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In die enge Gasse Sankt-Julius-der-Arme fällt kein Sonnenstrahl. Sie ist kühl und feucht wie ein Keller. Ich stand vor einer kleinen Kneipe, aber warum eigentlich? Mir dämmerte so etwas, als hätte mich ein bestimmter Grund hergelockt, aber ich wußte es nicht recht. Alles war so eindringlich und deutlich, die stille, kalte Gasse mit dem feuchten Pflaster, und hoch oben auf dem krummen Hausfirst ein Streifen Sonnenlicht wie ein goldener Balken. Ein Gassenjunge, struppig, rotznasig und zerlumpt, strich um mich herum, listig und verschmitzt, als hätte er irgendeinen Schabernack im Sinn, wie solche Lausbuben ja an nichts anderes denken. Und richtig, wie ich nach dem goldenen Streifen da oben schaue, kriege ich auf einmal einen Stoß ins Kreuz, daß ich fast hinsause. Ich, nicht faul, haue dem Bürschchen eine auf seinen Struwwelkopf, er packt mich, ich packe ihn, und schon kugeln wir auf dem glatten Pflaster, wo die Wirtin eben ihren Putzkübel ausgeleert hat. Es ist zwar weiter nicht ernst gemeint. Es versteht sich von selbst, daß ich mir diese Frechheit nicht gefallen lasse, aber wir wissen auch, wenn wir uns die Nasen verkratzen, daß wir uns trotzdem recht gern haben. Auf einmal läßt mich der kleine Strolch los: »Horch!«
Trommelwirbel, Schreien, Schüsse – was ist los?
Sofort sausen wir nach der Michelsbrücke, von wo der Lärm herkommt. Wir rennen wie die Teufel zwischen den Erwachsenen durch und springen wie die Geißböcke, um uns die Zehen nicht blutig zu stoßen. Man hört schon, was es gibt: der König hat die Stadt erobert. Das möchten wir auch gern sehen, wie man das macht. Alles rennt durcheinander, an der Brücke geht es nicht mehr weiter. Bewaffnete Männer haben einen Strich gezogen und bewachen die Absperrung, wir kommen nicht durch. Zu sehen ist gar nichts, die Straße ist ganz leer, nur weiter oben laufen ein paar Soldaten mit ihren Pickelhauben, die in der Sonne blinken wie blecherne Suppenschüsseln. Ist das alles? Schöner Schwindel! Später soll der König eingezogen sein, wir haben nichts davon gesehen, weil in der Katzengasse einer dem Franz mit der Weidenrute eine mitten über das Gesicht gezogen hat, mit aller Wucht. Warum? Es ist so schnell gegangen! Bis wir schauten, war der Lauskerl schon verschwunden.
Franz hält sich die Backe, unter den Fingern quillt ihm das Blut hervor. Er sagt nichts, weint nicht, er schaut nur so wie einer, der etwas nicht versteht.
Langsam sind wir zu seiner Mutter gegangen, von hinten durch den kleinen Holzschuppen hinein, wo die Sensen und Rechen hängen. Franz hat unter dem staubigen Gerümpel herumgesucht und einen alten ledernen Behälter gefunden, in den man den Wetzstein zum Sensenschärfen steckt. Dann hat er aus der Stube das Brotmesser geholt. Die Mutter war nicht da. Dieses Messer hat er mir gezeigt, während das Blut auf seiner aufgeschwollenen Backe schon zu einer Kruste verstockt war: »Das kriegt er hinein, wenn ich ihn erwisch!«
Von diesem Tag an trug Franz das Messer in der umständlichen Scheide an einer Schnur um den Hals immer bei sich.
Wenn man wissen will, was schön ist, läßt man sich so wenig wie möglich daheim sehen und geht zum Stelzenlaufen, Trällern, Schussern, Schleuder-schießen auf Spatzen und Tauben, Pfeifen-schnitzen, Hollerbüchsen-machen, Vogelfallen-aufstellen und Nester-ausnehmen, Steinplatteln und Steinkappeln, Peter-erlös-mi, Räuber-und-Schandi, Raufen, Zuschlagen und Kriegführen, Drachen-steigen-lassen, Eier-specken, Stein-schmeißen, wer am weitesten trifft, Fischen und Fisch-braten, Feuer-machen, Grillen-fangen, Maikäfer-, Frösche-, Schlangen- und Eidechsen-sammeln, im Winter Schlittschuh-laufen, Schleifen, Auf-dem-Eis-Herumhupfen und ›Bruch-machen‹, bis es Platten gibt, auf denen man fahren kann, Schneeburgen-bauen und mit Wasser überschütten, bis sie zu Eis werden. Auch die Schnee-ballen muß man einweichen und über Nacht liegen lassen, damit sie hart werden. Dann den Katzen eine Glocke und den Hunden einen Prügel an den Hals binden, Maulwürfe und Feldmäuse am Schwanz angebunden mitführen wie Hündchen, im Sommer baden, tauchen, schwimmen und auf einer alten Haustür, die schlecht eingehängt ist, Schifferl-fahren, oder auf einem Tisch, der niemand gehört, weil er ganz allein im Garten steht. Man kann auch ein paar Balken vom Holzhändler hernehmen oder einen alten Zaun umlegen, der sowieso schon schief ist vom Drüberhupfen, da sind auch gleich Nägel drin, und da läßt sich das schönste Floß zusammenzimmern, ohne daß man einen Strick braucht und in der Kirche die Glockenstränge abschneiden muß; denn bei uns heißt es: was man brauchen kann, muß man nehmen.
Wenn es uns zu dumm wurde, mit einem gebogenen Draht Sachen aus dem Kramerladen herauszuhakeln, oder zu betteln und uns von alten Weibern hinausjagen zu lassen, dann sind wir zu viert und fünft in einen Laden gegangen. Einer hat sich für einen Pfennig etwas gekauft und die anderen haben derweil alles in die Taschen gesteckt, was nah da war. Das Gegripste haben wir verkauft und vertauscht, haben Automaten gebaut, in die man oben Geld hineinwirft, worauf dann unten nichts herauskommt, und Zinndeckel und bleierne Löffel eingeschmolzen und zum Glaser getragen. Auf der Straße haben wir geweint, bis uns ein Herr oder eine Dame fragte: »Was hast du denn, Kleiner?« Dann sagen wir: »Ihr Hund hat mich gebissen!« Wenn dann der Herr oder die Dame gar keinen Hund hat, dann war es eben ein anderer, und man bekommt doch was geschenkt. Wenn die reichen Bürscherl aus der Neustadt über die Brücke herüberkamen, haben wir ihnen das Taschengeld genommen. Wir waren drei oder vier, Franz, Regnier, ich und dann noch ein kleinerer, versteckten uns im Hausgang und schickten den Kleinen zu den fein angezogenen Knäbchens hin. Er mußte sie dumm anreden, und dann haben sie ihm natürlich eine hineingehaut. Dann sind wir aber dahergekommen wie der Teufel: »Was fallt euch denn ein, ihr Hundskrüppel! Den kleinen Kerl kann jeder schlagen, schämts euch net!« Jeder von uns hat einen zünftigen Stein in der Hand gehabt. »Zehnerl her, dann könnts gehn!« Sie haben uns dann gleich alles gegeben.
Manchmal haben wir auf dem Klosterspeicher gespielt, wo die alten Pergamente mit den gemalten Buchstaben haufenweis herumliegen, und haben den Mädels die Röcke aufgehoben. Warum müssen sie auch überall dabei sein.
Dem Schneider schreien wir nach: »Schneider meck-meck-meck!« Und dem Katzenseppe von links und rechts, vorn und hinten und von allen Seiten: »Katzenseppe, miau!«, bis er sich nicht mehr auskennt und überlegt, ob vielleicht doch eine richtige Katze dabei ist. Beim Konditor holt man sich eine Tüte Abfälle, die Fischerknechte kann man um kleine Fische, Würmer und Angelhaken anfechten, und bei den Blinden tut man so, als legte man etwas in den Hut hinein, nimmt aber dabei etwas heraus, weil sie es nicht sehen! Nur einige haben eine Aufsicht dabei. Man kann überall was profitieren. Es gibt Seiltänzer und Feuerfresser, Degenschlucker, Tänzerinnen, Bärenführer und Hundedressierer, Strawanzer, Orgelspieler mit Affen und Murmeltieren, herumhockende Hausierer und Bandlkramer, die ihren Kram versaufen und kein Geld für neue Ware zusammenbringen, Bänkel- und Straßensänger mit chronischem Rachenkatarrh und Stimmen wie Reibeisen, herumziehende Schauspieler, Artisten, Zahn- und Haarathleten, Plappermäuler und maulaufsperrende Bauern mit fuchsdummen Augen, denen die Tagediebe, weil sie sonst nichts zu tun haben, die silbernen Knöpfe von der Weste abschneiden. Wir wünschten uns gar nichts, als nur möglichst bald so groß zu sein wie die anderen Eckensteher, Fliegenfänger und Langfinger, aber wir fühlten uns schon ganz dazugehörig und schnabelten wie die Alten. Wenn eine alte Ratschkathl auf dem Markt sagt: »Ihr Lausbuben, ihr Gassenfrüchterl! Wollt ihr euren Schnabel halten, ihr frechen Rotznasen!«, dann hängen wir ihr, während einer vor ihr herumhupft und singt:
»Alte Weiber, Hobelscheitn
Schwimma übern See –,«
hängen ihr hinten mit einer abgerissenen Fischangel einen Büschel Stroh an den Rock, und alle Leute lachen, wenn sie auch sonst manchmal schimpfen.
Den größten Erfolg mit unserem Trick hat der Franz errungen. Er hat sich auf der Straße hingestellt und geflennt, und da hat ihn ein geistlicher Herr angesprochen.
»Was hast denn, kleiner Strolch, warum heulst denn so?«
Franz schaute auf. Sein Gesicht war ganz verschmiert. »Ich hab' mir die Zehe angestoßen, Herr Kaplan!« Es war gar nicht wahr, es war schon drei oder vier Tage her, daß er sich angestoßen hatte, und tat gar nicht mehr weh.
»Und was ist denn das für ein Stromer?« fragte der Priester und schaute mich an.
»Das ist mein Freund, der Hans!« heulte Franz.
»Sooo, dein Freund der Hans! Also das ist der Hans?«
»Ja!«
»Und dieser Hans ist dein Freund? Also sozusagen dein Freund Hans, was?«
»Natürlich!« sagte Franz, aber der Pfaff fragte noch fünfundzwanzigmal; feine Herren machen sich gerne über arme Leute lustig, da kann man nichts machen.
»Na schön, wenn der Hans dein Freund ist, dann habe ich nichts dagegen, dann soll er nur auch mitkommen, nicht wahr, Freund Hans? Und du, wie heißt denn dann du? Du bist jetzt meiner Meinung nach der Peter!«
»Nix Peter, ich bin der Franz!«
»Ach so der Franz, der Freund Franz! Schau, schau, der Hans und der Franz! Sei nur ruhig jetzt, Freund Franz, das vergeht schon wieder. Ihr habt wohl recht Hunger, was?«
Er nahm uns mit in sein Haus hinter dem Sankt-Benedikt-Kloster, gab uns alles mögliche zu essen und sagte, er sei der Onkel Willi, und er würde schon für uns sorgen, aber alle zwei könne er nicht behalten. Dann verband er dem Franz seinen Fuß und führte ihn zu seiner Mutter. Und von da an durfte der Franz bei ihm wohnen und schlafen und essen.
Er hätte mich sicher auch genommen, aber ich mag nicht. Seit mich der Pfarrer aus der Maiandacht hinausgeschmissen hat, weil ich immer gelacht habe, mag ich die Geistlichen überhaupt nicht mehr.
Wir waren hungrig. Was anfangen? »Gehen wir zu deiner Mutter,« sagte ich, als mir gar nichts mehr einfiel. Und wir sausten davon wie aus der Kanone gepfeffert.
»Seid ihr da, ihr Streuner!« empfing sie uns. »Hat es denn der Herr Kaplan erlaubt, daß du fortgehst? Und wie ihr wieder ausschaut! Jessas, Jessas, na!«
»Ausschaut!« Wir waren halt ein wenig zerrissen und über und über voll Dreck. Dem Franz waren die Knie aufgeschunden, weil er vom Zaun heruntergefallen ist, und ich war durch und durch naß vom Fischen.
»Daß ihr immer auf der Gasse sein müßt, mein Gott! Einmal nehmen euch die Zigeuner schon mit. Sie locken die Kinder mit einem Apfel weg und schlachten sie. Es ist noch nicht lange her, daß man die Leichen aus der Erde gegraben und gebraten hat. Ich hätte vielleicht auch was davon gekauft, weil es billig war, man weiß es doch nicht. Da haben sie so einen elenden Lumpen, der gebratenes Menschenfleisch auf dem Markt verkauft hat, verhaftet, haben ihm das Genick mit dem Schraubeisen abgedreht und ihn auf den Scheiterhaufen geschleppt. ›Was wollts denn‹, hat er gesagt, ›ich habe ja nur getrachtet, daß die Menschen was zu essen haben!‹ Und währenddem hat ein anderer Kerl das gebratene Menschenfleisch, das man dem genommen hat, wieder gestohlen und wieder verkauft. Ein Stück Brot, ja, sollt ihr haben. Aber bleibt nur da, wo wollt ihr denn schon wieder hin? Im Wald von Macon hat einer alle Vorüberkommenden erwürgt und aufgegessen –«
Den möchte ich sehen, dachte ich mir.
»Ein Mann und eine Frau kamen vorbei und wollten sich ein wenig ausruhen. Da sahen sie in der Hütte lauter Köpfe von Männern, Frauen und Kindern. Sie sagten nichts, wollten davonlaufen, der Waldmörder hielt sie auf, aber in der Todesangst wurden sie ihm Herr und kamen davon. Man wollte es nicht glauben, was sie erzählten, wie ihr, ihr wollt auch immer nichts glauben. Dreißig Männer wurden in den Wald geschickt, und alles war wahr. Sie fanden den Menschenfleischesser in seinem Versteck und achtundvierzig Totenköpfe von Menschen, die er umgebracht hat. Man hat ihn an einen Balken gebunden und ins Feuer geworfen. Es wird genau so wiederkommen, sonst würden nicht Prozessionen gehalten, wo die hohen geistlichen Herren barfuß gehen. Eine zehn Meter lange Wachskerze, an einer Stange angebunden, wurde mitgetragen, damit uns die heilige Genoveva vor der Hungersnot beschützen möge, und ihr rennt Tag und Nacht auf der Gasse herum, heilige Mutter Gottes!«
Wir waren mit unserem Stück Brot längst fertig. Ich gab Franz einen Stoß und sagte schnell: »Verlang' noch eins!«
»Mutter –« sagte er.
»Ja, ich bin ja froh, daß ich dich los habe, aber wenn du immer nur auf der Gasse bist, wird dich der Herr Onkel auch davonjagen –«
»Ich gehe ja nur mit dem Hans,« verteidigte er sich.
»Ja, mit dem Hans, der Hans und der Franz, das sind schon die Richtigen. Ich habe immer Angst wegen euch. Das Brot wird von Tag zu Tag schlechter. Vielleicht wird man es bald wieder mit weißer Erde mischen, wie damals. Alle Leute haben schneeweiße Gesichter bekommen, knochig und eingefallen und der Leib aufgetrieben, sie wurden heiser und konnten nicht mehr reden, nur piepsen, da braucht ihr nicht zu lachen, piepsen, sage ich, wie die Vögel im Winter, wenn sie erfrieren. Das ist nicht zum Lachen. Es hat so viele Tote gegeben, daß man sie nicht mehr begraben konnte, viele lagen in den Mistgruben und im Straßengraben, die Wölfe kamen und zerrissen sie. Brave Männer haben große Gruben ausgegraben und die Leichen hineingeworfen, Hunderte auf einen Haufen, aufeinander und übereinander und durcheinander, angezogen oder nackt, wie sie waren. Fleischgruben sagten die Leute. Es gab nur mehr Diebe, Räuber und Mörder.«
»Hast du noch ein Stück Brot, Mutter?« bat Franz.
»Noch eins, es ist keins mehr da, warte, ich gehe zum Bäcker und lasse aufschreiben.«
»Ich kann das viele Gerede nicht leiden!« sagte Franz. Aber als wir unser Brot bekamen, war es uns gleich. Seine Mutter muß immer reden, das kennen wir schon.
»Ihr solltet einmal auf den Montfaucon gehen,« sagte sie wieder, »damit ihr seht, was aus den Buben wird, die sich immer auf der Gasse herumtreiben. Da hängen so viele Gehenkte, jahrelang, niemand tut sie herunter. Man schmeckt den Geruch oft bis zu uns herein, je nachdem wie der Wind geht –«
Wir waren schon längst in Montfaucon gewesen. Ich habe zwar weiter nichts gesehen als ein paar Telegraphenmasten, aber Franz behauptet, das seien Galgen und die Leichen hätten die Geier gefressen und die Gerippe davongetragen. Er erzählt genau dieselben Geschichten wie seine Mutter, und je länger man ihm zuhört, desto mehr glaubt man es.
Die Mutter machte Feuer in dem kleinen Kamin, es wurde Abend und kühl. Franz gab ihr einen Kuß und wir drückten uns.
Als es einmal zu spät zum Heimgehen war, und damals hatte uns der Schlosserniggl noch keine Hausschlüssel gemacht, sagte Regnier, wir sollten mit ihm gehen in sein Quartier. Man könne nicht im Freien übernachten wie die armen Strolche unter den Bänken, denen die Schutzleute mit der Säbelklinge eine auf den Schädel geben, daß ihnen der Unterkiefer aus dem Scharnier fällt. Er war ein wenig betrunken, stolperte vor uns her, sang, gestikulierte und unterhielt sich angeregt mit sich selbst. Die Gassen waren stockfinster. Manchmal rührte sich in den schwärzesten Nischen und Schatten plötzlich irgendein Schlafender.
Man müßte schon längst einen Führer herausgeben über gewisse Anstalten, die nirgends verzeichnet sind, obwohl die meisten so versteckt und verzwickt liegen, daß man am nächsten Tag, wäre man nicht mit seiner ganzen Person höchstselbst dort gewesen, glauben könnte, sie seien überhaupt nicht vorhanden, und alles sei nur Rausch und Traum gewesen. Nun, wir hatten ja unseren Führer, ohne zwar vorläufig zu ahnen, wohin er uns schleppen wird. Aus einer verrußten Laternenfunzel flackerte ein trübes Lichtchen. Regnier klopfte an den Fensterladen, worauf jemand durch ein kleines Gitterloch fragte, wer da sei, und geräuschlos öffnete. Das Hotelchen hieß ›Die geborstene Glocke‹. Wir gingen durch einen kleinen Gang und ein paar Stufen hinunter in den Saal hinein. Es wurde getanzt und getrunken. Regnier setzte sich zu den Kartenspielern und ließ uns stehen. Wir betrachteten die hübschen Malereien an den Wänden. Sie stellten lauter Dianen, Venusinnen und andere Göttinnen dar, alle sehr schön und jung und zum Anbeißen hingepinselt, einige Harmlose darunter, die sich ganz manierlich aufführten, und andere wieder in anschaulicheren Stellungen. Wir wagten nicht recht, hinzublicken. Eine der Figuren war übertüncht und nur noch blaß zu sehen.
Von den lebendigen, weniger göttlichen Frauenzimmern stürzten sich ein halbes Dutzend wie die hungrigen Wölfe auf uns, was uns sehr schmeichelte. Wir bildeten uns etwas darauf ein, daß sie sich für uns interessierten. Woher hätten wir auch wissen sollen, daß diese Mädchen den Teufel mit seiner Großmutter, wenn er ankäme, genau so liebenswürdig empfangen würden.
»Nun, wollt ihr euch was 'raussuchen?« hieß es.
Franz meinte, die Weiber seien an die Wand gemalt, damit man die gewünschte leichter wählen kann.
»Was ist denn mit der Zugestrichenen los?« fragte er.
»Die ist heut nicht da!«
Ich war natürlich genau derselben Meinung wie Franz, korrigierte mich nur rasch und spielte mich als der Gescheitere auf. Man mag lachen über diese edle Einfalt, die zum Weinen ist, aber so fürchterlich dumm waren wir doch auch wieder nicht, daß wir nicht gewußt hätten, was für Messen hier zelebriert werden. Ein Poet hat immer etwas Lächerliches an sich, wenn auch vielleicht nur in den Augen von Leuten, die nicht wissen, daß Einbildungskraft und Empfindsamkeit einem Gesicht einen recht blöden Ausdruck verleihen können. Franz liebt wie ein Verrückter oder wie ein Verzweifelter. Wenn wir auch tanzten, bis uns das Messer in der Tasche verrostete, und wenn wir mit den jungen Gänsen, die aufs Heiraten aus sind und sich aufsparen wie Gefrierfleisch, nicht halb so respektabel umgingen wie andere grüne Jungens, so sagte ich mir doch manchmal: vielleicht sind wir nur so frech, damit man nicht merkt, wie verliebt wir sind. Die Zeit, da Franz jedes Straßenmädchen, das ihn einladend anschaute, vom Fleck weg heiraten wollte, war ja Gott sei Dank überstanden. Aber ich verstand es gut, wenn er sich zu irgendeinem hübschen Vogel nicht hintraute und dafür lieber sechs andere, die ihm ganz wurscht waren, in die Backen kniff oder wo sonst. Sah er die Angehimmelte zwei Sonntage später wieder, dann fand er sie langweilig, aber dafür war im selben Augenblick schon wieder eine andere da, für die er sich lieber ohne Wimpernzucken umgebracht hätte, statt ihr irgendein nettes Wort zu sagen. Außer vom Tanzplatz kannten wir die Mädchen nur noch von der Kirche her. Es war ganz bezaubernd, in der Maiandacht einer in die Augen zu schauen und mit ihren Fingern zu spielen, während Violen geigten und der Chor die Litanei sang, als wäre alles das, was man nicht sagen kann, Musik geworden.
Ich gebe zu, daß wir überall besser hingepaßt hätten, als an einen Ort, an dem es für heiße Herzen ein wenig kalt hergeht, aber wir waren nun einmal da. Wenn Frauen, die mit dem Herzen lieben, vielleicht glauben, uns deswegen Vorwürfe machen zu können, sind sie auf dem Holzwege. Sie brauchen sich nur nicht so fürchterlich kostbar zu machen und ihre Blicke nicht zu verstecken, dann werden wir ihnen schon zeigen, wofür wir Verständnis haben.
Da man uns auf weite Entfernung ohne Brille die Neulinge ansah, riß jeder seine Witze über uns. Die Mädchen nahmen uns allerdings in Schutz, weil sie von den Dümmsten das meiste profitieren. Aber das Gespötte und Gelächter sollte nicht lang dauern. Man kann mit uns alles machen, bis zu einer gewissen Grenze. Ein unangenehmer Bursche mit vorstehenden Froschaugen, dem eine dicke bleiche Kanaille auf dem Schoß saß, sagte zu ihr, lauter als notwendig war: »Wenn der so dumm ist, wie er ausschaut, dann ist er nicht wenig dumm!« Ich weiß nicht, ob Franz gemeint war oder ich, gepaßt hat es auf jeden. Ich sah mich nach Regnier um, er saß betrunken in der Ecke und kümmerte sich nicht um uns. Franz stellte sich vor den Froschäugigen hin und fragte ihn sehr ruhig – allerdings war er käsebleich dabei –, ob er es nicht vielleicht an der Zeit fände, sein Maul zu halten? Es wurde still, alles erwartete, daß der Witzmacher mit seiner Dicken im nächsten Moment am Boden herumrudern würde. Ich stand hinter Franz und balancierte einen eichenen Stuhl auf dem Zeigefinger, nur so, aus Spaß. Die Wirtin fürchtete eine Schlägerei, aber der Frosch antwortete nicht, und so ließen wir ihn. Alles war in Ordnung, und die Weiber näherten sich uns jetzt nicht ohne Respekt.
Der Einfachheit halber blieben wir in dem gastlichen Haus über Nacht. Da wir kein Geld hatten, ging ich zu Regnier.
»Nur immer mit der Ruhe,« sagte er, »das kostet euch nichts, ihr seid eingeladen. Mach' deine Augen auf – wenn du es verstehst, dann gibt sie dir noch was!«
Das verstand ich zwar nicht ganz. Wie meinte er das? Ich wollte Franz aushorchen und fragte ihn beim Weggehen: »Wie war es denn?«
»Wie es war? Es war, als ob alle Häuser einstürzten, als ob der ganze Erdboden mit allem, was drauf ist, wie ein Betrunkener auf den Himmel zustolpert – alle Sterne sind zerplatzt wie Raketen . . .«
Nun, danach hatte ich ja nicht gefragt.
Wir verkauften dann gleich unsere Mineralien- und Käfersammlung, damit wir noch einmal hingehen konnten.
Franz behauptet, die Kneipe, die wir am häufigsten frequentierten, heiße die ›Taverne zu den vierzehn Hinterbacken‹. Auf dem Schild steht klar und deutlich, nur ein wenig verwittert, ›Café Zentral‹. Ein so heller Kunde er ist, aber er hat seine eigenen Vorstellungen, über die man mit ihm nicht streiten darf. Er behauptet zum Beispiel auch, das Schnapsplakat der Firma Dubonnet sei ein Marienbild, unter dem Tag und Nacht ein Öllämpchen brennt – Ansichtssache!
Er war mit seinem Pflegevater verkracht und einige Tage nicht mehr heimgegangen. Wir fütterten ihn mit, so gut es ging. Manchmal ging er auch leer aus. Es war schon belämmert, ihn dann Brotkrumen zusammenpicken und Zigarettenstummel sammeln zu sehen. Das Rauchen entbehrte er noch härter als das Essen.
Wir waren ziemlich vollzählig versammelt, Regnier, Dappenhelm, Zwiefeniggl, Kleinhans und Kleintheo, alles war da, als Weißhax daherkam, ein wilder Knabe, groß, hager, enge Hosen, zerwuzelten Hut, verwegene Knollennase, stierhafter Nacken. Er ging vorbei und warf uns einen unauffälligen Blick zu.
Später setzte sich ein eleganter Mann an unseren Tisch. Aus seiner verknüllten Hemdbrust blitzten Brillantknöpfe. Ein müder, fahler Mann, die schlaffen Falten in seinem Gulaschgesicht hingen nach abwärts wie Wäscheleinen. Der Kopf sank ihm auf den Tisch, auf seiner Glatze schimmerte ein rötliches Glanzlicht von dem trüben Schein der verstaubten Glühbirne.
Franz stieß mich an: »Mindestens ein bretonischer Kardinal in Zivil.«
»Von mir aus der Papst selber,« brummte ich.
Ich wußte damals noch nicht, daß Weißhax zur Sippe gehörte. Er winkte mir und fragte mich, was das für ein Knabe sei, »der mit de Blinksteene?«
Ich konnte nur sagen, daß ich ihn nicht kenne, machte mich aber wichtig und meinte, es sei vielleicht etwas von ihm zu holen.
»Det denk ich ooch. Jung, dor will ich dir eens zeige, wie Weißhax zum Fischen jeht.«
Zum Fischen? Es war noch nicht lang her, daß ich bei diesem Wort im Ernst geglaubt hatte, man wolle an die Seine zum Fischen gehen. Dann merkte ich aber, daß alle diese Ausdrücke, ich geh' auf die Jagd, gehn wir zum Einkaufen, zum Angeln usw., einen anderen Sinn haben. Weißhax klärte mich auf.
»Ich han dir heut ungefähr Lust, fünfhundert Franken zu angele, dor mößt du jet gut obpasse, wie mer das mäht.«
Damit setzte er sich zu uns, zog ein Paket heraus und zeigte es dem brillantinischen Kavalier unterm Tisch: »Aste blief, Mynher, ich han jet für dich!«
Es waren obszöne Zeichnungen, wundervolle Machwerke. Der Künstler, der sie angefertigt, war offensichtlich davon ausgegangen, daß das Publikum von der Kunst nicht viel versteht und sich dafür mehr an das Gegenständliche hält. Der vornehme Herr winkte ab und warf dem nächtlichen Kunsthändler eine Handvoll Kleingeld auf den Tisch, aus dem einige Silberstücke angenehm herausklangen.
Ich erwartete nun, daß ihn Weißhax auf irgendeine hübsche Manier von seinen Brillantknöpfen erleichtern werde, aber nichts dergleichen geschah. Vorläufig unterhielten sich die beiden nur. Der Kardinal, wie wir den Kavalier, der sich uns nicht vorstellte, nannten, sagte unserem Freund die haarigsten Schimpfnamen ins Gesicht, und Weißhax, auch nicht dumm, bediente ihn mit einem ebenso gesalzenen Titelverzeichnis. Von Zeit zu Zeit, wenn sie sich in den wüstesten und schauerlichsten Benennungen überboten und übersteigert hatten, fielen sich die Schimpfbolde gerührt um den Hals und schleckten sich ab wie ein versöhntes Ehepaar, aber nur, um sich sofort wieder zu verfeinden und wie die spanischen Kampfhähne aufeinander loszuhacken.
Wir anderen mußten währenddem auf Weißhaxens Anordnung essen und trinken, was Herz und Magen ersehnen, und kamen auf diese Weise alle zu einem etwas verspäteten Frühstück. Der Kardinal dagegen bestellte mit gewohnter Befehlsgeste ein Weib.
»Sollst du hebben, Jung, die smuckste Deern von tout Paris! Betahl din Zech, Oller, wir jehn dat Mächen holen!«
Es dämmerte, der Regen sickerte fein durchgesiebt, schwer und schleimig nieder. Wir schlapften in eine andere Kneipe, ein altes Weib säuberte die Tische.
»Essen und Trinken!« kommandierte Weißhax. »Allens, wat die Bude herjibt! Musike, Betrieb, allens!«
Erschrocken verschwand die Alte, das Grammophon kratzte, als wäre Streusand auf der Platte, irgendeiner hieb auf eine herzzerreißend verstimmte Drahtkommode ein, als wollte er sie in Fetzen hauen, dienstfertig kam der Wirt, die Bestellungen schwirrten, die Flaschen klirrten. Weißhax war mit dem Kardinal verschwunden. Ohne Mantel und Hut hatte er ihn in den Regen hinausgeschleppt. Ich erwartete, daß nun einer mit dem hängengebliebenen Pelzmantel abziehen werde. Statt dessen flog die Tür auf, Weißhax stand überlebensgroß auf der Schwelle: »Alles all right!« Hinter ihm stolperte der Kardinal mit einem hübschen Püppchen am Arm herein.
Weißhax ließ mich einen Blick in seine Tasche tun und zog die Geldscheine halb heraus: zehn Hunderter, tausend Franken. Er wollte mir einen davon in die Hand drücken: »Da nimm, oder ich schlag dir eens in die Visage!«
Ich hatte inzwischen bei einem Spielchen mit zwei Bummelfritzen gewonnen. »Behalt dein Geld!« sagte ich, dumm wie ich war.
Franz und ich begriffen nur so viel, daß man uns ein wenig ins Vertrauen gezogen, aber noch lange nicht alles gesagt hatte. Ein Ausplaudern der Geschäftsmethoden scheint in diesen Regionen ebensowenig üblich zu sein, wie in anderen kaufmännischen Unternehmungen oder diplomatischen Kreisen.
Regnier machte eine wegwerfende Handbewegung: »Wir zeigen euch noch ganz andere Sachen!«
Er scheint mehr zu wissen und äußert oft ziemlich verbrecherische Ansichten, die aber in seinem Mund eine so wunderbare Fasson annehmen, daß man einen Amtsrichter oder Kultusminister zu hören glaubt. Für Regnier ist es schade. Aber wir sind ja alle zu Höherem berufen.
Der Kardinal schien mit seiner Kleinen nicht besonders glücklich zu sein. Er saß am Klavier, griff einige melancholische Akkorde, fiel plötzlich vornüber und schlug mit dem Kopf auf die Tasten. Es war ein grausiger Mißklang.
Das Mädchen saß unbeweglich da und starrte sonderbar ernst vor sich hin.
Weißhax schien das nicht zu gefallen. »Laß doch die olle Monokelhülse!« brummte er und steckte sich einen Sargnagel ins Gesicht.
Das Kloster der Gottestöchter war dazu bestimmt, Sünderinnen, welche sich mit ihrem Körper verfehlt haben, aufzunehmen und zu Reue und Buße zurückzuführen. In alten Zeiten war dieses Kloster auf dem Terrain von Saint Lazare erbaut, wo jetzt das Frauengefängnis steht, eine halb so lustige Anstalt. Später haben sich die Töchter Gottes mehr nach Paris hinein orientiert und bei der Einfahrt der Rue Saint-Denis ein Haus für Zuflucht, Bleibe und Hilfe in ihrer Not suchende Frauen errichtet, ein Haus, in dem viel für die Armen getan und zu dem der Meßwein fuderweise hingefahren wurde. Wenn sogar der Bischof von Paris selbst, der es doch eigentlich nicht nötig haben sollte, manchmal persönlich vorsprach, um, wie er sagte, ein wenig nach dem Rechten zu sehen, dann kann man sich schon denken, daß es kein schlechtes Hotel war.
Franz tändelte damals schon ziemlich lang mit einer herum, ohne daß es trotz deutlicher gegenseitiger Sympathien zu irgendeinem handgreiflichen Resultat gekommen wäre. Wir zwicken ihn schon alle auf, jeder rät ihm, die Sache bleiben zu lassen, aber mein Gott, warum denn, wenn es ihm Spaß macht. Der Hauptgrund, warum die unsinnige Schwärmerei solang ergebnislos bleibt, wird wohl die große Jugend der Kleinen sein. Ich weiß nicht, wie jung sie ist, wozu auch, sie überzeugt jeden auf den ersten Blick, daß sie in leibhaftiger und recht appetitlicher Gestalt existiert. Sie ist eines jener kleinen Pariser Mädchen, die bis zum sechsten Jahre in dem Unrat spielen, den die Mutter in den Rinnstein schüttet, dann ein magerer blasser und unsauberer Schulfratz werden, und kaum aus der Schule, auf einmal frisch und rein zu einer unglaubwürdigen Schönheit aufblühen. Ihrem Temperament nach schätze ich sie – aber danach kann man nicht gehen. Es gibt Mädchen, die trotz rosenfarbener Bäckchen als strumpfstrickende Großmütter geboren werden, und Frauen in respektablen Jahren, die noch gern einen Tanz mitmachen und nicht schlecht Schritt halten. Manche junge fischblütige Phlegmatikerin, die noch so hübsch Tennis spielt, könnte sich daran ein Beispiel nehmen.
Franz ist kein Freund von Jungfrauen. Er behauptet, sie sind in jeder Beziehung undankbar und meinen schon Wunder was getan zu haben, wenn sie einem einmal ihre Waden bis übers Knie hinaufsehen lassen. Hat man sie aber glücklich und endlich soweit, dann bringst du sie nicht mehr los. Ihn interessierte nur eine Frau, mit der man vernünftig reden kann, die nicht lang herumtut und auch hernach nicht ins Wasser springt. Trotzdem, sagt er, sähe er nicht ein, warum er ein so unschuldiges Ding, das sich nun einmal auf ihn kapriziert, im Stich lassen soll. Da sie in einem halben Jahr doch irgendeinem Schurken in die Hände fallen wird, sei es ein Glück für sie, das erstemal an einen anständigen Kerl zu geraten. Hat doch das Weib nie mehr einen solchen Schwung wie um sechzehn herum. Er hatte eine Arbeit mit der Kleinen, daß es schon nicht mehr schön war. Das war ein Verabreden und Geheimnis, Treffen und Nichttreffen, Warten, Begegnen und Aufpassen, Händepressen, Seufzen und Augenverdrehen, eine Wichtigtuerei, ach Gott, ach Gott, und blieb alles doch nur ein aufregender und vielversprechender Anlauf, ein Start mit dem Einsatz der besten Kräfte, bei dem es aber nie zum Rennen kam. Nicht daß sie schüchtern gewesen wäre, im Gegenteil, auch einen solchen Überschuß von unverschämter Frechheit hat man nur, solang man unerfahren und alles Raffinement nur eine reizende Umschreibung jugendlicher Ungeschicklichkeit ist. Sie war immer in Begleitung ihrer Mutter, die aufpaßte wie ein Luchs, was die Kleine nicht hinderte, Franz Blicke zuzuwerfen, mit denen man im Winter eine Stube hätte heizen können, und dabei war es Sommer, ihn vorbeistreifend am Rock zu zupfen, seinen Finger zu packen, ihm zuzuschmachten: Ich liebe dich sehr!, sich das Strumpfband zu richten, in der Kirche so niederzuknien, daß ihre Stellung interessanter war als das schönste Meßgewand, oder wie aus Versehen und Gedankenlosigkeit ein Bein graziös auf ein Säulenpodest zu stellen, und solche Scherze mehr. Er tat Tag und Nacht nichts anderes mehr, als ihr nachzuspionieren und herzklopfend aufzulauern, aber wenn er sie wirklich einmal allein erwischte, dann war es erst recht nichts, dann war sie eiskalt, geziert, hirndumm und fremdtuerisch, das ganze Feuer wie weggeblasen, dann sagte sie zu dem armen, vor lauter Hoffnung sterbenskranken Kerl: »Gehen Sie fort, was wollen Sie, Sie unverschämter Mensch!«
Da wollte es der Zufall, wie man sagt, daß die heißkalte Kleine vor dem Klostergarten der bereuenden Schwestern stand, als Franz eben die Straße passierte. Er sah sie, erschrak, faßte sich und hatte schon seinen Plan. Sie unterhielt sich mit einer Klosterfrau.
»Wie kommt man denn in diesen schönen Garten hinein, Schwester? Und was muß man eigentlich tun, wenn man drin ist?«
»Wenn man drin ist, muß man bereuen. Und um herein zu kommen, muß man getan haben, was man bereuen muß.«
»Was denn bereuen?«
»Was man getan hat.«
»Was man bereuen muß.«
Franz griff ein: »Sie geben da rätselhafte Auskünfte, Schwester, ich glaube, die junge Dame profitiert mehr, wenn ich den Unterricht übernehme. Ich verstehe etwas davon –«, er wandte sich dem Mädchen zu, und die Schwester entfernte sich; sie sah ein, und ein verabschiedender Blick auf Franz sprach es deutlich genug aus, daß sie leider nicht mehr nötig war, »ich wollte Ihnen schon oft zeigen, was man tun muß, um bereuen zu können, aber Sie wollen ja nichts lernen!«
»Doch, ich will!« sagte sie, ein wenig unsicher und neugierig, und doch ganz bestimmt.
»Dann gehen wir auf die kleine Anhöhe hinüber, von wo aus man den Klostergarten am besten übersehen kann.«
So ein Quatsch! Aber er duldete keinen Widerspruch, er war im Zug und entschlossen, wegzugehen. Nun ja, es war ja schließlich auch Zeit, und sie ging mit.
Ich könnte damit die Geschichte beenden, aber Franz ist ein wahnsinniger Kerl. Es muß zwar auch an der Kleinen gelegen haben, daß ihm das Abenteuerchen so nahe ging.
Er kam zu mir und zitterte wie einer, der einer Todesgefahr entronnen ist.
»Nanu, was ist denn schon wieder los?«
Jetzt fing er auch noch zu heulen an, hat man so was schon gesehen, und schnaubte und schnurzte, als wären wir bei der Neunerbruck, wo die Weiber die Wäsche klatschen.
Später saß er da und sagte immer noch nichts. Stand herum wie angeleimt und starrte auf einen Fleck, als wollte er ein Loch in die Wand schauen.
»Was war denn los?«
»Ich weiß nicht. Ich werde einmal in den Armen eines solchen kleinen Schaukelpferdchens verbrennen. Es wird nichts übrigbleiben von dem Pärchen, nicht ein Knochen und kein Härchen, nur eine Handvoll heiße Asche –«
»Mehr bleibt von uns sowieso nicht übrig.« – –
Auch sie ist ihm nachgelaufen wie der Hund dem Hirsch.
»Was, du da?« sagte er. »Bist du noch nicht im Kloster beim Bereuen?«
Sie flog ihm an den Hals: »Ach du!«
Wir saßen am Feldrand und suchten vierblättrigen Klee, fanden aber nur zwei Pflänzchen mit zwei Blättern. Zweimal zwei ist auch vier.
»Entweder ein ganz besonderes Glück,« sagte ich, »oder nur ein zusammengeleimtes!«
»Das Glück liegt im Menschen,« meinte Regnier, »es ist Zeit, daß ihr praktisch denken lernt und euch entscheidet. Wenn der Zwiefeniggl als Schlosserssohn auf die Universität gehen kann, dann könnt ihrs auch! Das Studium ist notwendig, einfach deswegen, weil es juristisch vorteilhaft ist, einen Grad zu haben. Wenn du etwas ausgefressen hast, und sie erwischen dich, so wirst du als Student besser behandelt und leichter bestraft, das ist der ganze Schiedunter. Als Student kannst du zum Beispiel nur im lateinischen Viertel verurteilt und gehenkt werden – du mußt zugeben, daß das ein erheblicher Vorteil ist!«
Und er verzog den Mund so komisch, daß man sich nicht auskannte.
»Also muß ich ein Gelehrter werden!« jammerte Franz. »Ein Büchervieh, dem die Papierflöhe auf der Glatze herumhupfen!«
Regnier beruhigte uns. »Wir sind gesund,« sagte er, »das wird geschluckt und wieder ausgespuckt!«
Vor der Volksschule hatten wir uns genau so gefürchtet. Wir wußten, daß sie nichts ist als das erste Gefängnis. Damals hatten wir uns in unserer Höhle versteckt, einem verfallenen unterirdischen Gang hinter dem Kloster. Der Eingang, in den wir auf dem Bauch hineinkrochen, ist durch Brennesselstauden verdeckt, dann geht er unter einer Straße und einer Schloßmauer durch und erweitert sich an der Stelle, wo er verschüttet ist, so daß man bequem darin hocken kann. An der Wand hatten wir tote Frösche, Schlangen, Eidechsen und Vögel aufgehängt, in der Mitte brannte eine rote oder blaue Kerze, die wir aus der Sakristei mitnahmen. Es roch wie in einer feuchten Kirche. Und dazu tranken wir selbstgemachtes Kastanienbier.
Auch damals war es Regnier gewesen, der uns überredet hatte, in die Schule zu gehen. Und da wir nicht auf Rosen gebettet sind, sondern auf Stroh und Streu, kalten Fliesen, ungepolsterten Bänken und auf der Straße, die manchmal sogar gepflastert ist, wenn auch nicht mit Daunenkissen, fügten wir uns, gingen in Gottes Namen auf die höhere Tierquälerei und rückten von Abcschützen und Hühnerharpunierern zu Kandidaten höherer Wissenschaften und höherer Gaunereien auf, denn was man an Wissen profitiert, verliert man an Unschuld. Wir wollten entweder Großes werden, oder gar nichts; wir träumten uns über Kaiser und Papst hinaus; und ohne solchen verrückten und überspannten Ehrgeiz hätten wir weder hungernde und lungernde Poeten werden, noch die Stückchen liefern können, die den meisten von uns den Kragen gekostet haben. Als der Kleinhans bei einem Speichereinbruch gefaßt wurde, stieg er aus dem Dachfenster und schrie zu den Wachtmeistern hinunter: »Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf!«
Wir warfen die Tintenfässer zum Fenster hinaus und gingen, hundearm wie wir waren, zum Fechten und Stehlen. Waren wir früher in verlassene Häuser eingestiegen, aus denen die Bewohner herausgestorben waren und wo nichts mehr zu holen ist, weil die Einrichtung zur Deckung der Beerdigungskosten versteigert wird, so besuchten wir jetzt bewohnte, in denen die Leute auf ihren sieben Zwetschgen hocken und meinen, sie können sie mit ins Grab nehmen. In Paris sind die verschiedensten Häuser eng zusammengebaut. So kann ein wißbegieriger Student nur zu leicht die Türen verwechseln und statt in die Sorbonne in eine Garküche, in der das Fleisch appetitlich zum Mitnehmen auffordert, oder in ein kleines Bordell hineinstolpern, in dem die Ware nur einen anderen Namen hat. Andere haben vielleicht die lateinische Grammatik rascher begriffen als wir, aber Glic, Tarock, Bellotte, Skat und Bretling spielten wir besser wie ein Prälat. Den Lehrer Wolf haben wir mit einem Strick am Fensterkreuz angebunden, und dem Rektor Landhupfer, der nach uns mit Steinen werfen wollte, nach uns, den besten Steinwerfern, aber nur bis zur Mitte der Seine traf, haben wir unsere Kehrseiten zur gefälligen Ansicht hingehalten.
