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Hunt ist über Mühlhausen–Straßburg gefahren und kommt kurz nach vier Uhr am Sonntagmorgen in Frankfurt an. Einen Drahtbericht an Walker und einen zweiten an den Anwalt Walford in London hat er schon in Marseille aufgegeben.
Hunt ist recht müde und abgespannt, aber er läßt erst Walker wecken und fragt, ob alles in Ordnung sei.
»Yes, Chef. Miß Morris wußte, daß der Major nach Sandy verschleppt worden war. Das liegt da so vierzig Meilen nördlich von London. Wir haben sofort an Scotland Yard gedrahtet; werden den Major inzwischen wohl schon gefunden haben, schätze ich.«
»Ah!« antwortet Hunt freudig überrascht. »Und wie geht's Miß Morris?«
»Auch sehr in Ordnung. Sie werden ja selbst sehen!« Walker grinst vielsagend. »Braun ist sie auch nicht mehr, hat ihr aber verdammte Arbeit gemacht.«
»Na, dann ist ja alles gut. – Wie habt Ihr euch eigentlich hier untergebracht? Draußen steht nur eine Zimmernummer, Miß Morris und der Doktor wohnen doch aber auch hier?«
»Mr. Lively nahm auf meinen Rat die ganze Zimmerflucht. Rechts ist der ›Saloon‹, da schläft der Doktor. Habe ihm ein Bett hineinstellen lassen. Dies hier ist das Wohnzimmer, ich habe mich auf dem Sofa niedergelassen, geht aber ganz gut. Links kommt das eigentliche Schlafzimmer, da wohnt die Miß. In den anderen Zimmern habe ich zur Vorsicht Schränke vor die Türen rücken lassen, so daß alles hier durch muß, wo ich mit meiner Kanone in der Tasche den Pförtner spiele. Zufrieden, Chef?«
Hunt ist zufrieden und läßt sich ein Zimmer geben, um wenigstens noch ein paar Stunden ordentlich schlafen zu können; in den letzten beiden Nächten ist er nicht dazu gekommen.
Am Morgen läßt Hunt Dr. Lively zu sich bitten, berichtet ihm über das Ende des Yogis und fragt nach Ethel Morris.
»Ja,« sagt Lively. »Es geht ihr recht gut, aber es ist doch eine üble Sache für uns. Sie erinnert sich, daß sie mit ihren Eltern in Indien war und daß dann plötzlich dieser verfluchte Yogi Bairab Pflegevaterstelle übernahm. Wie das gekommen ist, weiß sie nicht, Bairab hat ihr vorgelogen, ihre Eltern seien gestorben. Der Yogi hat sie dann durch ganz Indien mit sich herumgeschleppt und sie ziemlich scheußlich behandelt, ihren Lebensunterhalt haben sie sich immer nur so zusammengebettelt.
Nun, ich habe es mir zunutze gemacht, daß sie glaubte, ihre Eltern seien tot, und habe das für ihre Mutter sofort zugegeben. Dahingegen sagte ich ihr, daß ihr Vater damals wieder gesund geworden sei und noch lebe. Da geriet sie ganz außer sich vor Freude und fiebert darauf, nach London zu fahren und ihren Vater wiederzusehen.
Was sollen wir nun anfangen, Mr. Hunt? Walford drahtete mir nämlich, daß es mit Morris inzwischen nicht besser, sondern eher schlechter geworden sei. Wir können Ethel doch nicht einen blöden alten Mann als ihren Vater vorstellen!«
Hunt wiegt bedenklich den Kopf. »Das ist allerdings eine üble Sache. Ich fürchte beinahe, dieser Yogi hat mit dem Obersten noch irgendeine andere Teufelei angestellt, von der wir nichts ahnen. Und wenn Morris nicht bald geholfen wird, dann verblödet er uns vielleicht wirklich. Verdammte Geschichte das! Der Yogi ist tot, und wir wissen nicht, was eigentlich los ist.
Hm, ob uns da nicht Miß Morris vielleicht helfen könnte? Sie hat den Yogi doch dauernd bei seinen Kunststücken beobachtet, sie müßte ihm eigentlich seine Künste mehr oder weniger abgelauscht haben. Daß es sich um ihren eigenen Vater handelt, brauchen wir ihr ja nicht zu sagen.«
Lively gefällt der Vorschlag nicht sehr. »Ich weiß nicht, Sir. Jede Erinnerung an den Yogi ist ihr peinlich, was man ihr auch kaum verdenken kann. Sie hat den braunen Teufel nie geliebt, und als er sie nach England mitschleppte und dort mit seinen Verbrechergeschichten anfing, haßte sie ihn geradezu. Sie könnten aber ja mal vorsichtig fragen, wenn Sie glauben, daß mit Morris noch etwas Besonderes los ist; es handelt sich doch um ihren Vater.«
*
Beim Essen im Frühstückszimmer des Monopol erlebte der Detektiv eine Überraschung. Eine große, schlanke Dame mit durchsichtig heller Haut und blonden Haaren erscheint, Lively stellt sie lächelnd als Miß Morris vor.
