furcht vor den Eltern in Schottland und vor dem Staatsanwalt.«
»Auf den Abend schafften sie ihn ins Schloß. Sein Kopf war ganz verbunden. Er erkannte mich nicht...«
»Ich liebte ihn immer noch und besuchte ihn versteckterweise.«
»Mit seiner Heilung ging's rasch. Nur wurde er fett, seitdem er eingesperrt war. Der Mac-Bell auf der Photographie sieht ganz anders aus als der im gelben Zimmer. So daß du dich leicht hast irren können, Nicolas ....«
»Emma,« murmelte ich, »ist es möglich, daß du den Blöden dann liebhaben konntest!«
»Zu der Liebe braucht man doch keinen Verstand. Im Gegenteil! Ich hab in einem Roman gelesen, daß Messalina, die eine höchst ausschweifende Kaiserin gewesen ist, alles mochte, nur keine Dichter. Und Mac-Bell ....
»Schweig doch!«
»Schaf!« sagte sie. »Nun bist du doch mein kleiner Mann, du doch ganz allein! ...«
»Ja«, dachte ich. – »Aber sag mir, von Klotz weißt du gar nichts? Was hat mein Onkel mit dem gemacht? Du sagtest vorhin: fortgeschickt ....«
»Ich war mir immer sicher: er hat ihn fortgejagt. Sein Benehmen bei seinem Abschied und wie sich Lerne aufführte, als er aus Deutschland zurückkam, das mußte mich überzeugen ....
»Hat Klotz Familie?«
»Waisenkind, glaub ich, und Junggeselle.«
»Wie lange verblieb Mac-Bell im Laboratorium?«
»Drei Wochen ungefähr ... einen Monat.«
»War sein Haar vor diesem Umschwung ebenso blond?« fragte ich und ritt wieder mein Steckenpferd.
»Selbstverständlich! Auf was für Ideen kommst du doch?«
»Und was wurde aus Nelly?«
»Am Morgen nach dem Streit hörte ich sie herzzerreißend schreien, offenbar, weil man sie von ihrem Herrn getrennt hatte. Ich fragte deinen Onkel, und der sagte mir: sie sei mit andern Hunden im Hundehof, »da wo sie hingehört«, wie er hinzufügte. Und sie kam nie wieder heraus. Außer vor einer Woche ungefähr. Hast du sie da nicht gehört? Arme Nelly! Wie schnell sie ihren Mac-Bell wiedergefunden hatte! ... Sie heult sehr oft während der Nacht. Sie muß todunglücklich sein ....«
»Ja, aber, wie denkst du über das alles? Was geht da im Grunde vor? Wo ist die Wahrheit? Glaubst du, daß der Sturz an dem Irrsinn schuld ist?«
»Weiß ich? Möglich. Ich denke mir oft, im Laboratorium wären Scheußlichkeiten, die einen schon durch ihr Aussehen wahnsinnig machen müßten. Doniphan war nie darin gewesen. Vielleicht sah er da was gräßlich Abscheuliches ....«
Ich mußte an den Schimpansen denken. Und was sein Tod für einen entsetzlichen Eindruck auf mich gemacht hatte. Emma konnte recht haben mit ihrer Behauptung. – Aber statt jedes einzelne Rätsel da auflösen zu wollen, hätte man besser vier Jahre zurückwissen müssen, bis zu jener kritischen Phase, wo soviel Probleme auf einmal aufstanden. Den geheimnisvollen Anfang hätte man gründlich ausforschen müssen. In ihm nur war der Schlüssel zu soviel verschlossenen Türen zu suchen.
Da lugte ein kleiner, weißer, rosiger Fuß aus gelber Seide heraus. Wie ein lustiges Schmuckstück in einem Futteral:
»Kreuztürken, mein gnädiges Fräulein! Laufen Sie wahr und wahrhaftig mit dieser kleinen süßen Sache, die so geschminkte und polierte Nägel hat wie japanische Korallen – mit diesem lebendigen kitzligen Kleinod, kribbeliger als Schnauzbart? ... So wunderbar unklug sind Sie? ...«
Der kleine Fuß schlüpfte eilends fort. Aber so behend und lieblich und zart er war – er gemahnte mich an einen ganz andern: an jenen in der Waldlichtung, jenen unheimlichen, der – ich glaubte nun ganz sicher zu sein – einem Aas zugehörte, das da vergraben war und mit dem alten Schuhwerk aus der Erde ragte ....
Und plötzlich war ich wie ganz allein in einem Dunkel, in dem tausend Gefahren auf mich lauerten ....
»Wollen wir fliehen, Emma?«
Sie schüttelte mit ihren mänadischen Locken und verneinte.
»Doniphan hat mir's auch vorgeschlagen .... Nein. Lerne versprach mir vielen, vielen Reichtum. Außerdem hat er am Tag deiner Ankunft geschworen, daß er mich töten würde, wenn ich ihn mit dir betrüge oder ihm mit dir ausreiße. Daß er sein Versprechen halten wird, weiß ich seit langem. Aber seit kurzem weiß ich auch, daß er seinen Schwur halten würde ....«
»Ja. Als er uns miteinander bekannt gemacht, Emma, da hattest du den Tod in den Augen.«
»... Und, siehst du,« fuhr sie fort, »unsere Liebe können wir verbergen. Unsere Flucht aber nicht. Nein, nein, nein, nein. Wir wollen lieber schlau sein und jede Gelegenheit benützen ....«
»Und – – wir benützten die Gelegenheit.«
Halb fünf sang die Stutz-Uhr, als ich meine nimmersatte Geliebte verließ, um nach Grey-1'Abbaye zurückzufahren. Emma konnte mir nicht adieu sagen: mit Seufzen und Strecken wie eine Katze erwachte sie langsam und faul aus dem Traum auf der Liebesinsel ....