Unser eigentliches Auditorium Maximum war der ›Eulenkeller‹ in der Brotkastlgasse, nur Eingeweihten bekannt und zugänglich. Wer ihn nicht weiß, wird ihn nicht finden, und wenn er ganz Paris umgräbt wie ein Maulwurf. Zuerst geht man in ein kleines Café, nicht größer als eine Kammer, dann durch die hintere Tür nach rechts in ein zweites, ebenso winziges Lokal. Von dort aus durchquert man die Küche und findet ein drittes Zimmer, in dem auch nichts Besonderes zu sehen ist. Erst wenn der Wirt Licht bringt und die Falltüre aufhebt, kann man sich die steinerne Treppe hinuntertasten. Aus dem ersten Gewölbe, in welches sie mündet, schießen zwei kleine Steintreppen noch tiefer in den Bauch der Erde hinunter, und nun sind wir in unserem Hörsaal, einem halb felsigen, halb ausgemauerten quadratischen Gewölbe. Wir tagen hier nur nachts. Unser Lehrgegenstand ist die höhere Geometrie des böhmischen Zirkels und das fortgeschrittne Studium der Praxis, wie man einen einwickelt und ausbaldowert, kurz, die Ausbildung der Jünger der Wissenschaft zu gewandten Reisenden der Firma Klemm & Lange. Auf Theorie und Abstrakta legten wir nur geringen Wert. Es genügte, wenn der theologische Kandidat auf die Frage: Was ist Gottes Wort schwarz auf weiß? antwortete: Wenn der Priester auf einem Schimmel reitet. Die Prüfung in der Philologie bestand man mit einem einzigen Satz, wie: Ein ungebildeter Mensch verwechselt mir und mich, ein gebildeter nur mehr mein und dein. In der Medizin hieß es: Arbeiten ist gesundheitsschädlich – und in der Wirtschaftslehre: Mein und dein sind nur zwei verschiedene Namen für ein und dasselbe Ding. Und Franz gab der Massendevise: Qui non laborat, non manducet – die gescheitere Fassung: Wer zu essen hat, soll auch nicht arbeiten.
Wir, wie uns der Wind zusammengeblasen hat, waren Leute, die so viel Verstand haben, daß sie die menschlichen und irdischen Angelegenheiten nach ihrer Fasson zu Ende denken können, und wer das kann, der mag sich seine Gesetze selber machen. Für andere wird es geratener sein, die amtlichen Bekanntmachungen zu studieren. Unter günstigeren Sternen geboren, wäre Villon König gewesen, Regnier Markgraf, ich Generalfeldmarschall, Niggl Schatzmeister und der dappige Helm Minister des Auswärtigen. Wir hätten mit unserem Heer einige ertragreiche Gegenden erobert und die ganze Plackerei hätte ein Ende gehabt. Wir hätten unsere Freunde, Verwandten und Bekannten und unsere Weiber schon versorgt, und wenn das ganze Volk samt allen Dichtern darüber verhungert wäre.
Onkel Willi, der sich freute, daß Franz studierte, und mindestens einen Erzbischof aus ihm machen wollte, war eben auch nicht der Reichste. Es gab manchen Kaplan, dessen ganzes Einkommen aus einer Mehlabgabe einer der Mühlen von Montmartre bestand, und von der Sorte war er auch. Wir waren aber keine Freunde von Klostersuppen, auf denen kein Fettauge zu entdecken ist, und wenn man sie zur Untersuchung nach der Sternwarte tragen würde. Bei den Hallen ist die Speisekarte schon ein wenig reichhaltiger. Da liegen Berge von frischen Karotten, Spargel, Blumenkohl, Melonen, Ananas, Sellerie und Artischoken auf den Straßen so hoch aufgestapelt, daß man sich durch die Gemüsepyramiden und Fruchtschluchten durchessen muß wie durch den Kuchenberg in Schlaraffenland. Da heißt es, die Taschen zuhalten, damit dir nichts hineinfällt. Ein Korb voll Trauben, Schnecken oder portugiesischen Austern kostet ein paar Sous, und wer ihn so mitnimmt, zahlt gar nichts. Fische und Froschschenkel liegen auf Strohbündeln und kleinen Eisstückchen. Gewisse Arten davon haben zähe Lebensgeister, springen dich an, bevor du dich umdrehst, und du kannst dann sehen, wo du die Butter zum Braten herkriegst. Man kann sich nicht genug in acht nehmen. Hasen, die sich tot stellen, Fasanen, Enten, Gänse, alles kriegt Füße und Flügel. Fleisch, Schinken, Haifischflossen und Würste hängen an der Wand wie Putzlumpen; man muß nur wissen, wie man die Sehnen der Kalbshaxen und Spanferkel aus den Haken lupft. Das sind alles keine Kunststücke, sondern nichts als notwendige Bewegungs- und Gedächtnisübungen, denn in Paris langsam denken kostet Hosen und Hemd. Wer das Geschrei auf den Hallen, das verrückte Durcheinanderstürzen von tausend Karrenschiebern und Lastträgern, die festen Arme und das gutgeschmierte Mundwerk der Marktweiber nicht liebt, beim Arbeiten Stille und Einsamkeit vorzieht und mit Hofhunden umgehen kann, der kann auch über einen Gärtnereizaun steigen und sich sein Hors d'oeuvre eigenhändig aus der Erde ziehen, dann weiß er wenigstens, wo die Ware herkommt. Wer es liebt, sein Geschäft nicht so trocken am Schnürchen, sondern immer ein bißchen mit Humor zu betreiben, wie es der esprit gaulois verlangt, der nimmt dem Salatverkäufer den schönsten Kohlkopf oder zwei hinten aus dem Korb und bietet sie ihm vorne wieder billig zum Kauf an. Er kann sie dann, wenn er flink genug ist, nachdem der Hausierer sie gekauft hat, wieder mitnehmen, denn was bezahlt ist, kann man ruhig nach Hause tragen.
So wahr Franz ein Poet ist, so nährte er sich doch lieber vom Aufbrechen schwerer eiserner Kassetten als von dem unrentablen Handwerk, leichte Verse zu schmieden. Genie und Geschicklichkeit gehen nicht immer Hand in Hand. Es gibt Poeten, die ein Epos mit zwölfhundert Gesängen schreiben und trotzdem keinen Regenschirm aufspannen können, ohne sich ein Bein zu verstauchen. Anders Franz. Er war eine Führernatur, wo er voran ging, ging alles gut, sobald ihn aber ein anderer ins Schlepptau nehmen wollte, konnte er nicht mehr allein über die Straße gehen. Wir erkannten ihn alle uneingeschränkt als unseren Chef und Meister der Spitzbüberei an, und da er an sich selbst zuletzt dachte, nannten wir ihn die Nährmutter derjenigen, die kein Geld haben. Er hieß eigentlich Franz von Rabenberg. Wir nennen ihn Schelchaug, weil er alles über die Achsel anschaut und ein Spechter ist, der ums Eck linsen kann und auch hinten Augen hat. Er lehrte uns die Technik des Schmarotzens, über die man Bände schreiben könnte, betonte, daß es eine Schande für einen intelligenten Menschen sei, weniger geschickt zu sein als jeder andere Geschäftsmann, daß man auf Kosten anderer leben müsse, um zu verhindern, daß andere auf unsere Kosten leben, und daß man sich, wenn man gut leben wolle, über die, von denen man lebt, auch noch lustig machen müsse, wie es alle Großen so treiben. Er stellte Gaunerregeln zu Lehrzwecken zusammen und schrieb Essays über die Kunst vorwärts zu kommen. Einer unserer Genossen, Niggl, dichtete ihm zum Ruhm die ›Kostenlosen Schlemmereien‹, eine Verherrlichung von Franzens Geschicklichkeit und zugleich eine Anleitung, wie man ohne Geld einkauft, ißt, trinkt und gut lebt, handelt und tauscht, alles hin- und herschiebt, was nicht angenagelt ist, und noch etwas herausbekommt, wenn man einen bis aufs Hemd ausgesackt hat. Wer sich philosophisch und praktisch ausbilden will, kann unsere Stückchen dort nachlesen und ebenso in seiner berühmten Abhandlung ›Mit Zange und Stemmeisen‹.
Wir waren alle dem Verhungern nahe, da sagte Franz: »Ich hole euch ein gebratenes Huhn!« und bei ihm war nichts unmöglich. Er führte uns auf den Genovevenberg und ließ uns gegenüber einer Hühnerrösterei warten. Er selbst ging hinein, ließ seine Hosen herunter und zeigte dem Patron seine Rückansicht mit den Worten: »Da hast was zum Braten!« Bis der Wirt nach dem Feuerhaken griff, um dem Frechdachs eine überzumessen, hatte er schon längst ein Huhn geschnappt, und nicht das kleinste, und war wie weggeblasen.
Er umarmte einen wildfremden Mann zärtlich mitten auf der Straße: »Mein Alter! Mein bester Freund! Wie gehts denn? Du siehst nicht gut aus!« und zog ihm aus der Tasche, was darin war.
In der Kneipe ging er freudestrahlend auf irgendeinen zu: »Sieh da, du hier! Was macht die Kunst?« Der andere: »Kennen Sie mich?« »Mein Gott, du hast ein schlechtes Gedächtnis. Ich sage immer: wenn man einem hilft, dann kennt er dich nicht mehr. Weißt du nicht mehr, in der Harfengasse, bei Madame Voisin, wo ich dir hundert Sous geliehen habe!« Ob der andere sich dann an ein Ereignis, das nie stattgefunden hat, erinnert oder nicht, es geht doch so hinaus, daß er blechen muß.
Oder er blieb nachts vor einem Schaufenster stehen, so lang, bis ein Passant kam. In dem Augenblick, da dieser hinter ihm vorbeiging, trat er einen Schritt zurück und rempelte ihn an. Ob der dumme Teufel sich dann entschuldigte oder nicht, es gibt Streit und Geraufe und das Ende davon ist, daß der Passant mit leeren Taschen und einem blau und grün untermalten Auge abzieht.
War der Spaziergänger ein vermögend aussehender Mann, dann lehnte man sich mit dem Gesicht an die Mauer und fing zu schluchzen an. Dann ging es ohne Streit ab, man zeigte sich demütig und untröstlich, erzählte unter Schlucken und Nasenwischen eine erschütternde Familientragödie, und der Erfolg war, die Geschichte zwei-, dreimal an einem Abend wiederholt, eine ganz erträgliche Einnahme.
Alles kann man nicht aufzählen, es gibt zu viele Praktiken und Tricks, von denen viele geübt werden, ohne daß man dabei noch an den Erfinder denkt. Der erfahrene Leser kann sich das Fehlende ja aus seiner eigenen Praxis ergänzen.
Ja i bin da Stolz von der Au,
Am Mariahilfplatz geborn,
Die Madln, die renna,
Die tean mi scho kenna,
In mi is a jede verlorn.
Münchner Vorstadtlied
Ich habe einige Briefe gesehen, die er herumflattern ließ, nur gesehen, nicht gelesen. Ich sah nur einige Überschriften: Geliebter Strolch – Liebenswürdigster Gauner – Poet und Landstreicher – Allgeliebter Vagabund und Einbrecher – Du Herzen- und Geldschrankknacker – Mein geliebter Pech- und Galgenvogel – Du mein Sturmvogel – Lieber Don Giovanni – Mein lieber Sportsmann – Du, den alle liebhaben sollen – Lieber, leider nur von zu vielen geliebter Franz – Vielgeliebter – Gebenedeiter unter den Weibern – Liebesnarr – König der Verliebten – und so weiter, immer die gleiche Litanei. Die Unterschriften lauteten: Jeannine, Mädi, Dely, Ninerl, Leonide, Lily, Lilianne, Yvonne, Leni, Lison, Ninette, Nanette, Simone, Anni, Madeleine, Yvi, Yvette, Denise, Marga, Colette, Gretl, Rita, Marie, Susi, Suzanne, Françoise, Kathl, Marion, Zenzl, Thonne, Adrienne, Titi, Gugue und andere. Was dazwischen stand, kann sich jeder selbst ausmalen. Jede lobt etwas andres an ihm, und jede das Gegenteil von der anderen, woraus zu ersehen ist, daß jede Frau andere Eigenschaften am Mann schätzt, so daß man gar nicht viel genug haben kann, um jede Geschmacksrichtung zu befriedigen. Manche Damen behaupteten, uns um unserer poetischen Werke willen zu lieben. Vielleicht haben sie sogar selbst daran geglaubt. Aber wir betonen immer, daß wir nicht zu den Lyrikern gehören, die vor lauter Dichten nicht mehr zur Liebe kommen. Wir wären lieber Dachdecker, wenn das Gedichtemachen nicht zufällig mit dem Verliebtsein, Lieben, Geliebtwerden, Hoffen, Warten, Finden, Verlieren und Wiederfinden, diesem wunderschönen Kreislauf zwischen Verzückung und Verzweiflung aufs innigste zusammenhinge. Wir waren dabei nicht kritiklos, sondern abwechselnd blind oder erleuchtet. Wir vergleichen und machen immer dieselbe Erfahrung, nämlich daß alle Frauen verschieden und die Unterschiede interessanter sind als sie selbst, und sind uns einig, daß wir bis zu unserem letzten Augenblick nicht aufhören werden, sie zu studieren, und wenn wir jeden Tag drei hernehmen müßten. Ist es nicht in der Poesie ganz ähnlich? Jeder Poet weiß, daß das höchste Entzücken abflaut, wenn das Gedicht fertig ist. Es hält zwar noch ein wenig an, im ersten Moment kann man sich überhaupt nicht von ihm trennen, nimmt man es aber später wieder in die Hand und betrachtet es etwas genauer, dann ist es meistens nicht mehr so schön, wie der erste Rausch dir vorgegaukelt hat. Was dich bis zum Wahnsinn begeistert hat, findest du nach ein paar Tagen schon recht mäßig, und dann hilft kein Feilen und Herumstopseln mehr, es ist und wird nichts mehr. Was schadet's, es reimt sich schon wieder etwas Neues zusammen. Wir machen es zwar kurz, aber wir nehmen es dafür auch ernst und bringen allem, das wir anfangen oder nur von weitem riechen, die meiste Begeisterung, das größte Feuer und die höchste Kraft und Bereitschaft entgegen. Ist das vielleicht nichts?
Franz sagt, es wäre nicht unpraktisch, wenn es für das Herz eine Schutzmaske gäbe, wie die Bienenzüchter eine für das Gesicht haben, damit man sie diesem überängstlichen und grausam empfindlichen Muskel, der das eigentliche Gesicht des Menschen ist, im Augenblick der Gefahr rechtzeitig umstülpen könnte.
Insofern war es manchmal eine wahre Erlösung, wenn uns das Kleingeld so ausgegangen war, daß wir keinen einzigen Vers mehr zustande brachten. Wieso, was hat das Dichten mit dem Geld zu tun? fragt der Laie. Als ob Poesie nicht Zeit und Geld kostete und nicht überhaupt der luxuriöseste Sport wäre, den es gibt. Man muß Beobachtungen machen, Material sammeln, zeitraubende Studien treiben und arbeiten wie ein Galeerensträfling. Wie viele unzählige Tage und Nächte habe ich damit zugebracht, ein hübsches Bein oder zwei zu betrachten. Darum sage ich immer, wenn einer Dichter werden will: Überleg dir's noch, mein Lieber! Werde Schlosser, Kaufmann, Fetthändler, Minister, Kanalräumer oder Staatsanwalt, das ist alles immer noch leichter als Dichter sein!
Wie oft sitzen wir mit allen unseren Einfällen zerzaust, schweigsam, grimmig und verlassen im ›Grünen Hund‹, bestellen einen Schnaps und bekommen keinen und müssen uns vom Kellner schief anschauen und wegen ein paar Groschen dumm anreden lassen. Was wissen zehnprozentige Dienstbotenseelen von Dichtern und Menschen. Sie beurteilen das Ebenbild Gottes nach der Qualität des Anzugstoffes, in den wir uns seit der Vertreibung aus dem Paradies verlogen schamhaft einwickeln. Aber wenn der Herr berühmte Schriftsteller Sowieso, der Hunderte schuldig ist, kommt, in neuen Schuhen, steifem Kragen und seidener Krawatte, in Wildlederhandschuhen und pelzgefütterten Unterhosen, dann bückt sich der Wirt bis unter seinen parfümierten Bauch hinein, dann wird reverenzelt und scharwenzelt und geschwänzelt, daß sie alle mit der Hinterfront auf die Wanduhr schauen. Sie würden sich vor Ergebenheit die Wirbelsäulen absplittern, wenn sie nicht aus Gummi wären.
In letzter Zeit hat es Franz wieder besser getroffen. Er verkehrt in der ›Gestohlenen Kuh‹, wo ihn das dicke Schenkmädchen heiß liebt und füttert. Sie ist eine gute Seele. Als er ihr neulich nach dem Abendessen sagte, er könne heut nicht kommen, weil er um elf Uhr zur Gräfin Madame Renegate von Brachschnabel, Hofdame beim Herzog Johann von Bourbon, geladen sei, machte sie bewundernde Augen, die fast ein wenig feucht waren, wickelte ihm schnell noch einen halben Meter Speckwurst ein und wünschte ihm viel Glück und allen Erfolg.
Es ist ja alles recht nett, aber ich sehne mich nach Besonderem, Großartigerem und Außergewöhnlichem. Ich habe mit allen Kleinigkeiten abgerechnet und einen dicken Strich unter mein Leben gezogen. Entweder es kommt etwas Neues und Besseres, oder –
Nuscha, die große Blondine, ist eine betörende Riesin, die einen gußeisernen Reiter, an dem sie vorbeigeht, noch einmal zum Leben erwecken wird. Einen Lebenden jedenfalls bringt sie außer Rand und Band. Sie hat eine Haut so weich und glatt wie feinste Lyoner Seide. Wenn sie kommt, wirft sie sich seufzend in meinen verstaubten zerrissenen Polsterstuhl. Zwei Minuten später zieht sie sich aus, legt jedes Kleidungsstück sorgfältig und ordentlich hin und sich ins Bett. Wenn sie sich anzieht, gibt sie mir einen Kuß auf meine zerfurchte Stirn oder auf meine Nasenspitze und haucht: »Es war sehr schön –«
Ilonka kauerte neulich wieder auf der Treppe, als ich heimkam nachts um drei, und kämmte sich. Mit einem falschen Hausschlüssel, der zufällig sperrt, kommt sie herein. Unsere Zeit ist längst vorbei, ihre Anhänglichkeit rührt mich zwar, aber das ist auch alles.
Eine Zeitlang hatte es mir die Berta angetan, weil sie so einfach und natürlich ist. Als ich sie lobte und ihr über den blonden Schopf strich: »Bist ein braves Mädel!«, war sie beleidigt. »Ich will doch gar kein braves Mädchen sein!« pfauchte sie und drehte sich auf dem Absatz um wie eine Balletteuse.
Die Raserei mit Hilde verstehe ich überhaupt nicht mehr. Sie hat nur acht Tage gedauert, dann war es aus. Warum eigentlich. Ich weiß es nicht. Sie hat auch das blaue Crepe-de-Chine-Höschen, das mir Anna geschenkt hat und das ich immer noch bei mir habe, gleich gepackt wie eine Wilde und in die Ecke geschleudert. Es hat mir nicht gefallen. Andere sind viel rücksichtsvoller, legen es ruhig beiseite, wenn sie mein Bett machen, und ohne zu fragen wieder unter das Kopfkissen. Sie konnte zwar nicht wissen, was mir dieses Höschen bedeutet, nein, das konnte sie wirklich nicht wissen – aber sie hätte es doch schließlich fühlen können. Ich bin ja kein Lumpensammler.
Die Kitty ist eine Dame. Wer sie auf der Straße sieht, elegant, aber nicht auffallend, vornehm und ernst, würde nicht glauben, daß sie im Bett so reizend ordinäre Koseworte und anderes dummes Zeug flüstern kann. Zwar wer Frauen kennt, ist darüber vielleicht nicht erstaunt. Sie gibt mir manchmal Geld, nicht viel, aber immerhin etwas, und ist überhaupt sehr nett zu mir. Sie hat nur zwei Nachteile: einen Mann und eine Meinung. Die Meinung sagt oder schreibt sie mir manchmal. Ich lege auf beides keinen Wert. Ein Mann bin ich selbst, und eine Meinung habe ich auch, aber Geld habe ich keins.
Alices Mann ist ein eifersüchtiger Polizeihauptmann, jederzeit auf dem Sprung nach seinem geladenen Revolver. »Sei vorsichtig, mein Lieb,« sagt sie immer, »wenn er was merkt, habe ich meine sechs Kugeln im Leib!«
Aber aus Lisas Umklammerung konnte ich mich nur gewaltsam befreien. Ich weiß nicht, warum ich wegen dem langbeinigen Reh so elend und waschlappig und mir selbst zuwider geworden bin. Ich fraß nichts mehr und brauchte kein Geld fürs Essen auszugeben, aber der Vorteil davon war gering, denn ich habe ja keines. Vielleicht war ich deswegen so in sie verschossen, weil sie mir die beglückende Gunst und Kunst ihrer Liebe nur in sehr kargen Rationen zukommen ließ. Aber das wäre doch wohl eine recht oberflächliche Erklärung. Ich schämte mich vor mir selbst, und als sie mich wieder einlud, brachte ich Franz mit, den ich ihr vorher schon in den glühendsten Farben geschildert hatte. Sie war sehr aufgeregt, betrank sich, was ich noch nie an ihr gesehen habe, aber vielleicht macht sie das öfters, und warf sich ihm an den Hals. Und ich ging und war geheilt. Eine Pferdekur.
Es ist alles zuviel und zuwenig. Ich bin nur ein Mann und sowieso nur ein halber, und wenn ich so weiter mache, ist es überhaupt bald aus. Manchmal graust mir, wenn ich vor dem verstaubten blinden Spiegel stehe, wüst und grün, zerrauft und fahl, gespenstisch und zerstört. Jede kommt mit ihren Schmerzen, Hoffnungen und Enttäuschungen, mit durstigem Herzen und begehrlichem Leib, und ich kann nicht nein sagen. Ich höre alles an, was sie mir zwischen Umarmungen und Schwüren auf verweinten Bettkissen erzählen, und ich verstehe sie nur zu gut, ihre Empfindungen und Erlebnisse sind meine eigenen. Jede behauptet, ohne mich nicht mehr leben zu können; ob das wahr ist, entzieht sich meiner Kenntnisnahme; aber in der Tat sind sie alle nur Leichen, die ich mitschleppe. Ich mag nicht mehr, ich habe genug, ich möchte allein sein, ganz allein und einsam, wie schön wäre das! Aber wie lange werde ich es aushalten?
Manchmal nachts fürchte ich mich, sie könnten mir alle zusammen als Gespenster erscheinen, wie einem Massenmörder die erschreckende Geisterreihe der von ihm Umgebrachten.
Ich weiß nicht, bei welcher Frühmesse, Hauptmesse, Vesper oder Abendandacht Franz zum erstenmal die schöne junge Gattin eines Pariser Buchhändlers gesehen hat oder vielmehr, wo sie – er behauptet, die Blicke, die sie ihm, unbekümmert um alle Zuschauer, zusandte, seien so versengend gewesen, daß sie einem Ritter, der ein Visier trägt, das Eisen vom Gesicht geschmolzen hätten. Schon bei dem Gedanken nur, daß er sich aus diesem kribbligen Feuer wieder in den öden Schatten irdischer Verlassenheit fortbegeben müsse, wurde ihm schlecht, er fühlte, daß er in diesem Augenblick halb oder ganz tot sein werde. Die schöne Frau war in Begleitung einer Herde von Freundinnen oder Angehörigen, aber was blieb anderes übrig, als ihr trotzdem nachzusteigen. Er sah, wie sie in einem der noblen teuren Häuser, die sich große Kaufleute leisten können, verschwand, ohne daß sie sich auf dem ganzen Weg ein einziges Mal nach ihm umgesehen hätte. Das gebot ihr die Vorsicht, und doch war er darüber niedergeschlagen. Ihm war dabei, als wäre die Sonne nicht nur untergegangen, sondern für alle Zeiten von dieser trübseligen Erde verschwunden.
Man kann lang darüber nachdenken, warum sich einer beginnenden Leidenschaft alle auf der Welt vorhandenen und ausdenkbaren widerlichen Hindernisse entgegenstellen, deren Beseitigung Unternehmungslust und Tatkraft, Intelligenz, Überlegung und kaltblütige Schlagfertigkeit erfordert, und wozu man ein Genie und ein Held in einer Person sein soll. Wenn auch ein Mensch wie Villon, von mir ganz zu schweigen, in diesen Unternehmungen seinen eigentlichen und einzigen Beruf erblickt, sind sie doch eine unerschöpfliche Fundgrube von bitteren Überraschungen, die einem jungen Menschen vor Staunen die Augen aus dem Kopf treiben.
Aber schließlich und endlich war seine Stunde gekommen. In das Zimmer, in dem er hernach fast ein bißchen zu oft Gast war, zu gelangen, kostete zwar erhebliche Umstände und Geduld, aber in einer Beziehung wenigstens hatten die zwei Glück: der Herr Gemahl kam nicht dahinter und nicht zum Vorschein; er hatte die Güte, bei diesem Stück nicht mitzuwirken. Wir brauchen uns darum auch nicht weiter mit ihm zu beschäftigen.
Als Franz sich mit der schönen Frau allein sah, war er einigermaßen verlegen. Er war noch furchtbar jung, und dieses kleine Abenteuer war das erste, das ihn mit einer Dame aus höheren Gesellschaftskreisen zusammenführte. Sie war eine Bürgerliche, und die Wohlhabenheit, Ordnung und Verschwendung, alles, was um ihre Person einen gewissen Nimbus wob, zwang ihn zu schüchterner Zurückhaltung und steigerte seine Erwartung im höchsten Grade. Er hatte die schöne Frau bis dahin nur einmal in der Straßenkleidung gesehen. Von ihrem Hut fiel ein undefinierbares Zeug von Seidenspitzen auf ihre Schultern, und aus diesem duftigen Stoffgeflirre sah ein Gesicht heraus, das man eher einer norditalienischen Madonna als einer Pariser Buchhändlersgattin zugesprochen hätte. So hatte er sie in Erinnerung. Jetzt aber sah er sich einer ganz anderen Persönlichkeit gegenüber, die er kaum wiedererkannte, einer mädchenhaften Frau, noch jünger, als sie ihm damals erschienen, sinnverwirrend durch die leichte, den Körper entblößende Kleidung, und nun, da sie sich gegenüberstanden, weit fremder und unnahbarer als auf der Straße, wo es ihm, als er in ihrem Blick untertauchte, geschienen hatte, als befände sie sich mit ihrer gänzlichen Persönlichkeit bereits in ihm, beziehungsweise er sich in ihr. Es ereignete sich bei diesem ersten Rendezvous, es tut mir leid, aber ich kann nichts anderes sagen, als was mein Freund mir erzählt hat, leider nichts Besonderes. Man unterhielt sich, scherzte und tändelte ein wenig. In der Hauptsache beschränkte sich Franz darauf, den Duft der ihm neuen Atmosphäre aufzuschnuppern wie ein Hund, der gern so eine feine Dame zur Herrin hätte, wenn er nur wüßte, wie es anstellen. Sie zeigte ihm ihre Toiletten, und er gewann die Überzeugung, daß ihr privates Lager von Mänteln und Pelzen, Roben und Garderoben womöglich noch umfangreicher war als die Warenvorräte ihres Gatten.
Beim zweitenmal aber erleichterte die Dame ihm auch diese Situation. Sie fand, daß es zwar angebracht war, vor ihrer Persönlichkeit und ihrem Stande einen schuldigen Respektstermin einzuschalten, aber sie hatte andererseits ohne Zweifel triftige Gründe, die ihr geboten, diesen Termin nicht allzulange hinauszuschieben. Und es ist wahr, so hübsch der anbetungsreiche Idealismus eines jugendlichen Herzens als Zugabe ist, sowenig kann er die Hauptsache ersetzen.
Worüber er staunte, das war der wunderbar jugendliche Leib der kleinen Anais, nachdem sie ihm mitgeteilt, daß sie Mutter von drei Kindern und das größte davon bereits vierzehn Jahre alt sei. Niemand, erzählte sie, der ihre Familie nicht genau kenne, wolle glauben, daß sie schon ein Kind habe. Ihr Körper war noch so unversehrt, ihre Brüste noch so straff, ihr zarter Leib so wenig ausgedehnt und alles, was an einer Frau der Verehrung wert ist, in einer so mädchenhaften Verfassung, daß man daraus eher auf eine unberührte Jungfrau hätte schließen müssen, wenn solche Annahme nicht allzu waghalsig wäre.
Das ist nun zwar alles recht schön und vielleicht sogar schöner, als daß ein noch etwas grüner Junge, der in seinem jugendlichen Unverstand alles für selbstverständlich hält, es schon ganz würdigen könnte. Und so unglaubwürdig es jedem erscheinen wird, der für solche nicht allzu häufige Schätze mehr Verständnis übrig hat, so wahr ist es: Villon war ein bißchen enttäuscht. Es war ihm, der selbst schneller ist wie ein englischer Jagdhund, alles ›ein bißchen zu rasch gegangen‹ – denn er meinte, es müsse auch in diesem Punkt, wie in allen anderen, ein Unterschied sein zwischen armen, niedrigen und lasterhaften Leuten und den reicheren, also sehr sittsamen, geistvollen und tugendhaften. Noch dazu geschah etwas, was ihm überhaupt nicht gefiel: die kleine Anais empfand im Laufe dieser bezaubernden Nacht ein Bedürfnis, von dem keine einzige Frau der Welt, auch nicht die Kaiserin von Trapezunt, frei ist, schlüpfte also aus dem Bett und bediente sich zur Ausführung ihres Vorhabens eines hübschen kleinen, sicher recht wertvollen Porzellangeschirres, das unter einem seidenen Vorhang versteckt war; und das war nach allen Umständen nur zu natürlich und auf gar keine andere Weise zu erledigen. Franz aber, der Ähnliches doch schon in anderen Häusern gesehen hatte, ohne sich darüber zu alterieren, fand nun auf einmal, daß es hier etwas Entweihendes habe, wie er sich ausdrückte. Mein Gott, beim Hirn kann sie es doch auch nicht hinausschwitzen! Oder hatte er sich vorgestellt, daß in den oberen Gesellschaftsklassen sämtliche menschlichen Funktionen gestört und außer Betrieb seien? Wahrscheinlich ist es zuviel von einem jungen Spritzer verlangt, wenn man erwarten wollte, daß er das Mysterium aller weiblichen Einrichtungen ohne Ausnahme verstehen soll. Alles in der Welt will gelernt sein, und selbst ein gescheiter Mensch braucht seine Zeit, bis er erkennt, daß nichts gering, unschön oder unwürdig sein kann, wenn man es mit der dazu gehörigen Anmut verrichtet.
Er wagte zwar nicht, seiner angebeteten Geliebten mit dem griechischen Namen zu sagen, daß und inwiefern er enttäuscht war, aber das war auch gar nicht nötig, denn sie merkte es von selbst.
»Na, mein junger Vogel,« sagte sie, »recht lang wird's wohl nicht dauern, was?« Und das war recht herzig gesagt, mit einer Heiterkeit, aus der nur ein Feinhöriger die hinter dem Lachen versteckte leise Trauer über die rasche Vergänglichkeit auch der heißesten Leidenschaft heraushört. Vielleicht, dachte sie, bin ich ihm doch schon zu alt und zu mütterlich.
Nichts davon war der Fall. Er bewunderte sie noch genug, obwohl er seinen Irrtum, daß die moralischen Qualitäten des Menschen mit seinem Rang und Stand zunehmen müssen, inzwischen bereits einsah. Denn das würde ja sagen wollen, daß der ärmste Mensch der verworfenste Verbrecher und der reichste ein überirdischer Ausbund von Tugend sei. Aber er verstand die kleine Frau und war zartfühlend genug, ihr ihre Befürchtung auszureden.
Und nicht nur das. Es war am zweiten Osterfeiertag, als der arme Hase in ihr weiches seidenes Nest schlüpfte, und von Ostern bis Pfingsten sind, wie jeder christkatholische Mensch weiß, genau fünfzig Tage, die fünfzig Tage, welche vergangen sind von der Auferstehung unseres Heilands bis zu seiner Wiederkunft in Gestalt des Heiligen Geistes, der sich, in eine Taube verwandelt und in ihr inkarniert, auf die armen Hohlköpfe der unwissenden Menschheit herniederließ und sie mit feurigen Zungen reden machte. Nun ist ein junger Mensch, mag er auch in mancher Beziehung noch dumm sein, aber doch wenigstens ehrgeizig. Und aus diesem Grund, und auch weil ihn nichts so verletzt hätte als der leiseste Verdacht gegen seine männliche Kraft und Gesundheit, hatte er sich bei diesem Abschied vorgenommen, diese fünfzig Tage, das heißt die Nächte davon, samt und sonders bei seiner Liebsten zuzubringen, ein echt jugendlicher Einfall. Ich rate niemand, der fünfzig Jahre hinter sich hat, solche fünfzigtägige Scherze mitzumachen. Und Franz hielt sein Gelöbnis und sein Wort. Er redete sich dabei ein, daß die schöne Frau, wenngleich in punkto punkti eine Frau wie andere auch, trotzdem ein makelloser Engel sei, denn solche Unmöglichkeiten pflegen junge Männer, und besonders poetisch veranlagte, und wenn sie im übrigen die gerissensten Spitzbuben sind, von den Weibern manchmal zu verlangen. Ich glaube ihm aufs Wort, daß er seiner selbstauferlegten Pflicht so standhaft nachgekommen ist, wie nur irgendein treuer diensteifriger Beamter auf seinem Posten, und daß er eher zuviel als zuwenig getan hat.
Die Sache hatte aber doch ihren Haken. Denn wenn einer nichts geerbt hat als einen leeren Magen und nichts dazu, und diese Erbschaft eine genau so unumstößliche Tatsache ist wie durch Brief und Siegel verbürgte Hinterlassenschaften von Grundstücken und Renten, wenn einer so dran ist, dann hat er, vorzüglich bei solchen Villonschen Unternehmungen, die schönste Aussicht, bald noch elender dran zu sein.
Von seiner Schönen bekam Franz außer Zärtlichkeiten in jeder Form, die aber keine Zubereitung erfordern, nicht viel zu schmausen. Sie stellte ihm einen Kristallteller mit Zuckerzeug, Kuchen, Obst und solchen weiblichen Schleckerkram hin, der nicht den mindesten Nährwert hat, und einen Becher Gewürzwein, Likör oder was es war, von dem ihm die Zunge am Gaumen kleben blieb. Anfänglich nahm er selbst diese sehr dekorativ aussehenden Erfrischungen nicht an, indem er vorgab, er habe schon gegessen und sei so satt, daß er nicht mehr papp sagen könne. Denn auch ein Armer versteht etwas von Höflichkeit. Und später, als er diese Ungeschicklichkeit überwunden, war er dermaßen ausgehungert und überhungert, daß ihm von dem Genuß dieser Leckerkeiten nur noch schlechter geworden wäre. Untertags zum ›Einkaufen‹ zu gehen, brachte er in dieser Zeit nicht die nötige Energie auf. Er hätte sich auch nicht geniert, ihr zu sagen, sie soll ihm ein gebratenes Huhn, ein halbes Dutzend Tauben, Schinken, kalten Braten mit Mayonnaise und einige Flaschen kernigen Tourainer Landwein besorgen, aber er fürchtete die Umstände und wollte die ewige Angst der zitternden kleinen Frau nicht noch vermehren. Und dann wußte und sah er auch nur zu gut, daß eine Dame aus solchen Kreisen unmöglich Verständnis haben kann für einen Appetit, der alle Grenzen der guten Sitten übersteigt. Diese Menschen kennen ihre Lebensführung und sonst nichts. Soweit sie überhaupt an derartiges denken, nehmen sie einfach an, daß alle Menschen genau in denselben Verhältnissen leben wie sie. Sie haben zwar schon einmal davon gehört, daß es Arme gibt, und auch schon manchmal einen Bettler auf dem Straßenpflaster herumrutschen sehen, aber das ist etwas Häßliches, dem man aus dem Wege geht, während man durch den Diener einen Groschen hinwerfen läßt. Was das eigentlich ist, Armut, das wissen diese Leute nicht. Es liegt außerhalb ihres Lebenskreises und unterhalb ihrer Würde, sich mit Gedanken darüber abzugeben. Und das war der andere Grund, warum Villon hartnäckig schwieg. Unter solchen Umständen stand die Ernte, die er in dem reichen Haus einheimste, in keinem rechten Verhältnis zu dem, was er darin aussäte. Wenn ein Naturwissenschaftler den Nährwert von dem, was er ausgab, und dem, was er empfing, berechnen und vergleichen würde, es käme dabei nichts anderes heraus, als daß sie ihm zwar alles nahm und fast mehr, als er besaß, aber nichts gab, was er so notwendig gebraucht hätte.
Solche Mißverhältnisse führen leicht zu einer Katastrophe. Es war in der letzten, genau der fünfzigsten Nacht, daß Madame Anais ihren treuen François ein wenig kalt und gefühllos fand, nicht viel, aber doch ein wenig, und das war viel genug. Sie fragte ihn nach dem Grund davon, dachte aber dabei durchaus an nichts Arges.
Franz gab ihr einen Kuß, stand auf und suchte seine Hosen. Er war übermäßig bleich und anscheinend schlecht aufgelegt.
»Nun,« fragte sie aus ihren Kissen heraus, die sie der Schwüle wegen von sich geschoben hatte, »hast du mir nichts zu sagen?«
Er trat vor sie hin: »Doch. Weil ich genug habe, Madame!«
Sie wurde rot und versuchte sich zu fassen. In ihren Augen flammten Angst und Staunen, sie schlug sie rasch nieder und fragte leise: »Und womit habe ich das verdient?«
»Das werde ich Ihnen erklären,« antwortete Franz, während er sich anzog. Er sprach ganz ruhig und fast allzu manierlich. »Wenn Sie mir einige Worte gestatten wollen. Man kann ja reden, der Herr Großhändler ist ja verreist, nicht wahr?«
»Mein Gott –«
Sie setzte sich aufrecht und betrachtete mit Blicken, die einen Teufel zum Beten verführt hätten, bald ihn, bald ihre schnurgeraden schneeweißen Beine. »Franz – sagte sie, »Franz –,« der Atem ging ihr ein wenig aus, »schau, durch dich ist möglich geworden, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht eingebildet habe, daß ich meinen Mann hintergehe. Ich kann alles verlieren, mein Vermögen, meinen Ruf, meine Kinder und mein Leben. Und wenn er hereinkäme, ich könnte ihm nichts verschweigen, es bliebe mir nichts anderes übrig, als mich abmurksen zu lassen. War ich irgend einmal nicht guter Laune? War ich nur eine einzige Sekunde nicht gut zu dir? Sag es! Ich kann mich nicht erinnern. Wenn es aber doch der Fall war, dann verzeih mir!«
Sie richtete einen so zärtlichen Blick auf ihn, hübsch war sie ja, und das konnte ihr so leicht keine nachmachen, daß man entweder ein Holzklotz sein oder schon ganz besondere Gedanken haben muß, um vor einer so kindlichen Göttin nicht alle Waffen zu strecken.
Franz hatte seinen alten verkrempelten Filzhut aufgesetzt, in dem er aussah wie ein Räuberhauptmann. »Madame,« sagte er, »bringen Sie mir meine Gedanken nicht durcheinander. Betrachten Sie lieber den, der vor Ihnen steht, und versuchen Sie in seiner etwas ramponierten Erscheinung zu lesen, dann brauche ich Ihnen nichts zu sagen. Achtzehn Jahre bin ich alt, das ist so jung wie ein Grashüpfer, und doch bin ich schon so alt wie eine Vogelscheuche!«
Seine Stimme war eher traurig als vorwurfsvoll.
Sie versuchte zu scherzen: »Schöne Vogelscheuche das, die alle Weiber verrückt macht!«
»Ich könnte ein Prinz sein!« sagte Franz. »Ich würde mit den paar Witzen, die mir einfallen, und mit dem, was mich außerdem bis heut zum Mann gemacht hat – für morgen kann ich allerdings nicht mehr ganz garantieren – damit könnte ich in einem halben Jahr ein hypothekenfreies Rittergut erwerben, wenn ich nicht das Pech hätte, als Bettler geboren zu sein. Ich habe nichts zu essen, wenn ich nichts stehle, und nichts anzuziehen, wenn mir nicht eine reiche Dame aus dem Laden ihres Herrn Gemahls einige Meter Tuch klaut. Er wird mich demnächst am Arm packen und anhalten: ›He, junger Mann, wo haben Sie den hübschen Stoff her, das Muster kommt mir bekannt vor!‹ Und recht hat er, denn er ist ja gestohlen. Oder haben Sie ihn vielleicht bezahlt?«
Sie wollte etwas sagen, vielleicht, daß sie ihren Besitz mit dem Zusammenleben mit einem ungeliebten Mann teuer genug bezahle, aber Franz ließ sie nicht zu Worte kommen.
»Ich bin,« sagte er, »bevor ich es mir vorgenommen und überlegt habe, Dieb geworden, und wer sich mit mir einläßt, nimmt meine Gewohnheiten an, wie Sie sehen. Die hübsche silberne Nagelschere, die Sie mir zu schenken geruhten, damit ich mir die Fingernägel nicht an der Hofmauer abbreche, wenn ich zu Ihnen komme, und weil sie aus Trauer über meine Armut schwarze Ränder haben, was wird es mir künftig nützen, das kleine Maschinchen? Zum Einbrechen geht man nachts, im Dunkeln, wo einem niemand auf die Finger schaut. Ihr aber, ihr wohlgepflegten und wohlsituierten Leute mit parfümierten Händen, gefeilten Fingernägeln und glattpolierten Visagen, in die keine Ängste um den erbärmlichen täglichen Fraß ihre scheußlichen Furchen graben, ihr werdet nie begreifen, was es heißt, nichts zu fressen zu haben. Nicht nur das wacklige Gestell, von dem ich Ihnen in Gestalt meiner Person ein halbtotes Exempel vor Ihre schönen Augen hinstelle, ist davon betroffen, sondern alles, Hirn, Herz, Charakter, Denken, Empfinden, Laune und Stimmung, Kraft und Leistung, Weg, Richtung, alle Taten, Töne und Fähigkeiten, die im Menschen schlummern, wie die Frucht in der Blüte, und die man fördern und hervorbringen, unterdrücken und vernichten kann –«
Die schöne Anais hatte sich auf ihrem Lager ausgestreckt. Ihr Leib, den sie in der Bestürzung zu bedecken vergaß, lag da wie aus Wachs einem lebendigen Körper nachgebildet. Franz sah sie gar nicht, noch daß aus ihren Augen langsam einige Tränchen niedersickerten, die aber unter den heißen Anklagen des fanatischen Liebhabers verdunsteten wie eine kleine Quelle in der Hitze eines tourainischen Sommertages. Zum zweitenmal gab er ihr nun eine Probe seiner Beredsamkeit und dieses Mal fast noch wilder als damals, da er ihr in leidenschaftlich übertriebenen Worten, Versen und Phantasien seine Liebe erklärt hatte. Jetzt aber war es der Haß, der aus ihm sprach.
