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Ein Kapitel vom sittlichen Ernst

Nicht jeder kennt die Geschichte, welche Heinzen aus dem Kolonialleben Struves erzählt. Gustav, der Patriarch, weckt in der Nacht den Minister der Ökonomie Ackermann: »Du, die Kuh brüllt«; »Ach, was«, antwortet der, »sie brüllt nach dem Ochsen, ihr fehlt der sittliche Ernscht.«

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Es saß ein Zeisig auf einem Zaun, der pfiff ein freies Leid, so daß der Einsiedelmann ordentlich seine Freude daran hatte. Kein Käfig, selbst mit goldenen Stangen und reichem Futter, konnte ihn berücken; ja sogar für die große schöne »Hecke«, worin man umher fliegen kann und worin Grünzeug wächst, fast als ob es im Freien wäre, hatte dieser Vogel keinen Sinn. – Da tönte das Locken eines Vogelweibchens im nahen Wald, und der Zeisig verschwand im grünen Dunkel. – Schade, sagte der Einsiedel, es fehlt ihm der sittliche Ernst.

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Auf einem amerikanischen Schlachtfelde trommelte ein 16jähriger Knabe lustig vorauf, er trommelte für die Union, er marschierte gegen die Verteidiger der Sklaverei. Da schlug ihm die Kugel in die Brust. In den zehn Minuten, die der Knabe noch zu leben hatte, vergeudete er Zeit und Atem in den kräftigsten Yankee-Flüchen gegen den Feind, die alle mit God damn begannen. Schade! Hätte er sittlichen Ernst besessen, er hätte sich schnell noch einmal die Unabhängigkeitserklärung vorlesen lassen.

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Es waren einmal zwei Geschäftsleute. Beide handelten mit einer Ware, die nicht gangbar war. Da verband der eine ein gangbares Geschäft, das einem Andern gehörte, mit dem seinigen, deckte die Schulden des eignen mit dem Einkommen des fremden, und als er sich genug Profit aus beiden gesammelt, ließ er die ausgepreßte Doppel-Zitrone liegen und zog sich ins Privatleben zurück als hochgeachteter Mann. Der Andre arbeitete, bis nichts mehr vorhanden war; niemand verlor etwas außer ihm selber, aber als er die Bude schloß, war er ein ruinierter, bankerotter, verachteter Mann. – Warum dieser Unterschied? Der erstere hatte sich stets einer würdigen Miene beflissen, nur über ernste Dinge gesprochen, und wenn er je einmal ins Wirtshaus ging, gesorgt, daß er zwischen hochgeachtete Männer zu sitzen kam. Der Andre hatte trotz seines Elends bisweilen gesungen und getrunken und war mehr als einmal unter die Zöllner und Sünder geraten. Geschieht ihm Recht, dem Lump, warum hat er keinen sittlichen Ernst!

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Es waren einmal zwei Schulmeister. Der Eine dozierte mit großem Fleiß und bot in seinem Betragen den Kindern ein Beispiel, das so montblancmäßig vor ihnen stand, daß sie ordentlich froren, wenn sie ihn ansahen; wenn sie aber die Klasse verließen, waren sie genau eben so dumm wie vorher. Der Andre hatte die Gabe, den Kindern mit Leichtigkeit beizubringen, was lernenswert war, und er vergaß manchmal so sehr seine Würde, daß er an den tollen Streichen des Knabengesindels selber sich beteiligte. Erst nach vielen Jahren begriffen die Herangewachsenen, wie viel sie diesem Lehrer, der keine Karriere machte, zu verdanken hatten. Der Erstere wurde Schuldirektor. Er hatte den nötigen sittlichen Ernst.

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Ich liebte ein Mädchen, das mich ihre Fingerspitzen nicht küssen ließ, weil ich ihr nicht moralisch genug war. Sie verkaufte ihren jugendlich blühenden Leib, ihr Herz voll idealer Gedanken an einen reichen Wüstling, in dessen Sälen sie als geachtete Gattin des geachteten Mannes (denn welcher reiche Mann wäre nicht geachtet!) mit ruhiger Würde waltet. Wenn sie stirbt, wird das Publikum im Allgemeinen, und ein fashionabler Pastor im Besondren mit Bewunderung von dem sittlichen Ernst sprechen, den sie in ihrem Leben betätigt. Ich kannte eine kleine Grisette, welche ihre letzten Brosamen mit dem Geliebten ihres Herzens teilte ... Sie sank von Stufe zu Stufe, sie wird in einer Spelunke sterben und auf dem Armenkirchhof begraben werden. Schade! aber ihr fehlte der sittliche Ernst.

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O allweise Mutter Natur! Du allgerechte! Warum hast du den sittlichen Ernst nicht auf dein Programm gesetzt?! Warum hast du uns nicht Alle damit getränkt?! Die Entwickelung wäre dann schon längst vollendet; denn entweder hätten wir uns schon längst gegenseitig aufgefressen (mit sittlichem Ernst verspeist der Uhu den Hasen), oder wir wären vor Langeweile gestorben. – O Nachtigallen, warum singt ihr nur im Lebensfrühling, o Rosen, warum blüht ihr auch auf Gräbern?!


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