»Ihr seid,« hörte sie geduldig an, »in eurer Gefühls- und Phantasielosigkeit grausamer, unbarmherziger, kaltblütiger und niedriger als das vernunftloseste Tier. Ihr geht mit schönen Sprüchen hausieren, wie dem, daß Entbehrung gesund und förderlich und nichts so heilsam sei als Armut – aber ihr seid nicht arm! Ihr behauptet, daß man in diesem irdischen Leben auf alles verzichten müsse, um dafür in der Ewigkeit den Lohn zu erhalten – aber ihr verzichtet auf nichts! Solche albernen Lügen und Kleinkinderweisheiten habt ihr zu Dutzenden bei der Hand. Jeder Ackerknecht weiß, daß auf einem dürren ungenährten Boden kein Halm wächst. Jeder Bauernstoffel rechnet damit, daß er in diesem Jahr etwas erntet und nicht erst im nächsten oder nach seinem Tod, den er Hungers stirbt. Auch der Mensch ist ein Acker, er ist aus Erde gemacht und wird wieder zu Erde. Ihr liebt nichts so sehr als asketische Grundsätze und tugendsame Ermahnungen, die ihr den anderen sagt, obwohl sie niemand so notwendig brauchte, wie ihr selbst. Ich wünsche euch nichts als die Anwendung eurer eigenen Lehren, sie würde nur zu eurem Besten sein. Ich hätte Lust, euch hungern zu lassen und euch zu fragen, wie Sprichwörter zum Frühstück schmecken. Ich hätte Lust, Madame, die Menschheit umzudrehen, damit die, die oben sind, sehen und spüren, was unten ist, nichts wäre gesünder für alle. Ihr habt eine ganze Kaste von Bischöfen und Erzbischöfen, Kardinälen, Kanonikussen, Priestern, Pfarrern und Mönchen, Prioren, Äbten und Äbtissinnen und Rabbinern, einen ganzen Staat im Staat, der von euch gefüttert, beschützt und bezahlt wird, eigens dazu angestellt, daß er Grundsätze, die niemand befolgt, außer dem, den die Not von selbst dazu zwingt, lehrt und predigt und ausschreit, in Schulen, Kirchen, Gerichten und Parlamenten, das ganze Leben lang von der Taufe bis zur Beerdigung, in Wort und Schrift, in Prosa und in Versen und nur nicht in der Tat. Niemand in der Welt hat einen so gut genährten und speckglänzenden Schädel zwischen den Schultern, niemand einen so prallen abstehenden hängenden und schwabbelnden und von den Dünsten der schwerfälligen Verdauung aufgeblähten Bauch als der, dessen Amt und bezahlter Beruf es ist, den Mageren und Hungernden den Hunger zu predigen. Das ganze schwarze Regiment bis hinauf zum Allerhochwürdigsten ist nichts als ein Rudel Knechte, die ihr gedingt habt, damit sie das nötige Leben, dem ihr ausweicht, denen in die Ohren singen, denen es schlecht geht. Ja, ihr habt sogar eine unleugbar echte Sehnsucht nach einem einfachen und härteren Leben, darum liebt ihr auch diese Predigten so und hört sie um so andächtiger an, je weniger ihr nötig habt, sie zu befolgen. Eurem Mund entfahren manchmal, wie dem Armen ein Stoßgebet um eine kräftige Fleischbrühe, Seufzer nach Not und Entbehrung, wie sie einem, der sein ganzes Leben lang satt ist, aufstoßen, weil er sich überfressen hat –«
Mehrmals während dieser heftigen Rede, in die sich Franz erhitzt hineinsteigerte, genau wie einer von eben denselben fanatischen Predigern, die er verhöhnte, und wozu ihm weiter nichts abging als Soutane und Tonsur, einigemal schon hatte Anais, so leblos sie auch dalag, geseufzt und gebettelt: »Ach Franz, sei doch nicht so wütend, laß mich doch auch ein Wort sagen, bitte, höre mich an, laß dich nicht zu weit hinreißen, du weißt doch, daß ich dich liebe, bitte!« – so daß er auf ihre leise Stimme aufmerksam wurde.
»Nun, was ist denn?« fragte er. »Warum unterbrechen Sie mich?« Seine Augen flackerten noch ganz wild.
»Laß mich nur eines sagen: hält mich deine Armut ab, dich aufrichtig zu lieben? Kannst du mir antworten?«
»O ja!« Er lachte grob. »Ich kann Ihnen antworten: denn ihr liebt den, dem es schlecht geht, ja ganz besonders! Ihr habt eine ehrliche und aufrichtige Schwäche für den Armen, Bescheidenen und Übervorteilten! Daß er arm ist, läßt euch den sicheren Genuß eures Auskommens fühlen, daß er bescheiden ist, macht euch sicher, daß ihr mitleidig seid, schmeichelt eurem Selbstbewußtsein, und daß er der Übervorteilte ist, darin besteht euer Lebensglück und die ganze Grundlage eurer Existenz. Es ist so hübsch, wenn der andere nichts hat, und tut einem selbst nicht weh! Es ist reizend! Es ist so, wie wenn man Hunde streichelt oder Pferden ein Zuckerchen gibt. Eure Sympathie zu einem armen Viech ist am allerheftigsten, wenn der arme Hund zwar kein Geld, aber Intelligenz und Begabung hat, und dann ist euer Vergnügen wirklich grenzenlos: ihr wißt ja nur zu gut, daß er mit samt seiner Genialität klaftertief unter euch und euer Angestellter bleiben muß, mit dem ihr Geschäfte machen und Geld verdienen könnt. Und das ist euer köstlichster Triumph: daß ihr mit eurem Geld Herrscher seid über den Geist, der stärker ist als der eure – Geist ist euch sowieso schnuppe. Die Liebe der Schlange zur Maus, zu ihrem Opfer, das sie liebt, weil es ihr nicht auskommen kann! Ich stehe ja immer noch da, Madame Anais, erhabene Bürgersfrau! Warum haben Sie mich nicht betrachtet, warum ruhte Ihr Auge nur solange auf mir, als ich Ihr Opfer war? Warum haben Sie sich nicht selbst Gedanken gemacht über diese von einer käsbleichen Haut notdürftig zusammengehaltenen Knochen? Über diesen ausgemergelten, holprigen Kleiderständer, den ich auf Ihr seidenweiches Fleisch zu legen manchmal die schamhaftesten Bedenken hatte? Über diesen Rest und Abfall von tagtäglichen Bettmahlzeiten, von denen Sie noch den Geschmack auf allen Lippen haben? Was halten Sie von dieser mageren Kirchenmaus, die mit eingezogenem Schwänzchen vor Ihnen steht? Bitte, antworten Sie mir, Sie schöne, weiche, kaltherzige, hochvornehme Frau! Habe ich eine Nacht geschlafen, seit ich Sie sah? Habe ich eine Nacht woanders verbracht, seit ich hier zum erstenmal hereinschlich und mit meiner abgetrennten Schuhsohle am Teppich hängen blieb? Habe ich Ihnen etwas vorenthalten, war ich sparsam, geizig oder knauserig? Habe ich Ihnen auch nur eine Haarnadel gestohlen?«
Er ging erregt hin und her und schleuderte seinen Kalabreser in die Ecke. »Nun gut! Ich muß gestehen, um Ihnen bei dieser schönen Predigt nicht nur Unangenehmes und doch nur Wahres zu sagen: ich leugne nicht, daß ich eure unverschämte Hundeschnauzigkeit auch bewundere, eben weil sie so naiv und kaltblütig ist. Aber François Villon, Franz von Rabenberg, Schelchaug, der arme Student und Poet, ist kein Mensch, der bei der Bewunderung stehen bleibt – er liebt, wie Sie bezeugen können, die Tat mehr als das Wort. Und was ihr wißt, das weiß ich auch: ihr habt begriffen, daß es gilt, die anderen auszuplündern, und ich habe begriffen, daß es gilt, euch auszuplündern. Ich habe das Zeug zu einem Banditen und werde mir nehmen, was ich brauche. Sich dabei Skrupel zu machen, hieße unphilosophisch handeln, denn wie Sie sehen, Madame, habe ich meine Sache durchdacht, und wie Sie wissen, Madame, gebraucht man das Wort Kaufmann auch im Sinne von Gauner. Ein schlechter Kaufmann, der kein Gauner ist – wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen.«
Anais war über seine Unnachgiebigkeit nun doch unwillig geworden. »Sie sind ein Rebell!« sagte sie. »Ein Empörer! Sie werfen alle Ordnung um, wollen die ganze Welt auf den Kopf stellen und die Religion leugnen, Sie rabenhafter Herr von Rabenberg!« Und sie drehte sich von ihm ab, immer noch unbedeckt, ob aus bewußter Koketterie oder aus unbewußter, das mögen die Psychoanalytiker unter sich ausknobeln.
»Rebell?« Er lachte. »Studieren Sie Geschichte, gnädige Frau, dann werden Sie lernen, daß Rebell und König dasselbe ist. Die Religion ist eine Erfindung, welche ihren Verwaltungsbeamten das Privilegium einräumt, alle Menschen, die keine Beamten sind, für Esel zu halten. Soviel ich mich kenne, halte ich meinen Kopf hin für das, was ich tue. Meine Rebellion ist längst Religion gewesen, bevor eure Federfuchser und Bureaukraten alles, was dasselbe ist, in fünfzehnhundert verschiedene Schachteln einregistriert haben.«
»Warum einen so gefährlichen Weg gehen,« seufzte sie, »warum mußt du denn deinen Kopf riskieren, es geht doch auch so!«
»Ja, Kegelschieben ist gefahrloser –«
Sie verstand ihn nicht, weder vorher noch jetzt, sie glaubte ganz einfach, er habe eine andere Liebschaft gefunden und sich alle diese Vorwände nur ausgedacht und zusammengekratzt, um die Trennung herbeizuführen. Sie sah nicht den Zusammenhang zwischen seiner Naivität, seiner blitzraschen Erkenntnis, seiner harten Erfahrung und dem Resultat seines Nachdenkens. Die Weiber gehen immer zuerst von dem aus, was sie wollen, und das ist immer dasselbe. Sie verstehen nicht, daß man ausnahmsweise auch von anderen Gründen geleitet sein kann. »Ich weiß schon,« sagte sie, »ich verstehe Sie nur zu gut. Sie lieben eine andere Frau!«
Und diesem Argument folgte ein noch stärkeres, wenn auch sehr simples, dem aber schon größere Denker nicht gewachsen waren, ein leises Schluchzen, das so rührend war, daß Franz beinahe wieder den Kopf verlor.
»Ha! Sie irren sich!« rief er. »Daß Sie schön sind, wissen Sie. Ich kann es Ihnen um so aufrichtiger bestätigen, als ich keinen Grund mehr habe, Ihnen zu schmeicheln. Ich kenne, momentan wenigstens, keine schönere Frau in Paris und keine –« Hier verschluckte er etwas, um nicht zu weit zu gehen und sich zuletzt noch selbst um seinen Erfolg zu betrügen. »Aber es kann gut möglich sein,« fuhr er andersrum fort, »daß ich mich demnächst in die schmutzigste und lausigste Hure von ganz Paris verliebe, nur weil sie arm ist. Nur zur Abwechslung, Madame, nur zur Abwechslung!«
Diese seine letzten Worte klangen ernst, aber es war schon zu spät. Kann man einer schönen Frau widerstehen, die sich im Bett aufrichtet und unter langen Wimpern, an denen garantiert echte glitzernde Tropfen hängen, vorlächelt? Ich kann's nicht. Und darum entschuldige ich meinen Freund gern, wenn er fand, daß die Berührung ihrer feinen Haut mit dem rauhen Stoff seines Anzuges gegen die natürliche Delikatesse verstößt, und sich rasch noch einmal auszog.
»Hoffentlich haben die Dienstboten dein Gebrüll nicht gehört, abscheulicher Kerl du!« – flüsterte sie, als sie ihn entließ. Man vereinbarte das nächste Rendezvous, und er, der nicht nein sagen kann, sagte ja. »Vorausgesetzt,« fügte er hinzu, »daß ich noch lebendig nach Hause komme!«
Ich bin überzeugt und habe es Franz auch gesagt, daß seine Pfingstpredigt nicht ohne Eindruck geblieben ist, sondern daß die zärtliche Anais, in den schwarzen Tiefen ihres verdorbenen bürgerlichen Gemütes erschüttert, sich bereits bei diesem Abschied vorgenommen hat, ihm nach Kräften aus seiner Misere herauszuhelfen.
Aber er ist nicht mehr hingegangen.
»Also darum sehen Eure Exzellenz so abgearbeitet aus,« sagte ich, als wir wieder unter uns waren und reden konnten, wie uns der Schnabel gewachsen ist. »Ich muß gestehen, daß ich eine solche Höhe der Leistungsfähigkeit bis jetzt nicht erklommen habe, aber wer kennt die Leiden seiner Zukunft? Vielleicht harret meiner auch im Schoße des Schicksals eine ähnliche hochstellige Zahl – ich bin auf das Schlimmste gefaßt, Hochwürden!«
Franz stülpte die Hände in die Hosentaschen bis zum Ellbogen. »Krieche ich da also aus dem Haus der kleinen Pelzbesitzerin, bei der ich auch noch Haare gelassen habe, heraus, in meine Backenhöhlen hättest du deine Faust legen können, meine Haut war so grau und verfallen wie die Mauer vom Friedhof der Unschuldigen, an der solche Totenschädel mehr liegen, ich schleiche so hin, leicht wie eine Daunenfeder aus ihren Bettkissen, und doch lahm und schwer. Die Gassen leer, lautlos. Ein borstiger Hund schnüffelt am Boden 'rum. Niemand da. Ich bin der einzige Mensch von Paris! Es schlägt drei Uhr. Der Himmel ist blaß, die Schatten verkriechen sich wie Würmer. An den schmutzigen Hauswänden schwebt ein blauer Widerschein; der Hollerstrauch über dem Zaun ist so zart und grün wie frisch gewaschener Salat. Und auf den Regenpfützen liegt die gleiche Farbe eines ewigen Abgrundes wie am Himmel. Der Tag erwacht, und doch ist es sein Untergang. Wo ist die Liebe? Wo die Tollheit, das Zittern und Ängsten, die Schlaflosigkeit, das Schreien, Weinen, Hoffen, Zweifeln, die paradiesischen Träume, die herrliche, elende, grauenhafte Krankheit, die unglaubbare Wirklichkeit – wo, wo? Einige wertvolle Gegenstände meines Innern sind abhanden gekommen. Der ehrliche Finder wird gebeten – Was ist übriggeblieben, Herr Kriminalprofessor? Fünfzig Nächte.
Und nun stelle dir dieses Leben vor: immer wieder fünfzig Nächte, und immer wieder dasselbe Ende! – – –«
Franz hat uns auf seine Bude geladen, Regnier, Dappenhelm und mich. Er hat einen Roman geschrieben, aus dem er uns ein Kapitel vorlesen will. Auch die besten Dichter haben die schlechte Eigenschaft, ihren Kram vorzulesen. Wir hätten Sebald von der Lake, der Franz anbetet, gern dabei gehabt, aber der verrückte Karmeliter war nicht aufzutreiben. Wir verstauten uns in seiner Nußschale von einer Kammer; Franz durfte auf seinem einzigen Stuhl sitzen und fing gleich an:
»Was soll ich vom Leben sagen? Ich liebe es und habe schon genug von ihm. Ich habe so genug! Aber wie liebe ich es! Sattheit, Hunger, Sehnsucht, Überdruß! Was ich kenne, läßt mich unbefriedigt, was ich nicht kenne, beunruhigt mich. Ob es überhaupt irgendein Dasein gibt, das mich befriedigen würde? Ich fürchte, es ist immer und überall dasselbe. Ich müßte viel Geld haben, damit mir nichts verborgen bliebe. Aber ich habe nichts als meine Jugend, die bald vergeht, meinen Verstand, vor dem nichts standhält, mein Selbstbewußtsein, das mir niemand abkauft, und meinen Willen, alles zu erleben und die Welt bis auf den Grund auszusaufen.
Warum werfen die Weiber ihre Augen so bestrickend herum? Weil sie wissen, daß sie entweder einen finden, der sie kauft mit Haut und Haar, so daß sie aus allem heraus sind oder auf dem Misthaufen enden wie ihre lausigen Schwestern, die kaputt und verschlampt unter den Brückenbögen, in Hauseingängen und Mauerecken liegen wie ein Lumpenbündel, das ein Bettler fortgeschleudert hat, um sein Ungeziefer loszuwerden. Ich aber bin kein Weib, leider, nicht einmal ein Weib! Ich kann meine Augen nicht herumwerfen, ich kann nur alles sehen. Aber es wäre besser, mit seinen Blicken einen Hund einzufangen als die ganze Welt, die im Hirn zu nichts zerrinnt. Ich werfe mich weg wie eine Hure, aber niemand gibt mir ein Trinkgeld, niemand kauft und versorgt mich, daß ich in Ruhe meine Fingernägel polieren und meine Verse feilen könnte. Nichts als der Haß verbindet mich mit meinem Dasein, und dennoch bin ich ihm verfallen.
Wie liebenswert, wie verführerisch sind meine Kameraden, wer könnte ihnen widerstehen? Regnier de Montigny, geistvoll, gewandt, überlegen, immer gefällig, bestrickend und faszinierend, der geborene Hochstapler großen Stils. Ehrenwerte Familie! Sein Vater war Stadtverordneter und Hofbäcker des Königs, darum ist sein Sohn auch ein solcher Teigaff. Ehrenwert und arm! Seine Mutter und seine Schwestern hungern und nähen. Er hat zwar einige Mädchen, die ihn aushalten, einige Pferdchen, die für ihn rennen, und es soll sogar noch ein Lehngut da sein, wenn man dir glauben darf, du Erfindungsreicher – wie lang noch, alles gleitet, alles rutscht. Am Gründonnerstag, meinem Geburtstag, hat er sechzehn Kumpane zum Essen geladen, sechzehn stellungslose Kommerzienräte, es dauerte vier Stunden, zwei gebratene Pfauen wurden aufgetragen, ein Faß Wein ausgetrunken – am andern Tag fraßen wir rohe gelbe Rüben. Regnier, wo werden wir enden? Du spielst so gern das Hinkespiel und spielst es wirklich gut. Der Sergeant Mühlenbrink, der dicke Hund, der im ›Großen Eimer‹ an der Theke steht und mit dem Wirt unter einer Decke steckt, behauptet, du seiest ein Falschspieler! Pfui, ein Edelmann, ein Gelehrter, Pardon! mir scheint eher, die anderen können nicht spielen. Vorsicht, Regnier, du bist schon dreimal verhaftet worden, immer langsam voran. Wir armen Zechpreller müssen am Ende ja doch alles bezahlen. Der Zwiefeniggl, der Schlosser! Was für ein schöner Bursche ist er geworden, der hat sich herausgewachsen. Stark wie ein Pferd, und wenn er singt, eine Stimme wie ein Mädchen. Trägt er ein Couplet vor, ist alles außer sich. Er macht die Dietriche, die wir brauchen, und er versteht, sie auch zu gebrauchen – bst! Am neunten Februar haben sie ihn geschnappt – alles Gute und einen schönen Gruß an deine Großmutter. Kleinhans, der Langhaarige, nicht groß, wie der Name schon sagt, aber schweigsam und geschickt, raffinierter noch als der Niggl. Auch Kleintheo, der Goldarbeiter, macht Schlüssel, und außerdem schmilzt er Gold und Silber ein, nun, das gehört ja zu seinem Beruf. Ein Kerl wie eine junge Katze! Welche reizenden Scherze, welcher tollpatschige Übermut, welches gute Herz, welches gerade, frohe Lachen – irgendein schwarzhaariges Luder wird ihn auffressen. Robin, wie schlank, elegant, freigebig, offen und charmant, und doch ein Linker, wer möchte es glauben. Und Dappenhelm, Ballot, der Dicke, wie rührend gutmütig und phlegmatisch, man kann mit ihm Ball spielen, er lacht mit seinen dummen blauen Augen und sagt zu allem ja. Und dann der Binscham. Der Kerl hat zuviel Gemüt, ein Geburtsfehler. Aber eines Tages wird er doch noch ein ordentlicher Kerl werden. Gott sei mit ihm, der Teufel wird ihn schon holen. Und wieder Bruder Baude, alias Sebald von der Lake, der wilde, pfiffige, belesene und weitschauende Mann, dem seine Geliebte folgt wie ein Hündchen.
Was bleibt uns anderes übrig, als uns zu verpulvern. Wir verstehen nichts, als bei Jahrmärkten und Prozessionen, Einzügen und Hinrichtungen, wenn alle Glocken läuten, auf die Taschen der Neugierigen zu achten, damit sie nichts verlieren. Wir haben nichts gelernt als die Kunst, sich blau zu saufen und mit Advokaten und Schreibern zu tarocken, damit wir bei Gericht einige Freunde haben. Wir sind wie Monsieur Chapeau, der alte Quartalsäufer, der seinen Hut nicht 'runter tun will, weil er gleich wieder gehen muß, und der nach zwei Lagen noch dasitzt. Wir tun den Hut zwar 'runter, aber wir sitzen auch nach drei Tagen noch da. Wir reden dumm daher, nach dem Prinzip, daß dumm reden gescheit und gescheit reden dumm ist. Wir sind zügellose Herrschaften, aber wir tun mehr, als wir sagen, und sagen nicht, was wir denken. Wir haben revoluzzert und das Lateinerviertel durcheinander gebracht wie die Klötzchen einer Spielzeugschachtel; zwei zentnerschwere Rammsteine schleppten wir aus der Neustadt bis in die Rue Mouffetard, Zwiefeniggl hat sie angeschmiedet, und wer vorbeigeht, muß sie grüßen. In ganz Paris ist kein Wirtshausschild, das wir nicht verhängt, keine Glocke, die wir nicht heruntergetan, und kein Rock, den wir nicht aufgehoben haben. Aber dem Wirt von der ›Wilden Möhre‹ haben wir gezeigt, wie man mit einem umgeht, der uns anzeigt: sein Haus ist geplündert, sein Keller zertrümmert, sein Buckel geschwollen und seine Frau auch. Die Polizei wollte uns maßregeln, die Universität hat protestiert, die Vorlesungen wurden eingestellt, und wir zogen durch die Stadt, brüllend wie die Ochsen – im ›Hotel de Dieu‹ starben zwei neunzigjährige Pensionäre am Herzschlag. Trotz des Verbotes waren viele bewaffnet, und das war gut. Es gab ein paar Nasenstüber, die Soldaten pfefferten auf uns wie auf der Treibjagd, mancher brave Knabe ist gestolpert und nicht mehr aufgestanden, aber auch mancher von den Grünhasen – hoppla, hat sich gelegt, ohne daß er weiß, wer ihn gespickt hat.
Das Jahrhundert dreht sich, wir kippen die Zeit um wie einen ausgetrunkenen Maßkrug. Johann vom Überfluß predigt die fünfzehn Zeichen zum Beweis, daß das Jüngste Gericht nahe ist. Wenn er bei mir Unterricht nähme, würde ich ihm einhundertfünfzig Beweise verraten. Die Turlupins leben wie die Zigeuner, die Pikarden predigen die Gemeinschaftlichkeit der Frauen, die Bettelmönche betteln, die Ablaßkrämer geben sich für Abgesandte des Papstes aus, die Diebe stehlen, die Soldaten plündern, die Räuber räubern, die Händler schachern, und wir leben von der Hand in den Mund und Arm in Arm mit Banditen und Beamten, Schmugglern und Zöllnern, mit den Geistlichen und ihren Beichtkindern, die sie als Kusinen vom Land vorstellen, mit Bettlern, die sich mit ihren Sparkassen den Buckel ausstopfen, mit Blinden, die um die Ecke schauen, mit Taubstummen, und Staubdummen, die in der Zerstreutheit ›Vergelt's Gott!‹ sagen, mit Lahmen, die ihre Krücken wegwerfen, wenn ein Wachtmann kommt, mit Ein- und Ausbrechern, die die gestohlene Wurst in ihren Steckbrief einwickeln, mit Froschmenschen, die zu den Teufelsschimären auf der Notre-Dame Modell stehen, mit Wirtshausrutschern, die ihre blankgewetzten Hosen als Rasierspiegel benutzen, mit Sack- und Strickleuten, die am Nachmittag in der Sonne liegen, alle viere von den Bänken hängen und sich am Abend mitnehmen lassen, damit sie ein Quartier haben, mit den Übersättigten der vorübergehenden Liebe und ihren Zuhältern, mit den syphilitischen Mädchen, die die Nächte durchtanzen, nie mehr nüchtern werden und nicht mehr zur Besinnung kommen, bis sie von zwei Lazarettgehilfen auf einen Karren geworfen werden, mit den unbekümmerten Vaganten, die mehr Zeit haben als Millionäre, die kein Leder drückt, weil ihre Schuhe aus Staub sind, und die nach jedem Regen ein Paar neue kriegen, mit den Nachtratten der Herbergen, die unter Ständchen und Vordächern schlafen und tagsüber Klinken putzen, und mit allen geschminkten, gepflasterten, kostümierten und nackten Schauspielern des Lebens. Sie tragen blutige Binden über nicht vorhandenen Wunden, sind geschickt in der Fabrikation künstlicher Geschwülste und könnten einen Laden mit Schorfen und Eiterungen aufmachen. Aus Kienruß werden Geschwüre von schwarzverbranntem Aussehen hergestellt, mit grünen Nußschalen die Gelbsucht markiert, Baumrinden mit Harz ins Gesicht geklebt und mit Spinnweben überzogen, ein Ochsenauge vom Pferdemarkt und, damit alles falsch ist, ein Pferdeauge vom Rindermarkt vorgebunden, die Lumpen mit Moos drapiert, auf ihren Hüten wachsen Fliegenschwämme, und ihre Hosen treiben Keime wie die Winterkartoffeln im Keller. Wenn dann die ganze Maskerade, die Hinfallenden und Epileptiker mit künstlichem Schaum vor dem Munde und die grauenhaft verzerrten zähneklappernden Mäuler, über die der rotgefärbte Schnupftabak trieft, das Mitleid der vorübergehenden erschrockenen Seelen noch nicht aufscheuchen, dann sollen ihnen die Nasen wegfaulen, so brauchen sie keine Rockärmel mehr zum Schnäuzen.
Und ich stehe dabei und schaue. »Das ist entweder ein Idiot,« sagen sie, »oder ein Heiliger, oder ein Poet!« – sie wissen nicht, daß alles das dasselbe ist. Dennoch wird eine Zeit kommen, in der man noch weniger wissen wird. Dann würde man einen Poeten, wenn man einen fände, vom Fuß bis zum Kopf in Gold gekleidet öffentlich ausstellen, damit das Volk zu ihm wallfahrtet – aber man wird keinen mehr finden.
Wenn ich alles durchschnüffelt habe, wenn ich nach durchlumpten Nächten zerknirscht in die Messe gehe, bis mich der Anblick des marmornen, mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzten Bischofsarkophages aus der Andacht schreckt, wenn ich aus dem parfümierten überheißen Bett einer Dame, die mich untertags nicht kennt, in den Winterwind hinausklappere, dann gehe ich in den Kreuzweg zur Scheune und betrachte die Kehrseite der Medaille: welcher verpestete Wartesaal von schnarchendem Gesindel, welches Schlachtfeld von Erschlagenen des Lebens! Alles liegt kreuz und quer hingestürzt, verbogen und verzogen, müde Köpfe und ausgemergelte Arme auf den Tischplatten wie Stücke beim Fleischer, zwei Stühle bilden ein Bett, in dem einer liegt wie ein rheumatischer Leichnam, auf dem Steinboden betten sie sich fette Lumpen unter die schmierigen Gesichter, und in den Ecken kauern sie wie gerollte Bündel, die man hingeworfen hat, weil sie im Wege lagen. Alte ausgedehnte Huren, alte ausgetrocknete Zuhälter, junge fahle faule verlotterte Burschen, junge speckige, von Häßlichkeit geschlagne, vom und zum Elend verdammte Weibsbilder, alle vom Leben ausgespien wie in Raubtierzähnen hängengebliebene Fleischfasern. Alles reglos, alles schon gestorben. Aber manchmal kratzt sich einer, manchmal kriecht einer, leise träge Bewegungen wie in einem Schlangennest. Noch nicht hin? Nein, der Mensch ist ein zähes Tier. Sieh die Alte mit dem Furienhaar: ihre schlappen Brüste hängen über die Bluse herab, ihre Hand kriecht langsam wie ein Reptil unter dem Kleid, um sich zu wärmen und das Ungeziefer zu schnappen.
Um zwei Uhr kommt Unruhe in die zähe Masse, ihre Nacht ist zu Ende. Lumpen und Säcke wackeln hinaus, Säcke mit Füßen, Ballen mit Köpfen, wohin? Nun ja, zu den Hallen, um ein zertretenes Gemüse aufzuheben, durch die schlafenden Gassen, um Aschenfässer und Unratkörbe umzustülpen und zu durchwühlen. Wir gehen, wir gehen – auch ich stülpe alles um, auch ich bin hungrig und gierig, ich muß alles wissen.
Ein breiter Kerl, Augen wie ein Wolf, den Bart nur auf einer Seite abrasiert, weil die Seife nicht mehr gereicht hat, einen alten Sack auf seiner unförmigen Schulter, begleitet mich. Ich gebe ihm meinen letzten Sous. Er aber geht hin und schleudert ihn fluchend in die Seine.
Drei Uhr. Ich gehe trinken, damit der Alkohol, der mehr Feuer hat als ich, meine trüben Grübeleien widerlegt.
Vier Uhr. An der Ecke holpert ein Blachenwagen. Die müden Gäule klappern über das krumme Pflaster, Soldaten begleiten die Fuhre, staubig verwildert und hohlknochig, die Büchsen nachlässig unter den Arm geklemmt, wie ein Rudel Wölfe durcheinandertrottelnd, zerschlagen vom Landmarsch, mit nach vorwärts hängenden Knien und schlaftrunken wackelnden Köpfen. Ein Transport Mehl. Ich richte mich auf: wenn man einen Sack ergattern könnte! Mein Maul wird noch trockener, im leeren Magen stößt mir der Fusel auf, meine Knochen knacken: ein Sprung, ein Messerstich auf den Schädel des ersten – ja, wenn es zwei oder drei wären, aber es sind ihrer zwölfe oder dreizehn! Und wie soll ich mit dem Sack auf dem Buckel davonkommen, der ich mich selbst nicht schleppen kann. Das Ächzen und Pfeifen der trockenen Radachsen verliert sich. Soll ich heimgehen, nachsehen, ob in der Schublade noch eine alte Brotrinde liegt? Prost Mahlzeit.
Acht Uhr. Ein Gedicht murmelnd, stolpere ich am Quai d'Anjou lang, wo Priore und Prälaten, Friedhöfe in den Bäuchen, nach der Frühmesse spazieren gehen und den dicken Mädchen, die am Ufer Wäsche schwenken, lüstern unter die Röcke schauen.
Zwölf Uhr Mittag. Schlaf, Schlaf –
Ich möchte nicht mehr aufwachen – –«
Franz packt seine Blätter zusammen und wirft sie in die Tischschublade. Wir schauen alle hin, ob wir keine Brotrinde sehen.
Regnier gab ihm die Hand und sah ihm in die Augen.
»Ich habe das Manuskript mit François Villon unterschrieben,« sagte Franz, »nach meinem Pflegevater. Den Roman werde ich nicht aus der Hand geben.«
»Das wird gut sein!« sagte Regnier beruhigt. »Wir liegen sonst alle drin. Übrigens bist du der Dichter, der in einer Funktion fertig bringt, was andere nur auf zweimal können: lachen und weinen. Bei dir ist beides ein und dasselbe.«
Wir sagten auch etwas, jeder gab seinen Senf dazu, und dann zogen wir ab.
Eines der letzten Ereignisse im Hin und Her und Auf und Nieder unseres Schaukeldaseins war die wirklich schöne Mac d'Orleans. Mich geht sie weiter nichts an, ich wußte von der ganzen Geschichte nichts. Franz hat mir nur ein Gespräch erzählt.
Sie sagt zu ihm: »Liebst du mich?«
Er schaut sie an.
»Habe ich dir etwas getan?«
»Nein.«
»Bin ich dir nicht schön genug?«
»Du bist schön!«
»Bin ich zu alt?«
»Nein. Du wirst noch zehn bis fünfzehn Jahre gleich schön und jung bleiben.«
»Warum magst du mich nicht mehr?«
»Weiß nicht.«
»Du bist ein unheimlicher Mensch!«
»Nanu, ich kann auch sehr heimlich sein –«
»Ein Teufel!«
»Ja, ein armer.«
»Kannst du denn überhaupt irgendeinen Menschen lieben?«
Er legt die Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht, wenn du begreifen würdest, aber –«
»Wer bist du eigentlich, du kannst nicht einmal Gott lieben! Mir egal, ich brauche keinen Gott, wenn ich dich habe!«
»Es ist kein schlechter Tausch, Maci! Den rächenden Arm Gottes kann ich auch entbehren, da ist mir deiner immer noch lieber.«
Trockenen Auges schaut sie vor sich hin. Irgend etwas in ihr wankt und will zusammenstürzen. Sie lehnt sich an ihn wie jemand, der Hilfe braucht.
Und er hält sie. Aber er schaut über ihre Schulter weg, nachdenklich und abwesend, die Augenbrauen grimmig über der Nasenwurzel zusammengezogen.
Im ›Hotel Margot‹ ging es nicht so langweilig zu wie im ›Fäßchen‹, wo die Mädchen, kaum daß die Tür geht, sich im Halbkreis vor dem eingetretenen Besucher aufpflanzen, die Hemdchen, die sowieso zu kurz sind, noch höher heben, Sternchenaugen machen und ihre zügellosen Lästermäuler zu zuckersüßen Mündchen spitzen. Oder wie bei den ›Schönen Hühnern‹, wo die Patronin bei der Ankunft des Kunden in die Hände klatscht, worauf an die vierzig gutgebaute Evastöchter an seinen Tisch laufen und ihm dermaßen die Ohren vollkreischen und schnattern, genau wie Hühner und Gänse, wenn sie zum Futter gelockt werden, daß einer schon gut bei Humor sein muß, um nicht sofort wieder Reißaus zu nehmen. Von dem hochvornehmen Haus ›König Karl‹ gar nicht zu reden, das, wie der Titel schon sagt, das fürstlichste von ganz Paris ist. Da stehen Frauen aller Rassen und Länder, eine schöner gewachsen als die andere, auf Marmorsockeln vor dem staunenden oder blasierten Besucher, ihnen ist es gleich, wer sie anschaut oder wie, wenn er nur bei Kasse ist, mit seinem Charakter werden sie dann schon fertig. Dazu tönt von irgendwoher eine hübsche Musik, sehr geeignet, einen noch ganz um den schäbigen Rest von Verstand zu bringen, den er aus Versehen noch mitgebracht hat. Ein diskretes Glockenzeichen meldet in allen Stockwerken die Ankunft des Besuchers, kein in dem Haus anwesender Mann darf auf dieses Signal hin die Treppe heruntergehen, niemals kann dir jemand begegnen, für Herren, die ihr Inkognito zu wahren wünschen, eine sehr angenehme Einrichtung. Du kannst wählen unter Zimmern und Frauenzimmern, was dir gefällt, einen französischen oder einen deutschen Salon, einen englischen, türkischen, arabischen, russischen, indischen, malayischen oder chinesischen, einen fürstlich verschwenderisch eingerichteten oder einen klösterlich einfachen, jeder Raum hat andere Farben, andere Lichter, andere Düfte und Gerüche, und in einem findest du sogar ein hochaufgerichtetes Kreuz, einen noch höheren Galgen, vor dem ein künstliches Feuer gespenstisch aus dem Boden züngelt, und alle erdenklichen Marterinstrumente für solche, denen die Liebe an sich noch nicht Folter genug ist. Solche erstklassige, mit allem Komfort der Liebe ausgestattete Häuser werden natürlich nur vom Erzherzog oder Erzgruben- und Rittergutsbesitzer aufwärts besucht, oder wer es sich sonst leisten kann.
Im ›Hotel Margot‹ konnte man dasselbe Vergnügen billiger haben, und wenn auch die Betten an der Seide vorbei aus echtem selbstgebleichten Bauernleinen waren, das der Schonung halber ängstlich selten gewechselt wurde, so waren dafür außer den Mädchen auch weiter keine Folterinstrumente vorhanden. Jede Nacht war Ball. Die Musikanten, auf einer Kanzel hockend, die auf dicken Balken in den Saal hineinragt und zu der sie auf eingemauerten Eisenhaken hinaufklettern, spielten unter ohrenzerreißendem Radau allerhand neumodische, ziemlich wahnsinnige Tänze, die aber für sehr schick galten.
Wenn wir kamen, setzten wir uns hin wie andere Gäste auch. Es verging eine halbe Stunde, dann stand Franz auf, und im gleichen Augenblick erhob sich Margot, ohne daß irgendein Zeichen erfolgt wäre, und wenn sie sich am entgegengesetzten Ende des Saales aufhielt. Sie brauchten sich nicht zu sehen, um zusammenzukommen, und sahen sich auch kaum an.
Es gab da mehrere recht geschickte Affen, aber Franz tanzte doch noch ganz anders. Bei ihm ging das unter dem gliederverrenkenden Gehopse in einer vollkommen ruhigen Arabeske, wenn man aber länger hinsah, glaubte man in dieser ruhigen Linie eine rasende Schnelligkeit zu sehen. Das einzig Auffallende an seiner Haltung war der fast wie zum Zuschnappen nach vorne gebeugte Kopf und Nacken, aber so, wie er es machte, war es nicht häßlich. Er war damals ein schöner Bursche, sein Gesicht besaß noch die französische Weichheit, die den meisten Frauen so gefällt, mager und bleich, und doch von einer verführerisch geglätteten Linie. Daß er dunkelblond war, konnte ihm manchmal etwas Weicheres verleihen als den brutal Schwarzhaarigen, aber er versteckte sich hinter seiner Ruhe. Auch Margot, blühend, fest und geschmeidig, war noch nicht die formlose, aus dem Leim gegangene Gretl wie später. Wenn sie tanzten, sah er über sie weg, ernst, wie ein echter Tänzer beim Tanzen ist, und verdrossen, als müsse er nun einmal sein Tagwerk erledigen. Sie, die Hand auf seiner Schulter rechtwinklig abgebogen, den gebeugten Arm eng zwischen die Körper geschmiegt, hatte etwas Kindliches. Es war freilich Liebe, die sie verkettete, aber auch Zusammengehören auf Gedeih und Verderb, und das gab ihnen die sonderbar heitere oder auch düstere Gelassenheit.
Beim allerersten Besuch hatten wir uns noch nicht so geschickt angestellt, obwohl wir damals längst alle liederlichen Häuser von den Vorstädten bis zur Universität herein abgestaubt hatten. Ich ging zu dieser Zeit überall fragen, ob nichts zu tun sei, Kisten zunageln, Holz spalten, Kohlen schleppen, Teppiche klopfen und solche Scherze. Man kannte mich nicht, wußte nicht, daß ich Student bin, und mir machte es Spaß, die Hausfrauen rechnen und kalkulieren zu sehen, wieviel Sous sie mir geben können, und mich von einer braven Hauspute anfahren zu lassen, weil ich den Ascheneimer nicht sauber genug ausgeputzt oder mit meinen nassen Stiefeln Fußtapfen im schönpolierten Korridor hinterlassen hatte. Ich stellte mich dümmer, als ich bin, bat demütig um Entschuldigung, sagte, das nächste Mal werde ich es besser machen, und ob ich vielleicht zur Entschädigung vier Gesänge aus der Odyssee oder einige Balladen von Villon vortragen solle? Aber nach solchen Artikeln herrschte keine Nachfrage. Man fragte mich, ob ich wüßte, was das Pfund Karotten jetzt kostet, und ich ging fragen und richtete es auch aus, wenn ich es nicht unterwegs vergaß.
Auf einer dieser Touren traf ich Regnier, und am Michelsquai begegnete uns Franz mit einem Paket unterm Arm. Er war Schreiber bei einem Notar.
Regnier war ganz traurig. »Kinder, seid ihr Idioten! Wir trinken einen, kommt. Was hast du denn da?«
»Einen Gerichtsakt.«
»Zeig' her!«
Ohne es anzusehen, warf Regnier das Papierbündel, elegant wie immer, in die Seine. »Es wäre mir lieber, es wären die Schurken von Advokaten, Notaren, Amtsrichtern und Staatsanwälten selbst und nicht nur ihre Unterschriften! Ihr wißt doch, daß der Niggl vaschütt ist!«
Wir wußten nichts.
So landeten wir im ›Hotel Margot‹. Ein herrlicher Fleischmarkt. Überhaupt die ganze Gesellschaft da, lauter Wallfahrer des Lebens, lauter solche, die nie genug kriegen. Wenn man die alle sah, konnte einem das ganze übrige Paris gestohlen werden.
Die alte Heaulmiere war auch da. Sie steht herum, macht dumme Witze, schnupft, kratzt sich die Flöhe und singt kleine unzüchtige Liedchen, die nicht mehr ganz modern sind.
»Wenn du noch was aus deiner Kinderstube weißt,« rief ihr einer zu, »pack' nur aus!«
Sie antwortete, sie brauche schon lange keinen Schnuller mehr. Wer ihr Maulwerk kennt, bändelt nicht mit ihr an. Sie ist eine gefällte Eiche, eine ausgehöhlte Trauerweide, nichts als Falten und Risse, eine einzige Zahnlücke, ein schauerlicher Friedhof verwesten Vergnügens. Und doch, wenn sie singt und mit den dünnen Armen agiert, zaghaft graziös, hat sie auf einmal wieder oder immer noch etwas Mädchenhaftes. Sie tanzt in einem Kreis von Zuschauern, hebt mit zierlicher Runzelhand den zerlumpten schwarzen Rock auf:
»Sie ist von Gold,
Mein köstlichster Schatz –«
und klatscht sich auf den Schenkel.
»Sie kostet auch Geld!« schrie einer.
Alles lacht, nur Villon schaut stumm mit glänzenden Augen. »Ist sie nicht immer noch jünger als alle Jungen! Sie war die Schönste und Reichste von Paris, man hat ihr das Geld mit dem Schubkarren hingefahren!«
»He, du junger Ditzel!« ruft die Alte 'rüber. »Du schaust ja, als ob dir eine Schwalbe in die Augen gekleckert hätte!«
Franz verbeugt sich: »Sehr liebenswürdig, Madame, daß Sie keinen Elefanten zu Ihrem Vergleich heran, gezogen haben!«
Großes Gelächter.
Margot, die ihn seit seinem Eintreten manchmal von der Seite betrachtet hat, setzt sich zu ihm und legt ihren Arm um ihn. Es ist nicht die übliche Geste gewöhnlicher Besitzergreifung. Franz, weil er meint, sie wolle ihn animieren, wehrt ab: »Ich bin nicht schön – aber ich hab' keinen Kies, das ist auch was wert!«
Sie flüstert ihm ins Ohr: »Den habe ich!«
Ein Polizeiwachtmeister, der uns von einer Diebstahlsverhandlung her kennt, setzte sich her: »Na, ihr!«
»Ach Gott,« sagte Franz, »es war nur ein Stückchen von einem Kalb. Das Beste bleibt doch das Weiberfleisch. Ich möchte ein paar Zentner davon mitgehen lassen, natürlich nicht in einem Stück.«
Der Wachtmeister, mit einem Zwinkern nach der Margot: »Mir scheint, du magst es auch in einem Stück! Eine wundervolle Matratze! Da kannst dich dran festhalten, wenn der Wind geht!«
»Bist du jetzt zufrieden?« fragte ich.
»Was heißt zufrieden. Du siehst ja, wie das Leben ist: vor einem Augenblick noch ein Kind, das im Sand mit Kastanien spielt; der zweite kurze Augenblick: ein hübsches Mädchen, frisch wie eine Pflaume, tanzt auf der Straße hin und senkt ihre Veilchenaugen unter noch nie geküßten Wimpern schamhaft nieder; noch ein kleiner Augenblick: das hübsche Ding ist schon eine halbe Leiche – sie bedient jetzt die Gäste im ›Etoile bleue‹; und noch ein ganz kleiner flüchtiger Augenblick – alles Blüte und Verfall. Je rascher wir blühen, desto eher sind wir pfft!«
Ich sage nichts, ich sehe ja, wie er beobachtet und wie er lebt. Er sieht, wie sich in die glatten Fratzen der jungen Mädels nach durchsumpfter Nacht Furchen graben, wie sie blaß und eckig werden, wie sich das zweite und dritte Gesicht des Alters aus ihrem ersten schrecklich deutlich herausmodelliert, die Maske, die der Tod ihnen überstülpt. Es geht rasch! Während sie ausgelassen und betrunken ihren Kavalieren in die Arme sinken, sieht er sie schon ruiniert im Rinnstein liegen. Dieser durchschauende Blick bei einem so jungen Menschen war fast erschreckend. Er war achtzehn – in diesem Alter sehen junge Männer für gewöhnlich nicht viel mehr als die Farbe ihrer Krawatte. Weil er wußte, wie kurz alles ist, darum war er so grenzenlos. Ein Dichter ist, wie in die Frauen, so in alle Erscheinungen und Dinge verliebt, an denen, andere vorbeigehen oder sie roh vergewaltigen. Er führt nicht nur mehrere Leben, sondern das von allen Lebewesen, wird jeden Augenblick geboren und stirbt auch jeden Augenblick.
Aber vorläufig liegen wir noch nicht unter der Erde. Wir stehen an den Straßenecken, haben furchtbar viel Zeit und spießen jede Vorbeigehende auf unsere Blicke wie Käfer auf Nadeln. Wir sind noch jung und spöttisch. Und eingebildet wie die Gockel.
Na, was denn? Uns kann keener!
Villons Balladen gingen im lateinischen Viertel von Mund zu Mund wie Nachrichten von Eisenbahnunglücken, Königskrönungen und Kursstürzen. Mit Ausnahme von einem Dutzend Staatsanwälten und ebensoviel Literaturhistorikern gab es kaum jemand, der nicht wenigstens einige Zeilen von ihm auswendig gewußt hätte.
Er war Meister der Künste geworden, und wir beabsichtigten, zur Feier dieses Ereignisses eine kleine Sauferei zu veranstalten. Dabei kamen wir zufällig auch auf die Poesie zu sprechen.
»Nur in der Literaturgeschichte kommst du schlecht weg!« sagte ich.
Er winkte ab –
Aber Bruder Baude drehte sich um wie ein Stier, packte den Krug, als wollte er ihn in Atome zerquetschen, und fuhr mich an: »Kannst du mir diese lieblichen Kerlchen namhaft machen?«
»Klar!«
»Gut. Wißt ihr, was wir dann tun werden? Wir halten Gericht, wir werden ein geistiges Gericht abhalten, ein Gericht, sage ich euch, gegen das sich sämtliche Justizpaläste der Welt eingraben lassen können. Du bringst mir die Liste von den Literaturbürschchen, und dann wollen wir sehen, ob einer von den alten Hustern lebend aus der Verhandlung davonkommt!«
Ich setzte mich hin und schrieb an meiner Liste, bis es Tag wurde.
Ein Gericht abzuhalten war für uns nicht schwierig, wir kannten den Kram zur Genüge. Bruder Baude, der Älteste, wurde einstimmig zum Vorsitzenden gewählt, weil er das meiste vertragen kann und den längsten Bart hat. Zu Beisitzern bestimmten wir erstens drei Schüler von Franz, drei arme lustige Burschen, die den ganzen Tag herumstehen, den Daumen im Bauchriemen, das Käppi schief im Genick. Wenn man sie was fragt, antworten sie: »Ha? Wos moanst? Siehgst net, daß unser Riemen aufs letzte Loch gschnallt is?« Diese drei vortrefflichen jungen Männer wurden ergänzt durch drei Unparteiische, junge Studentchen, die Villon nicht persönlich kannten. Zum Staatsanwalt ernannten wir den Zwiefeniggl und verliehen ihm den Titel: Anwalt des hohen Geistes. Den Schreiber machte Kleintheo. Fehlte nur noch der Verteidiger, den wir gerechterweise aufzustellen nicht ermangelten. Zu ihm erkoren wir den gutmütigen Dappenwilli, der es faustdick hinter den Ohren hat.
An einem heißen Augusttag versammelte sich die halbe Universität, Studenten und Gripsolenten, Lizentiaten, Doktoren, Dichter und andere Vorstadttypen, Handlanger, Faulenzer, Sonnengucker, Windschnupper und sonstige versumpfte Hühner vom linken und rechten Ufer, in einem verlassenen Trambahnschuppen oder einer Reparaturscheune, was es war. Wir bauten von alten Brettern, die herumlagen, provisorische Tische und Bänke auf, soweit wir noch nüchtern waren. Franz hatte zwei Fässer Weißwein herbeigeschafft, woher, das stand nicht auf der Tagesordnung.
Vor Beginn der Verhandlung gab der Vorsitzende bekannt, daß Regnier wegen einiger leichter Versuche, die in dieser unheiligen Welt herrschende Ungleichheit auszugleichen, vor acht Tagen durch Gerichtsbeschluß aus Paris ausgewiesen worden sei, und bedauerte, unterbrochen von Zurufen mörderlicher Entrüstung, seine unfreiwillige Abwesenheit. Dann forderte er mich auf, meine Anklage in allen Punkten öffentlich auszubreiten und mich kurz zu fassen, und ermahnte mich, die Wahrheit zu bekennen vor Gott, den Menschen und den Angeklagten, nichts auszusagen, was nicht das geprüfte Gewissen gebietet, keiner Stimmung und Laune nachzugeben und niemand unrecht zu verdächtigen und zu beschuldigen.
Ich trat vor. »Hoher Gerichtshof,« begann ich, »so wahr ich der bin, den ihr kennt, so wahr bin ich in den tiefsten Tiefen oder Untiefen meines Innern empört über das fluchwürdige Vorgehen und den verdorbenen Charakter derjenigen, über die ich dem Gericht eine fast vollständige Liste unterbreitet habe. Mein Verstand ist, glaube ich, in Ordnung. Hat jemand einen Zweifel?«
Niemand meldete sich. Nur ganz hinten schrie einer: »A Rindviech bist!«
»Mein Gefühl, soviel ich weiß, auch. Hat jemand etwas einzuwenden? Oder bezweifelt jemand, daß ich etwas von der Sache verstehe? Mit dem möchte ich dann unter vier Augen sprechen. Also nichts. Gut. Wir alle wissen, daß unser Freund François der größte Dichter ist, den es je gegeben hat. Wem das nicht paßt, der kann sich bei mir melden. Ich frage euch: Kann ein großer Poet einen kleinen Charakter haben? Kann ein kleiner Mensch ein großes Werk schaffen?«
Ein Bravosturm von unerhörten Ausmaßen unterbrach mich. Der Vorsitzende ersuchte um Ruhe.
»Eure Zustimmung, Freunde, sagt mir, daß wir die Gangundgäbe-Moral auf dem Flohmarkt lassen können, den Ludwig der Heilige gegründet hat, damit jedes Gerümpel seinen Simpel findet. Könnt ihr euch aber vorstellen, Freunde und Freundinnen, daß gebildete Männer, Männer von Namen und Rang, Männer mit meterlangen Bärten, Männer, die ihr ganzes Leben lang nicht aus der Universität herauskommen, es fertig bringen, Vision durch die Moralbrille und seine Poesie mit trockenen Augen, trockenem Hirn und ungerührtem Herzen anzuschauen? Einen Augenblick, ich muß mir nur meine Zunge ein wenig anfeuchten! So – nein, das könnt ihr euch nicht vorstellen, und trotzdem ist es wahr. Ich habe, verleitet durch meine Liebe zu Franz, einen Doppelzentner Bücher durchschnüffelt, obwohl ich Bücher hasse wie die Pest. Diese Bücher sind von Leuten über Franz geschrieben worden, die ihn nie gesehen haben. Und in allen diesen Büchern habe ich keine andere Auffassung gefunden, als die: der Hauptmann, Hauptdieb und Hauptpoet François Villon sei nichts gewesen als ein Schreiber oder Beamter an der Anwaltskammer, der in seiner Freizeit einige zwar kühne, aber unbedeutende Gedichte gemacht hat, einer von denen also, die über die Fußtritte, welche sie von ihren Vorgesetzten empfangen, Buch führen.«
War ich bisher schon fortwährend durch Beifallsschreie unterbrochen worden, so war jetzt von Weiterreden keine Rede mehr. Ich war noch lang nicht fertig, ich hatte noch gar nicht angefangen auszupacken, aber es herrschte ein so ungeheuerlicher Höllenspektakel und Krawackel, ein so schauderbares Affengebrüll von Wutschreien, Flüchen, Verwünschungen, ein Drunter und Drüber, daß die ganze Scheune wackelte. Der Vorsitzende hieb wie ein Wilder mit einem Bund Dietriche auf eine kupferne Bratpfanne ein, aber man hörte davon so wenig wie von dem Piepsen einer Maus, denn die andern hauten mit ihren Degen, Schwertern, Plempen, Säbeln, Messern und Dolchen herum und drein wie die Jeanne d'Arc in der Schlacht bet Orleans, zersägten und zerwuzelten alles, was ihnen unter die Finger kam, und schossen mit ihren Pistolen und Flinten herum, als wären wir auf der Bärenjagd und nicht in einer geistigen Gerichtsverhandlung. Am unaussprechlichsten benahmen sich die Weiber, einige Damen aus der Glatygnistraße, von der Rue Saint-Martin und aus anderen Klausen, in welche die Fremden ohne Gemahlin hingehen. Wenn man nach deren ausgelassenem Gekreisch, liederlichem Gelächter und hysterischem Gezwitscher, nach ihren ungezügelten Witzen und zuchtlosen Gebärden schließen darf, dann verstehen sie von der Villonschen Poesie mehr als er selbst. Sie hüpften und tanzten auf Tischen und Fässern herum, ließen sich tragen, werfen und stoßen wie Gummibälle, schmissen die Beine in die Luft, schleuderten ihre Röcke hoch und schworen alle miteinander, nie mehr in ihrem ganzen Leben mit einem Mann zu Bett zu gehen, wenn wir die dämlichen Literaturfritzen nicht zum Tode verurteilten.
Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, dachte ich mir.
Ich sah mich nach Franz um, er war unter den Zuschauern und Schauerinnen, die ihn umarmten, abknutschten, halb erwürgten und zertraten, von allen Seiten reichte man ihm volle Gläser und Töpfe, und mancher leerte den seinen über seinen Kopf aus. Er hatte schon einen ziemlichen sitzen. Ein Glück, daß die Angeklagten nicht persönlich anwesend waren. Nicht einer von ihnen wäre, bevor die Verhandlung noch begonnen hätte, anders aus unseren Reihen hervorgegangen, als in Gestalt eines kunstgerecht in seine einzelnen Bestandteile zerlegten Leichnams. Auch die Ruhigsten und Besonnensten unter uns hätten nicht verhindern können, daß die Weiber sie mit den Zähnen zu lauter Putzlumpen zerrissen hätten.
Die greuliche Gaudi dauerte lang genug. Der Vorsitzende sah ein, daß in einem solchen Irrenhaus nichts anderes zu machen ist, als zu warten, bis sich die entfesselte Menagerie von selbst beruhigt. Er ließ die Leute sich austoben und machte dazu solche Faxen und stumpfsinnige Grimassen, als ob sämtliche Richter von Paris oben säßen. Als der abscheuliche Rummel dann nachließ wie ein Taifun, wenn er sich ausgewütet und alles vernichtet hat, verkündete er mit dem größten Zorn seines Bierbasses, daß er sich anheischig mache, alle Anwesenden, seine besten Freunde und alle anderen Idioten nicht ausgenommen, portofrei an die frische Luft zu befördern und sie samt ihren Käsmessern hinauszubelzen wie junge Katzen, wenn sie nicht einsehen wollten, daß eine Gerichtsverhandlung kein Saumarkt sei, wo jeder gscherte Lackl das Wort habe. Es würde an dem Gang dieser gerechten und heiligen Sitzung nicht das mindeste ändern, wenn sie nur von den dazu berufenen Persönlichkeiten zu Ende geführt würde. Sie, seine Freunde, Spezi, Kommilitones und Confreres, möchten nicht vergessen, daß sie bei diesem Prozeß nicht mehr und nicht weniger als geduldete und, nur solang sie sich nicht aller menschlichen Vernunft begeben, allerdings geachtete und angesehene Zuschauer seien.
Bums!
Nach diesen imponierenden Worten trat, einige Huster, Nieser und unverbesserliche Quatschköpfe ausgenommen, eine fast andächtige Stille ein. Ich wollte wieder das Maul aufmachen, aber ein Wink des Vorsitzenden gebot mir zu schweigen. Es erhob sich der Verteidiger.
»Hoher Gerichtshof,« schrie Dappenhelm laut und hustete eine Viertelstunde lang, »die Angeklagten sind harmlose brave Zivilisten, von denen noch kein einziger eingesperrt war. Sie haben keine schlechten Absichten, nur einen schlechten Geschmack auf der Zunge, und da können sie nischt dafür. Dummheit richtet zwar genau soviel Schaden an oder vielleicht noch mehr als der intelligenteste Verbrecher. Aber meine Damen und Herren, man darf doch den Mangel an Geist nicht so verurteilen wie einen verbrecherischen Überfluß davon –«
»Bravo, bravo!« schrie man hinten. »Wo hast denn das gelesen?«
»Viele der Angeklagten haben nichts gegen Franz gesagt, sondern nur Material zusammengeschustert –«
»Ah was! Halt die Schnauze, quatsch nicht! Zur Sache! Druck di! Halts Maul! Schleich di! Mach koane Krampf! Verroll di, gscherte Assl! Hauts eahm 's Messer nei!«
»Es handelt sich um Hirne und Herzen, denen die Empfindung und der Verstehstmich für das hohe Ministerium des Menschlichen von klein auf abgeht, die Anfangsgründe fehlen, Geburtsfehler, die Hebamme hat nicht aufgepaßt, Krüppel, Blinde, Taube, Lahme, Kretins, Hinkende, Krückenfritzen und Spitalhengste. Wollen und sollen, sollen und wollen, – Ruhe! – sollen oder wollen wir die armen Unwissenden, Abgestempelten, Danebengeratenen, diese dummen Ludersch – was wollte ich sagen, Herrschaftssakra, seids doch stad! Kann man einen Wurm dafür bestrafen, daß er kein Adler ist? Die Leute haben doch ihre Strafe in sich –«
Er kam nicht weiter. »Das macht nix!« hieß es. »Das geht uns nichts an! Wir sind Richter! Wir wollen bestrafen, dafür sind wir da! Das wäre ja noch schöner – den schaug o – schmeißtn naus, den Saubazi!«
»In Anbetracht dieses Umstandes,« fing er noch einmal an, »sind die Delinquenten oder Dekadenten, wie man sagt –«
Dappenhelm kam nicht mehr zum Schluß, er wurde einfach niedergebrüllt. Nicht nur, daß die Mädchen ihm die Zungen ausbleckten, eine der ausgelassensten hob sogar ihren Rock bis über die Hüften hoch und zielte wie mit einem Geschütz nach dem stotternden Verteidiger, was zwar mehr hübsch als gefährlich anzusehen war. Trotzdem waren die Gründe des Verteidigers nicht ganz ohne Eindruck geblieben. Man war begierig, wie es weiter ging.
Jetzt kam Zwiefeniggl als Anklagevertreter dran. Er legte seine Kappe auf das Faß, auf das Weinfaß natürlich, nicht auf das Tintenfaß, und nahm nicht das Wort, sondern einen ziemlich endlosen Schluck aus einem gewaltigen Humpen. Wir griffen auch zu unseren Gefäßen: »Prost! Santé! Gsundheit! Auf dein Wohl, alter Dachskopf!« Nur Dappenhelm hatte nichts zu trinken, und so was will ein Advokat sein. Er wird es nicht bis zum Rechtspraktikanten bringen.
Der Niggl wischte sich den Mund ab. »Messieurs et Dames! Wir sind keine Engel, wir sind nur Menschen. Wir legen auch keinen Wert darauf, Engel zu sein, es dürfte uns unter so irdischen Bedingungen, wie Menschen leben müssen, etwas schwer fallen. Möglicherweise würden wir dann vielleicht überhaupt nicht existieren. Wir ziehen vor, in mangelhafter Gestalt, aber wenigstens sicher vorhanden zu sein. Mensch sein heißt sündhaft und unvollkommen sein. Lasterhaft und verbrecherisch ist der Mensch – ein Lump derjenige, der sich für besser hält! Das verdammungswürdige Verbrechen der Angeklagten ist, daß sie sich für besser halten und unseren großen Poeten Franz von Rabenberg, alias Villon, villain, Schelchaug etc. pp., heruntersetzen und ihre eigene Niedrigkeit über ihn erheben wollen. Wer ein Buch schreibt, muß wissen, daß er damit die ganze Menschheit fördern oder zugrunde richten, beglücken oder ins Unglück stürzen kann. Herrschaft, Kreuzbombenelement, was soll man da sagen – ich sage überhaupt nichts mehr! Wir werden die Herrschaften, die sich gegen die ungeschriebenen Gesetze der Druckerei vergangen haben, zur Verantwortung zu ziehen wissen! In welchen Eigenschaften das Böse wurzelt, das geht uns einen Quark an! Wir halten uns an die Tat, aus, basta, Punkt. Die Angeklagten sind gefährliche Schwindler, reißende Wölfe im Schafspelz, die sich in den Mantel der Tugendhaftigkeit und zum Himmel stinkende Moral hüllen. Wir stellen uns auf den Boden der Tatsachen! Wir haben wieder einmal die Dokumente vor Augen für die alte Erfahrungstatsache, daß, wer einen Ehrenstandpunkt und einen Moralstandpunkt hat, immer unehrlich und unsauber ist! Die Schriften der Angeklagten strotzen von Lügen, Verdrehungen, scheinheiliger Heuchelei, zynischem Verrat, plumpen Fälschungen, Entstellungen, Schändungen und schamloser Finsternis jeder Art –«
Bei diesen Worten mußte sich ein reizendes Mädchen erbrechen. Vielleicht hatte sie ein bißchen zuviel getrunken. Man nahm sich ihrer an und bettete sie auf einige ausgezogene Röcke.
»Seht ihr,« schrie der Staatsanwalt, »der Mimi wird jetzt schon schlecht! Wenn sie die Bücher erst lesen müßte, sie würde sterben! Reibt sie mit Schnaps ein, aber gebt Obacht, daß ihr nichts hineinkommt, er ist verdammt scharf! – Mit Rücksicht auf die anwesenden Damen verzichte ich darauf, die widerwärtigen Sudeleien der Angeklagten zu detaillieren. Wie lange meint ihr überhaupt, daß ich noch rede –«
In seinen weiteren Ausführungen ließ sich der Staatsanwalt zu Übertreibungen, persönlichen Ausfällen und häßlichen Beschimpfungen hinreißen, die vom Standpunkt des objektiven Beurteilers nicht gutgeheißen werden können. So nannte er die ehrenhaften Forscher, Herausgeber, Übersetzer, Biographen und Kommentatoren Villons: moralinsaure Schmierer und Kritisierer, Fasler, Quaßler, Pornographen, Mucker, Duckmäuser, Schwätzer, Prüdtuer, alte Jungfern, Wortklauber, Staubsauger, Schmutzfinken, Narren, Fach- und Schwachsimpel, Fußnotengroßindustrielle, blinde Brillen, Griesgräme, Gramgreise, Tintenfaßzuhälter und dergleichen. Es war abscheulich, und es ist eigentümlich, wie ein Amt einen Menschen verändert. Der Zwiefeniggl ist sonst der netteste Mensch, den ich kenne, ein reizender Kerl, lustig wie ein Singvogel. Als er aber das Strafausmaß vorschlug, nahm sein hübsches Gesicht einen geradezu teuflisch fanatischen Zug an und seine verliebten schwarzen Augen glühten wie Holzkohlen im Weihrauchbecken. Es gibt überhaupt keine ausdenkbare Strafe, die er nicht beantragte: Galgen, auspeitschen, foltern, lebendig braten, kastrieren, vierteilen, verbrennen, in Öl sieden, Augen ausstechen, Ohren und Nasen abschneiden, ans Kreuz schlagen, Ausrottung, Verfluchung, Verwüstung der Grabstätten – alle scheußlichen Greuel, die im Laufe der Zeit auf der Erdoberfläche einzeln verübt worden sind, er wollte sie alle zusammen und zugleich an jedem einzelnen Angeklagten verüben lassen. Ein ungeheures Beifallsgejubel dankte ihm für seine Ausführungen, man fand ihn schneidig, knorke, energisch, wundervoll – das Volk ist immer dasselbe.
Das Gericht zog sich in das Loch zum ›Tannenzapfen‹ zur Beratung zurück, weil uns hier der Stoff ausging. Ich war auf den Ausgang der Verhandlung gespannt wie ein Regenschirm und hätte das Urteil gerne noch stehend angehört. Man puffte mich wach, ich rieb mir die Augen und sah, wie der Vorsitzende das Zeichen des Kreuzes machte und alle Anwesenden ihm nachsprachen: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.«
Na, Gott sei Dank, es schien also Schluß zu sein. Im Laufe des Abends erfuhr ich, daß die Liste der Angeklagten von Clement Marot bis Ammer verlesen, sämtliche Beschuldigte für vogelfrei erklärt und ihre Schriften verbrannt worden waren. Dappenwilli brummte über diese Verschwendung, weil man einen solchen Haufen Papier zum Einwickeln hätte verkaufen können, dann hat man doch wenigstens was davon.
Eine zünftige Feier beschloß diese denkwürdigste aller Gerichtsverhandlungen, die ich je erlebt habe, fast zu zünftig – ich zog mir eine kleine Alkoholvergiftung zu, mit der ich mich lang herumschlug.
Sogar unsereiner hat manchmal Glück.
Ich hatte beim Spiel gewonnen, ziemlich viel, und dachte mir, du machst dir einmal einen guten Tag. Zuerst aß ich mich satt, spielte den feinen Hund und gab sehr viel Trinkgeld, woran jeder Kellner sofort sieht, daß du nicht weit her bist. Dann besuchte ich einige Trinksalons und andere Erholungsstätten. Was dann noch fehlt, stellt sich von selbst ein. Ein mächtiges Überangebot, heutzutage sind ja alle Berufe überfüllt. Ich war schon stolz darauf, daß ich die ersten drei abwimmelte, aber an der vierten blieb ich hängen. Ich war so erschöpft von dem Kraftaufwand, den es mich kostet, ein Weib loszuwerden, daß jetzt jedes Scheusal die größten Chancen hatte. Aber sie war ganz nett, reizend frech und ließ mich nicht mehr aus. Es rührte mich, wieviel Mühe sie sich gab, ich weiß ja, der Existenzkampf ist hart. Was die mir alles versprach, verdammt noch mal. Sie umärmelte mich, wir standen auf der Straße, das fällt in Paris nicht auf, sagte die tollsten Sachen, küßte mich auf Augen, Mund und Nasenspitze und züngelte mir in die Ohren. Wenn ich nein sagte, dann war sie imstande und kniete sich nieder, oder fing sonst was an. Es wäre unkavaliermäßig gewesen, sie wegzuschicken, wenn sie ein solches Theater aufführt. Sie gefiel mir gut – Kunststück, welche gefällt mir nicht, – aber ich mag Mädels mit einer guten Figur wirklich gern. Ich spielte mich großartig auf, wenn schon, denn schon, man will auch einmal spüren, was Geldausgeben ist, und gab ihr zweihundert Franken. Sie hielt mich vielleicht für einen Baron oder Grafen oder für einen Affen, jedenfalls für einen, bei dem das Geld keine Rolle spielt.
»Je mange toi!« sagte sie, ich freß dich.
»Guten Appetit!«
Es war reizend. Dieses ›ich freß dich‹ werde ich nie vergessen.
Ich war schon fast ausgeschlafen und wollte ihr eben mitteilen, daß ich wieder zum Leben erwacht bin, da sah ich, daß sie über mich wegkletterte. Daß sie so früh aufstand, war ausgeschlossen, sie wird bloß einmal hinausgehen, dachte ich, stellte mich schlafend und blinzelte unter den Augendeckeln durch. Was sah ich, das Luder geht an meinen Rock 'ran. Ich schnarche ruhig weiter, und sie nimmt mein Geld heraus, es waren vielleicht noch zweihundert Franken, dreht sich nach mir um, ob ich auch fest schlafe, und ich schlief feste. Unhörbar und flink wie der Teufel flitzt sie zum Fenster, macht das Fenster auf, nimmt aus einem Blumenscherben die Pflanze mitsamt der Erde heraus, legt das Geld hinein, stopft alles wieder darüber und macht wieder zu. Ich hörte sie aufschnaufen. Dann stieg sie wieder ins Bett herein. Nach einiger Zeit ließ ich mich von ihr aufwecken und stattete ihr meinen Morgengruß ab, und sie war zufrieden. Sie gefiel mir immer noch gut, trotzdem, sie war so schön warm und weich, und von der Liebe verstehen die Biester allerhand, das muß man ihnen lassen.
Ich überlegte, wie ich wieder zu meinem Geld kommen könnte. Ich hatte ihr genug gegeben. Daß sie mir das andere auch noch stahl, war nicht notwendig. Aber ich mußte es gediegen anpacken, das war klar.
Ich wusch mich und schaute zum Fenster hinaus. Dabei warf ich auch einen verstohlenen Blick auf den Blumentopf mit dem Geld. Auf der Straße unten hielt ein Milchwagen.
»Hör' mal, mein Schatz,« sagte ich, »sei so gut und hol' mir einen halben Liter Milch da unten. Ich trinke gerne heiße Milch am Morgen. Und du hast ja einen Gaskocher!«
Es paßte ihr nicht. Sie sei nicht angezogen, sagte sie, und so weiter. Sie wollte gar nicht recht 'ran.
»Ich will dir was sagen,« sagte ich, »ich bin nicht kleinlich –« ich holte aus meiner Hosentasche heraus, was noch drin war, sechs oder acht Franken, »das schenk' ich dir noch, auf die paar Kröten kommt es auch nicht mehr an!«
Das half, sie schloff in den Rock, warf einen Schal um, nahm einen Topf und schob ab. Ich horchte, ob sie auch wirklich wegging. Erst als ich sie auf der Treppe hörte, schob ich den Riegel vor und dann ans Fenster, die Blumen aus dem Topf, das Geld gepackt und eingesteckt mitsamt der Erde, alles wieder in Ordnung gebracht, das Fenster leise verschlossen, den Riegel an der Tür zurückgeschoben und wieder zum Waschtisch, und schon ging die Tür auf. Sie hatte sich sehr beeilt. Und ich trocknete mich ab und pfiff.
»Si j'en crois mes yeux,
Tu me dis adieu
D'un air joyeux –«
Ich war sehr fidel, aber noch nicht aus dem Haus. Zog mich an, würgte die Milch mit Todesverachtung herunter, fast wurde mir speiübel dabei, denn die einzige Milch, die ich vertragen kann, ist die Liebfrauenmilch, und bat sie, mich ein Stück hinunterzubegleiten. Ich hatte in der Nacht trotz alledem gleich gespannt, was das für eine Burg war, alt und winklig wie ein Labyrinth. Mietsleute wohnten da nicht viel, nur Dämchen und Kavaliere. Wenn mir da einer begegnete, der mich nicht kannte, dann konnte es dumm hinausgehen. Ging sie aber mit, dann war alles gut. »Ich kenn' mich doch in der Hütte nicht aus, sagte ich, »ich hab' keine Lust, eine halbe Stunde in einem fremden Haus herumzutappen!«
»Das ist doch ganz leicht, zuerst geradeaus, dann nach rechts –«
»Und schief links über die Ecke nach hinten, nee, mein Liebling! Und wenn mich einer anhaut, was ich da suche? Was soll ich sagen? Ich kann doch deinen guten Ruf nicht beflecken!«
Ach, wenn du so dumm bist! dachte sie sich, schlang ihren Fetzen wieder um und führte mich ein Stockwerk hinunter. Ein inniger Kuß, und ich schwang mich.
Kaum auf der Straße, höre ich oben das Fenster klappern, und schon schreit sie: »Der Dieb! Der Räuber! Haltet ihn auf! Der Lump hat mir mein Geld gestohlen! Hilfe! Diebe!« und so weiter in der Tonart. Ich habe mich nur einmal umgedreht – dieses verzerrte Gesicht und dieses Geplärr und die Haare in die Höhe gesträubt wie eine Furie, grauenhaft. Was hat denn das verrückte Tier, so eine Gemeinheit, macht da einen Radau, weil ich mir mein Geld nicht klauen lasse! Nur fort, mach', daß du wegkommst! Und ich sause über den Platz und springe auf eine Trambahn. Ich hatte keinen Groschen Kleingeld mehr und wurstelte einen Hunderter aus der Tasche: »Barbes!«
Der Schaffner schaut mich an: »Barbes? Wir fahren ja grade entgegengesetzt!«
»Ah was, alles egal! Wir haben ein bißchen viel gegurgelt heut nacht, wirst mich schon wohinbringen!«
Ich gab ihm ein Trinkgeld, und der Mann war zufrieden.
Ich merkte schon, daß ich einen Haufen Geld in der Tasche hatte, und zählte nach: achthundert Franken! Jetzt begriff ich – ich hatte mehr erwischt, als mir zukam, und in der Eile den ganzen Vorrat der Kleinen eingepackt.
Und Franz ist folgendes passiert.
Wir stehen mit der kleinen Blanche in der Rue du chat qui pêche, auch so ein Sträßchen. Ein besoffener Wachtmeister segelt daher und kugelt uns grad vor die Füße hin. Und im gleichen Augenblick sehen wir von der anderen Seite her so zwanzig, dreißig Mann von der Polizei ankommen, eine Razzia. Wir schauen uns an, und es ist klar, daß wir den Burschen, der da auf der Nase liegt, in Sicherheit bringen müssen, oder er ist verloren, fassen an und stellen ihn auf die Beine: »Vorwärts, Alter, eine Razzia!«
Der Kerl wurde halb nüchtern, als er die Garde da anrücken sah. Wir nehmen ihn in die Mitte, um die Ecke 'rum, einen kleinen Trab, dann wieder um die Ecke und in ein Haus hinein, wo wir sicher sind. Blanche zitterte wie ein englischer Pudding.
»Was hast denn, Mäuschen,« sagt Franz, »bist doch dufte untergebracht!«
Sie drückt sich an ihn und ist ihm dankbar.
Den Mann haben wir ausgezogen und zu Bett gebracht. An diesem Abend sind wir nicht mehr fortgegangen.
»Du wirst sehen,« sagte Blanche, »der kommt morgen zu dir, sich bedanken. Er wird dich fragen, wie er dich entschädigen kann.«
»Ich kann doch von dem Mann nichts verlangen. Kommt nicht in Frage.«
»Kannst du! Du mußt sogar was verlangen, sonst fühlt er sich nicht sicher. Du kannst ihn ja anzeigen, wenn du ihm schaden willst!«
»Das wär' ein schöner Blödsinn!«
»Eben. Nun höre! Du weißt, wie es mit uns steht. Ich habe keine Stellung. Ich habe gearbeitet, aber man kündigt mir, wenn es ihnen paßt, und dann stehst du auf der Straße. Was bleibt übrig, als sich durchschlagen, bis man wieder was findet. Kommt aber eine Razzia, dann bist du verratzt. Wo arbeiten Sie? heißt es. Ja, ich habe keine Stellung. Also heißt es mitgehen, und du bist erledigt. Einmal auf der Polizei eingeschrieben, nimmt dich kein Mensch mehr, du kannst nicht mehr arbeiten und kommst nicht mehr hoch. Wir sind arme Mädchen, wir haben nichts Schönes, glaub' mir's! Wenn der Mann also kommt, und er wird kommen, dann sagst du, er soll uns einen Dienst erweisen und es uns zwei, drei Tage vorher sagen, wenn eine Razzia geplant ist.«
Franz hatte noch nicht ausgeschlafen, als es schon klopfte, der Wachtmeister! Er sei ihm unendlich dankbar, sagte er, er hätte seine Stellung verloren, wenn sie ihn betrunken erwischt hätten, und er möge doch sagen, wie er sich erkenntlich zeigen kann.
»Lieber Mann,« sagte Franz, »ich brauche nichts. Daß wir Ihnen geholfen haben, ist selbstverständlich. Es freut mich, daß ich einem von euch verfluchten Brüdern die Hand geben kann! Wenn ihr immer so nett wärt, dann würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, euch die Fresse einzuschlagen. Aber jetzt hör' mal, Alter: man hat mich gebeten, ich soll trachten, die Razzia immer einen oder zwei Tage vorher zu erfahren. Es sind ein paar arme hilflose Geschöpfe, die ein Interesse daran haben, es soll nicht weiter herumkommen. Wenn Sie denen einen Gefallen tun wollen, nicht mir, dann allerdings würde ich Sie bitten –«
Der Wachtmeister sank ganz erschlagen zusammen. »Mein Gott, Sie bringen mich in die schwierigste Lage! Wir sind eidlich gebunden! Es ist die schlimmste Pflichtverletzung, die unsereiner begehen kann! Es ist ein Verbrechen!«
»Ich verlange es nicht,« sagte Franz, »mir ist es gesagt worden, und ich sage es Ihnen, das ist alles. Sie sind nicht gezwungen. Sie können tun, was Sie wollen, niemand wird Ihnen bös sein!«
Endlich stand der Beamte auf. Lächelnd, todunglücklich gab er Franz die Hand: »Eh bien –«
Wir hatten von da an immer Geld in der Tasche. Obwohl Blanche das Geheimnis hütete und mit ihrem Wissen sparsam umging, hatte sie doch die Order ausgegeben, daß man Franz nichts verweigern dürfe. Wir wurden von da an angesehen behandelt und verwöhnt, daß einem manchmal ganz schwach werden konnte. Denn da kennt ihr die Mädchen schlecht, wenn ihr meint, daß die kalt sind.
Aber nach ein paar Wochen kam der Wachtmeister wieder zu Franz, ganz erledigt. Er könne so nicht mehr weitermachen, könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren; er habe Familie, wenn etwas aufkommt, wird er eingesperrt und verliert alles. Und darum sei er gekommen, um ihm zu sagen, daß er sich versetzen lasse. Und er möge ihm nicht bös sein –
Und da war es eben wieder aus mit dem Profit.
Der Zwiefeniggl saß schon zum zweitenmal; ich fürchtete, auch Franz sei hochgegangen, niemand wußte, wo er steckte. Als er endlich auftauchte, war es nichts, nur wieder mal eine Liebesgeschichte. Dieses Mal, behauptete er, etwas ›ganz Ungewöhnliches!‹ Das hat er schon oft gesagt. Und wenn man sich so übertrieben ausdrückt, ist es ja meistens nichts. Er sah aus wie der Tod, und ich sah, daß der in allen Krankheiten der Liebe Erfahrene unheilbar ist, ein hoffnungsloser Fall. Er schwankt aus einem Fieber in das andere, ist melancholisch, sentimental, zynisch, pathetisch, schwärmerisch, ausgelassen und deprimiert und wie eine Schwangere alle Vaterunser lang von einer anderen Sucht befallen und besessen.
Wir schliefen damals, wenn er nicht bei der Margot war, zusammen in einer Wanzenbude in der Rue St. Severin, gegenüber der Kirche, und gingen fast nie fort. Er hatte keinen Heller Geld und wurde knickerig. Er, der schon krankhaft freigebig ist, der an keinem Dudelsackpfeifer vorbeigehen kann, ohne ihn zum Essen einzuladen, und der die greulichsten Burschen, die man aus dem Rinnstein fischen kann, zum Schlafen mitschleppt, er fing auf einmal zu rechnen und zu knausern an wie ein sechsköpfiger Familienvater. Dabei war er doch versorgt, wo tat er nur sein Geld hin?
Catherina de Vauxelles ist also ›keine gewöhnliche Frau‹. Aber was kann man einem glauben, der sich gerad in einem Zustand befindet? Man muß eben daran denken, daß man auch schon verliebt war, und alles anhören und hinnehmen. Außerdem gehört es sich, die Lieberei zu respektieren. Der leiseste Zweifel daran, daß seine Geliebte eine Göttin ist, und Franz wäre tödlich verletzt gewesen.
Soviel er durchsickern ließ, stammt sie aus bürgerlichen Kreisen, lebt aber allein und findet natürlich Gefallen an dem Strolch, wie das ja leicht vorkommt. Er verkehrt fast täglich mit ihr, hockt ihr stundenlang zu Füßen und liest ihr seine Sachen vor, die sie angeblich mit einer bestrickenden Sanftmut und Wohlmeinung anhört.
»Meine Gedichte sind ja nicht gerade für Salongänse gemacht,« meint er, »aber sie ist immer bereit, mir zuzuhören, ohne mir zu widersprechen.«
Vielleicht eben darum.
Er und eine Bürgerliche? Es soll ja schon vorgekommen sein, daß eine Frau, die ihre Sippe überragt, alles hinter sich abbrach, um einem Abenteurer zu folgen, aber ihr Blut kann sie schließlich auch nicht fälschen. Verliebt, wie Franz ist, und nachgiebig, wie Verliebte sind, wird er ihr Zugeständnisse machen, um sie nicht zu verletzen. Später rächt er sich dann und haut ihr womöglich eine 'runter, weil sie ihm nicht von Anfang an erlaubt hat, ganz er selbst zu sein.
Ich ließ seine Lobsprüche über sie auf mich niederrieseln wie einen Maienblütenregen. Bald hatte sie die Frische einer Rose, bald war sie ein Märzmorgen, ein Waldweg, ein Schneegipfel, ein Meerweib, ein Abendstern, keusch und sinnlich, temperamentvoll wie eine arabische Stute, sanft wie eine Turteltaube, stolz nach außen, unter sich nur Demut und Anmut, und natürlich gescheit wie Sokrates. Ich hörte alles mit an und dachte mir, daß es nicht gut ist, in die Weiber zuviel hineinzugeheimnissen. Sie bilden sich nur was darauf ein und danken es einem selten.
»Sie wird dir für deine Poesie sicher viel bedeuten!« sagte ich.
»Geh mir weg mit der Poesie, ich pfeif' drauf. Wenn ich zu ihr sage: Bist du mein kleiner Maikäfer?, und sie sich an mich preßt und ein leises Ja! schluckt – wo ist der Dichter, der dieses Ja schreiben kann? Also siehst du, was Poesie ist: ein Schmarrn!«
Er legte sich zurück und drückte das schmutzige, zerrissene Kopfkissen, aus dem einem die Rabenfederkiele ins Gesicht stechen, an sich.
Ach Franz, bist du ein Narr! Ich habe mir immer eingebildet, ich wäre der verliebteste Esel des letzten halben Jahrtausends. Aber habe ich es nicht mit Annas Höschen genau so gemacht? Manchmal, wenn ich alle seine Ekstasen sehe, kommt es mir so vor, als wären es meine eigenen. Genau genommen bin ich selbst keinen Augenblick sicher, ob mir nicht, wer weiß mit wem, genau dasselbe passiert.
»Also erzähle nur weiter. So was hört man immer gern.«
»Zum Beispiel folgendes. Ich war anfänglich etwas schüchtern, wenn man so sagen will. Es ist ja nicht nötig, so schnell zuzugreifen, wenn sie dir vom ersten Augenblick an gehört, nicht wahr? Sagte sie also: Laß mich lieber auf deinem Schoß sitzen, wenn du erzählst oder liest. Wenn man einem Mann auf dem Schoß sitzt, begreift man viel schneller als auf dem Stuhl.«
»An diesem Tage werdet ihr wohl nicht weitergelesen haben.«
»Du beliebst ironisch zu sein, meinetwegen. Ich weiß jedenfalls, daß es eine Frau geben kann, die in dem Augenblick, wenn andere Frauen fauchen, stöhnen und schreien wie die Katzen, die dann ein halbmondförmiges, orientalisches Lächeln hat, so schön und ganz verzückt wie das Lächeln der Madonna in der Kirche St. Jean de Beauvais.«
Pause –
»Sie wird mich auf eine andere Bahn bringen.«
»Und Margot?«
»Kann mich gern haben!«
Na schön, warten wir ab. Augenblicklich pfeift er Tag und Nacht eine Melodie, die ihn Catherina auf der Laute gelehrt hat. Immer dieselbe. Wochenlang.
Es ist bald nicht mehr zum Aushalten.
Als ich Lolie zum erstenmal sah, ich saß ihr im ›Krummstab‹ gegenüber, gab es mir einen Stich, als hätte sie mir eine lange, feine Nadel zwischen die Rippen gerannt. Ich schaute sie interessiert an, einmal, zweimal, dann gleichgültig kalt. Ich tat alles, um sie abzuschrecken, und ärgerte mich doch, daß sie keine treffenderen Antworten auf meine Sticheleien wußte. Immerhin war ich zufrieden, daß es mir gelungen war, mich zu verstecken, und daß sie nichts merkte. Wie hätte ich mir also träumen lassen sollen, daß wir uns einmal kennenlernen würden. Ich sah sie nicht mehr und vergaß sie.
Aber da kam jener Morgen, an dem ein paar Nachtbummler mit ihren Mädels noch einen Schnaps bei mir tranken, und sie war auch dabei. Ich war ein wenig betrunken, kniete vor sie hin, hob ihre Beine in die Höhe und zeigte sie meinen Freunden. »Das sind Beine,« sagte ich, »für die kann man sterben!« So sehr gefielen mir die Beine, so rührten sie mich. Lolie lachte, mein Kopf sank ihr in den Schoß, und sie streichelte mich. Hernach, an der Tür, lehnten wir unsere Wangen einen Augenblick lang aneinander.
Da haben wir es also schon –
Ich schrieb ihr einen Brief und heulte dabei wie ein Schloßhund. Ich weiß nicht, was mit mir los war, ich habe doch so etwas seit Jahr und Tag nicht mehr erlebt. Ich ließ mich immer tiefer fallen und stieg dabei immer höher. Ich hatte mich aus der Liste der Liebenden ausgestrichen und setzte mich jetzt wieder ein, hatte verzichtet und hoffte wieder, war ausgetrocknet, verdorrt, vergeudet, und jetzt auf einmal – ich kannte mich nicht mehr, oder erkannte mich auf einmal wieder. Das alles schrieb ich ihr, und daß ich mich ihr anvertraue und mich ihr nackt und ehrlich in die Hand gebe.
Die Sonne brannte schmerzhaft in den Tag herein, und meine Augen brannten auch, der Tag tat weh. Aber ich war erleichtert und eigentlich glücklich, sehr glücklich. Ich hatte gebeichtet und war wie neugeboren und ganz zuversichtlich und ruhig.
Legte mich hin, schluckend und gestoßen wie ein kleines Kind, und fiel wie eingelullt in den Schlaf.
Mit Catherina muß etwas nicht in Ordnung sein – Franz ist Tag und Nacht bei Margot und macht große Sprüche. »Wer die hat, ist versorgt! Für die trag' ich mein Unterleibchen aus Eisenschuppen, die mir die Knochen wundscheuern!«
Aber als er ihr vor allen Gästen seine ›Ballade von Villon und der dicken Margot‹ vorlas, war sie verschnupft. Diese Ballade ist zwar kein Gedicht für ein Mädchenlyzeum, aber Franz ist ja auch kein Schullehrer. Sie ist ein Hymnus auf sie beide und macht durchaus keinen Hehl daraus, wer und was sie sind. Schon allein durch seine prachtvolle Ehrlichkeit ist dieses Gedicht unnachahmlich; wer es einmal gehört hat, vergißt es nicht mehr, oder er hat es nicht gehört, wie Margot, die beleidigt war. Die Eitelkeit der Weiber verträgt keine Wahrheit. Dafür lobte Regnier die Ballade über den Schellenkönig. »Nur eins mußt du noch lernen,« meinte er, »den Weibern muß man schmeicheln!«
»Das lerne ich nie –« brummte Franz.
»Du bist zu wahr, das können die Leute nicht vertragen. Du hättest sie mit einer Prinzessin vergleichen sollen, dann wäre alles jut!«
»Und was wäre dann noch von meinem Gedicht übriggeblieben?«
»Nischt, darüber sind wir uns einig.«
Sie lachten.
Nach Mitternacht kam die alte Heaulmiere, Margot sieht sie nicht gern, sie stört das Geschäft mit ihren unflätigen Witzen und Viechereien. Man weiß oft nicht, spinnt sie wirklich oder tut sie nur so. Alles lacht und schüttelt den Kopf. Einige Mitleidige zahlen ihr ein paar Gläschen, aber sie ist nie betrunken und bei aller Äfferei weder lustig noch traurig. Sie kann nun einmal nicht anders leben als in der Erinnerung an die verwüstete Herrlichkeit ihres Lebens, sie kann nicht begreifen, daß fünfzig Jahre, wenn sie vorbei sind, eine Minute waren. Es ist, wie wenn ein Irrsinniger auf dem Grab seiner Geliebten tanzt. Das ist ihr Dauerzustand, und so bleibt sie, bis sie hin ist.
Sie hebt jetzt nicht mehr so oft den Rock auf, er ist sowieso genug zerfetzt. Die heruntergerutschten Strümpfe entblößen dürre Steckerlwaden – ein Skelett, eine Leiche auf Urlaub; aber ihre zähen Lebensgeister zappeln noch. Man wird sie, wenn sie gestorben ist, mit einem Schlegel noch extra totschlagen müssen.
Eines der Mädchen, ich glaube, Georgette war es, sagte ihr, sie könne froh sein, daß die Patronin schon schlafe.
»So?« sagte die Alte, »Soso, da schau' her!«
Aber bei dem, was nun folgte, sind wir alle erschrocken.
Sie habe noch nie von sich geredet, sagte sie, es sei nicht ihre Gewohnheit. Sie liebe es, Faxen zu machen, sie sei gerade noch gut oder schlecht genug, um ein paar besoffene Narren zum Lachen zu bringen. »Aber was ich einmal war,« meinte sie, »nun ja, darüber ließe sich vielleicht reden. Es kann euch nicht schaden, wenn ihr zuhört, Blanche, Ninerl, Hannchen, Georgette, ihr Stümperinnen, ihr Edelhuren, ihr Wursthaferl, ausgezogene Zugbeutel ihr! Ich war ein Weib, meine Lieben, meine Macht war größer als die des Oberbefehlshabers von Paris! Umgebracht haben sie sich, keiner war geboren, der mir nicht sein Hab und Gut angetragen hätte, winselnd über seinen Ruin. Aber ich habe es auch nur gemacht, wenn ich es gerne tat, und ein wenig besser als ihr siebzehnjährigen Leichen, die Wollust heucheln müssen, damit euch der Liebhaber nicht einschläft! Und wer mag mich noch heut, wenn ich mich umsonst verschenke und noch was draufgebe? Was ist mir geblieben? Schande und Spott! Was war ich, was bin ich geworden, mein Gott, mein Gott!«
Sie schaute irr in die Luft, als schwebte da ihre einstige Gestalt, und fragte, wo ihre glatte reine Stirn hingekommen sei, ihr blondes Haar, ihre gewölbten Brauen, ihr großer Blick, der in die Schlappschwänze Feuer machte und allen das Blut sieden ließ, ihre gerade Nase, die zierlichen, enganliegenden, so oft geküßten Ohren, die zarte Wangenwölbung und die Lippen, die allein schon ein Wunder waren? Und sie schilderte sich, wie ein Liebhaber vom Körper der Liebsten spricht, und vergaß nichts. Es war, als verwandle sie sich noch einmal in die jugendliche Venus, die jeden vor Begehren zittern ließ. Jeder riß die Augen auf, jeder preßte seine Schickse, die er hielt, fester.
»Und wenn ich mich jetzt anschau', splitternackt, und mich so vertrocknet, verkrüppelt und vermergelt sehe, eine alte Schesn, die Stirn zerrunzelt, die Brauen räudig, die Augen, an denen verbrannte, wer vorbeiging, schieläugig und blind und triefend, die Nase krumm und schwarz wie ein Rauchfang – prost!« Sie nahm eine Prise. »Die Ohren abstehend und haarig, die Larve tot und ekelhaft, die Haut faltiger als meine alten Latschen, die Arme bocksteif, die Finger krumm wie ein Schürhaken, die Schultern bucklig, die Tutten, o jeh, pfui Teufel, und die Schenkel zwei alte verrunzelte Leberwürst – meint ihr, es geht euch einmal besser?«
Verdüstert schauten die Männer, verstohlen wischten sich die Weiber die Augen.
Sie ging. Wie früher einmal durch ihre Schönheit, so jetzt noch einmal durch ihr Elend aufgerichtet, großartig wie eine Schauspielerin, die beim letzten Auftreten alle Triumphe ihres Lebens in der Erinnerung der Zuschauer aufrüttelt, ging sie, elastisch, leicht, ein sonderbar glückliches irrsinniges Lächeln auf den gelben Lippen. Alles schaute ihr nach. Im Winkel vor der Tür schrumpfte sie zusammen und brach lautlos zu Boden. Franz half ihr auf und führte sie hinaus.
Er hat unter dem Eindruck dieser grauenhaften Szene drei Balladen gedichtet, darunter die berühmte Klage der schönen Heaulmiere, die beginnt:
»Die alte Schnepfe hör' ich klagen,
Sie rauft ihr schmierigs Zottelhaar,
Paßt auf jetzt, Mädels, laßt euch sagen,
Was sie erzählt und wer sie war:
›Ach Alter du, so hundsgemein,
Hast mich erdrosselt und geschlagen.
Jetzt bin ich hin und kalt wie Stein,
Ich fahr' mir selbst noch an den Kragen!‹«
und endet:
»›So zahnt und wimmert unsereiner,
Wir armen, alten Schinderhäuter,
Am Boden hockst, stellst auf die Beiner
Im alten Haderlumpengwand,
Das Feuerl raucht und stinkt, die Kräuter
Schürt die verrußte welke Hand.
Wie fürstlich waren wir beinander!
Und dann packt's eine nach der andern‹ –«
Es kam keine Lustigkeit mehr auf, es war, als wäre die Nacht finsterer und das Leben düsterer geworden. Man unterhielt sich tuschelnd und horchte auf jedes Geräusch. Mir gefiel es nicht mehr da, ich dachte an Lolie, wir wollten gehen und hörten auf einmal Geschrei und Gewürge auf der Straße, und gleich darauf pumperte einer mit beiden Fäusten an die Fensterläden. Es war Regniers Stimme. Erst jetzt sahen wir, daß er fortgegangen war. »Macht auf,« schrie er, »oder ich schlag' euch alles kurz und klein!« Die Weiber fürchteten sich und hockten geduckt und bedeppt herum. Der Lärm wurde stärker, man hörte Schläge und Flüche und das Geschepper der bewaffneten Polizisten.
»Ich würde ja gern aufmachen,« sagte Franz, »man muß ihm doch helfen, wenn nur ich nicht da wäre, verflucht! Ich habe keinen Appetit auf die Hunde!«
Gleich hernach hörten wir nur mehr Regnier allein, der vor Wut ganz verzweifelt war. Die Bande schien sich verzogen zu haben, man ließ ihn herein. Er war über und über mit Blut besudelt, aber er sagte, das meiste sei nicht von ihm.
»Ihr hättet mir etwas früher aufmachen können, seid ja nette Kameraden!«
Er war im Recht. Aber er mußte auch verstehen, daß wir der Polizei aus dem Wege gingen.
»Macht, daß ihr verschwindet!« sagte er, während die Weiber ihm das blutgetränkte Hemd auszogen und seine Wunden wuschen. »Die kommen sicher zurück!«
Es war ein Durcheinander, man fragte nach anderen Kleidern für Regnier, wusch den Boden auf und vertilgte alle Spuren, und wir drückten uns.
Am anderen Tag schickte mir Franz Nachricht und befahl mir, nicht mehr auszugehen. Regnier war verhaftet, das ›Hotel Margot‹ geschlossen worden.
Dumme Geschichte. Aber sie werden nichts aus ihm herauskriegen, und wenn sie ihm die Glieder einzeln ausreißen.
Ich bin zu Lolie gegangen, und sie sagte, ich soll dableiben.
Wir gingen in ihr Schlafzimmer, wo sie mir etwas zeigen wollte, sanken aneinander hin und verloren den Halt, ich zog ihr das Kleid über den Kopf und riß alles auf, und wir stürzten zu Boden – –
Ihre Zähne sind schneeweiß und vollkommen regelmäßig. Ihre an der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen wölben sich über großen, braunen Augen in dem feinsten Bogen, den je ein Renaissancemaler hingezirkelt hat. Ihr bläulich schimmerndes Haar fühlt sich an wie der Schwanz eines kleinen Pferdchens. Die Spitzen ihrer festen Brüstchen sind so hart wie frische, eben ausgeschlüpfte Tannenzäpfchen. Ihr Leib gleicht einer antiken Göttin –
Mit leisem Finger zeichnet sie die eingefallenen Linien meiner kantigen Visage nach. Ich mache die Augen zu und halte still wie eine Gipsmaske. Sie bedeckt mich mit ihren Locken, spielend wie eine Mutter, die ihrem Kleinen ein Spitzendeckchen über das Gesicht breitet. Sie nennt mich Hündchen, und ich nenne sie Klettermaxe, weil sie ihre Schenkel auf mich heraufschiebt und an mir hochkraxelt.
Wir machen die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht. Wir schlafen ein, übersättigt, überbeglückt, nach Raserei, tausend Zärtlichkeiten, Überraschungen und Liebesbeweisen, wie nur die Phantasie glücklicher Herzen sie erfindet, und fallen in den Schlaf wie Leichen. Wenn ich erwache, suche ich sie, und noch bevor sie wach ist, tastet sie nach mir mit geschlossenen Augen.
Ich sah, wie sie mir im Halbschlaf einen Kuß gab, der mich nicht traf. Es war ein leises, kleines Schmatzen, das in die entzückte Luft ging.
Wir erwachen, und sie füttert mich armen, abgebrannten Hund, dessen sie sich erbarmt hat, weil er in der regnerischen Nacht unter einer Bank schlafen wollte.
Wir erwachen und finden uns wie das erstemal.
Wir erwachen und haben das Zeitgefühl verloren. Wir wissen nichts und wollen nichts mehr wissen.
Auf einmal schrecke ich auf – was war das? Wer hat da gepfiffen?
»Das war die Eisenbahn. Oder vielleicht ein Vogel. Sie fangen so früh zu singen an –«
»Nein, das ist Franz! Er ist vorbeigegangen. Wir werden wohl bald fort müssen.«
»Fort? Wirf mich nur weg! Was gewesen ist, bleibt auch dann schön und strahlend!«
Gewesen? Was bedeutet das? Das Wort geht mir nach –
Die Sonne scheint, und auf der Straße gehen Menschen. Immer noch. Immer noch ist alles wie früher. Wie seltsam.
Gewesen – gewesen – was meint sie damit?
Leicht wie ein tanzendes Boot ohne Ruder und Steuer treibe ich hin, matt und froh und ein wenig irr. Ich darf nicht zu schnell gehen, sonst fliege ich davon wie ein Kinderballon.
Gewesen – gewesen –
Plötzlich wird alles schwer und verschwommen. Ich muß mich festhalten – –
Seit Franz und Catha zusammen wohnen, sieht man ihn nicht mehr.
Ich lag in meinem Flohkasten, da klopfte es.
»Wer ist da?«
Keine Antwort. Die Tür ging auf, er kam herein, setzte sich auf den Bettrand.
»Du hast sie nicht gesehen?«
Ich, als verstünde ich ihn nicht: »Wen?«
»Catha.«
»Nein, ich habe sie nicht gesehen.«
Er stützte den Kopf in die Hand. Ich habe noch nie einen solchen Ausdruck an ihm gesehen. Es waren die traurigen Augen eines einsamen Tieres.
»Seit gestern abend suche ich sie. Ich war überall. Ich bin kein schlechter Junge!«
»Mach' keine Geschichten. Läuft der Mensch die ganze Nacht herum wegen einem Weib. Sie wird von ihrer Tante zum Kaffee eingeladen worden sein.«
Er stand auf. »Ich glaube, ich bin ein Mann! Ich habe genug gelebt, ich kann jeden Augenblick Schluß machen. Komm, steh auf, komm ein wenig mit herunter. Trinken wir was. Du kannst dann wieder weiterschlafen.«
»Ich bin so müde, so müde, Franz! Um fünf Uhr bin ich heimgekommen. Mach' dir keine Gedanken, alter Junge, ein Weib ist das nicht wert.«
»Weiß ich. Wenn eine wegläuft, kann ich zehn andere haben. Aber mein Messer ist gut, und die Seine ist tief und kalt. Komm, Hänschen, steh auf, gehen wir ein wenig spazieren, begleite mich, es wird mir wohl tun.«
»Später, Franz. Hole mich um elf Uhr. Schau', ich kann doch noch nicht stehen!«
Er beugte sich über mich und streichelte mich. »Bist du müde? Schlafe, mein Kindchen!«
Stand auf und ging zögernd zur Tür.
»Wenn der Hund genug gestreunt hat, dann kommt er wieder!«
»Manchmal!« meinte er.
Ich konnte nicht mehr einschlafen.
Am Nachmittag zeigte er mir einen Brief, ganz berauscht und verrückt: »Rendezvous! Heut abend!«
Wir tranken einen, alles war froh, alles gratulierte ihm. Seine Verbindung mit Catha ist kein Geheimnis mehr.
Als er wieder auf der Bildfläche erschien, einige Tage nach diesem Rendezvous, und mir ›im Vertrauen‹ etwas erzählen wollte, wußte ich längst alles. Jeder wußte es, einer sagte es dem anderen: er war von den Polizisten festgenommen und verprügelt worden, und zwar mit Duldung oder vielleicht sogar auf Geheiß Cathas: sie hatte ihm nicht nur den Brief geschrieben, der ihn zu dem nächtlichen Stelldichein lockte, das ein Hinterhalt war, sondern auch vom Fenster aus zugesehen und boshaft dazu gelacht, als ihn die Wachtmeister durchgerbten. Und ihm, da er allein war und noch froh sein konnte, so davonzukommen, war nichts anderes übriggeblieben, als die Schmiergel einzustecken und durchgepeitscht und verbleut abzuziehen.
Solange er da war, wagte keiner zu grinsen, wenn man auch hinter seinem Rücken die Mäuler verzog. Man nannte ihn überall den zurechtgewiesenen und verleugneten Liebhaber, den Getauften, Geduschten und Eingedeckten, Käthchens Prügelknaben, den Vernagelten und Verhagelten. Dieser öffentliche Spott, der ihm nicht verborgen bleiben konnte, war das Allerbitterste. Man sagte, der hübsche Noel, einer von Cathas Freunden, habe seine Hand dabei im Spiel gehabt, man sagte dies und sagte das, aber man wußte nichts; und Franz schwieg sich aus.
Warum hatte die Frau, die er liebte, gerade sie, die er in den Himmel hob, ihm diesen sinnlos grausamen Schimpf angetan, warum?
Nach einer fürchterlichen Sumpfperiode hatten wir genug. Wir bummelten in unser Viertel, ausgeblasen wie hohle Eier. An der Ecke der Straße der Priester von St. Severin und der Pergamentmacherstraße gab mir Franz die Hand: »Ich geh' heim.«
Nach solchen Taten sahen wir uns oft wochenlang nicht. Es war so schön, sich in noch so armselige Wände zu verkriechen, in seinen Papieren zu kramen, neue Werke zu planen, das Wiedererwachen verschütteter und vergessener Empfindung zu genießen, auf zerwühltem Bett liegend, das kommende und schwindende Tageslicht zu beobachten, dem verschwommenen Gemurmel der Straße zu lauschen. Gestalten und Figuren zu sehen und mit Gedanken und Gesichten allein zu sein wie ein Mönch in der Zelle. Bis man dann, der Einsamkeit müde und seiner selbst überdrüssig, wieder verlockt und verführt vom Leben, hinausging, den Freund aufsuchte und aus seiner Höhle herauszog, und in den Tavernen alle Narren vom Quartier latin wiederfand und sich unter sie mischte als auch einer.
Ich stand immer noch da. »Franz!« sagte ich. Er war noch nicht weit und blieb stehen. Und ich wackelte zu ihm hin.
»Sich so ins Bett zu legen, ich weiß nicht, ob das gesund ist. Ein luftleerer Raum in der Magengrube, schlechtes Schlafpulver!«
Träumerische Pause.
»Man kann irgendwo ankreiden lassen. Sitzen können wir ja noch.«
Robin, der Wirt vom ›Tannenzapfen‹, bei dem Franz schon einmal seine Hosen zum Pfand gelassen, pumpt immer noch. Wir ließen uns zwei Töpfe Suppe geben, einen halben Meter Brot und einen Schluck Wein, und dösten gesättigt und halbtot vor uns hin. Franz schlief ein, ich trank noch ein Schöppchen, und um Mitternacht waren wir wieder lebendig. Jetzt konnte es schon wieder die ganze Nacht dauern, jetzt war wieder alles gleich.
Es waren viele Bekannte da, Bruder Baude, Philipp Liebmittel, der Bockhans und andere. Baude, natürlich der lauteste, sang: »Der Teufel hol' die Kutten – bloß auf ein paar Minuten!« Von Liebmittel sagt man, er saufe nur bis zwölf Uhr, aber dafür um so mehr, weil er am Morgen die Messe lesen muß und nach Mitternacht nicht mehr gurgeln darf. Auch er sang Liedchen, die nicht im Gebetbuch stehen, und erlaubte sich anzügliche Witze und Anspielungen auf Franzens Abenteuer mit Catha.
»Den sticht der Hafer,« sagte Franz. »Seit er mich ins Gesicht geschlagen hat, es ist schon lang her, seitdem trage ich ein Messer. Ich habe zwar geschworen, daß ich es ihm in den Ranzen renne, aber ich könnte es ebensogut vergessen. Aber er will es scheint's nicht haben.«
Liebmittel warf uns einen wütenden Blick zu, er schien sich auszukennen. Wäre Bruder Sebald nicht gewesen, der in Villons Gedichte ganz vernarrt ist und vor dem keiner zu mucken wagt, dann hätte es schon in der Kneipe Krawall gegeben.
Ich war auch wenig zum Dengeln aufgelegt. Fünf- oder sechsmal wegen Körperverletzung vorbestraft und noch jedesmal mit Glück billig weggekommen, war ich die Scherereien satt. Einmal liegt man doch drin, und Hiebe hatte ich schon so viele eingesackt, daß ich zufrieden war. Wer spielt, der verliert auch, und wer rauft, der kriegt auch Senge. Und auf der Höhe waren wir auch nicht.
»Was hat Regnier von seiner Schlägerei gehabt?« sagte ich. »Sie haben ihn geschaßt, und dabei ist er noch gut weggekommen. Wenn du meinst, es muß sein, dann bin ich da; wenn es aber nicht sein muß, ist es mir lieber.«
Unfähig, uns vom Platze zu rühren, blieben wir sitzen wie angenagelt, bis man alle hinauswarf. Auf der Straße verstreute sich alles, aber wir merkten, daß uns jemand nachging, und trachteten, aus den engen Gassen herauszukommen. Plötzlich auf dem Quai Montebello sprang uns Liebmittel in den Weg. Der Bockhans war bei ihm. Es wurde nicht viel geredet, alles ging sehr schnell.
Franz, der sah, daß der Priester sehr aufgeregt war, sagte nur, er sei ein wenig müde; wenn man sich unterhalten wolle, sei er dafür, daß man sich auf die steinerne Bank am Ufer setze. Statt aller Antwort rannte Philipp auf ihn zu, gab ihm einen Stoß und riß seinen Dolch heraus, traf ihn aber nicht richtig, weil er zu wütend zustieß. Er hatte ihn ins Gesicht gestochen, Franz blutete stark und griff nach seinem Messer. Mit der linken Seite gegen Philipp, den Arm mit dem Mantel umwickelt, stand er abwartend da. In dieser Bereitschaft ist er gefährlich. Ich weiß, wie er sich schlägt, er wird nur langsam warm. Früher war er hitziger und freigebiger. Jetzt lassen ihn die schlimmsten Beleidigungen kalt, er faßt einen am Arm, führt ihn ein paar Schritte und schickt ihn ruhig nach Hause, und wenn er einem allzu Unverschämten eine schenkt, geschieht es so ordentlich und sachlich, daß jeder zufrieden ist. Er nahm Rücksicht auf die Trunkenheit des Priesters, wollte ihn schonen, wenn er nachgab, aber schon nach fünf Sekunden kannte er sich aus: es war Ernst, es ging ums Ganze.
Der Bockhans war sofort weggelaufen. Auch ich war einige Schritte zurückgegangen, um sie allein zu lassen. Franz brauchte mich zwar nicht, aber für alle Fälle war ich auch noch da.
Unvorsichtig und besinnungslos vor Wut griff Philipp wieder an, und dieses Mal, ich wußte es, hatte es geschnappt. Franz, windig, kalt und flink, rannte ihm sein Messer in die Seite, der Priester schrie und wankte. Der Augenblick war günstig, um abzuhauen. Ich zog Franz weg. »Vorwärts! Messer her!«
Ich wollte es in die Seine werfen; wir durften nicht mit einer Waffe betroffen werden. Es wurde hell, da und dort gingen schon Menschen. Aber kaum waren wir ein Stück gerannt, als sich Philipp schon wieder zusammengeklaubt hatte und wie ein verwundeter, gereizter Stier uns nachbremste. Franz, jetzt ohne Waffe, blieb auf einen Ruck stehen, packte einen Felsbrocken von einem Haufen, der zu Ausbesserungsarbeiten am Quai lag, einen schweren gezackten Stein, und warf ihn dem Heranrennenden mitten in die Fresse. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn dem armen Kerl der Schädel von den Schultern geflogen wäre wie eine zerbazte Blutorange. Er fiel um und blieb liegen.
Jetzt hieß es laufen. Franz rannte die Jakobstraße hinauf. Das letzte Wort, das er mir zurief, war: »In Bourg-la-Reine!« Ich drückte mich um die Ecke und schlenderte langsam nach Hause, als ob nichts wäre.
Er hat sich bei einem Rüsselschaber verbinden lassen. Der fragte ihn nach seinem Namen. »Wenn du es unbedingt wissen willst,« antwortete er, »ich heiße Michel Schaf und bin auch ein Schaf, daß ich wegen einer kleinen Meise eigens über den Zaun steige und mit der Schnauze an einem spitzigen Eisen hängen bleibe.«
»Wenn das spitzige Eisen vielleicht zufällig in der Hand eines Mannes gewesen ist,« sagte der Bader, »dann müssen Sie mir auch dessen Namen sagen, ich darf Sie sonst nicht verbinden. Sie kennen ja die Vorschriften!«
»Vorschriften, ja, Vorschriften!« brummte Franz wütend unter gräßlichen Schmerzen, »Feiglinge seid ihr alle! Wenn ich der König wäre, ließe ich euch jeden Tag auspeitschen! Der Priester, der zufällig daneben stand, als ich mich an dem Zaun aufpfeilte, heißt Philipp Liebmittel. Und jetzt wasche und verbinde mich!«
Der Bader wagte keinen Widerspruch mehr.
Die Äbtissin von Pourras, wie die Abtei Pont-Royal im Volksmund genannt wird, war eine lustige und unternehmende Frau und sehr fromm dazu. Jeder Mensch muß selbst wissen, was sich in ihm zusammenreimt. Leidet nicht jeder gleich viel: der sich der Wollust der Enthaltsamkeit hingibt, wie der, der den Schmerz irdischen Genießens auskostet?
Auf dem Weg nach Bourg-la-Reine hörte ich einiges Wissenswerte über die lebensfrohe Huguette du Hamel. Aber jeder, der etwas über sie wußte, beteuerte gleichzeitig, nichts Bestimmtes zu wissen; man habe es nur gehört und sei ja selbst nicht dabei gewesen. Alle Welt wisperte und flüsterte von ihrer Putz- und Verschwendungssucht, von Schlemmereien, Gelagen, ungenauer Rechnungsführung, Unterschlagungen und ausgelassenen Liebesabenteuern. Sie schlafe mit einem hohen geistlichen Herren, hieß es, dessen Namen man nicht zu sagen wagte, sowohl in der Abtei, wenn er sie besuchte, als in Paris, wenn sie ihn besuchte, sie ginge zu Festen und Tänzen wie eine Weltdame, führe die ausgelassensten Redensarten und habe mehr Liebhaber als Rosenkränze; ihr teuflischer Dämon treibe sie, sich geheim und öffentlich so aufzuführen, daß die Soldaten eine Spottballade auf sie gedichtet hätten, worauf sie einen von ihnen so habe prügeln lassen, daß er daran gestorben sei. Aber weit mehr als den Tod eines armen Landsknechtes verübelte man ihr, daß ihr Lieblingsvergnügen das Baden sei, und daß sie auch andere Nonnen dazu verführe, sich an ihren Wasserkünsten zu beteiligen. So hätte sie die Schwester Alipson mit Gewalt gezwungen, mit einem Vetter des hohen Herrn in die Wanne zu steigen.
Nun, Reinlichkeit gehört zur Zivilisation und ist außerdem gesund. Da aber Baden in den Augen der grindhäutigen Bauern an sich schon eine Todsünde ist, ist es nur natürlich, daß sie die Verbindung von Reinlichkeit und Liebe ganz besonders abscheulich finden müssen. Die hygienische Äbtissin hat auf jeden Fall den böswilligen Verleumdern das Maul gestopft, die den Frauen Frankreichs nachsagen, ihre ganze Körperpflege bestehe nur im Pudern und Bemalen ihrer Fassade. Und ich, wenn man mich am Jüngsten Tag um Rat fragen wird, werde diejenigen zuerst in den Himmel einlassen, die am meisten geliebt haben, ganz gleich ob zu Wasser oder zu Land. Aber ich werde wohl nicht anwesend sein; irgendein Rendezvous mit oder ohne Bad wird mich abhalten, dieser feierlichen Zeremonie beizuwohnen.
Man hat Huguette im Auftrag des Ordensoberhauptes überwacht. Sie mußte fliehen und mit ihren Nonnen ein Asyl in Paris suchen. Man machte ihr den Prozeß, als Jeanne de la Fin ihre Rechte auf die Abtei anfocht, warf sie ins Gefängnis und verweigerte ihr, als sie nicht Verzicht leisten wollte, die Sakramente. Wer viel liebt, muß viel leiden. Wohl gelang es ihr, aus dem Kerker zu fliehen, aber was weiter aus dem armen gescheuchten Reh geworden ist, wissen wir nicht. Wir hatten keine Zeit, uns um das Schicksal der hohen Frau zu kümmern, so sehr es uns nahe ging, denn uns hat sie nur Gutes getan.
Franz sah gut aus, er hatte sich in seinem Versteck bei dem Baderwaschl Girart ein wenig herausgefuttert, aber eine häßliche Schramme am Mund entstellte ihn ziemlich unangenehm. Er machte sich nichts daraus, fatal war ihm nur, ein so auffälliges Kennzeichen allen sichtbar zur Schau tragen zu müssen.
Er gab mir ein Zeichen, zu schweigen. Der Haarkräusler empfing mich mit verdächtig übertriebener Kameradschaftlichkeit. Viele unserer Komplizen tauchten bei ihm auf, kamen meist nachts, besprachen Geschäfte und verrollten sich wieder.
»Ein großer Schuft!« warnte mich Franz. »Sei vorsichtig. Einer von der Sorte, die vier Wochen lang mit ihrem verlängerten Rückgrat per Sie sind, wenn ein Stallmeister sich hat bei ihm rasieren lassen. Ich werde ihm das Leder schon anstreichen, aber vorläufig sind wir auf ihn angewiesen.«
»Du weißt, daß Liebmittel –?«
»Ein frommer Mann. Ich lud ihn ein, sich auf die Bank zu setzen, und er hat sich gleich zur ewigen Ruhe begeben.« Sein Blick verdüsterte sich – »Nun, ich habe auch einiges durchgemacht!«
Er erzählte die Quälereien, die er während der Haft erlitten, und die Angst, die er ausgestanden hatte. »Da hat man sich langsam zu einer Art Berühmtheit heraufgehungert, und dann geht so ein Paragraphenhengst her und streicht dich mit einem Federstrich aus dem Leben. Man hat mir einen Verbannungsarrest bewilligt. Man versuchte, Belastendes aus Liebmittel herauszubekommen. Er blieb tapfer und sagte: ›Wenn ich sterbe, verzeihe ich Villon – ich habe Gründe, die mich dazu veranlassen.‹ – In der Geschwindigkeit setzte ich ein von Demut triefendes Bittgesuch auf und stellte natürlich alles anders dar. Onkel Willi wird es einreichen, er läßt mich trotz aller Dummheiten nicht im Stich. Ich hoffe, ich kann bald nach Paris zurück.«
Mir war, als stiegen wir beide einen tiefen, kalten Schacht hinunter –.
»Und Huguette?«
Er lachte: »Ach Mensch!« –
Der Bader kam herein, einen Haufen Fläschchen, Schachteln und Päckchen im Arm: »Es gibt Arbeit, Franz! Eine kleine Sendung für unsere gnädige Frau von Pourras!«
Als das Paket fertig war, nahm es Franz unter den Arm. »Du kannst mich begleiten!« sagte er.
Die Abtei von Pourras liegt neben der Straße, ein wenig tiefer, in den Wiesen. Eine hohe lange Mauer umschließt den alten Park, dessen herbstlich gefärbte Bäume, als die Sonne aus den tintenklecksigen Wolken schlüpfte, plötzlich in warmem Goldton im kühlen Abend standen. Zwei bemooste Rundtürme überragen das steile Schieferdach des festungsartigen Klosters, aber die neuen Anbauten stechen sehr herrschaftlich von den schwarzen alten Mauern ab.
Franz kehrte um.
Als ein Bote, der ein Paket Parfums und Seifen abliefert und im übrigen – mein ›historisches Kostüm‹ sah bös aus – schlechter beisammen ist, als es selbst für einen Ausgeher notwendig wäre, bin ich äußerst zuvorkommend behandelt worden. Ich mußte essen, mich am Feuer trocknen, abbürsten und waschen und dann im Botenzimmer übernachten, um die Aufträge der Frau Äbtissin abzuwarten. Das ging so einige Tage, ich brauchte nichts zu tun, schlenderte zwischen dem kühlen Geruch des Herbstlaubes und den warmen Düften der Klosterküche träumerisch hin und her und versuchte, ein neues Gedicht von Franz aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Die barmherzigen Novizen hatten mir einen Rock geschenkt, und schließlich wurde ich zur Äbtissin befohlen.
»Wir haben einen neuen Boten, wie ich höre,« empfing mich die hohe Frau – die Schwester, welche mich in den Garten begleitet hatte, entfernte sich, »und wo steckt unser übelberüchtigter Poet?«
»Madame,« erwiderte ich, »mein Freund hat Pech gehabt, er ist wegen eines Spottgedichtes auf den Pariser Magistrat verhaftet worden.«
»Welche Unvorsichtigkeit! Wie kann man sich mit den allmächtigen Behörden verfeinden!«
»Es wird nicht so schlimm werden, er versteht, ihnen schon um den Bart zu gehen!«
Ich hatte mir die hohe Klosterfrau ganz anders vorgestellt und war ein wenig betroffen von ihrer eleganten Erscheinung. Es war wieder wie am Abend meiner Ankunft: ein regennasser, herbstlich müder Garten, alles kühl und traurig, aber die Sonne leuchtete – diesmal in Gestalt einer schönen Frau. Aber meine Verwirrung dauerte nur einen Augenblick. »Ich habe ein schönes Gedicht von ihm auswendig gelernt,« sagte ich, »er nennt es die Ballade vom Widerspruch des Franc-Gontier.«
Wir unterhielten uns ein wenig über die Schriften dieses Gontier, die ich allerdings nicht kenne und darum um so leichter verurteilen konnte. »Also lassen Sie hören,« sagte sie, »vorausgesetzt, daß dieses Poem nicht die Gesetze der Wohlanständigkeit verletzt!«
»Durchaus nicht, Madame, sein Grundgedanke ist eine rein philosophische Erkenntnis.«
Und ich begann in monoton ernstem Vortrag und bescheidener Haltung zu rezitieren:
»Im Regen steh' ich, frierend, abgemagert,
Und drinnen sitzt der dicke weiche Pfaff,
An seiner Seite Sidonie, der süße Aff',
Weiß, glatt, heiß atmend, hingelagert.
Durch einen Türspalt seh' ich, was man macht,
Gewürzwein schlürfen, lachen, tändeln, spielen
Und nackt auf nackt und Tag und Nacht
Aus einem Himmel in den andern schweben –
Ich war nicht traurig, doch es ließ mich fühlen,
Es gibt kein Glück als das: im Wohlstand leben!«
»Das sieht dem Gauner gleich!« sagte sie. Wir lachten. »Also weiter!«
Ich trug alle vier Strophen vor, und die Äbtissin hörte zu, als läse ich ein Requiem.
Dann musterte sie mich mit verstelltem Ernst von oben bis unten: »Und was sind Sie denn für ein seltsamer Kauz?«
»Ich? Ich bin gar nichts, Madame. Ich sehe nur so schlecht aus, weil ich mich auf die Poeterei geworfen habe!«
Sie wandte sich ab. »Was bemerken Sie an diesem Rosenstrauch?«
Wen magst du wohl alles schon so gefragt haben? dachte ich mir. »Ein verblühter Baum,« sagte ich, »aber immer noch sehr galant, da er in der Form eines gotischen H gewachsen ist! Man könnte glatt ein Gedicht darüber machen!«
»Aber hüten Sie sich, in ähnliche Kühnheiten zu verfallen wie dieser unverbesserliche Tagedieb!«
Sie rauschte ab und ließ mich stehen wie einen gebrauchten Reitesel. Ich sah ihr nach, ihr Gang war wundervoll – mein Gedicht war schon fast fertig . . .
Ich blieb fast einen Monat in der Abtei, wurde mit Aufträgen verschickt und hätte mir dieses Leben eines frommen Botengängers zwischen Glockengeläute, Weihrauch, Bratenduft und kirchlichen und weltlichen Andachtsübungen sicher zur dauernden Gewohnheit gemacht, wenn ich es länger als vierzehn Tage an einem Fleck aushielte.
Nicht lange, da sagte Franz: »Wir müssen marschieren!«
Um drei Uhr früh verließen wir das Haus des Baders und trabten die schmutzige, düster schillernde Landstraße hinunter.
François Villon war Tatmensch und Träumer, vielleicht eine verhängnisvolle Mischung. Wer entweder das eine oder das andere oder gar nichts von beidem ist, der ist wahrscheinlich besser dran. Er war ein Mann, wo es galt zuzugreifen, aber ebensosehr Weib, wenn er fühlte und duldete und in seinem krankhaft sensiblen Herzen alles in tödlich vertiefter Eindringlichkeit empfand. Er war Mann genug, alles, was durch ihn ging, wie ein Schrei durch wehrlose Stille, in lebendige Schöpfungen zu verwandeln. Aber es konnte ihm auch passieren, daß er, nachts in ein Haus eingestiegen, den ruhigen Atemzügen des Schlafenden lauschte und vergessend, warum er da war, den Frieden des Schlafes, der ihm fehlte, so in sich einsog, daß es ihm schwer fiel, den Hausherrn nicht zu wecken, um ihm eigens noch einmal gute Nacht zu sagen. Er konnte vor dem harmlosesten Mädchen, das er nur aus Eroberungssucht mitschleifte, auf die Knie stürzen und sie verehren wie weiß Gott wen; keine war so gering, daß er nicht in jeder die Verwirklichung aller Wünsche eines Einsamen erblickt hätte. Unter Unternehmenden der Gründlichste, unter Verwegenen der Zäheste, bei jeder Sauerei der Ausgelassenste und von allen Wüstlingen der Wüsteste, vertändelte er dann wieder Tage mit Lautenklimpern und wurde die Melodie, die ihn Catha gelehrt hatte, nie satt. Aber gleich darauf zerhaute er alle Illusionen, verlachte alle Einsicht, gab seinen Träumen einen Tritt, warf die Feder weg, die Bücher in den Ofen und sich in die verworfenste Gesellschaft von Ausgestoßenen, nur um den giftigsten und krassesten Atem des Lebens in sich zu schlürfen, wie ein Opiumraucher das süße betäubende Gift. Wer hätte ihm deswegen sein Herz voll kindischer Dummheiten und seinen von kasperlhaften Einfällen überfüllten Kindskopf nehmen können? Was er sah und lebte, war ja nur eine Phantasieschöpfung von ihm, längst in ihm da, bevor sie sich in der Welt verwirklichte, und verglichen mit seiner Vorstellung in allen Erscheinungen unzulänglich. Wer gab ihm die Taten, die er brauchte? Niemand. Also nahm er sie sich selbst und nach seinem Willen.
In den Wäldern hinter Orleans bei den Gockelbrüdern angelangt, wurden wir als ihresgleichen aufgenommen. Nur Simon, ein Savoyarde, ein Büffel von zweieinhalb Zentner im Gewicht, umschnüffelte mich mißtrauisch. Einer von der Bande hatte kürzlich vor dem Gericht in Dijon aus der Schule geschwatzt, wenn auch nicht freiwillig, sondern erst nachdem man ihm mit dem vorgewärmten Brecheisen, damit es sich nicht erkälte, das Gewissen ein wenig geöffnet hatte; daher die übertriebene Vorsicht.
»Was schaugst denn?« brummte ich den ausrangierten Preisboxer an.
Franz griff ein: »Sie gestatten, Herr Konsistorialrat: mein Freund, der Reiserhanse aus Paris, dufte Marke, feines Gwachs, Schriftsteller und Poet, ein dutzendmal im Loch gewesen, und außerdem Bayer!«
»Dann wird er gfressen!« sagte Simon und drückte mir die Hand, daß mir alle Gelenke krachten. ›Bayern‹ heißen in Frankreich bekanntlich schokoladeglasierte Kuchen, die ausgezeichnet schmecken – dem, der sie sich kaufen kann.
Was waren die Gockelbrüder? Lauter feine Herren, die nicht im Adreßbuch stehen, Franzosen, Spanier, Flamen, Deutsche, Zigeuner und Juden, Gauner, Schnorrer, Diebe, Vagabunden und Wandervögel zu Fuß und zu Pferd, verlorene Gestalten, lustige Elendsbrüder und elende Lustigbrüder, Arbeitsverächter und Kostgänger, Wegelagerer, abhandengekommene Soldaten, die sich ihren rückständigen Zoll nehmen, wo sie ihn finden, entlassene Steuerbeamte, die immer noch Steuern eintreiben, Benachteiligte, die nach dem Begünstigten schnappen wie der Fisch nach der Angel, fahrende Schüler und Denker, die das Nachdenken zu weit treiben und darum kein Examen bestehen, Sekten- und Siedelungsgründer und andere Schwarzkünstler, Antiquitätenhändler und Abbrändler, Schuster, die nicht bei ihrem Leisten bleiben, und Schneider, die zur Beutelschneiderei übertreten, Zurückgesetzte und von dem Vorgesetzten Beleidigte, Enterbte und Verderbte, Gescheiterte und Gescheitere, Verkannte und Verbannte, Pechvögel und Glückskorrigierer, Schaukelburschen, Ritter ohne Pferde, Barone mit mehr Schulden als Gulden, lauter schwere Jungs, die ihr Todesurteil in der Tasche tragen wie ein anderer Mann seine Invalidenkarte. Ein Verein ohne Statuten und Standarten, eine G. m. b. H., gehst mit, bist hin, oder eine Gesellschaft mit unbeschränkter Haftung, zusammengeschweißt durch den Verlust, den jeder erlitt, den Vorteil, den jeder suchte und nicht fand, und die Gefahr, in der jeder lebte. Eine Regierung ohne Anerkennung, aber nicht ohne Macht, lauter ungekrönte Könige und Anarchisten, die auf ihre Beförderung ins Jenseits warten, lauter Schwindler, Verbrecher, Briganten, Räuber, Mordbrenner und wie die verächtlichen Ausdrücke alle heißen für Leute, die ihr Handwerk verstehen und nur noch nicht amtlich bestätigt sind, mit einem Wort lauter Männer, Prachtkerle und Vorzugsexemplare, in deren Gang man sich verlieben konnte, lauter schiefangesehene Persönlichkeiten mit Bärten wie Strauchwerk, Gesichtern wie Gebirgslandschaften, Gewändern wie Vogelscheuchen, Gedanken wie unwegsame Waldschluchten, Einfällen wie Narren, Herzen wie Kinder und Fäusten wie Eichenknüppel, wunderbar altmodische schnurrige Kerle, die alles, was Obrigkeit heißt, ohne Kraut auffressen und sich von einem, der nett zu ihnen ist, an der Hand führen lassen; Burschen, die mit dem Kinderwagen ins Pfandhaus fahren, solche Leute waren das.
Franz hat einige Balladen in ihrer internationalen, aus drei Dutzend Dialekten zusammengemixten Geheimsprache geschrieben, die kein Mensch versteht. Der Wäschedieb heißt da Schneeschaufler, der Taschenkrebs Scherenschleifer, das Kittchen Seminar, der Opferstock Jakl, der Wachtposten Mondschein, Kafts Radi! – er wurde verhaftet, zum Brecheisen sagen sie Langhansl, zur Schnapsflasche Karline, statt Taktik Tiktak und Steinholz für Holstein – aber ich kann nicht das ganze Gabelus-Zinkus auskramen, die kriminalistischen Philologen müssen ihre Doktorarbeit schon gefälligst selbst machen.
Als Weißhax die Hauptleute in die Köhlerhütte kommen ließ, in der er residierte, hielt Franz nach der Befehlsverteilung eine kleine Rede in der Sprache der Gebildeten, die von den meisten Gockelbrüdern nicht verstanden wurde und ihnen darum mächtig imponierte. Er zog ein Huhn aus der Tasche, an dem er sich die Finger gewärmt hatte, und warf es vor das Reisigfeuer, das ihn von der Seite beleuchtete.
»Ich komme von leeren Schubladen,« hieß es in dieser Rede, »deren luftleerer Raum mein Eigentum ist, und von vollen Bäuchen, die über mich zu Gericht saßen und die mir auch Luft sind. Man sagt, ich sei ein geschickter Kerl, ich könnte erfinden, daß die Sonne durch Winterwolken scheint. Kann sein, ich weiß nur, daß ich es auf dem Handelswege zu nichts bringen werde. Ich bin eine zu ehrliche Natur, ich kann nur stehlen. Der seidene Schoßhund unseres Herrn Königs, vor dem wir den Hut 'runter tun müssen, damit wir eventuell den Kopf aufbehalten dürfen, ist auch nicht gescheiter als ich. Trotzdem hat sich das Hündchen erbrochen, weil er es mit Haselnußtorten ein wenig überfüttert hat. Das brachte mich auf den Gedanken, daß irgendwas in der Welt nicht ganz in Ordnung sein muß. Es gibt viel Reichtum, aber nur für wenige, haltet euch 'ran! Niemand ist seiner Habe sicher, sagt man, und ebenso sicher hat niemand etwas, der es sich nicht nimmt. Ich komme aus einer niedrigen Hütte und gehe auf einen hohen Platz, ob auf den Thron oder auf den Galgen, das muß sich in der nächsten Zeit herausstellen. Ich greife zu und nehme nur das Beste. Ich bin zu arm, um mir billige Sachen leisten zu können. Die Zeiten, wo ich mich mit dem Handtuch rasiert und an der Alma mater criminalis studiert hab', sind vorbei, also auf zum Stehlen! Pack ma's mit der Hacka!«
Er riß sein zerfetztes Hemd auf und entblößte seine Brust zum Zeichen, daß sein Herz den Freunden gehört.
Diese Ansprache wurde mit gewaltigem Respekt und noch größerer Rührung aufgenommen, war er doch ein Studierter und ein Poet, der reden konnte wie ein Offizier. Einem alten Kerl, der aussah wie ein mit Farnkräutern überwucherter Felsblock, ein Bursch, der mehr Morde auf dem Gewissen hatte als ein Staatsanwalt, rannen die Tränen in sein Bartgemüse, so ergriffen war er, weil einer sich zu einer brüderlichen Ansprache herabließ, dem man den Aristokraten auf zehn Meter gegen den Wind ansieht, wenn ihm auch die beinigen Ellbogen aus den Ärmeln schauen.
Franz wurde zu schwierigeren Unternehmungen auserkoren und kommandierte selbst. Jetzt fingen wir wieder Grillen, aber keine solchen, die man mit dem Grashalm aus der Erde kitzelt. Jetzt handelte es sich darum, Leuten, die irgendwo vorübergingen, guten Tag zu sagen, sie auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die in diesen geldgierigen Zeiten jedermann bedrohen, und ihnen zu raten, ihren Besitz an Geld, Schmuck und dergleichen gefährlichen Dingen uns zur Aufbewahrung zu übergeben, damit sie nicht irgendwelchen groben und ungeschlachten Räubern in die Hände fielen. Verstand so einer unsere Sprache nicht, dann nahmen wir einen Dolmetsch zu Hilfe, der aus den Kulissen hervortrat, und der brachte ihn dann schon zum Reden oder Schweigen.
Seit Catha Vision den schmählichsten Schimpf angetan hatte, der einem Mann widerfahren kann, war sein Humor noch ein wenig trockener und seine Entschlossenheit noch ein bißchen eisiger geworden. Vielleicht hätte er es ohne dieses Pech, unter dem er so lange schweigsam litt, nie fertig gebracht, irgendeinem harmlosen Spaziergänger so lange die Gurgel zuzuhalten, bis ihm ein anderer die Taschen aufknöpfte. Seine Tüchtigkeit hatte aber ihre Grenzen; wenn ihm gerade ein Vers einfiel, dann war er imstande, einem ein Almosen zu schenken, statt ihn auszurauben. Nur bei ganz schwierigen Sachen war er ganz dabei, und als es hieß, daß mehrere verstreute Gruppen vereinigt werden sollten, um gegen größere Ortschaften zu marschieren, trug er sich mit der Absicht, wenn wir Glück hatten, es bald zu einem Oberbefehl zu bringen. Er träumte davon, auf Paris zu marschieren und einigen Herren, die er besonders liebte, persönlich seine Aufwartung zu machen.
Ich schloß damals Freundschaft mit Maurice, einem alten Soldaten aus Pontoise, schnauzbärtig und blauäugig, hager wie ein Rebstock und brav wie ein Schullehrer. Er stahl ungern und hätte am liebsten doppelt zurückgetragen, was er einfach genommen. Wir liebten uns sehr, kein Schluck, den wir allein tranken, hatte den rechten Geschmack.
Regnier kam an und erzählte seine Stückchen, er war in Rouen, in Tours und in Bordeaux ausgebrochen. In Poitiers hatte er ohne Geld Tuch gekauft und sich noch Geld dazu geben lassen. In der Mordsache an Thévenin Pensot hatte man ihm nichts nachweisen können und ihn laufen lassen. Er teilte uns, ich weiß nicht zum wievieltenmal mit, daß er sein Lehngut bei Orsay verkauft habe. Er war nie blanker und ausgelaugter als dann, wenn er dieses sagenhafte Lehngut wieder einmal verkauft hatte . . . Die allergrößte Neuigkeit aber: Villons Landesverweis war auf dem Begnadigungsweg aufgehoben worden!
Franz nahm sofort Urlaub.
»Und deine Pläne?« fragte ich.
»Hansgischpel, Paris ist Paris!« war die Antwort.
Es war Januar, und Franz besaß sogar einen Mantel, der ihm zwar zu kurz war, aber ohne diesen Windfang hätte er womöglich noch lächerlicher ausgesehen. Wir sahen aus, als hätte uns der Wind vom Sudelfeld hergeblasen. Unser Blick, wenn der meine dem seinen glich, war ein wenig irrlichterisch, wie der von Leuten, die viel durchmachen müssen und doch immer tiefer rutschen. Nur das eine: wir waren wieder in Paris, und das ist auch etwas. Keiner ließ den anderen merken, wie ihm zumute war. Machte ich ein dummes Gesicht, dann spielte er den Lustigen. »Ich weiß nicht, was du für ein Mensch bist, hast du mich schon einmal schlecht aufgelegt gesehen?«
Sah ich ihn aber an, wenn er sich unbeobachtet glaubte – gute Nacht, schöne Gegend! Und dann fing ich an: »Es hat doch keinen Zweck, schau' mich an, ich bin immer lustig und fidel!«
Dann lachten wir alle zwei.
Es war zum Verzweifeln –
Die Nacht ist unsere Tageszeit, langsam wurden wir ein wenig munterer. »Weißt du,« sagte ich, »der Atlas hat die Weltkugel getragen, respektable Leistung! Aber mit unserem Gefühl im Magen hätte er keinen Hering gestemmt!«
Er zerrte mich in eine Kneipe: »Komm, du kennst mich noch lange nicht!« und bot allen, den Gästen und dem Wirt, den Stehenden wie den Sitzenden, seinen Mantel zum Kauf an.
»Sagt, was ihr wollt, ein Mantel ist ein Mantel! Hundert Sous! Ich will keine Worte verlieren, nur einen Mantel! Es ist kalt und windig, wer kauft einen echten Winterpaletot, kaum von mir getragen, für hundert Sous?«
Die Leute lachten, und wirklich war da so ein armer Kerl, der den Schneider nur vom Hörensagen kannte und den alten Sack um neunzig Sous erwarb.
»Ich bedauere, mein Herr,« sagte Franz zu dem Windhund, »daß es in der Welt einen so armen Menschen gibt, der für einen echten Mantel nur neunzig Sous ausgeben kann, ich bin nicht dran schuld!«
Die neunzig Sous waren gleich vertan. In der nächsten Budike bot er seinen Rock, seine Mütze, seine Hosen, die ganze Kledasche an.
»Ich habe viele Röcke – dieser hier, in dem ich selbst stecke, kostet zweihundert Sous, die Mütze fünfzig, meine Hosen hundert! Ich habe nicht weit heim, meine Damen und Herren, mein Onkel ist froh, wenn ich komme, ob im Hemd oder nackt, das ist ihm ganz egal, der Mann hat ein gutes Herz, er schaut nicht auf Äußerlichkeiten. Einzige, nie wiederkehrende Gelegenheit: wer kauft François Villon seine Kluft ab?«
Der Rock wurde betastet. Er war nicht mehr ganz neu, aber um diesen Preis geschenkt, denn für die Läuse, die darin waren, verlangte er nichts. Der Käufer, ein fünfeckiger ausgeblasener Zeitungsausrufer, hatte kein Geld, aber noch so viel Kredit, daß er uns auf seine Rechnung zwei Abendessen servieren lassen konnte.
In Hemdärmeln, aber mit einem Pickus im Leib, gewärmt und gesättigt zog Franz ab. Er fragte die Leute auf der Straße, ob sie ihm seine Hosen abkaufen wollten, und bot in der nächsten Kneipe seine Schuhe an. Alles lachte. Einige erkannten uns trotz unserer entstellenden Bartmatratzen.
»Ihr braucht nicht zu erschrecken,« sagte er, »ich wohne nur zwei Minuten von hier und bin nicht verheiratet. Wer kauft meine Trittlinge? Sie sind über manchen Zaun gestiegen, hinter dem etwas zu holen oder etwas zu verlieren war, sie haben viel gehört und gesehen und sprechen Bände, wenn man sie nur anschaut. Bis Roussillon werden sie mich nicht mehr tragen, aber von der Schepperglocke bis zum Flohmarkt gehen sie noch. Ich muß als reuiger Sohn geräuschlos heimkehren. Hundert Sous, wer kauft meine Schwartling, meine Reisetappen, meine echten, noch nie dagewesenen, historischen Fußschuhe?«
Ein braver Witzbold bot Franz das Dreifache. »Es ist François Villon, der Poet!« flüsterte er einigen Eselsköpfen zu. »Ich trage sie ihm morgen wieder hin, und er wird eine Ballade auf mich dichten!«
Wir tranken Runden, bis der Kredit erschöpft war, dann zog Franz seine Dampfschiffe aus und marschierte zum allgemeinen Gaudium barfuß hinaus. Wir schlugen einen kleinen Trab an, damit ihm die gefrorenen Pflastersteine nicht an den geschwollenen Sohlen kleben blieben, aber ich mußte doch alle Augenblicke stehen bleiben, wir lachten furchtbar. Die Köchin vom Onkel Willi hat uns in ihrem Schreck für wahnsinnig gehalten. Sie ließ den halbnackten Franz vor Entsetzen und Kopflosigkeit eine halbe Stunde im Vorplatz stehen und heizte derweil in seinem Zimmer ein. Franz wollte mich bei sich haben, aber sie erlaubte es nicht mit Rücksicht auf die ihm notwendige Ruhe und gab mir in der Kammer neben der Küche einen Strohsack.
Eine Zeitlang sah ich Franz selten, und wenn ich ihn sah, war er wortkarg und zugeknöpft. Er betrachtete alles stumm und kritisch mit einem sarkastischen Zucken der Mundwinkel und ließ jeden abfahren. Man verstand ihn nicht recht, er war doch sonst nicht so. Nun, ich wußte schon, was das bedeutet: er arbeitet, er will allein sein. Und das unterschied ihn schließlich, wenn er auch ein Narr ist wie andere auch und außerdem der größte von allen, doch wieder von allen siegesbewußt dahinvegetierenden Schmeiß- und Fleischfliegen.
An einem höllenheißen Nachmittag besuchte ich ihn in seiner mönchischen Klause. Sein wackliger Tisch war mit Papieren bedeckt, ein Krug, ein Glas Wasser standen dazwischen.
»Wasser?« sagte ich. »Seit wann treibst du auch die Askese auf die Spitze?«
Er lachte, ging mit dem Krug und ließ sich von der Köchin ein bißchen ordinären Hauswein eingießen.
»Was wird es?« fragte ich mit einem Blick auf die Papiere.
»Mein Vermächtnis.«
Ich stand am Fenster. Grellweiß wie sonnbeschienenes Papier lag die einsame Straße in der Hitze. Irgendwo sang etwas Komisches, ich beugte mich hinaus und sah einen Bettler auf dem Gehsteig kauern, den sonderbarsten, den ich je gesehen: ein mühselig, wie eine Schnecke sich fortschaffendes Bündel, und dieses Knäuel, das auch ein Mensch sein wollte, sang, oder wie soll man die grausliche Vielfalt von Lauten nennen, welche dieses Paket, ich weiß nicht wie, von sich gab? Manchmal sang es wirklich, dreistimmig, und ging dann zu so viel gleichzeitigen und wechselnden Geräuschen über, als ob aus allen Poren seiner gliederlosen Mißgestalt Töne strömten wie der Dampf aus geborstenen Röhren, Engelsstimmen und Brummbässe, schluchzende und gurgelnde Schmerzlaute und wieder jubelnde, Unkengequak aus tiefem Brunnen, exotisches Vogelpfeifen, Schnarren und Krähen aus hohen Zweigen und alle erdenklichen menschlichen, tierischen und instrumentalen Stimmen komisch und grausig vermischt.
Ich warf zwei Sous hinunter, und dieses Almosen, das ein Bettler dem anderen gab, hielt den da unten in hündischer Anhänglichkeit fest. Er zog dankbar neue Register auf und traute sich von dem Ort, an dem sein Gesang Mitleid und sein Elend Anerkennung gefunden, nicht mehr weiter an andere Stellen ungewissen Schicksals.
Von diesem verzweifelten Individual-Orchester begleitet, las mir Franz den Anfang seines Vermächtnisses vor: er nimmt Abschied von Catha, er geht fort und weiß nicht, ob er wiederkommt, und so macht er sein Testament und hinterläßt Freunden und Feinden und dem ganzen Gschwerl, mit dem er verkehrt, was er hat und nicht hat, Häuser und Wirtshäuser und zu Schutt verfallene Schlösser, die Zinsen von seinem Dalles und Mieten, die nicht bezahlt werden, Stellungen, Ämter und Würden, Kleider, Hüte und Narrenkappen, Pferde und Schandesel, Familienwappen und Adelstitel, dem einen seinen schlechten Ruf, dem anderen eine Tracht Prügel, dem Dritten sein verfaultes Lagerstroh, damit er sich mit seiner Liebsten darauf wälzen kann, denn sonst kann er auch nichts, diesem Fässer vom besten Wein, jenem einen Schluck Seinewasser und das Obst, das auf Weidenbäumen wächst, den Advokaten Prozesse, dem Impotenten seine Männlichkeit, dem Spital seine Spinnweben als Fenstervorhänge, der verräterischen Catha sein totes eingeschrumpftes Herz, eingeschlossen in eine goldene Reliquienkapsel, irgendeinem seine alten Hosen, die er sich auslösen soll, wo er sie zum Pfand gelassen, und dem Beschwipsten, der aufs Pflaster hinplumpst, einen Puff auf die Augendeckel.
Ich kam täglich zu ihm, und wir amüsierten uns königlich.
Wo ich ging und stand, gingen mir Verse des Vermächtnisses durch den Kopf:
»Und meine alten, abgehatschten Schuh
Vermache ich ihm noch dazu – – –«
Wir haben alles Lachen durchgemacht, das es gibt, bis uns die Kinnbacken und alle Knochen weh taten. Ach Kinder, haben wir gelacht! Wenn man dieses Lachen nicht jahrhundertelang hört, dann seid ihr alle taub geworden.
Aber das seid ihr ja immer schon gewesen.
Zwiefeniggl, in der Normandie und an anderen Orten ausgebrochen, in Paris festgenommen und wieder frei geworden, suchte uns auf. Er hatte neue Pläne, einen großen Schlag, und bereitete Schlüssel und Werkzeuge vor. Die alten hatte er in die Seine geworfen.
Er hielt uns seinen Vortrag: »An einem Abend in den nächsten Wochen werden wir das Bedürfnis haben, in die Kirche zu gehen, um etwas für unser Seelenheil zu tun. Wir haben dazu nicht so viel Zeit übrig wie der reiche Schlächtermeister Schmerig, der vor lauter Messen und Andachten nicht mehr zum Kartenspielen kommt. So arme Schlucker sind wir, daß uns nicht einmal für Gott eine halbe Stunde übrigbleibt, und dann sagen die Leute, wir wären nicht fromm. Wenn wir zwischen Dunkel und Siehstmichnicht in die Kirche gehen, muß es genügen, wenn jeder einen Rosenkranz in seinen Bart brummt, möglichst leise, wir lieben es nicht, unsere Religion auszuschreien wie eine Marktware. Daß wir beim Verlassen der Kirche einige Kleinigkeiten mitgehen lassen, entspricht unserer religiösen Überzeugung. Christus selbst hat gesagt: Verkaufe dein Hab und Gut und folge mir nach! – oder so ähnlich. Da aber die Kirche ihr Hab und Gut nicht verkauft, nu, so verkoofen wir's! Es handelt sich um eine ganz anständige Summe und um ein anständiges, gottgefälliges Werk, wenn wir den Herren von der theologischen Fakultät den Weg in die Seligkeit von irdischen Hindernissen säubern, habt's mi verstand'n!«
Es folgten nähere Erläuterungen. Franz und ich mußten wohl oder übel mittun, wir konnten nicht gut aus der Reihe springen. Machten wir mit, war es gefährlich, machten wir nicht mit, war es auch gefährlich, also machten wir mit.
Franz schrieb die letzten Verse seines Vermächtnisses. Er legt die Feder weg und haucht sich in die froststarren Finger. Das Abendläuten der Sorbonne schwingt herüber, eine singende Engelsbotschaft. Ihr Bedrückten und Bedrängten, sagt es, betet doch, was euer Herz euch eingibt! – Seine Tinte ist eingefroren, das Reststümpchen der blauen Altarkerze gespenstisch flackernd niedergebrannt, sein Kaminfeuer kalt und erloschen, wie er selbst; er legt sich auf seinen Strohsack und wickelt sich in die abgeschabte Pferdedecke.
Woran erinnerten mich nur diese melancholischen Winterzeilen? Es war mir fast, als hätte ich sie selbst geschrieben!? Richtig: jener Abend in München fiel mir ein, als ich von Berlin zurückgekommen war.
Kurz vor Weihnachten trafen wir uns in einer stockfinsteren Nacht in der Kneipe ›Zur Mauleselin‹, Franz, ich, Dappenhelm, Kleinhans, Zwiefeniggl und der Priester Dom Niclas, der uns führte. Nach dem Essen zogen wir alle sechs auf die Bude des Studenten Robert, der nicht wußte, worum es sich handelte, legten unsere Schuhe ab und überkletterten mit einer langen Stange die hohe Mauer des Navarra-Schulhofes. Der dappige Willi machte ein Geschnauf, bis er mit seinem Bauch über die Mauer kam, als läge seine Großmutter in den letzten Zügen.
»Du willst wohl die ganze Nachbarschaft mit deinem Asthma aus dem Schlaf blasen?« brummte Franz.
Willi war sein Bierherz ein wenig in die Hosen gerutscht, er schlug vor umzukehren, ›um unsere Kleider zu bewachen‹. Wir ließen ihn zurück, duckten uns an der Mauer entlang, kamen mit unseren Nachschlüsseln in die Kapelle und tappten von da aus in die Sakristei. Alle Türen sperrten wir von innen ab. Kleinhans und Zwiefeniggl, so tüchtige Knacker sie sind, mußten lange arbeiten, bis sie aller Schlösser Herr wurden. Die Viertelstunden, die vom Turm schlugen, waren lauter Jahrhunderte. Endlich kurz vor Mitternacht waren wir soweit, das Geld wurde aus der Kassette geklaubt und zu gleichen Teilen verteilt. Man wollte auch mir hundert Goldstücke geben, aber ich nahm nichts an. Ich verdiene mit meinen Dichtungen so viel Geld, daß ich das nicht nötig habe. Auf demselben Weg, den wir gekommen waren, zogen wir uns zurück. Alles war bis dahin gut gegangen, alles klappte tadellos. Aber Franz, immer der gleiche, wollte noch ein paar Kerzen einstecken, weil es in einem hinging, und stieß in der Dunkelheit einen Leuchter vom Altar. Es gab ein schauderhaftes Geschepper und Gepolter, jeder verkroch sich, so schnell er konnte. Zum Glück blieb alles ruhig, aber die Viecherei hatte uns doch eine halbe Stunde Aufenthalt gekostet.
Beim Sprung von der Mauer landete ich unglücklich und verknackste mir das Rückgrat.
Dappenhelm gaben wir für seine Nachtdienste zehn Goldstücke. Er schaute das Geld an, als warte er, ob es Junge kriegt. »Bin ich ein Philologe,« meinte er, »daß ich alles umsonst machen soll?«
»Wir haben zusammen hundert Goldstutzen,« sagte Franz, »drei Bauern, sechs Stiefel, alles in Ordnung!«
Es waren natürlich fünfhundert Goldstücke.
Ein paar Tage drückten wir uns noch herum.
»Hänschen,« sagte Franz, wir saßen in der Tränke ›Popin‹, »bring das meiner Mutter!«
Er drückte mir irgendein Wurstpapier in die Hand und ging.
Es war zwischen Weihnachten und Neujahr. Die kleinen Häuser der Altstadt hatten weiße Hauben auf, gleich alten Weibern in der Nachtmütze, und die Sonne spielte leicht und rosig über den Schnee, als fürchte sie, sich zu erkälten. Ich blieb stehen, faltete das Papier auseinander und las:
»Ballade, die Villen gemacht hat, auf Verlangen seiner Mutter, um zu Maria zu beten.«
Ich las das Gedicht und las es noch einmal –
Es wurde dämmerig, ich mußte meinen Weg fortsetzen. Es war kein leichter Weg.
Aber freuen wird sie sich doch, tröstete ich mich, über diese schönen Zeilen, die mehr ein Gebet als ein Gedicht sind. Wie nett wird sie es finden, daß sie selbst darin das Wort nimmt. »Ein armes Weiberl bin ich, das nichts weiß und nicht lesen und nicht schreiben kann; ich gehe nach Moustier, wo ich Pfarrkind bin, zu dem gemalten Paradies, den Lauten und Harfen, und zu dem Bild von der Hölle, in der die Verdammten kochen. Vor dem einen fürchte ich mich und vor dem anderen wird mir froh und leicht!«
Freilich, großartig und schrecklich sind diese Höllenbilder, wie sie Meister Niclas von der Seitn, seine Schüler und andere Künstler gemalt haben, zum Greifen echt die Leiber der Verdammten, das zerkratzte, blutige, vom Schein des ewigen Feuers flackernd beleuchtete Fleisch, die trostlos weinenden, jämmerlich verzerrten Gesichter, die zu spät zum Gebet aufgereckten Hände, die heulenden Münder, aus denen übelriechender Atem dampft, und die Brandwunden, die ein oxydgrüner Affe mit krummen Krallen schadenfroh noch weiter aufreißt, und die schönen prallen und warmen Brüste der Weiber, auf denen Eidechsen und kalte Kröten sitzen und es sich da behaglich machen – schauen wir weg, schauen wir lieber die Paradiesbilder an, wo die Madonna, die einfache königliche Frau, so ruhig vor dem schweren, zum Baldachin geschürzten Teppich sitzt, vergessen, träumerisch – und wie das Kindlein auf ihrem Schoß so lustig nach dem Apfel greift, den ihm der Engel zeigt! Welche Stille, von Musik durchwebt wie der Teppich von Goldfäden. Die Zeit steht still und horcht, und nichts ist im Blau der Luft als Frieden.
Ach mein Gott, wenn man ihn doch fände, den Frieden, ganz gleich welchen – – –
Die alte Frau sitzt vor dem schwachen Kaminfeuerchen.
»Sie suchen Franz? Sie sind gewiß ein Freund von ihm?« Sie kennt mich nicht mehr. »Nein, er ist nicht da.«
»Ich suche ihn nicht, Madame, er hat mich hergeschickt und mir etwas mitgegeben.«
Ich gebe ihr das Papier, aber sie zittert und läßt es fallen. »Ist er wieder fort! O mein Gott, wird er denn gar nicht mehr gescheit, sag'?«
Da sitzt sie vor ihrem Feuerchen, die Hände im Schoß, noch kleiner und verhutzelter als vor Jahren, arm, alt und klein, und hat doch den großen François geboren. Wenn ein Ast im Feuer aufknistert, blinkt ein Schein in ihren großen, tränenlosen Augen. Sie rührt sich nicht und starrt, wohin? Ins Nichts. Sie hat alles verloren.
Und das Gedicht, das ihr eine Freude machen sollte? Ich halte es noch in der Hand, es ist auch zu dunkel, sie kann es ohne Licht nicht lesen, und sie hat auch sicher kein Licht. Aber, fällt mir ein, sie kann ja überhaupt nicht lesen.
»So war er immer. Noch keine drei Jahre alt, ist er schon auf und davon. Bei der kleinen Bruck wurde ein Feuer gemacht von Bettlern und Lumpen, die sich wärmten –«
Wie wir manchmal.
»– und da ist er hinspaziert wegen dem Licht, das Licht hat ihn angezogen –«
Nicht die Finsternis.
»– ich suche und suche und renne überall hin, es ist doch die Seine und Nacht dazu, ich habe eine Todesangst und schrei' und schrei': Franz! Franz! Wo bist du?«
Das schrei' ich auch manchmal.
»Und da geht eine Dame, eine schöne feine Dame, und führt ihn an der Hand. ›Bist du vielleicht der kleine Franz?‹ fragt sie ihn. ›Nein!‹ sagt er, der Knirps, denken Sie, ganz kalt nein! Wir haben gelacht, er wollte nicht mehr von der Dame fort. So ein Gauner!«
Ja, du lachst auch gern, Alte, das seh' ich schon.
Das Lächeln noch auf den Lippen, schaut sie verloren vor sich hin. Und ich wage nichts zu sagen.
»Er treibt es schlimm, wissen Sie. Wer mit seinen Fingern eine Arbeit anrührt, statt zu stehlen, der darf sich überall sehen lassen, und wenn er Gruben leert. Ich weiß nicht, was mit ihm ist, so begabt, und zu nichts zu gebrauchen. Einer, von dem niemand weiß, was er ist, und niemand, wo er herkommt und wo er hingeht, wenn einer lebt wie ein Blatt auf der Straße, das der Wind verweht, die anderen befehlen läßt und tut, was er will, nichts verspricht und nichts hält und sich niemandem fügt oder anpaßt, wer soll einen solchen Menschen aufnehmen und ihm Unterkunft geben, wer anders als Polizei und Gefängnis. Wer soll ihn pflegen, wenn nicht das Spital, wer ihn nähren und hüten, wenn nicht der Zufall. Und wer soll noch an ihn denken, wenn nicht ich. Wenn auch alle zu seinen tollen Sachen lachen, er bleibt ein Spitzbub, und ihm bleibt nichts als Armut und Schande.«
Ich wagte auch ein Wort. »Wir Armen haben selten Glück, Frau Mutter,« sagte ich. »Aber ein Glück hat Franz doch, ein sehr großes: er hat die Gabe, das Leben stärker und reicher zu erleben als andere, und das Talent, dieses reichere Leben anderen mitzuteilen. Dieses Glück haben nur ganz wenige Menschen.«
»Aber wird denn das auch bezahlt?« meint sie. »Er ist doch so arm!«
»Bezahlt, nein, wird es eigentlich nicht. Es macht sich sozusagen von selbst bezahlt. Er hat mir das Gedicht mitgegeben, das Sie sich wünschten, sehen Sie, er hat es eigens für Sie gemacht, für seine Mutter. Ich werde es Ihnen vorlesen.«
Ich hielt das Papier in den roten Schein des Feuers und las: »Du Königin des Himmels und der Erde –«, bis zu der immer gleichen Refrain- und Schlußzeile: »Du sollst mein Glaube sein im Leben wie im Tod.« Und mußte es noch einmal lesen und wieder einzelnes daraus wiederholen.
Aller Vorwurf, alle Trauer waren aus ihren Augen verblichen, Stolz und Glück leuchteten sie jetzt, die Augen der armen, alten, kleinen, großen Frau.
Ich ging und ging durch die endlose Stadt, durch die noch endloseren Vorstädte.
Der Schnee macht die Welt unendlich und einsam. Aber der Friede dieser Einsamkeit ist nur für den, der eine Hütte hat. Wir zwei waren schon zufrieden, wenn wir eine Radspur auf der verwehten Landstraße sahen, wußten wir dann doch, daß ein Wagen vorbeigefahren war und daß Menschen in der Nähe sein mußten.
Wir waren schon zufrieden, wenn der Schnee weicher und der Tag um einen Hasensprung länger wurde.
»Schönes Wetter,« sagte Franz, »der Frühling lockt alles aus der Erde hervor!«
»Hoffentlich nicht,« antwortete der Bauer, »da käme ja meine Frau wieder.«
Wir waren zufrieden, wenn es warm regnete und wir, unter Weiden auf einer trockenen Insel hockend, den lustig hupfenden Wassertropfen zusahen, oder wenn es so heiß war, daß wir den Nachmittag am Flußufer verschliefen und verdösten, wo ein wenig der Wind weht, nachts ein paar Stunden tippelten und in einem verfallenen Gemäuer die Nacht passieren ließen. Wir hatten ja Geld, gutes, unter ehrlicher Lebensgefahr erworbenes Geld, und wenn man Geld hat, ist man erst ein Mensch. Wo das Geld herstammt, das vergißt sich vollständig, wenn man es einmal hat. Und das Geld fühlt sich nur wohl, wenn es jemand hat – wer, das ist ihm ganz gleich. Was kann uns noch fehlen, wenn wir auch noch Geld haben? Mit dem Geld in der Tasche waren wir auf einmal ehrliche Menschen. Nicht im Traum wäre uns eingefallen, jemand um einen Pfennig zu hintergehen, wozu denn, es war ja sinnlos, wäre Blödsinn gewesen. Ja, wir wären fast in den Fehler verfallen, Leute, die sich auf unehrliche Weise bereichern, moralisch zu verurteilen, so veränderte uns das Geld. Noch nie war unser Gewissen so rein gewesen.
Wir gingen zu Fuß, kehrten ein, wenn es uns gefiel, und waren zufrieden.
Aber wir gaben wenig Geld aus. Arme Leute dürfen kein Geld haben, es fällt gleich auf. Wir sparten und waren zufrieden.
Sah uns ein Bauernmädel länger in die Augen, als nötig ist, um guten Tag zu sagen, so wußten wir, wo der Fehler war, verrichteten die verlangte Reparatur gegen mäßige Entschädigung und waren zufrieden.
In der Touraine, wo die Bäuerinnen bis zum Buseneinschnitt bronzebraun gebrannt sind und um die Fünfzig Bärte kriegen wie Räuberhauptleute, erinnerten wir uns der Gockelbrüder, aber was gingen sie uns an? Wir hatten nichts mit ihnen zu tun, wir gehörten zur besitzenden Klasse, wir waren zufrieden.
Dort, wo alles Roche-Mainboeuf, Saint Roche, Roche-Bernard und Roche-Corbon heißt, wohnt auch alles in den Felsen, und so quartierten auch wir uns in leeren Felsenwohnungen ein und nannten uns Graf Hans von Roche und Baron Franz von Frosch. Wir saßen über unserer Höhle und schauten zu, wie die Sonne von Osten nach Westen ging. Und ich las Franz meine ›Ballade von Vouvray‹ vor.
In Beaugenscy nisteten wir uns in einem verlassenen Turm ein wie die Eulen. Er war ohne Dach und Fach und Gemach, der Himmel seine Decke und die Erde sein Boden. Wir kletterten an dem bewachsenen Gemäuer in die Höhe, von Stein zu Stein und Strauch zu Strauch, steckten unsere Nasen oben bei einem Loch heraus und unterhielten uns mit den unten Vorübergehenden, die nicht wußten, woher das Gespenstergeschrei kam.
»Guten Morgen, Madame, wo bleibt denn der Milchkaffee? – Sind das gebratene Fische, was so riecht, oder hat sich Papa eine Zigarre angezündet? – Nicht so hastig, Herr Professor, nihil agere delectat! – Was zahlen Sie, Mademoiselle, ich hab ein treues Herz? – Ist das ein Bader, der mit der Waschschüssel auf dem Kopf, oder nur der Kommandant von der reitenden Nachtwache?«
Lang konnten wir den Spaß nicht treiben, der Turm steht mitten im Ort, nicht weit vom Rathaus. Die Herren Beamten fingen an, sich für die neuen Mieter zu interessieren, und wir schlichen uns davon.
Die schattenhaft im Nebel schwimmenden Buschinseln der Loire zeigten den nahenden Winter an. Aber wir reisten nicht ganz ziel- und zwecklos. Ein Onkel von Franz war Mönch in der Nähe von Angers, er sollte nicht unvermögend sein. Franz suchte ihn auf, mal sehen, was sich machen läßt, aber der Mönch wollte nichts von verarmten Verwandten wissen.
»Sie wagen es, mich zu verleugnen,
Weil ich kein Hausbesitzer bin –«
schrieb Franz später.
Und das war Angers: ein nebeltränender und gähnender Herbstmorgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, verschlafene Runzelgesichter an schmutzigen Fenstern, hundert öde Gassen und Straßen, Gerümpelwerk von besoffen ineinandergeschachtelten Häusern, von denen keines allein stehen kann, und alle überfüllt mit Menschen, die ihr ganzes Leben auf einem Fleck verbringen.
Wir tranken einen Schluck Wein vor dem Wirtshaus. Ein Hund lag auf der Straße und sonnte sich. »Schau' ihn an,« sagte Franz, »wie er lebt! Der versteht's!«
Wir verstanden es auch, aber unser Geld schmolz zusammen, es war aus einem Metall, in dem keine Dauerhaftigkeit wohnt. Es gab gewisse Substanzen, mit denen man es nicht in Berührung bringen durfte, oder es war weg wie verzaubert.
Und je weniger Geld wir hatten, um so schlechter wurde unser Gewissen.
Vor jedem Nest, dem wir uns näherten, blieben wir stehen und überlegten, ob wir in Bogen außen herum oder hinein und mitten durch marschieren oder gar drinbleiben und Unterschlupf suchen sollten. Auf jeden Fall gingen wir auf der verkehrten Seite hinein und nach der Richtung, von der wir gekommen waren, wieder hinaus. Oft walzten wir auch getrennt und trafen uns wie durch Zufall wieder.
»Da leben nun alle diese Menschen!« sagte Franz dann. »Warum eigentlich? Wozu?«
Aber einmal, als der blaue Rauch aus den Hauskaminen so friedlich in den Spätnachmittag aufglomm, als wären diese Hütten lauter pensionierte Registratoren, die ihre Pfeifen rauchen, so daß man schon von weitem sah, wie die Hausfrau den Topf mit der Abendsuppe ans Feuer rückt, die Bratäpfel roch, den Strickstrumpf klappern hörte, den Schnurrkater auf dem Ofen sitzen und die Enkelkinder mit dem Vollbart des Urgroßvaters spielen sah, als wäre der eine verkrüppelte Staude auf dem Gottesacker – da sagte er doch:
»Schön müßte es eigentlich schon sein: so ruhig zu sein wie das Abendläuten! Zu leben, zu gehen und zu stehen und auf seinem Platz zufrieden zu bleiben, bis man auslischt –«
Ich bin gewiß ein Naturfreund, und das war übrigens der einzige Punkt, in dem wir uns manchmal in die Haarfrisur gerieten. Es ist ja noch nicht so lang her, daß mein Vater, wenn er Zeit dazu gehabt hat, im Gras oder Heu lag und sich den ganzen Sonntag damit vergnügte, einer Wiesenfliege oder einer Lerche nachzuschauen; und wenn er außerdem noch einen Gedanken gehabt hat, dann höchstens den an eine gewisse hübsche Bauerstochter, die mit der Heugabel auf ihrer braunen Schulter manchmal an ihm vorbeiging, so lang, bis sie ihn aufgegabelt hat. Davon ist auch mir die Vorliebe verblieben für Naturerscheinungen. Ein ganz gewöhnlicher Baumzweig ist mir manchmal so unvergeßlich wie anderen Leuten ein Christbaumast, an dem eine Hartwurst hängt. Franz aber, als echte Stadtpflanze, hat für nichts Sinn, was sich außerhalb der Pariser Mauern begibt, und wo er von irgendwelchen Blumen und Früchten spricht, meint er ganz bestimmt nichts Botanisches. »Ja, ja, die gute staubfreie Landluft«, sagt er, »als Dreingabe zu einem opulenten Frühstück nicht übel. Aber so ohne alles kommt sie mir etwas dünn vor!«
Als uns aber der Draht ausging und uns also das fehlte, was die menschlichen Marionetten aufrecht erhält, da ging es auch mit meiner Naturliebe bergab. Der Sonnenuntergang, der bei Poeten mit regelrechten Monatseinkommen eine so große Rolle spielt, bedeutete mir dann nur, daß wir in Ermangelung eines Nachtlagers von Granada den Kornhasen spielen müssen, weiter gar nichts. Franz aber wurde gleich noch ekelhafter. Blieb ich einen Schritt zurück, dann hauchte er mich an, daß ich immer hinten nachkäme wie die hinkenden Gäule beim Train, war ich einen Schritt voraus, dann fragte er, ob ich Angst habe, daß mir der Hunger davonläuft, und wie mich, so beschimpfte er alles; der Weg war ein Hundsweg, das Wetter ein Sauwetter, die Ortschaften Drecknester, die Häuser Sch-häuser, pfiff Gevatter Blasius, dann schrie er in den Wind: »Halt's Maul!«, war es ein bißchen warm, dann brummte er: »Die Hure des Firmaments ist auch schon wieder da!« Und als wir einmal morgens in einem Weinberghäuschen aus dem Fenster schauten, ob nicht vielleicht ein Tablett mit Kaffee und Buttersemmeln daherfliegt, rief er: »Zum Geier, der Himmel hat die Syphilis!«
Es war aber auch unheimlich, was für sonderbar gerippte und gestockte Wolken wie geronnene Milch und weißer Aussatz den Himmel überzogen.
Wenn die Mönche vom Clos de la Boue, das gleich daneben halb in den Felsen hineingebaut war, dieses sein Morgengebet gehört hätten, würden sie uns wohl nicht beherbergt haben. Aber wir waren nun einmal schlecht aufgelegt und fragten den Bruder Pförtner ziemlich grimmig, ob das wahr sei, daß man die Nackten kleiden, die Hungrigen satt machen und den Obdachlosen ein Nachtlager geben muß, oder ob das wieder nur so ein Druckfehler in der Bibel sei, über den die Kirchenväter seit zweitausend Jahren streiten? Darauf erhielten wir Nahrung und Unterkunft in einer Kammer außerhalb der Klausur, die so eng war, daß von zweien einer hinausgehen muß, damit zwei darin Platz haben. Wenn man ins Bett ging, mußte man sich auf der Straße ausziehen. Aber das waren wir ja gewöhnt. Wir schliefen länger als die Palmesel und baten gegen Abend einen Frater, der im Garten spazieren ging, ob wir nicht noch eine Nacht in der Schlammbude bleiben dürften. Aber der fromme Mann war so in seine Andacht versunken, daß er unsere irdischen Erscheinungen nicht sah und unsere profanen Stimmen nicht hörte. Er betete um ein langes Leben, einen Haufen Geld, einen gesunden Appetit und was dazu gehört, und um ein junges hübsches Mädchen zum Abgewöhnen, und hat uns sicher in sein Gebet mit eingeschlossen.
Es war eine schöne Augustnacht. Die Treibhausdüfte des heißen Tages hingen noch im warmen Dunkel, die Grillen vibrierten mit holzbläserischem Wohllaut, die Stechmücken von den Altwassern der Loire und Millionen andere winzige tanzverrückte Nachtinsekten gaben der Stille eine schwärmerische Melodie. Die weichen Felsenschatten lagen wie Samt in sternheller Finsternis, nichts rührte sich, Pflanzen, Sträucher, Weinfelder, alles hielt reglos still unter der milden Liebkosung der Nacht, die jeder schuldenfreie Villenbesitzer sicher als sehr angenehm empfunden hat.
Aber wie gesagt, die Natur – wir hätten für ein Bett das ganze Weltall von der Landstraße bis zur Milchstraße mit Handkuß hergeschenkt.
Niemand will uns haben, jeder pfeffert uns die Tür vor der Nase zu, sogar in der Kirche werden wir angeschaut – was blieb uns anderes übrig, als zu den Gockelbrüdern zu gehen. Wenn man schon einmal so weit ist, daß einem von Zeit zu Zeit die drei Türme des Chatelet im Traum erscheinen, dann ist eh schon alles gleich.
Dabei wurden wir auch noch ungnädig empfangen. Man warf uns vor, daß wir uns zwei Jahre lang nicht hatten blicken lassen, und hieß uns schlechte Soldaten. Obwohl ich damals erst wenige Morde begangen hatte, fand ich diese Beschimpfung doch etwas stark und gab ihnen zu verstehen, daß man in dem Krieg, in dem ich einige Jahre zuzubringen die Ehre gehabt habe, auch nicht mit Speckknödeln geschossen hat. Das Geschäft ging gut, alles Erbeutete wurde an Pariser Zwischenhändler weitergegeben, das meiste aber beim Lacher-Jakl, Hotelbesitzer in Dijon, verramscht, dem wir auch das eine und andere aufgefischte Mägdelein lieferten. Geschäft ist Geschäft. Wenn man einmal anfängt, etwas als Ware zu betrachten, macht man vor nichts mehr halt.
Ein bißchen unangenehm aber berührte uns die Nachricht, daß Regnier im August zum Tode verurteilt und im September gehenkt worden war!
»Er hat sich auf der Leiter umgedreht und hinuntergesagt: ›Das nächste Mal will ich besser aufpassen, das soll mir so schnell nicht wieder passieren!‹« Nach diesem Bericht ging der Wachmann, der die hübsche Neuigkeit brachte, weg und ließ uns stehen wie einen Meilenstein im Winter.
Später hörten wir Einzelheiten: Einbruch in der Kirche der Quinze-Vingts, Einbruch in der Kirche Saint-Jeanne-Greve, Einbruch, Einbruch. Er legte Berufung ein, seine adeligen Verwandten liefen sich die Füße ab, und wirklich erhielt er in Ansehung seiner Familie und aus ›Nachsicht mit seiner Schwester‹, die in anderen Umständen war, abermals einen Begnadigungsbrief. Aber das Parlament verweigerte die Bestätigung, es war der Meinung, Regnier sei ein so seltener Vogel, daß es der Mühe wert sei, ihn einige Male laufen zu lassen und ihn am Ende dann zu behalten. Und so geschah ihm die Ehre, auf einem nigelnagelneu erbauten Galgen als erster gehängt zu werden, der nach ihm der ›Galgen von Montigny‹ hieß.
Der gute Regnier! Der gewandte Wortjongleur, der gewiefte Kartenkünstler, ausgezeichnete Fechter und brillante Reiter, er, der Schlankste von allen, hatte zuerst dran glauben müssen!
»Da fängt's ja schon an –« murmelte Franz wie erstarrt und schaute mich an; was soviel hieß wie: wann kommen wir dran?
Gegen Orleans verschickt, wollte Franz nicht Blois passieren, ohne dem Herzog von Orleans seine Aufwartung zu machen. Der Herzog Karl war ein Dichter, kein Dichterfürst zwar, aber ein dichtender Fürst und aufrichtiger Verehrer der Poesie und auch der Poeten, von denen er sich ständig eine ganze Anzahl an seinem Hof hielt, wie andere Fürsten sich ein Rudel Jagdhunde halten. Wir hofften nur, daß ihm nicht auch der Ruf unserer Taten zu Ohren gekommen war, denn allzuviel darf man auch von dichtenden Fürsten nicht verlangen.
Seit Stunden leuchtete uns die weiße Steinbrücke von Blois entgegen und ebensolange schneite es uns in den Hals. Endlich mehrten sich die gehorsam ängstlich niedergeduckten Hütten und Häuschen zu beiden Seiten des Flusses. Das Schloß über den kahlen Büschen der Uferhöhen schaute aus gespenstischem Winternebel halb verächtlich und halb einladend mit festen und warmen, aber auch abweisenden Mauern auf uns nieder.
»Was gibt's Neues?« rief Franz einer Bäuerin zu.
Das furchtsame Weib hatte sich ganz dünn an uns vorbeigedrückt, hielt es aber doch für geratener, stehen zu bleiben und uns freundlich Auskunft zu geben. »Die Frau Herzogin ist von einem Töchterchen entbunden worden, Messieurs! Der neunzehnte Dezember! Das Kleinchen soll über sieben Pfund wiegen!«
»Wenn das Kind so weiter macht, wird es bald schwerer sein als wir. Also darum bimmeln die Glocken den ganzen Tag! Wir danken schön, Madame, komm gut heim, es wird gleich finster!«
»Ah, ich hab' nicht weit!« rief sie und lief weiter.
»Erschütternde Neuigkeiten, Hänschen, aber nicht ungünstig. Wir werden eine Ballade auf die Geburt der Duchesse fabrizieren, und sie mit Helena, Venus und Aphrodite vergleichen, und wenn sie einen Buckel hat!«
Wir verfügten uns in eine Kneipe am Schloßberg, ließen uns Papier geben und fingen auf Hautsdrein zu dichten an, kamen aber schlecht vom Fleck, das Thema wollte uns nicht recht anregen. Wir ließen einigen Alkohol anfahren, um uns in die nötige Begeisterung zu versetzen, und schließlich brachte jeder schweißtriefend eine Ballade zustande, eine langweiliger als die andere; es war schwer zu sagen, welche von den beiden die miserablere war. Wir durften also hoffen, daß unsere Produkte gefallen würden, verfertigten ein kunstgerechtes Begleitschreiben, machten aus dem ganzen Zimt ein hübsches Paket, luden den Hausknecht zu einem guten Tropfen ein und übergaben ihm unser Werk mit dem Auftrag, die wichtige Botschaft an den Herrn Herzog sofort zu bestellen. Dann warteten wir, das heißt, wir warteten gar nicht, sondern betrachteten das Ganze als einen billigen Witz, auf den nur ein Esel hereinfallen kann, und wollten uns jetzt erst richtig begießen, um den schlechten Nachgeschmack loszuwerden. Der Knecht kam zurück und richtete aus, daß er das Paket abgegeben habe. Als dann, schon sehr spät, der betreßte Diener erschien und uns im Auftrag Seiner Herrlichkeit ersuchte, unverzüglich auf dem Schloß zu erscheinen, machte jeder vierzehn Bücklinge, als wäre der Diener der Herr, und von dem würdig steifen Boten geleitet, begaben wir uns auf den ziemlich steilen Weg zum Schloß, nicht ohne die nötigen Atempausen einzuschalten.
»Wir haben die Geburt der Duchesse gefeiert,« erklärte Franz, »und sie ziemlich oft hochleben lassen, ich hoffe, der gnädige Herr wird uns das nicht übelnehmen. Aber jetzt heißt es doch nüchtern sein, verdammt und zugenäht!«
»Ihro Herrlichkeit sind in solchen Dingen großzügig,« sagte der Diener, indem er meinen Arm packte, als ich ausglitt; mir funkelten mehr Sterne vor den Augen, als auf beiden himmlischen Hemisphären Platz haben. »Ihro Herrlichkeit haben früher manchmal selbst einen Rausch gehabt!«
»Hoffentlich hat er dann nicht gedichtet!« sagte Franz.
Auf dem Weg über den Schloßhof kamen wir an der herzoglichen Küche vorbei, die noch in vollem Betrieb war und in der wir lieber abgestiegen wären als bei dem hohen Herrn selbst, der in jeder Beziehung etwas hoch oben wohnte. Aber die Vorstellung verlief ohne Zwischenfall. Der Herzog, ein älterer Herr mit schwammig verlebten Zügen, aber ganz lustigen Augen, empfing uns äußerst liebenswürdig, in angenehm auffallendem Gegensatz zu den Herren seiner Gesellschaft, die sich einer vornehmen Zurückhaltung befleißigten.
»Wer ist denn nun der berühmte François Villon?« fragte er. »Ihr seid ja die reinsten Zwillingsbrüder!«
Franz, in tadellos aufrechter Haltung, erklärte, daß Villon nur sein Dichterpseudonym, er selbst aber ein von Rabenberg sei, Verwandter derer von Rabenberg, deren augenblickliche Verarmung ihn nicht veranlassen könne, seine adelige Abkunft zu verleugnen. Er legte auf diesen mehr als fragwürdigen Adel weniger Wert als auf seine zerrissenen Hosen; auf den Herzog aber schien dieser Personalausweis keinen ungünstigen Eindruck zu machen. »Hans von Schwabing, mein Freund,« fuhr Franz fort, unschuldig lächelnd, »dürfte durch seine Werke hinreichend legitimiert sein!«
»Die ich zu meinem Bedauern noch nicht kenne,« wandte sich der Herzog zu mir, »und äußerst begierig bin, kennenzulernen!«
Ich verbeugte mich und bekam den Schlucken.
Hierauf beurlaubte uns die gütige Nachsicht des Fürsten und seine Einsicht, daß es in unserem Hirn augenblicklich etwas zu duster war, um eine ergiebige literarische Unterhaltung riskieren zu können. Wir bekamen ein Zimmer angewiesen und waren zu den gemeinsamen Mahlzeiten, geselligen Zusammenkünften und schöngeistigen Teestunden geladen wie jeder Gast des Hauses, wobei man uns aber die größte Freiheit und Selbständigkeit ließ.
Es fiel uns auf, daß man uns zuerst mit bewundernden Blicken folgte, weil wir schäbig angezogen waren. Man fand uns interessant, weil unsere Hüte unmodern und unsere Hemden schmutzig waren.
»Komm,« sagte Franz, »gehen wir in die Küche, da werden wir wenigstens geachtet!«
Mit den Küchenleuten sich gut zu stellen, schadet nie, man kriegt dann auch einmal außer der Zeit etwas zu futtern, denn an der Tafel geht es zu fein her, als daß man sich richtig vollhauen könnte. Es war eine Küche, in der das Salz nicht ausging und geheizt und gebraten wurde wie in der Hölle, es war ein Vergnügen zuzuschauen, wie da zugegriffen und hantiert wurde, um die ganze Pracht zu präparieren und aufzubauen, an der die appetitlosen Herren da oben dann herumstocherten, als wäre alles mit Mausgift zubereitet.
Franz bekundete Interesse für eine der Mägde, ein Bauerntrampel aus den Pyrenäen, mit einem Maul wie ein Wascheimer, eine von denen, die den Salat mit der Heugabel fressen. Er behauptete, der silberne Teller, welcher seit zwei Tagen in einem Service fehlte – so daß einer der Hofherren bereits geäußert hatte, ›es wäre nicht unmöglich, daß dessen Verschwinden mit unserem Auftauchen in ursächlichem Zusammenhang stehe‹ –, sei ihr in den Zähnen steckengeblieben. Immerhin faßte er sie einstweilen um ihre breiten Hüften, meinetwegen, über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Odette, wie sie hieß, war nicht ganz so geistreich wie die Hofpoeten. Sie kannte nur ein einziges, nicht mehr ganz neues Liedchen, das die Schulbuben auf der Straße plärren, und das sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend summte und zirpte, wo sie ging und stand und saß:
»Au clair de la lune,
Mon ami Pierrot –«
Ich habe viele dumme Menschen gesehen, denn ich habe viele Menschen gesehen. Odette aber war von einer so blutigen, verzweifelten, urweltlichen und ans Verbrecherische grenzenden Unberührtheit des Geistes, daß es schon wieder hinreißend war. Hätte unser Heiland vorausgesehen, daß so etwas noch einmal geboren werden wird, er wäre für sie eigens noch einmal den Kreuzestod gestorben, um sein Gewissen zu beruhigen. Ich schlage vor, alle Wesen, die so sind und nichts dafür können, Mann, Weib, Mensch, Tier, Kind und Kegel, Odette zu nennen, wenn sie nicht schon so heißen. Die Vorstellung, daß dieses gute Mädchen auch noch mit einem bösen Charakter begabt gewesen wäre, läßt einem das Blut in den Adern gefrieren. Aber zum Glück war Odette heiteren und unbefangenen Gemütes, lachte zu allen Scherzen der Köche, die den ganzen Tag Dummheiten schwätzten, und gab selbst zur rechten Zeit einen Brocken drein, so daß man den Eindruck bekommen mußte, sie verstünde auch alles, was sie sagte und hörte. Vielleicht war das der Grund, warum Franz seine allzeit wachen Hoffnungen auf dieses so umfangreiche wie hoffnungslose Stückchen Fleisch aufbaute.
Das Verhängnis ging seinen Gang –
Odette fischte einen nicht mehr ganz modernen Spitzenkragen aus der Tischschublade, hing ihn sich um und drehte sich vor dem blankgescheuerten Kupferkessel wie ein Turmhahn oder Huhn.
»Ist er nicht hübsch, han? Ihro Gnaden, die Frau Herzogin hat ihn mir geschenkt!«
»Sehr hübsch, sehr hübsch!« beteuerte Franz. Ich glaube, er fand auch den Wischlappen hübsch, mit dem sie den Herd säuberte, wenn sie ihn danach fragte. »Ich möchte Sie einmal im Sonntagsstaat sehen. Sie müssen eine brillante Figur machen! Übrigens, wenn ich vom Herzog mein Honorar bekomme, werde ich Ihnen eine echte Pariser Robe besorgen lassen.«
»Sind die schön?«
»Schön –« schrie Villon verzweifelt, »Schön! Hast du Worte! Hans, wie sind die Pariser Roben?«
»Die Pariser Roben sind wirklich mehr als schön,« sagte ich. »Ich hätte angenommen, das wäre Ihnen bereits bekannt, mein Fräulein. Man sagt von diesen Kleidern, daß man sie einer Kuh anziehen könnte, und niemand würde merken, daß sie keine Dame ist.« Mein Loblied wäre beinahe verunglückt. »Sie kosten aber auch entsprechend viel!« verwischte ich rasch.
Die Köche lachten, die Mägde lachten und Odette lachte und strahlte vor Fett und Vergnügen.
Als das Terrain soweit vorbereitet war, ging Franz, der Sieggewohnte, zum Angriff über. Er erreichte nach allerhand betörenden Überredungen, daß sie ihn nachts in ihre Kammer ließ, damit er ihr das Maß zu ihrem neuen Kleid nähme. In seinem ganzen Leben hatte er keine so alberne Ausrede nötig gehabt. Er machte der armen Unschuld weis, daß man die Maße nur auf dem Leib nehmen könne, und daß es die vornehmen Pariserinnen auch nicht anders machten, wenn sie zur Anprobe gehen.
»Ich bin heute nichts als ein Schneider,« sagte er, »das heißt, eine so neutrale Persönlichkeit wie ein Beichtvater. Philosophisch gesehen, ist der Mensch nur nackt ewig. Dein Busen ist in tausend Jahren noch derselbe, nur der Stofffetzen, der ihn verdeckt oder entblößt, hat einen anderen Schnitt oder eine andere Farbe.«
»Ach, in tausend Jahren lebe ich längst nicht mehr!« seufzte Odette.
»Stimmt, stimmt, auffallend richtig beobachtet. Ich wollte nur sagen, daß Adams und Evas Kostüme von allen die dauerhaftesten sind. Und außerdem macht es Ihnen ja nicht viel Umstände, weil Sie ja doch gleich ins Bett gehen.«
Odette dachte sich, da der Herr sonst ganz menschlich daherredet, obwohl er ein Studierter ist, wird er schon recht haben, und fing an, sich von oben nach unten auszuziehen. Aber Franz trat aus seiner Neutralität heraus und prüfte einige geschwungene Linien ihres Oberkörpers karessierend nach.
Sie fuhr zurück. »Was machen Sie? Ich bin ein seriöses Mädchen!«
»Es ist nur wegen dem Taillenschnitt,« sagte er. Hätte er eine Brille gehabt, er hätte sie in diesem Augenblick auf die äußerste Nasenspitze vorgeschoben. »Ich glaube, es wird Ihnen sehr gut stehen!«
Odette zog sich mit erstaunlicher Kaltblütigkeit und Gemütsruhe aus. Franz glaubte schon alles gewonnen zu haben. Schön war sie nicht, aber das war ihm egal. Wenn man leben muß, als wäre das ganze Jahr ein einziger Karfreitag – Aber er muß sich alles verdorben haben – Odette schrie auf einmal so durchdringend und gottserbärmlich um Hilfe, als sollte sie ein kaltes Eisen in den Leib kriegen. Es gibt nun einmal auch Weiber, die nicht einmal wissen, wozu sie geboren sind. –
Am andern Tag wurde in der Küche gelacht, daß man es bis zum zweiten Stock hinauf hörte.
Ich hatte mehr Glück mit der Louise, einer geschmeidigen schwarzen Katze, die öfters untertags oder abends, wenn sie Feuer brauchte, hinter den Schuppen zum Holzholen ging, wohin ich sie manchmal begleitete, damit sie nicht allzuschwer zu tragen hatte. Ich wollte sie Franz zur Entschädigung für sein Pech mit der Odette zuschanzen, aber sie wollte nichts davon wissen. »Er sieht doch genau so aus wie ich, bis auf die kleine Narbe, wo er vom Rad gestürzt ist,« sagte ich, »was hast du bloß gegen meinen Freund?«
Sie behauptete, sie liebe nur mich, kam mit Nadel und Zwirnsfaden angerückt und wollte sich hausfraulich bei mir niederlassen.
Na na na –! Um solchen Preis nähe ich mir meine Knöpfe selber an.
Was an diesem Hof unter dem Sammelbegriff Hofpoeten für Maikäfer herumkrochen, war wirklich der Betrachtung wert. Die meisten dieser Herren waren vom Adel und der eine oder andere legte sichtlichen Wert auf seinen Stammbaum, sein Wappen, seine Insignien und Titel und, in Ermangelung von eigenen, auf die glorreichen Taten seiner Vorfahren. Einige dieser Herren stießen mit ihren genial ungeschickten Nasen an jeden Türpfosten an und stolperten über Stecknadeln, andere wieder waren fast zu gewandt und überall aufdringlich und geschwätzig dazwischen. Der eine stand herum wie ein verklärter, durchpfeilter Sebastian, schmerzerfüllt und glattrasiert, und verzog keine Miene seiner Schnute, wenn irgendwo aus Versehen ein Witz fiel, oder zu einem so konvulsivischen Muskelkrampf, daß wir uns fürchteten; wieder ein anderer spielte den todernst erstarrten Nabelbeschauer, eingewickelt in stundenlanges Schweigen und in einen meterlangen Vollbart. War einer so mager, als wäre Verinnerlichung und Auszehrung ein und dasselbe, dann war ein anderer mit seiner Gutgenährtheit so zufrieden, als läge alle Würde des Menschen in seinem Bauch. Bestand der eine nur aus bibbernder Angst, die Gunst des Herzogs und den angenehmen Zugehplatz bei ihm durch kollegiale Intrigen einbüßen zu müssen, so grinste aus der Hochstaplervisage eines anderen der ständige Triumph, die ganze Gesellschaft in der Hand zu haben wie ein Spiel Karten, mit dem man Kunststücke und Kniffe vorführt, die alle erschrecken und in Atem halten. Weibische Jünglinge, zimperlich wie Glasvitrinen, gaben jedem recht – Akrobaten der mückenleisen Geschicklichkeit, durch nichts aufzufallen als durch Nichtigkeit. Aber mitten unter ihnen wieder hing einer den Eisenfresser heraus, spreizte sich breitbeinig hin, sprach nur vom Raufen und Saufen, trank heiße Milch mit Honig, weil er zur Nierenentzündung prädestinierte, zuckte nervös zusammen, wenn ein Messer vom Tisch fiel, und verschwand unsichtbar und lautlos von der Bildfläche, sobald irgendein Unterrock auftauchte. Waren die meisten Protektionskinder, Streber, Vetternpoussierer und Vorwärtstrachter, so fehlte auch nicht ihr Gegenstück, der Arrivierte, der Werturteile und Klassifizierungen austeilte oder zurückhielt wie ein Lorbeerenlagerverwalter, alles nur zu dem Zweck, keinen anderen hochkommen zu lassen. Und sowenig es an hinterkünftig hämischen Witzreißern mangelte, sosehr waren alle zusammen trotz Brotneid und Eifersucht eine Harmonie und ein Herz und eine Seele. Allen ohne Ausnahme gemeinsam aber war die sonderbarste Arroganz, die man in der ganzen menschlichen Gesellschaft finden kann, eine Selbsteingenommenheit und überhebliche Abgrenzung gegen alle Menschen, die nicht genau dasselbe trieben wie sie, die man in irgendeinem anderen Beruf oder Stand vergebens suchen wird. Tag und Nacht quatschten sie von ihren Werken und von sich selbst, und jeder brachte direkt oder indirekt zum Ausdruck, daß das seine das bedeutendste und er der wertvollste sei. Ein Schuster wird sich kaum etwas darauf einbilden, daß er kein Schneider ist, sie aber taten sich etwas darauf zugute, daß sie Dichter waren. Jeder Arbeiter, der drunten die Schloßmauer ausbesserte, jeder gemeine Soldat, der auf Wachtposten stand, war ein ganzer Kerl gegen diese aufgeputzten Pfaue mit gefärbten Bärten, parfümierten Haaren und individuellen Absonderlichkeiten hinten und vorn. Sogar Odette in der Küche unten war eine bescheidene, runde und bunte Persönlichkeit gegen die da oben, die sich aufführten, als wäre die ganze Schöpfung ein verpfuschtes Machwerk und als wären sie eigens dazu nach Blois gekommen, um sie mit Tinte und Feder besser zu machen.
Wir nahmen die drolligen Käuze untern Arm und wirbelten sie 'rum wie Balletteusen, zupften sie am Bart und schenkten ihnen Schokolade, die wir gemaust hatten, wir waren so nett zu ihnen, aber es half nichts, sie waren und blieben erfroren, nichts zu machen. Sie hatten auch ihre ganz eigene Sprache, sagten nicht: er ging, sondern: er begab sich, nicht: er lief, sondern: er eilte, nicht: er kam nach Blois, sondern: er betrat die Stadt, nicht: er war, sondern: er weilte in Paris, oder statt: er ist: ich denke, es könnte unter entsprechenden Umständen möglich sein, daß es der Fall wäre, und aller Wahrscheinlichkeit nach, denn es hat durchaus den Anschein, müßte er meiner unmaßgeblichen Ansicht nach, jedoch wie gesagt, und unter Abstrahierung jeglicher subjektiven Einstellung, möchte ich die Behauptung wagen –
Der Satz ist nur angefangen. Beendet, würde er dieses Buch bis zur letzten Seite ausfüllen.
Sie waren Künstler in der Kunst, aus zwei Sätzen drei Bücher zu machen, sie verwechselten Ewigkeit mit Endlosigkeit.
»Ich weiß nicht,« sagte Franz, »mir ist nicht recht wohl. Was würden die Gockelbrüder sagen, wenn sie uns in dieser Gesellschaft sähen. Wir wären ein für allemal unten durch. Wenn diese Herren Dichter sind, dann werde ich Totengräber. Ich will sie alle unentgeltlich beerdigen. Aber sie morden sich nur mit geistigen Waffen, sie befehden sich nicht, sie befedern sich nur!«
Der musenfreundliche Herzog aber war kein unrechter Mann, ein lebenslustiger, genußfroher Herr, der etwas von Weinmarken und anderen Kulturgütern verstand, ein bißchen operettenhaft aufgestutzt, aber ohne den mindesten übertriebenen Zug, außer beim Trinken. Ich wollte schon in die sehr kostbare herzogliche Bibliothek rennen, um mir seine berühmten Werke anstandshalber auszuleihen, aber Franz packte mich an der Gurgel: »Du bist meschugge! Wir wollten doch eine Partie Bellotte spielen!«
Richtig. Also ließen wir uns einen Krug Saumur geben, direkt vom Faß, um der Traurigkeit des Lebens und anderen weitverbreiteten Krankheiten nicht allzuviel Schwung zu lassen.
Es war am Hof des Orleans so eingeführt, daß von Zeit zu Zeit Dichterkonkurrenzen stattfanden. Da wurde darauflos gedichtet, daß es rauchte, und der Verfasser des schönsten Poems prämiiert und geehrt. Der Herzog ließ es sich nicht nehmen, einen solchen Wettkampf zu veranstalten, solange Villon da war, und gab eines Morgens beim Frühstück kaltlächelnd die Parole aus: »Ich sterbe vor Durst am Rande des Brunnens,« eine etwas schmalzige Tirade, um deren Vereinfachung uns aber nicht bange war, denn wir starben die meiste Zeit vor Hunger am Rande der Küche. Bis zur Abendtafel mußten die Gedichte eingereicht sein. Bei dem darauffolgenden Bankett sollte dann das Preisgericht unter dem Präsidium des Herzogs die Entscheidung treffen.
Jeder zog sich zum Dichten zurück wie eine alleinstehende Dame zum Entbinden. Franz fragte einen der aufgeplusterten Truthähne, ob er ihm nicht seine rosenrote Brille leihen möge, zum Lügen. Ein zerschmetternder Blick strafte ihn.
»Geh weg,« sagte Franz, »mach' dich dünne, oder ick atme dir ein!«
Verachtungsvoll wandte sich der Poet ab.
Die Verlesung der sehr zahlreichen lyrischen Produkte dauerte etwas lang und erinnerte lebhaft an alle ähnlichen literarischen Veranstaltungen. Immerhin hatten wir, solange es uns gelang, die Augen offen zu halten, Zeit, die anwesenden Damen zu beaugapfeln. Ob sich der Herzog diesen Harem nur während der Dauer des Wochenbettes seiner durchlauchtigsten Gemahlin hielt oder auch sonst, ist seine Privatangelegenheit. Die Damen verhielten sich sehr zurückhaltend, gemäß der höfischen Zeremonie und um uns zu zeigen, für wen sie in erster Linie reserviert waren.
Als die Reihe an unsere Poeme kam, herrschte schon erhöhte Gewitterstimmung. Die Bestürzung des Herzogs aber beim Verlesen der Villonschen Ballade und seine Erklärung, daß er François den ersten Preis zuerkenne und eine Fortsetzung der Verlesung für überflüssig halte, richtete eine heillose Verwirrung an. Man debattierte und tobte und drosch mächtig viel leeres Stroh, es ging zu wie in einer Judenschule. Und nun konnten wir hören, was die Süßholzraspler für eine Meinung von uns hatten: Luftikusse, denen nichts heilig ist, unterstandslose Strolche, schwierige Narren, Volksverderber, würdelose Gesellen – das war noch das allerzarteste, was man uns hieß. Denn so beschränkt, wie man meinen möchte, waren diese Leute auch wieder nicht; sie waren viel zu gerissen und zu feige, um nicht zu fürchten, daß ihnen ein Talent wie Villon, sobald er einmal anerkannt war, zur gefährlichsten Konkurrenz werden könnte. Ich wollte ein paar blöde Witze unter die siebengescheiten Hühner hineinlassen, aber Franz hielt mich zurück. »Halt bei Letschn,« sagte er, »sonst wern ma nausbugsiert!«
Der Herzog verkündete den Schluß der Diskussion, stieg langsam und gemessen auf die Tribüne des obersten Preisrichters, richtete das Wort an die giftig schweigende Versammlung und hielt eine großartige Rede, eine Rede, in der er Franz alles Schöne, Gute und Wahre sagte, was man einem Dichter sagen kann, eine Rede, die sich gewaschen hatte, eine prachtvolle mutige und gescheite, eine unerhörte, noch nie dagewesene, revolutionäre und mir ewig unvergeßliche Rede. Leider habe ich diese Rede vergessen, das heißt, ich habe sie überhaupt nicht ganz gehört, ich war, immer noch müde und unausgeschlafen von unserer Wanderei, gleich zu Anfang eingeduselt. Ich erinnere mich noch an gewisse Wendungen wie ›König der Geister im Strolchgewand‹ oder ›Das größte Genie des Jahrhunderts‹, ›Es ist nicht zu glauben, daß in unserer erbärmlichen Zeit eine so gewaltige Erscheinung leibhaftig einhergeht‹, und ähnliche starke Ausdrücke, die einem ja gegen den Strich gehen, besonders wenn sie einen anderen betreffen. Und so wurde denn auch die ganze Hofgesellschaft rot und blaß vor Wut und so gelb vor Neid, als hätten sie sich Grünkernsuppe ins Gesicht geschmiert. Aber sie sollten schon noch auf ihre Kosten kommen. Der Herzog ging nämlich auf Villon zu, reichte ihm die Hand und richtete einige ganz persönliche Worte an ihn. In diesem Augenblick gab mir Franz einen Puff, daß ich beinahe umgekippt wäre. Der Herzog dankte ihm für das große Glück, das er ihm durch sein Gedicht bereitet habe, das meine sei übrigens auch nicht schlecht und komme gleich nach ihm, sagte er, er werde uns eine monatliche Pension aussetzen, so lange wir an seinem Hofe sind, er hoffe, daß es uns möglichst lange gefallen möge, seine Gäste zu sein, und wünsche sich, noch viele unserer herrlichen Dichtungen kennenzulernen, von denen er nie genug kriege. Aber – und jetzt kam's!, so abgöttisch er seine Gedichte verehre, sowenig verstehe er Villon selbst, den Menschen –
Da haben wir's schon! Er muß irgend etwas erfahren haben –
Und so brachte er noch mehr solchen Sums daher. Die großen Tiere, die mit ihren Pinkelversen durchgefallen waren, spitzten die Ohren und waren natürlich sehr befriedigt. »Gewiß, wie ich immer sage, verehrter Herr Kollege, ein Dichter mag er vielleicht sein, wer will das entscheiden – aber der Mensch! Der Mensch taugt nichts, was ich immer gesagt habe! Das Menschliche! Nichts wert! Ist ja auch kein Wunder –,« wie ein abziehendes Gewitter herrschte ein Getuschel und Gemauschel innigsten Einverständnisses.
Daß Franz noch nicht eingeschlafen war, war immerhin eine Leistung. Da sah ich, was ihn wachhielt: ein Paar große ausdrucksvolle Augen, die auf den gefeierten und geschmähten Dichter gerichtet waren, als wollten sie ihn fressen. Ein Blick überzeugte mich, daß die Dame, die so unverhohlen ein mehr als literarisches, ein sozusagen ›menschliches‹ Interesse an meinem Freund verriet, auch sonst aus der übrigen weiblichen Gesellschaft herausfiel. Sie war zwar ebenso teuer und leichtsinnig ausgezogen, frisiert und bemalt, alles frisch gestrichen, und dekolletiert bis zum Nabel wie alle, aber diese Ausstattung paßte doch nicht ganz zu ihr, wie mir schien.
Aber man soll sich über eine Frau nicht zu viele Gedanken machen, bevor man sie kennt. Es ist gescheiter, sich angenehm überraschen als unangenehm enttäuschen zu lassen.
Wir wollten abschieben, denn was sollten wir unter Leuten, die mehr Orden am Rock haben als wir Knöpfe, aber ich bekam scheußliche rätselhafte Schmerzen im Kreuz, die mich zusammenzogen wie einen leeren Geldbeutel, und machte mir Gedanken darüber. Franz erinnerte mich an einen Sprung von einer gewissen Mauer und meinte, es sei sicher nichts anderes. Als wir uns dann verabschiedeten, war der Herzog nicht überrascht, sondern wunderte sich fast, daß wir es so lange ohne Freiheit ausgehalten haben.
Kaum hatten wir das Schloß verlassen, da holte uns ein Bote ein: der Herzog wünsche Villon noch einmal zu sprechen.
Wir schauten uns an. Sollte das Fehlen eines kleinen goldgestickten Teppichs, den wir auf der abschüssigen Seite beim Fenster hinuntergeworfen hatten, bereits bemerkt worden sein?
Ja, so war es.
Der Herzog fragte Franz: »Wieviel, mein lieber Villon? Genügen zweihundert Franken?«
»Mehr wird er kaum wert sein, Durchlaucht!«
Er ließ ihm das Geld aushändigen. Eine Stunde später brachte Franz den Teppich zurück.
Es war März, das Wasser tropfte von Baum und Strauch, als weinten sie vor Rührung über das Ende des Winters, an das sie schon nicht mehr geglaubt hatten. Und nun rückte Franz mit der Farbe heraus.
»Du erinnerst dich doch an die Dame in der Loge?«
Ich erinnerte mich.
»Eine adlige oder gefürstete Dame, was weiß ich, ich habe sie nicht nach ihrem Stammbaum gefragt; sie hat mir erlaubt, sie Madame Maria-Louise zu nennen. Wir unterhielten uns manchmal, ein paar Plauderstündchen, nichts weiter. Ich nenne sie die fremde Frau. Sie paßte unter die Wortquacksalber ungefähr wie wir beide.«
»Das war mein Eindruck auch.«
»›Sie sind Student, Meister der Künste,‹« sagte sie, ›wie kommen Sie von der Sorbonne ins Chatelet?‹
›Die paar Schritte?‹ sage ich.
›Warum haben Sie nicht weiter studiert?‹
›Um zusammenzurechnen, daß man nichts hat, braucht man nicht Mathematik zu studieren. Aus der Geschichte kann man eher noch was lernen: Als man vor Alexander den Großen einen Piraten schleifte, gefesselt wie einen Taschendieb, fragte ihn der König, warum er Seeräuber geworden sei. Räuber? sagte Diomedes, du nennst mich Räuber, weil ich mit meinem Kahn ein bißchen herumfische? Wenn ich ein Heer ausrüsten könnte, wäre ich ein so guter König wie du! Alexander denkt sich, der Kerl gefällt mir, und macht ihn zu seinem Feldherrn. Er hat nie einen besseren gehabt. Wer macht mich zum Feldherrn? Sehen Sie sich vor, Madame!‹
›Was muß man tun‹ fragt sie, ›um dem Mann, für den man sich interessiert, zu gefallen?‹
›Zeigen Sie sich möglichst uninteressiert‹ sage ich.
›Nun‹ sagt sie, ›ich muß gestehen, daß ich ein wenig uninteressiert in Sie bin. Ich fürchte mich nicht vor Ihnen, Sie sind ja ein ganz einfacher, kindlicher Mensch, ein Mensch mit einem Herzen wie ein kleines Mädchen!‹«
Und sie streichelte mich mit ihrer weißen kleinen Hand, die ein wenig zitterte.
»Mensch, ich sage dir – in diesem Augenblick hätte ich Pastor werden können!«
Er schwieg. Und seine Augen waren traurig.
Je mehr ich Franz von Paris abriet, desto toller sehnte er sich hin.
»Es ist nichts in der Fremde! Und doch werden wir vielleicht in der Fremde enden!«
Ich sagte, er soll sich ein Beispiel an seinem Namensheiligen Franziskus nehmen, der die Tiere und Pflanzen, die Fische im Wasser und die Mücken in der Luft geliebt hat; und er sagte, seine Liebe ginge noch bedeutend weiter, und zählte ganze Speisekarten von Vorgerichten, Gemüsen, Fleisch und Bäckereien auf, daß einem ganz schlecht wurde.
Mir graute vor Paris, in dem jedes Hauseck und jeder Pflasterstein Erinnerungen an unser Lumpenleben aufrührt; was geht mich das alte Kaff an, das auf drei Stunden gegen den Westwind nach Benzin und unausgelüfteten Frauenzimmern stinkt. Die ganze Kiste wird ja doch morgen der Teufel holen. Aber es ist nun einmal seine Heimat, er sah nur das Schöne und Verlockende. »Im Mai sind wir da, im Mai, wenn die Spitaler und Krückenfritzen mit eingewickelten Haxen in der Sonne humpeln, vierzehn wollene Tücher um den Hals, die ihnen zu heiß werden, in diesen unglaublichen Tagen unter südlichem Märchenhimmel, wenn alle Schatten licht, alle Winkel erleuchtet und alle Blicke aufrührerisch verschleiert sind, wenn Paris so schön ist, daß man sich der Länge nach auf das Trottoir werfen und in der Sonne wälzen möchte wie ein Hund. Denke an die Feste, den Glanz, Prunk und Aufwand, Luxus und Anhäufung, Schönheit und Kostbarkeit –«
»Die uns unsere Armut erst fühlen läßt!«
»Was schadet's? Die Aufregung, das Atembeklemmende, die Sensation, das herzstockende Staunen, der angestachelte Ehrgeiz, der Wirbel, der rasende Taumel, die große bitterharte Sehnsucht und die tiefe Niedergeschlagenheit vor allem Unerreichbaren, wer möchte das alles vermissen, und wo ist sonst das Leben? Ein gefährliches Pflaster, ja, ein Schritt auf die Straße, und schon geschieht irgendwas, reißt dich mit, zieht dir das Geld aus der Tasche, den Verstand aus dem Hirn, das Hemd vom Leib, nicht einmal im Bett bist du sicher. Die Wände haben geheime Öffnungen, die Häuser geheime Zimmer, die Wirtschaften geheime Keller, die Keller geheime Gänge, Türen öffnen sich von selbst, und herein schlüpft irgendein bezaubernder Teufel – die kleine Kneipe links vom Vater Louviers, erinnerst du dich an die Tochter? Ein reizender Kerl. An dem Tag, an dem ich fort bin, es war sieben Uhr und in der Notre-Dame irgendein Geläute – du weißt ja, diese Glocken, die durcheinandersingen wie Kinder! Und wenn man fort geht, dann singen sie noch ganz anders! Ich blieb stehen und sah mich in Gedanken schon weiß Gott wo. Da kommt die Kleine auf mich zu, steht auf einmal da und fragt mich, ob ich morgen abend kommen will. Ich verstand sie nicht recht. ›Morgen abend?‹ sage ich. ›Was ist morgen abend?‹ – ›Ob Sie zu mir kommen wollen?‹ – ›Natürlich,‹ sage ich, ›warum soll ich nicht kommen? Ich komme morgen abend, gut.‹ – Sie muß aber doch irgendwas gemerkt haben. ›Sind Sie traurig?‹ meinte sie, ›ich werde Sie trösten!‹
Ich war ein Feigling! Ich hätte mich verhaften lassen, hätte meinen Kopf riskieren sollen, damit sie sah, mit wem sie es zu tun hat.
Aber die Liebe wird immer vorsichtiger.
Keiner mehr will für sie sein armes, dreckiges Leben hingeben.«
Il pleure dans mon coeur
Comme il pleut sur la ville.
Verlaine
Drei Jahre sind wir fort gewesen. Und nun gehen wir so dahin, gehen und gehen und kriegen nicht genug, werden nicht satt von dieser verwirrenden und beglückenden Beklemmung: Paris.
Aber es regnet und regnet, und das ist nicht angenehm. Wir sind allmählich müde und können nicht einkehren, begegnen auch niemand, der uns mitnähme, es ist niemand auf der Straße, es schüttet zu arg. Alles tropfnaß wie wir selbst. Stehenbleiben hat keinen Zweck, man kann sich die Schwindsucht holen. Franz muß freilich einmal, ob er will oder nicht, zu seiner Mutter und zum guten Onkel Willi hingehen, aber das eilt nicht. Nur nicht zu plötzlich, damit keines von beiden der Schlag trifft. Aber wo sollte ein Dichter manchmal hingehen, wenn er nicht noch eine Mutter hätte? Man weiß nirgends, wie man es trifft. Man kommt voller Erwartung an und wird nicht einmal erkannt, freut sich, daß man einen wiedersieht, der gar nicht weiß, daß man fort war, und stürzt freudestrahlend auf einen zu: »Na, wie geht's denn, alte Gurke?,« und der sagt dann: »Auf zwei Beinen, wie die Gans.«
Nun ja, daß uns Paris keine Triumphbögen errichtet, hätten wir ja eigentlich im voraus wissen können.
Holla, warum bleibt denn die Dame stehen? Wir sind zwar sehr interessant, gewiß –
»Bewundern Sie uns ruhig, Madame, wir verlangen keine Eintrittsgebühr!«
»Ein Lump bist, du Schelchaug! Was hast du über mich gesagt?«
»Herrschaft, das ist ja Denise! Drum, dachte mir schon, bist mir gleich bekannt vorgekommen!«
»Bist wieder da, ekelhafter Kerl! Gut, das ist mir grad recht! Warte nur, auf dem Gericht werden wir uns wiedersehen! Dieser Mensch, den jeder kennt, diese Schnapspulle, dieser Zuchthausstammgast, hat über mich gesagt: was geht mi die alte Rennsau an mit ihre Krampfadern! Was sagen Sie dazu? Aber Sie sind ja wohl sein Spezi, dieselbe Marke, was –«
Das Gickes-Gackes geht so fort, der Redeschwall, der Zungensalat so weiter. Und der Regen auch. Sie hat wenigstens einen Schirm, aber wir stehen da wie die Wasserspeier. Franz lehnt an der Mauer. »Netter Empfang –« brummt er.
Ich versuche zu vermitteln. »Franz soll einen so ordinären Ausdruck gebraucht haben? Ausgeschlossen, Madame, undenkbar. Muß ein Irrtum sein, irgendein Gerede –«
»Ja, Gerede, das ist freilich ein Gerede, der macht noch ganz anderes Gerede! Was wissen denn Sie überhaupt, Sie oller Dussel! Sind Sie nur ruhig. Sie schauen mir grad so aus –«
»Richtig, man wird mit der Zeit ein oller Dussel. Möglich, daß man unter besseren Umständen vielleicht einige Jährchen jünger aussehen würde, warum nicht. Schon eine Rasur verjüngt ungemein. Sehr liebenswürdig ist es nicht, Madame, unser Alter nach unserem Elend zu beurteilen!«
»Weil ihr so liebenswürdig seid, ihr Windbeutel mit Schlagsahne!« Sie lächelt. »Aber nein, ich werde mich rächen, ich weiß, was ich zu tun habe.«
»Und wenn ich es gesagt habe, Denise, deswegen fällt der Himmel nicht ein. Es gibt Dinge, an die sich zu erinnern wohltuender ist. Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis für hübsche Sachen und ein miserables für Häßliches. Was das Unangenehme betrifft, bin ich sehr vergeßlich. Jeder nach seinem Geschmack. Wenn ich bloß rasiert wäre, ich wäre zu jeder Versöhnung bereit. Wir werden dinieren, Denise –«
Sie hört nicht, es regnet und hagelt Scheltreden, und wir hören sie auch nicht mehr –
Nun scheint sie doch verschwunden zu sein.
Sie hat ihn später wegen Ehrenbeleidigung verklagt, und er hat ein paar Tage brummen müssen. –
Am Nachmittag ist es schön geworden, die Bänke sind schon trocken, der Wind hat sich gelegt, wir können uns unter den Bäumen hinsetzen. Die Frauen gehen spazieren, die Kinder spielen. Ein dreijähriger Blondschopf pflanzt sich vor uns auf und fängt mit uns zu quatschen an, ein schöner Kerl, frech, mit lustig sprühenden Augen. Die Mutter, eine junge Frau, ruft ihn: »François! Komm, wir gehn! François!«
Der Kleine: »Laß mich doch, Mutti, siehst denn nicht, daß ich mit dem großen Mann sprechen muß!« – Die Mutter dreht sich weg und schaut nicht mehr her. – »Mein Papa ist fortgereist, nach Angers. Mein Papa ist ein Poet! Er hat viele Gedichte gemacht, alle Gedichte hat mein Papa gemacht!«
»Alle vielleicht nicht, Franzi, alle hat er nicht gemacht, weißt du, aber vielleicht die schönsten, die es gibt!«
»Ja, die schönsten! Aber alle auch! Hast du Kopfweh?«
Die Frage gilt dem großen François. Der ist zusammengesunken. Sein Gesicht, sein armes verkommenes Gesicht verdeckt er mit den Händen. Und sieht auf und geht.
Langsam verschwindet er hinter den Bäumen, schleppend, wie erschlagen.
Himmel, Teufel, das ist aber auch wieder eine Geschichte –
»Mein Freund geht heim, weißt du, weil er Kopfweh hat, er wird sich niederlegen. Er ist reif zum Heimgehen.«
»Reif – was ist das?«
»Reif, na ja, das ist eben, wenn einem alles weh tut, Füße, Arme, Zähne, Haare, der Kopf und das Herz. Dann ist man reif zum Heimgehen!«
»Ich bin noch nie reif gewesen!«
»Das macht nichts, das kommt schon noch.«
»Ich will aber nicht heimgehen!«
»Da hast du auch recht! Was ein richtiger Mann ist, der geht nicht gern nach Hause, kleiner François! Wie heißt du denn noch, sag' mal?«
»François –«
»Stimmt. Und deine Mutti heißt Marion la Peaudarde, wenn ich nicht irre. Ja, ich weiß es schon. Ich möchte dir ja gern einen Kuß geben, aber ich hab' heut nicht den richtigen Anzug angezogen, weißt du. Wenn man einem so schönen Mann, wie du bist, einen Kuß geben will, dann muß man auch feine Kleider anhaben, das ist doch logisch!«
»Ach wo, mir sind die Kleider schnuppe! Willst du einen Kuß haben?«
Er hält mir seine Wange her. Sie ist so weich und seidenglatt, zärtlicher als die jungfräulichste Mädchenbrust. Ich küsse ihn recht vorsichtig, aber er zuckt doch zurück. »Du piekst, du hast viel Nägel im Gesicht!«
»Ja, ich muß mich rasieren lassen, höchste Zeit zum Einsteigen. Und wenn ich deinen Papa sehe, dann werde ich ihm sagen, er soll dir ein großes Pferd schenken!«
»Wie groß?«
»Es muß noch größer sein! Sooo groß!«
»Also gut, noch größer, wird gemacht! Auf Wiedersehen, mein François!«
»Wiedersehn! Vergiß aber das Pferd nicht!«
»Was essen? Ich werde doch dein Pferd nicht essen!«
»Du bist dumm! Vergessen!!«
»Ach so, vergessen, nein, nein, ausgeschlossen, ich habe noch nie ein Pferd vergessen, wenn es grad billig zu haben war!«
Er saust zu seiner Mutter hin und erzählt ihr, daß er ein sooo großes Pferd kriegt.
Aber die hört nichts. Sie preßt sich das Taschentuch über beide Augen wie eine Binde.
»Loin de t'oublier
Je vais mieux t'aimer
Pour me venger –«
Neue Aufregung: er hat einen Brief von Catha bekommen, und schon richtet er sich wieder auf wie ein Ertrunkener, an dem man mit Erfolg Wiederbelebungsversuche angestellt hat. Vielleicht hat sie die Polizei schon im Hause und läßt ihn festnehmen – soll er in sein Verderben rennen.
Obwohl er weiß, daß sie sich alle Augenblicke lang von einem anderen aushalten läßt, obwohl er weiß, daß sie nichts liebt als das Geld, obwohl er weiß, daß sie ihm den Tod Liebmittels nie verzeihen wird, obwohl er ihr jeden Pfennig, den ihm Margot gegeben, hintrug, sich ihretwegen das Abendessen verkniff und sie sich nur über ihn lustig gemacht hat – er kommt nicht von ihr los.
»Sie liebt mich nicht mehr, weil ich kein Geld habe, das ist alles. Sie ist geldgieriger als das Finanzamt. Arm oder reich, das ist ihr gleich, wenn er nur Geld hat. Es hat mich gequält, daß auch sie sich verkauft, auch sie! Aber was willst du? Der Lauf der Welt. Alles in diesem Leben ist käuflich, der schönste Leib und der teuerste Geist. Alles ist Geld und Geld ist alles. Die Geld haben, sagen: Geld ist Nebensache. Absolut richtig: wenn man es hat, ist es nicht mehr wichtig. Dann hat man andere Sorgen!«
Er ging zu ihr wie der Fuchs in die Falle. Vorsichtig ist er nicht, aber feig auch nicht. Sie trat ihm pathetisch mit einem Schießeisen entgegen, das womöglich auch noch geladen war, und erzählte ihm in wohlgeordneter Prosa, daß sie ihn töten werde, weil er ihr den Geliebten getötet habe. Es war nicht gerade angenehm. Eine Waffe in den Händen einer Frau ist um so gefährlicher, als sie nicht mit ihr umzugehen weiß.
»Sterben?« sagte er ganz ruhig. »Von deiner Hand gern. Aber eine Minute Zeit kannst du mir ja noch schenken, man stirbt nur einmal. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich dich umstimmen will. Ich möchte mich nur überzeugen, ob du bei Vernunft bist. Dann kannst du losschießen. Es liegt nicht in meinem Charakter, durch Zufall und Unfall zu sterben, so wie andere auf der Treppe ausgleiten und sich das Genick brechen, oder von der Kugel eines Irrsinnigen ausgeblasen zu werden, der in die sonntäglichen Spaziergänger hineinknallt. Ein solcher Tod würde ein schlechtes Licht auf meinen Charakter werfen. Hingegen von der Hand der Geliebten sterben, im Rinnstein enden oder auf dem Galgen, sind Todesarten, die nichts Verstimmendes für mich haben. Unsereiner weiß, wo er landet. Ich habe einmal davon geträumt, daß wir gemeinsam sterben sollen. Warum nicht, da wir gemeinsam gelebt haben. Es ist dasselbe. Aber es ist mir auch so recht. Ich bin noch nicht alt, noch einigermaßen frisch und kräftig – aber nicht mehr neugierig. Du bist die einzige Frau, die ich geliebt habe, man weiß es hernach von Jahr zu Jahr sicherer. Dein Wille ist der meine und deine Hand mein Schicksal, wie es von jeher so war. Ich verlasse das Leben durch dich, ob heute oder ein andermal, das ist nicht mehr wichtig. Du bist der Grund, warum ich sterbe. Sowieso. Aber wer möchte von Schuld sprechen? Und darum darf dich auch keine Schuld treffen. Laß mich aufschreiben, daß ich freiwillig gehe, dann bist du entlastet und kommst nicht mit den Gesetzen in Konflikt, die die echtesten Regungen verbieten und das beste Leben verpfuschen.«
Catherina, deren Augen immer größer geworden waren, legte ihren Polizeirevolver, der durch einen unerklärlichen Zufall nicht von selbst losgegangen war, weg, und brach in ein leises Schluchzen aus.
Da sah er denn, daß das Schießen heute nicht mehr stattfinden wird.
Immer noch in dem hanebüchenen Zustand, in dem wir von der Landstraße gekommen waren, auf schiefen Hacken, mit dreifach zusammengeflickten Schuhschnüren, und so wie die Schuhe war alles, in solchem Aufzug zu einer Frau zu gehen, ist ein gewagtes Unternehmen. Aber endlich ging ich doch zu Lolie. Wenn ich hätte warten wollen, bis ich mir einen neuen Anzug leisten kann, dann hätte ich sie wahrscheinlich überhaupt nie mehr gesehen.
Keine Frau nimmt mich auf wie sie. Sie findet alles schön an mir. Sie ist auch nicht geldsüchtig, wenn sie auch ganz gut rechnen kann. Sie wird mich auch nicht erschießen wollen, aber ich habe ihr auch noch keinen Freund getötet – da hätte ich viel zu tun.
Franz ist zu Margot gegangen.
Sie sei gleich an seine Seite gerückt, erzählte er, hätte ihn angeschaut, sich an ihn gelehnt und ihn wieder betrachtet.
»Sie hat mich gern. Sie drängte mich, nicht viel zu trinken und bald schlafen zu gehen. Sie ließ mich nicht fortgehen, gab mir Geld und war immer um mich, wenn sie nur eine Minute frei war. Ich bin ein liebebedürftiger Mensch. Aber ein Mensch, der im Leben etwas erreichen will, darf kein solches Bedürfnis haben. Und ich habe es im höchsten Maß! Ich hänge von den Launen eines Weibes ab, wie ein alter Gichtknochen vom Wetter, das ist meine Krankheit und mein unverzeihlichster Fehler. Es gibt keine Aufgabe, die zu unterschätzen wäre, selbst Zuhälter sein, erfordert einen ganzen Mann. Ich aber habe nicht einmal dazu Talent. Ich kann nur lieben und geliebt werden. Jede Bewegung von ihr ist mir ein Zeichen, entweder ein gutes oder ein schlechtes. Jeder Blick, jedes Wort, jede Geste ein Ereignis. Ob sie sich links herum legt oder rechts herum, wie sie sich zu mir legt, wo sie Arme, Hände und Beine hintut, das alles beobachte ich, alles spüre ich, alles wärmt oder schreckt mich, tut mir wohl oder weh. Sie hat mir alles von den Augen abgelesen, mir alles vor die Nase hingerichtet, hat mich geküßt und gefüttert, gestreichelt, gewaschen und gekämmt und meinen Kittel geflickt.
Gestern früh stehe ich auf, um hinauszugehen. Ich komme zurück, trinke einen Schluck Wein, den sie mir hingestellt hat, und will wieder zu ihr hineinschlüpfen, da, wie ich mich zufällig umdrehe, fange ich einen Blick auf, als ob sie sich dächte: was will denn der alte Esel, er wird doch nicht wieder hereinkommen! Soll mich schlafen lassen! – Sie hat wohl angenommen, ich will schon weggehen, und sich gleich der ganzen Breite nach übers Bett gewälzt!«
»Ach was,« sagte ich, »das ist doch weiter nichts. Sie war halt müde und schläfrig.«
Und ich durchforschte mein Gedächtnis, ob sich Lolie auch einmal lieblos gegen mich benommen habe.
»Zuerst,« erzählte Franz weiter, »wollte ich ihr eine auf den Schädel geben, daß die Haare davonfliegen. Aber dann habe ich mich angezogen. Ich möchte wissen, ob ein Weib überhaupt lieben kann –«
Wir gingen einen trinken. Und ich bat mein Schicksal im stillen, das Glück der Liebe möge mir günstig bleiben.
»Ich weiß, daß sie mich mag,« fing er wieder an. »Es kann keine Heuchelei sein, so wie wir es getrieben haben! Eines von den Biestern glaubte bemerken zu müssen, daß ich schon grau werde – sie hat es nicht gesehen. Sie hat den Tag noch gewußt, an dem ich das letztemal bei ihr gewesen bin, und das sind doch jetzt drei Jahre. ›Das letztemal war es ein Sonntag, der Stephanstag,‹ sagte sie, ›und jetzt bist du am Montag gekommen.‹«
Er nahm sein Glas. »Prost, Alter! Und außerdem kann sie mich gern haben!«
Und er schüttete das ganze Glas auf einen Zug hinunter.
Bei Madame Voisin traf ich meinen alten Freund Maurice. Er zog mich beiseite und erzählte mir Neuigkeiten, aber keine guten.
»Die Sache von Navarra ist aufgekommen! Man hat die leere Kiste in der Sakristei gefunden. Die Kerle schauen ja nach jedem Vaterunser nach, ob ihr Geld noch da ist. Mächtige Aufregung, es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Um sieben Uhr früh, wenn anständige Leute nach Hause gehen, trotten also zwei Untersuchungsrichter, denen der Aktenstaub aus den Perücken raucht, zur Schule 'nüber, der alte Mauhaut mit seinem Gesicht wie ein abgewetzter Radiergummi, und Herr Jean de Four, der bei der Nasenverteilung zweimal ›hier‹ geschrien hat, wenn nicht dreimal. Die ganze Administration auf den Beinen. Der Pedell, für den ich manchmal einen Gang mache, hat mir alles erzählt. Der Herr Schulleiter, Herr von Starkburg mit seiner zersprungenen Fassade, die er bald zum Schreiner tragen muß, bevor sie ihm ganz aus dem Leim geht, dem Kerl steht die Gurke so verdammt krumm im Gesicht, als hätte es noch kein Winkelmaß gegeben, wie ihn sein Vater gemacht hat. Dann drei Doktoren von der Theologie, verbittert und verknittert wie ausgetrocknete Zitronen, und der Schnauferlenz, der Pedell. Dem hat nämlich auch was von dem Geld gehört! Der ist am Opferstock prozentual beteiligt! Wenn er in die Kirche geht, taucht er bis zum Ellenbogen in den Weihwasserstein wie ein Hecht, weil er meint, er kommt dann eher in den Himmel. Früher war er jeden Tag hier, seine Nase spielte alle Farben wie eine Fensterrosette in der Notre-Dame. Jetzt erlaubt er sich nur mehr dreimal in der Woche einen Ordinären, halb mit Wasser; seitdem ist sein Zinken blau wie ein Eiszapfen. Die Magistratsbeamten gaben Befehl, alle Hauseingänge abzuschließen, damit diejenigen, die vor einem halben Jahr eingebrochen sind, nicht davonlaufen können. Dann ging es in die Sakristei. Es hatten sich noch ein paar Untersucher dazugeschlagen, drei Wachtmeister, schwer bewaffnet, und der Herr Schulvorsteher, der ausschaut, als wäre ihm seine Alte mit dem Bügeleisen über die Schnauze gefahren, oder als wäre ihm bei einem Fürstenbegräbnis der Kopf vor lauter Ergebenheit unter den Sarkophagdeckel gerutscht. Die ganze steiflederne Blase beisammen, lauter Burschen, die die Farbe von dem Pergament angenommen haben, mit dem sie leben. Sie riechen, wie wenn du die Tür von einem Speicher aufmachst, in dem die Gerichtsakten unter dem herabgefallenen Mörtel begraben liegen. Alle steckten ihre Rüssel in die leere Geldkiste und konstatierten, daß sie leer war. Dann begaben sich die Untersuchungsnasen in das Zimmer des Herrn Schuldirektors und in die Lehrerzimmer, stelle dir vor, und schmissen alles durcheinander wie ein Erdbeben. Vielleicht saßen die Diebe im eigenen Haus? Alles schon dagewesen. Aber sie fanden nur ungewaschene Schnupftücher, leere Schnapsbutteln und ein seidenes Damennachthemdchen. Der Lehrer Landner sagte, das Hemd sei von seiner Schwester. ›Das wäre ja noch schöner, hehehe!‹ meckerte der alte Mauhaut, und die drei Theologen schlugen das Kreuz, daß man es bis auf die Straße herunter hörte. Die Kommission ordnete die Untersuchung der erbrochenen Schlösser an. Es rückten neun Schwachverständige an, sieben Schlosser vom Lateinerviertel und zwei von der Neustadt. Die neun Eisenfresser wurden vereidigt und dann auf die Schlösser losgelassen. Sie stellten nach genauer Untersuchung fest, daß die erbrochenen Schlösser erbrochen waren. Die Untersuchung war beendet, das Protokoll zweihundertsechsundvierzig Seiten lang.«
»Wir hätten die ganze Bude anzünden sollen!« sagte ich.
»Ohne den großmäuligen Dappenhelm wäre heute noch nichts heraus. Seinem Geschwätz habt ihr es zu danken, daß man weiß, wer dabei war. Nach einem Jahr haben sie ihn erwischt. Er hat sich natürlich als der Unschuldigere hingestellt, das hätten wir auch getan. Sie haben ihm mit dem großen Schraubstock die Stimmbänder ein wenig gelockert, aber mehr als er wußte, kam nicht heraus. Seitdem sucht man euch.«
Wir gingen und verschwanden noch in derselben Nacht.
In Saint-Generoux, als wir so durchstrichen, begegneten wir zwei Mädchen, die sehr gut aussahen. Es war nicht einmal uns leicht, gleich herauszukriegen, ob sie barmherzige Schwestern von der horizontalen Fakultät oder Privatgöttinnen von großen Herren oder gar nur seriöse Familientöchter mit abenteuerlichen Gelüsten waren. Da wir nicht zu den Leuten gehören, die sich schlaflose Nächte bereiten über das Seelenheil junger Damen, die womöglich gar keine Seele haben und trotzdem ganz vergnügt sind, blieben wir stehen. Sie waren ungefähr gleichaltrig, beide reizende Hutschönheiten, beide gut gebaut, eine etwas stattlicher und kecker, die andere eine Idee schlanker und zurückhaltender. Sie ließen sich gern aufhalten.
»Wie geht's, wie steht's?«
Die Dicke: »Tiens, Pariser!«
Franz: »Des kennst.«
Ich: »Als Maurer!«
Franz: »Was seids ihr für Gwachsa?«
»Aus Poitiers. Zwei Jahr Paris.«
»Und jetzt –,« er drehte sich nach links und nach rechts um, »in dem Kaff?«
Ihre Augen vergrößerten sich: »Auch kein schlechter Dialekt!«
»Wie denn, die Mundart?«
»Und die Gesten!«
Franz, halb zum Gehen weggedreht: »Also gebts uns Unterricht!«
Die Kecke hing sich an ihn, die mehr Schüchterne blieb stehen. Sie war recht jung, nicht mehr wie siebzehn, lachte so sonderbar. Wir schauten uns an – ich kannte mich aus.
»Ich weiß nicht, was du an mir gefressen hast?« sagte ich abwehrend.
Ihre Augen, die so poliert glänzten, verdunkelten sich, der Mund wurde schmal und ernst, sie lehnte sich an mich und schaute von unten herauf.
Wir nahmen zu zweit nicht mehr Platz ein als einer allein. Wir rührten uns nicht. Wer vorüberging, wich mit Respekt aus. Es war, als gingen die Leute leiser, um uns nicht zu wecken.
Vor der Liebe haben die Franzosen Ehrfurcht wie kein Volk der Erde. Sie sind imstande und tun vor einem Liebespaar den Hut herunter, wie vor der Majestät des Todes, wenn ein Leichenzug durch die Straßen geht.
Liebe und Tod sind wohl auch miteinander verwandt.
»Gehn wir?«
Sie drückte sich an mich, sie verschwand schon fast in mir, und gab mir lauter kleine Küsse, einen nach dem anderen.
Es wäre bedeutend praktischer gewesen, wären wir per Arm gegangen, Hand in Hand, oder getrennt. Die Kleine, als wären ihre Beine gelähmt, ließ mich nicht los und ich sie auch nicht. Wir kamen sowieso nicht vom Fleck und blieben auch noch jeden Augenblick stehen.
Mein Freund mit seiner Musch war längst verschwunden.
Man könnte mich in Stücke hacken, ich weiß nicht, wo wir hingegangen sind. Ich sah kein Haus und keine Straße. Vierzehn Tage später war ich noch genau so blind.
Es war da eine Treppe, auf der wir hinaufwankten oder flogen, dann ein Gang, dann ging die Tür auf und schloß sich wieder. Und dann lehnten wir innen an der Tür, ich weiß nicht wie lang.
Mein Hut war heruntergefallen, sie strich mir über den Kopf. Es war um so netter von ihr, als ich damals schon nicht mehr ganz über den einstigen Schmuck meines Hauptes verfügte. Ich dachte an die beliebte Romanphrase, ›die reife, sinnliche Frau wühlte in den üppigen Locken des jungen Mannes‹ – sie aber liebte meine armen, wirren Strähnchen. Kleine Mädchen lieben manchmal eine alte, ramponierte Puppe am meisten. Wer begreift die Frauen. Wenn man sieht, wie sie ein Neugeborenes herzen, das häßlicher ist als ein Pavianjunges, welcher ausgereifte Mann möchte da kein Embryo sein.
Wenn sie morgens hinunterging, im Laden etwas zu holen, dann veranstalteten wir eine Abschiedsszene, als würde sie zu Fuß nach Indien gehen. Ein Kuß, der nie endete, der nur unterbrochen wurde, um von neuem zu beginnen, sich in viele kleine zerteilte wie eine Rakete, die in Sterne auseinanderfällt, das ganze Gesicht bedeckt und die Augen verbrennt und dann wieder in den Mund mündet, warm und weich, zart und begierig. Sagte ich dann an ihrem Ohr, leise, damit es nicht stört: »Mußt du nicht was holen?«, dann, verflucht, dieses tiefe, warme »Nein –«, mehr Seufzer als Wort. Und dann vergaßen wir wieder alles und ließen die Zeit gehen, als säßen wir am Ufer eines Stromes, über dessen Flut die Augen verwirrt hingehen. Waren es Stunden? Tage? Minuten? Oder lauter Ewigkeiten?
War sie hinausgegangen, dann horchte ich an der Tür, wie sich ihre Schrittchen entfernten und wiederkamen. Und dann die Begrüßung: diese Augen!
»Bist du wieder da?«
»Ja, ich bin wieder da!«
»Du warst lang fort!«
Tief: »Ja! – – –
Wir schauten uns in die Augen, aber als sähen wir in ihrer dunklen Unendlichkeit etwas, das kein Mensch ertragen kann, machten wir sie zu und blickten nach innen ins Endlose.
Manchmal gingen wir freiwillig auseinander, ich an das eine Ende des Zimmers, sie an das andere. Wir schauten uns nicht an. Dann drehte entweder ich oder sie zuerst den Kopf, und dann lachten wir wie über einen Heidenspaß, fielen aufs Bett und lachten wie toll. Einmal spürte ich dabei, wie ihr Auge feucht war.
Ging sie zum Herd, dann begleitete ich sie. Der Weg war sehr lang. Sie stellte die Milch hin. Nach einer halben Stunde merkten wir, daß das Feuer nicht angezündet war. Ich zündete an. Und dann verbrannte alles.
Es waren Möbel und verschiedene Dinge im Zimmer. Ich sah sie nicht an, sie waren alle eifersüchtig.
Welche Spielereien trieben wir! Es gibt nichts so Kindisches, das uns nicht einfiel. Keine Stelle an ihrem Körper, die ich nicht hundertmal geküßt habe. Nichts wurde versteckt, nichts versagt, und alles blieb Geheimnis.
Und soll es auch bleiben. Ich würde von der ganzen Geschichte kein Wort sagen, weil man sie ja doch nicht erzählen kann. Wie soll die Süßigkeit von Gefühlen, die weh tun, und der Schmerz, der wohl tut, Worte gewinnen. Ich würde nicht davon angefangen haben, wenn es nicht Frauen gäbe, die gerne von der Liebe lesen, von der man nichts erzählen kann.
Eines Nachts, wir lagen auf dem Bett und träumten offenen Auges, ich von ihr, sie von mir, klopfte es. Eine Frau, ein altes Weib, verlangte Einlaß. Das erstemal, daß uns jemand störte.
Sie nahm ein Messer, trennte ihren Rocksaum auf und gab mir einen Zettel: »Dicke Luft. Gehe um vier Uhr nach Westen hinaus, dann nach der Ostseite, eine halbe Stunde bis zur Tankstelle, hinter der Mauer. F.«
Na ja, das kommt davon –
Ich gab der Alten ein Trinkgeld und der Kleinen den Zettel. Sie las ihn und lachte mich an.
»Du lachst? Du bist wohl nicht ganz –!«
Sie, ganz tief: »Sei nicht traurig!«
Ohne ein Wort ging ich hinaus und sah mich nicht mehr um.
Ein paarmal kehrte ich um, dann kannte ich mich nicht mehr aus. Ich hätte mich gern fangen lassen, um im gleichen Ort bleiben zu dürfen. Aber leider hatte ich kein Pech.
Von da an, wenn ein Paar in eins verschlungen und verkrallt, verschmolzen und verbohrt dahinging, als ob die Welt nicht da und die Menschen Nebel wären, sagten wir, indem wir uns anschauten: »Der Dialekt von Poitiers!«
Sag', was hilft alle Welt
Mit ihrem Gut und Geld,
Alles vergeht geschwind
So wie der Rauch im Wind.
Als wir wieder an der Loire aufwärts schoben, wollte Franz nirgends bleiben und rasten, so daß mir ein Licht aufging –.
»Du willst doch nicht vielleicht diese Papperlapappdichter wieder besuchen?«
»Warum nicht!«
Ich wußte wohl, was ihn nach Blois zog. »Pressiert denn das so?« fragte ich unschuldig.
Wir blieben aber nicht lange. Unser Weg habe uns vorübergeführt, sagten wir, wir wollten darum nicht unterlassen, und so weiter. Der Herzog versicherte uns seines dauernden Interesses. Wenn wir Hilfe brauchten, betonte er immer wieder, sollten wir uns nur an ihn wenden.
Wie meinte er das? Wir brauchten ja doch Hilfe.
Die poetischen Wachsfiguren lehnten immer noch herum.
So ganz nebenbei erkundigte sich Franz auch einmal nach der Dame Marie-Louise. Nur so in der Küche oder im Gespräch mit einem Pferdeknecht.
Er scheint keine erfreuliche Auskunft bekommen zu haben. Ich hütete mich, ihn zu fragen.
Als wir durch den Ort gingen, spielte ein Lehrer oder ein Pfarrer auf einem Cembalo. Wir blieben stehen. Ein kirchliches Lied, ein Lied von der Vergänglichkeit –.
Den ganzen Tag wechselten wir kein Wort. Abends kehrten wir ein. Franz, ganz fahl geworden, sah alt und verfallen aus.
Er hob seinen Krug, aber er hatte den Tatterich, sein Arm zitterte, er stellte den Eimer wieder hin und legte die eiskalte Hand auf meine.
»Denken müssen, daß alles vergeht, auch sie! Ein Leib, so kostbar, zart, seidenglatt und durstig, ein Geist, schwebend wie ein Glockenton, ein Herz, so mild und heiß wie Sonnenaufgang – und dann nichts mehr, nichts, nichts. Erinnerst du dich an den Fleischhaufen auf dem Friedhof des Innocents: stinkend, ekelhaft, ganze Berge von Knochen, auseinandergefallene, zerbröckelte Gerippe, die Galerien, Gewölbe, Stockwerke voll Knochen, die untersten schon Staub! Fremde und Bekannte, Feinde und Freunde, Arme und Reiche, Kraut und Rüben! Die sich nicht riechen konnten. Arm in Arm, die Schwachen und Bedrückten mit den Hochmütigen auf einem Haufen, die besten Freunde und Liebenden getrennt, der mich mißhandelt und getreten hat, unter mir, das hübsche stolze Mädchen mit dem feinen Mund neben dem ekelhaften Affen, der sich seine Triefaugen nach ihr ausgekegelt hat – jetzt sind sie vereint wie im Bett. Die Toten nur die Unterlage der Lebenden, die Lebenden nur das Fußkissen ihrer Nachfolger. Sie essen, schlafen und lieben, und auf einmal liegen sie unten. Nun trampeln die anderen auf ihnen herum, aber nur einen kleinen Augenblick, schon liegen sie unten und sind selbst die Getretenen. Warum bleibt niemand übrig? Ein einziges Weib nur wenn am Leben bliebe, schön, jung und lebendig, ich gäbe ihr mein Blut, sie sollte mich austrinken und meinen Kadaver zum Fenster hinauswerfen, damit sie übrig bleibt. Wir löschen uns sowieso aus, fallen mit jeder Umarmung ins Grab, kehren in jeder Wollust ins Dunkel zurück. Wie schön ist die Tochter! Hat es je so eine Zauberblüte gegeben, seit die Sonne scheint? Selbstverständlich, die Mutter war genau so schön, aber sie ist schon ein Unkrauthaufen. Warum herrscht keine Auswahl beim Tod, wie bei der Geburt? Von hunderttausend Kaulquappen kommen nur hundert, nur die Besten, Stärksten und Glücklichsten ins Leben. Warum müssen alle hundert verrecken, warum leben die Glücklichsten unter ihnen nicht tausend Jahre länger? Bedenke, was wir leisten könnten, wenn der Tod nicht blind wäre! So aber hast du nichts getan, als das Vorwort zu deinen Werken geschrieben, und mußt schon weg, um irgendeinem Platz zu machen. Warum, warum? Ich halte es nicht aus und sehe es nicht ein. Weißt du noch, wie wir als Kinder die Kröten gesteinigt haben, um zu sehen, wie lang sich das Biest noch rührt – es war dieselbe Frage. Ich glaube dieses Ende einfach nicht, es kann nicht möglich sein, es ist zu stupide –.«
Schön ist das Tourainer Land, das Herz Frankreichs. Hinter Orleans gehst du im breiten, grünen, von spielerisch überwucherten Felsenhöhen eingesäumten Loiretal abwärts durch einen einzigen Garten. Es ist, als ob du aus einem üppigen flämischen Gobelin in den anderen, immerzu aus einem heraus und in den anderen hineinspaziertest. Große und kleine Herren haben sich hier Schlösser gebaut, sehr große Herren darunter, wie die Orleans, die ihr Schloß breit, schwer und massiv, eine Stadt für sich, über Blois hinaufgestellt haben, und ganz gewaltige Herren wie der elfte Ludwig, der sich in seine größenwahnsinnige, drohend steil aufschießende, unnahbar heruntergleißende Amboiser Steinfestung verschanzt hat, in das böse Schloß, in dessen weitem Innenrundturm die Herren Kavaliere bis zum Speisesaal hinaufreiten können. Einen kleinen Steinwurf weit von seinen Fenstern bohren sich hinter wucherndem Rasen und finster schweigenden Bäumen die Oubliettes in den Abgrund, man weiß nicht wie tief.
Hier traten wir etwas leiser auf und machten, daß wir über die Brücke hinüberkamen.
»Schaug, daß d' in Schwung kimmst!« wisperte Franz. Er wagte nicht umzuschauen. Wir waren froh, als wir, von tropisch wucherndem Gebüsch verschluckt, die blendende Front nicht mehr drohen sahen.
Es ist kein Ort, nicht der kleinste, ohne sein Schloß. Es sind überhaupt keine Orte, sondern nur ein paar nebensächliche Häuschen und außerdem nichts als eine Kette von Burgen, Villen, Schlössern und Schlößchen. Vor einem solchen, gegen Tours zu, blieben wir stehen. Es war eines von den kleinen, friedlichen, und doch kann man den Park nicht überblicken, aus dem seine freundliche Fassade schimmert. Wie leuchtend grün ist der Rasen, wie gepflegt, gekämmt und gebürstet, glatter und weicher als unsere unrasierten Visagen. Die Blumenbeete, in Goldgrün eingelegte bunte Ornamente, sehen aus wie farbige Stickereien; und wie säuberlich und feierlich stehen die Zypressen, Zedern, Palmen und Feigenbäume, die viele hundert Jahre alten Fichten und die blühenden Magnolien da, wie große Herren und Damen im Feststaat. Sicher muß die Dienerschaft alle Blätter abstauben, mit Seife waschen und mit Putzpomade polieren. Sicher haben die Fliegen Unterröckchen an, damit sie sich abends nicht verkühlen. Aber zu sehen ist niemand, alles still, so still, daß man unsere Flöhe husten hört, still, blühend, duftend, schwül, schwer von sickernder Silbersonne, feierlich heiter. Die Vögel üben Liebeslieder und flöten sorglos wie Götter. Da stehen ja auch einige im Park, wie ich sehe, aus Stein zwar, aber recht anmutig und lebendig, steinerne Leiber, weiße marmorne Weiber, die sich mit übertrieben schamhafter Bewegung die Hand vor Busen und Bauch halten. Wozu denn, seid ihr nicht genug geschützt und verdeckt? Hängen und drängen nicht Blumen in allen Farben wie ausgeschüttet aus Vasen und über Mauern, daß man glaubt, sie herunterrieseln zu hören, und kaum eine Lücke findet, um durch das Gitter blicken zu können!
Süß und leicht ist das Leben in der Touraine, das ist wahr, aber Verallgemeinerungen sind immer falsch.
Eine Zeitlang sagten wir gar nichts. Müder als neugierig lehnten wir an dem hohen schmiedeeisernen Portal. Franz schien auf den runden Tisch zu starren, der vor dem Hauseingang auf dem Rasen stand, weiß gedeckt und mit Porzellan, Kristall, Blumen und Servietten in reizender Unordnung paradierend, als warte er auf einen Stillebenmaler.
Ich glaube, wir haben eine Zeitlang vergessen, daß wir da waren.
Es war Zeit, daß wir uns gegen so viel Schönheit und Luxus verteidigten, wenn unsere vagantische Würde und Selbstbehauptung nicht ganz in die Binsen gehen sollte.
»Welchem siebenbäuchigen Landhausbesitzer mag dieses frisierte Paradies gehören?« brummte Franz.
Nun, vielleicht einem Kardinal oder einem Pariser Autoreifenfabrikanten oder einem reichen Tourainer Weinhändler, was interessierte es mich schon.
»Seine Eminenz scheinen bereits gefrühstückt zu haben!« sagte ich. »Es macht schon recht warm – er wird sich mit der gegenwärtigen Dame seines Herzens in ein kleines, verhängtes Lustgemach zurückgezogen haben.«
»Wobei er unbedingt recht tut!«
»Die Blumen schauen mit lüsternen Augensternen. Vielleicht –«
Einige Akkorde eines Flügels klangen auf, als wären die herabhängenden Blüten aus Glas und würden aneinander geschlagen. Schon die zwei ersten Takte sagten es dem gierigen Ohr, was es war: mozartische Süßigkeit.
Und jetzt eine Frauenstimme:
»Säume länger nicht, geliebte Seele!
Sehnsuchtsvoll erwartet dich die Freundin.
Noch leuchtet nicht des Mondes Silberfackel,
Ruh und Frieden herrschen auf den Fluren;
Der Westwind schmeichelt und die Wellen flüstern,
Jede Nerve ist entzückt erregt – – –«
Wie hätte ich nicht an Lolie denken sollen –.
Aber ich ließ ihm nicht merken, daß mir die Sache naheging.
»An Gemütsnahrung ist nie Mangel!« sagte ich trocken. »Wenn wir an der Stelle des Herzens einen Magen hätten, wären wir fein heraus!«
Er schwieg. Sein mageres Gesicht sank zwischen die eisernen Gitterstäbe, als wäre er in einem Käfig.
»Die Blumen duften auf den warmen Wiesen,
Alles lockt und verführt zur Liebe.
Komm doch, mein Lieber!
Laß mich nicht länger warten,
Komm, Geliebter, daß ich mit Rosen kränze dein Haupt!«
Er ist wie versteint, der Mund zusammengepreßt, die Augen geschlossen, die abgezehrten Wangen überschwemmt.
Immer wieder mal zerbrechen wir uns den Schädel, wie wir unser Schicksal ändern könnten. Was muß ich tun, wie muß ich es anpacken, um es zu etwas zu bringen? ist die ewige Frage.
Vorläufig, bis sie gelöst ist, fechten wir.
»Was, betteln?« sagte da so ein Klepper, dem der Geiz das Fleisch von den Knochen nagte wie ein Geier. »So kräftige Leute und betteln?«
»Ja betteln! Ich habe zwar keinen so schönen goldbestickten Klingelbeutel wie die Schwester vom Sacré-Coeur am Eingang der Notre-Dame, aber mein Geschäft besteht auch noch nicht so lang. Die haben auch einmal mit zerrissenen Hosentaschen angefangen. Ich bin vorläufig noch mein eigener Opferstock. Gebt mir ordentliches Geld und tragt eure Spielmünzen und Tanzmarken in die Kirche, dann kann ich es noch weit bringen!«
In Berry sahen wir zwei Damen spazieren gehen, nicht mehr ganz jung und streng altmodisch elegant, das Vornehmste vom Vornehmen. Man glaubte, ein Modebild aus einem jener antiken Kataloge lebendig wandeln zu sehen, die manchmal von Liebhabern für teures Geld gekauft werden. Ohne Zweifel Aristokratinnen und nicht ohne kultivierte Koketterie, die ein bißchen nach staubigen Papierrosen roch, oder nach dem Boudoir einer pensionierten Hofdame, die die Miete nicht zahlen kann.
»Die Damen gehen spazieren,« sagte Franz, »um sich Bewegung zu machen. Das ewige Auto hängt einem zum Hals heraus. Wenn sie uns aber einladen, nach Nizza mitzufahren, werden wir es natürlich nicht abschlagen. Es sind gebildete Damen, die etwas von Gesichtern verstehen. Wenn die zwei alten Hutschachteln nicht entsetzlich reich sind, will ich kein Psychologe sein. Jahresrente verlangen wir vorläufig keine. Ein Bad und etwas frische Wäsche ist auch nicht zu verachten. Wir müssen uns bemerkbar machen. Vielleicht verliert eine ein Taschentuch. Schade, daß sie kein Hündchen bei sich haben: du hättest es mit Steinen bewerfen können, und ich hätte es dann verbunden und abgeknutscht!«
Wir stiegen den zwei exotischen Vogelscheuchen nach, wir hatten ja Zeit dazu. Aber keine verlor ein Taschentuch. Vielleicht hatten sie gar keins. Wir sangen, pfiffen, husteten. Wir wollten uns als Sonnenschirmträger anbieten. Aber das sah zu sehr nach Dienstmann aus. Schließlich holten wir sie ein und wollten sie fragen, wo der kürzeste Weg nach Moulins am Allier ist, der Residenz des Herzogs von Bourbon, da Monseigneur uns eingeladen habe und wir infolge Verlustes unserer Reitpferde fürchteten, nicht rechtzeitig zu seinem Geburtstagsfeste einzutreffen. Schöne Räubergeschichte. Aber bevor Franz noch den Mund aufbrachte, kaum daß er sich neben eine der Damen hinstellte und an seine Mütze griff, in demselben Augenblick stießen beide einen einzigen, unmöglich schrillen und ungraziösen Schrei aus und strichen spitzenraschelnd querfeldein über die Wiesen, wie vom Jagdhund aufgestöberte Rebhühner oder Schnepfen.
Wir schauten uns an, und in unseren leeren Augenhöhlen wohnte das Grauen.
Es war der fünfte Tag, daß wir nichts zu uns genommen hatten als Brunnenwasser und trockenes Brot. Vielleicht wären wir ohne Unfall noch eine Strecke weit gekommen, hätte ich Franz nicht von den eßbaren Gegenständen erzählt, die ich in einem Ladenfenster in Sancerre ausgestellt gesehen hatte. Es war sehr unvorsichtig von mir. Er warf sich einfach auf den Boden und ging keinen Schritt mehr.
Ich erwischte ein Hühnerei und brachte es ihm. Er steckte es mitsamt der Schale in den Mund und zerbiß es.
So was habe ich auch noch nie gesehen.
Abgerissen wie eine vom Sturm zerfetzte Telephonleitung kamen wir nach Moulins. Villon schickte eine Ballade aufs Schloß, in der er den Herzog anpumpte. Du kriegst es schon wieder, heißt es da, wenn das Neujahr in den Sommer fällt. Es gibt ganze Bettelorden, wir aber sind nur zwei. Und wenn auf den Fichten Trauben wachsen, dann zahlen wir alles zurück. Singend: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so durstig bin! – Im tiefen Keller sitz ich hier bei einem Schoppen Wasser! – Gaudeamus igitur, gripsolorum sumus!«, zogen wir auf der Burg ein. Franz renommierte wieder mit seinem Adel. Die von Rabenbergs stammten jetzt aus dem Bourbonnaisischen. Es fehlte nicht viel und er entpuppte sich noch als legitimer Erbe des Hauses Bourbon. Wir tranken Bruderschaft mit den Herzögen Johann, Karl und Ludwig und stellten die ganze Hütte auf den Kopf. Sie waren recht nett, aber heilfroh, als sie uns wieder los hatten.
Beaulx enfans, vous perdez la plus
Belle rose de vo chapeau,
Mes clercs apprenans comm gluz.
Si vous allez à Montpipeau
Ou à Ruel, gardez la peau:
Car, pour s'esbatre en ces deux lieux,
Cuydant que vaulsist le rappeau,
La perdit Colin de Cayeulx.
In der Nacht waren wir von der Straße abgekommen und kannten uns nicht mehr aus. Wir waren zu dritt, am Tage vorher hatte sich der Zwiefeniggl zu uns geschlagen. Er war in Beauvais und in Senlis erwischt und nach Paris eingeliefert worden, kam wieder frei und trieb sich hinter Orleans herum.
Schon nachmittags hatte es mir gegraust, als wir unter der schwarzen Steinfestung Montpipeau vorbeigekommen waren. Eine schwere Wolke hing wie ein Trauervorhang vor der Sonne, das finstere Mauerwerk mit seinen klotzigen Rundtürmen sah noch gemeiner und drohender herunter. Wir fingen zu laufen an, um fortzukommen, bevor es den Wachsoldaten einfiel, ein kleines Spatzenschießen auf uns zu veranstalten.
Es regnete, wir standen im Acker, naß wie Weihwasserwedel, bis an die Knie in der Erde, und stapften gegen das Dunkel wie gegen eine schwarze Mauer, an der man sich das Hirn einrennt. Der Wind blies uns unter den Beinen durch, als gingen wir auf Luft. Und auf einmal stehen wir vor einer wirklich steinernen Mauer, die wir abtasten, ohne in der Schwärze, dem Regen und Wind sehen zu können, was es ist. Es war ein Haus, aber was für ein Haus? Uns war alles gleich, wir suchten die Tür, und wenn es die Polizeipräfektur selbst war. Die Tür gab nach, wir tappten in noch schwärzeres Dunkel, blieben stehen, zogen die Schuhe aus und horchten. Nichts. Alles still. Einer hinter dem anderen schleichen wir vorwärts. Sonderbar, die Wand ist rund und glatt wie Marmor. Auf einmal Stufen, Vorsicht, langsam, sie führen hinunter, wieder eine Tür, wieder stehen wir in einem schwarzen kalten Nichts. Niggl steckt ein Kerzenstümpchen an, und nun sehen wir, wo wir sind: in einem kreisrund gemauerten, gepflasterten Keller, einer Gruft, im unterirdischen Geschoß einer Grabkapelle. Die Öffnungen in der runden Mauer, in die man die Särge schiebt, sind aufgerissen, die marmornen Verschlußtafeln heruntergeworfen und zerbrochen. Die metallenen Särge liegen aufgesprengt kreuz und quer herum. Wahrscheinlich waren Soldaten da, die Schmuck gesucht haben.
Niggl stellt die Kerze auf den Boden, wir legen einen Deckel über zwei Särge und setzen uns nieder.
»Sollte uns da der Zufall mit der Nase wo hingeführt haben? Wir werden uns ein bißchen umschauen müssen.«
Wir besichtigten die Kapelle. Es war die Fürstengruft von Baccon, wie wir später erfuhren. Es gab da allerhand: Lampen, Leuchter, silberne Kannen, Kelche, edelsteinbesetzte Breviere, Reliquienschreine und dergleichen Antiquitäten.
Niggl packte alles in einen Sack, gab uns einen Vorschuß und verduftete.
»Mir kann nichts passieren,« sagte ich, »ich hab' nichts gemaust!«
Franz zwickte ein Auge zu: »Die fragen nicht so genau, was du getan hast, denen ist die Hauptsache, daß sie was zu tun bekommen!«
In den letzten Tagen waren uns Bauernwagen begegnet, die Fuhren von frischen grünen Birken zum Fronleichnam nach Orleans führten.
»Es wird drei Uhr sein,« sagte Franz. »Bis um achte müssen wir da sein.«
»Und warum, wenn ich Eure Eminenz fragen darf? Warum so eilig? Der Bischof von Orleans ist ein allmächtiger Hund, ein Menschenjäger und Leutschinder vor dem Herrn. Ich möchte ihm nicht in die Klauen fallen.«
Mir war schwummelig zumute. Mißtrauen, Angst, unangenehme Vorgefühle wollten mich zurückhalten, aber ich ließ nichts hochkommen. Wenn man schwach wird, hat man Unglück.
Der erwachende Tag war so schön, der Wind so leicht und sanft, die duftenden Felder so frisch; Lerchen stiegen auf, am Horizont stand die Kathedrale wie mattes Silber. Aus der Stadt wehte Wiesenduft ins Freie. Alle Straßenfluchten schimmerten grün, bestreut mit frischgemähtem Gras, Blumen und Sträußen, Musik und Geläute verzauberten die Luft. Die Häuser waren Kirchenwände, drapiert mit roten und blauen goldgesäumten Fenstertüchern, Fahnen, Teppichen, Tribünen und Altären, die ganze Stadt eine einzige Kirche, alles geschmückt, froh und festlich, und wir so schmutzig und verlottert – was für eine Schnapsidee, in solchem Zustand hier einzuziehen, an einem Tag, an dem sich sogar die Bettler rasieren. Aber niemand achtet unsrer. Das Militär steht Spalier mit aufgepflanztem Bajonett, die Polizeigarde zu Pferd sperrt die Menge ab, um Platz für die Prozession zu schaffen. Wir vergaßen uns selbst über dem Schauen.
Vor dem Altar des vierten Evangeliums herrscht ein lebensgefährliches Gedränge. Gestickte Fahnen, purpurn und scharlachrot, silber- und golddurchwirkt, schwanken schwer auf hohen Stangen, Kreuze, Statuen und Girlanden wandeln über den Köpfen. Alles schaut nach vorne, die Väter heben die aufgeregt plappernden Kinder hoch, sie verstummen und staunen. Posaunen blasen den getragenen Choral, begleitet von Trommelwirbel, Singchöre schweben näher, Weihrauch und Parfümwellen mischen sich in der Hitze, Kommandorufe – eine ohnmächtige Frau wird weggetragen.
»Heut könnte man allerhand schnappen –« wispert Franz.
Endlos wandelt der feierliche Zug, die Theologen in weißen Chorhemden, die Mönche barfuß, der Rektor in Schiffhut und Degen, die Studenten in Prunk und Federn. Einer, ein hübscher Kerl, macht zu seinem Freund neben sich eine Bemerkung, vielleicht über eine Frau aus dem Publikum, und lacht spöttisch, es steht ihm gut.
Franz, armer Scholar, wo ist unsere Schönheit und unsere Paradeuniform?
Advokaten und Richter in Amtsrobe und Ornat – wenn ihr wüßtet, daß wir da sind, ihr würdet aus der Reihe treten und einen leisen Befehl geben.
Aber die Kinder, Knaben und Mädchen, Sträuße tragend, ein wandelndes Blumenmeer. Wie sie trippeln, die Kleinsten, die Unschuldigen im unschuldigen Weiß! Ihre Schrittchen tasten noch vor dem Leben.
Behörden und hohe Herren und armes Volk, vom Tragen der Würde Aufgerichtete und von der Last der Not Niedergebeugte, alle die gleiche Kerze tragend, Kloster- und Spittelfrauen und alte Weiber im schwarzen altmodischen Sonntagsaufputz, junge Mädchen und Jungfrauen, dem Tag entschwunden und über der Welt stehend, Marias Schwestern und Bräute Jesu, junge Frauen, das Kleine auf dem Arm, und Schwangere, und die alten Männer, barhäuptig und bärtig, harte, kindlich holzgeschnitzte Gesichter, lauter Heilige, aus Kirchbildern herausgetreten.
Den feierlich langsamen Tanz überwölbt die Gesangswelle des Gebetes:
»Dir bist gebenedeiet unter den Weibern –
Und gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes –
Jesus!«
Und der Refrain der Männer:
»Der dich, o Jungfrau, in den Himmel aufgenommen hat!«
Der Himmel naht, vom Choral der hellen Knabenstimmen begleitet, Ehrenkompagnie in gemessenem Schritt, blitzende Waffen, kirchliche und weltliche Beamte und Gesandte – braucht ihr so starke Bewachung, ihr gefährlichen Herren?
Und unter dem goldenen Himmelsbaldachin die höchste Geistlichkeit, das Allerheiligste, die goldene Monstranz, vor der alle Häupter sich beugen, unablässig umsungen von dem silbernen Mahnen der Klingeln.
Der Altar ist auf hohen teppichbelegten Holzstufen vor dem bischöflichen Palais aufgebaut und purpurüberdacht bis unter den steinernen Balkon. Die Gobelins unter den Fenstern: Gemälde von Rittern, Fürsten und Heiligen, Priestern und Frauen und schönen Sälen, Landschaften, Tieren und Früchten, Jagd und Konzert. Wenn man darauf hinschaut, meint man, die Musik käme von den gewebten lauten- und orgelspielenden Engeln.
Der Priester wendet sich zum Volk, die Monstranz in hocherhobenen Händen, die silbernen Klingeln singen, die Turmglocke schlägt einen mahnenden Ton, Kanonenschüsse bumpern über der Stadt, damit es auch die Weitentferntesten wissen: Senkt euch, Schwerter, Lanzen und Fahnen, knie nieder, Mensch! In den Staub, aus dem du kommst und zu dem du gehst, nieder zur Erde, Küsse und Tränen! Aufgelöst in demütiges Nichts und aus tiefster Erniedrigung gesammelt zur höchsten Stärke!
Auch wir liegen auf der Erde, ach ja, wir waren ja schon mehr Staub als Menschen –
Franz zupft mich und zwinkert mit den Augen nach dem hohen Fenster neben dem Balkon, in dem ein Kruzifixus zwischen Blumen und brennenden Kerzen blinkt. Dahinter steht eine blonde Dame in weißem Festkleid, und hinter ihr, über sie gebeugt, ein dicker, roter Schädel, aus dem ekstatisch erstarrte Augen quellen –
Franz schiebt seinen Kopf ganz nahe her: »Der Bischof – d'Aussigny – seine Geliebte – – –«
Mein Kopf sinkt noch tiefer, das eindeutige Bild wirbelt hinter meinen geschlossenen Augen. Ich knie noch, als schon der Chor unter dem Altar den süßen Gesang anhebt, der Pulsschlag Gottes ist Melodie geworden:
»Pange lingua gloriosi
Corporis mysterium
Sanguinisque pretiosi
Quem in mundi pretium
Fructus ventris generosi
Rex effudit gentium –«
»Vorwärts!« Franz zieht mich weg, zwei Polizisten schauen uns nach. Glockengeläuts von allen Kirchen kündet die Umkehr des Zuges in die Kathedrale, das Volk singt das Te deum laudamus, Franz kauert sich an der Ecke nieder, zieht einen Arm aus dem Ärmel und legt den Bettlerhut vor sich hin; und ich verdufte in der nächsten Seitengasse.