Das soll die »Inderin« sein, die er vor zwei Tagen als ein braunes Häuflein Unglück in der Obhut des Arztes zurückließ? Sie sieht ganz wie eine vornehme Engländerin aus, nur die Haare haben noch unschöne, dunkle Flecke.
Ethel Morris lächelt etwas verlegen und drückt dem Detektiv immer wieder die Hand. »Ach, Sir, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen jemals werde danken können.«
Hunt stottert noch verlegener etwas von »nichts zu danken« und sieht bewundernd die Engländerin an, die so ganz dem Ölbild in dem Wohnzimmer ihres Vaters entspricht. Nur hübscher ist sie eigentlich noch als ihre Mutter.
»Ich werde ewig in Ihrer Schuld bleiben,« fängt Ethel Morris wieder an. »John hat mir alles erzählt, Sir.«
Hunt zuckt zusammen. Wie war das? ›John‹ hat sie gesagt? Donnerwetter, das ist ja schnell gegangen mit den beiden Leutchen! Hunt schielt nach dem Arzt, aber der löffelt seelenruhig sein Ei aus.
»Haben Sie eigentlich eine Gesellschafterin für Miß Morris gefunden?« fragt der Detektiv Lively, um sich den Danksagungen zu entziehen. »No, es meldeten sich zwar auf die Anzeige sofort ein paar Damen, aber Ethel mochte keine davon. Aber Bully mochte sie sehr, den haben wir gleich dabehalten.«
»Bully?« fragt Hunt verständnislos. Der stürmischen Entwicklung der Dinge in Frankfurt vermag selbst der gerissene Detektiv nicht zu folgen.
»Da sitzt er ja vor Ihnen unter dem Tisch und bricht sich beinahe den Schwanz ab!« antwortet Lively lachend.
Hunt sieht unter den Tisch. Da sitzt ein Zwergbullenbeißer, sieht ihn mit blanken Augen an und wedelt heftig. Hunt reicht dem Köter eine Wurstscheibe.
»Ist er nicht süß?« fragt Ethel eifrig.
»O, yes,« stimmt Hunt zu und denkt sich, daß das eigentlich ein etwas sonderbarer Ersatz für eine Gesellschafterin sei.
*
In der Irrenanstalt der Grafschaft Cambridgeshire läutet es Sturm. Es ist die Glocke von Zelle 78, in welcher der in Sandy aufgefundene blöde Landstreicher untergebracht ist.
»Nanu?« sagt der Oberwärter und schiebt die in der Nummerntafel heruntergeklappte Zahl zurück. »Das ist doch unser sanfter Unbekannter, der klingelt sonst nie. Weller, gehen Sie mal rauf und sehen Sie nach, was er will!«
Weller erhebt sich murrend. »Nicht mal am Sonntag kann man in Ruhe frühstücken.« Er steigt langsam die Treppen hinauf, es ist ein ganzes Ende, denn das Eßzimmer der Wärter liegt im Keller, Zelle 78 aber im dritten Stock. Im zweiten Stockwerk angelangt, hört der Wärter wütende Schläge trommeln und beschleunigt seine Schritte. »Hoffentlich spielt er nicht den wilden Mann,« brummt Weller. »Von der Sorte hätten wir hier eigentlich schon genug.«
Der Krach kommt richtig aus Zelle 78, der Insasse trommelt gegen die Tür. Weller öffnet. Bums! Er hat die Tür schon gegen den Kopf bekommen, sie muß von innen aufgestoßen worden sein.
Der Mann von 78 stemmt die Arme in die Seiten, sieht den Wärter durchbohrend an und wettert: »Was ist denn das hier für eine Wirtschaft? Was soll das heißen, die Türe abzuschließen, he?!«
Weller weicht zurück, soweit es die Gangbreite erlaubt, und starrt den Mann an. Geschehen denn Zeichen und Wunder? Der Mann war doch stumm, hatte noch nie ein Wort geredet und immer nur blöde gelächelt. Sanft wie ein Lamm war er auch immer gewesen, und jetzt ...?
»Haben Sie die Sprache verloren?« schnauzte der Kranke den Wärter an. »Wo ist der Arzt? Ich habe keine Lust, länger bei verschlossener Tür in dieser Bude zu sitzen.«
»Der Arzt?« stottert Weller. »Sie – Sie meinen wohl unseren Chefarzt?«
»Mir gleich, den leitenden Arzt will ich sprechen, ich bin doch hier offenbar in einem Krankenhaus. Aber bißchen flott, mein Lieber!«
Weller rappelt sich zusammen. Der Fall ist klar: Der Mann ist vollkommen übergeschnappt, am besten tut man ihm den Gefallen und führt ihn zum Arzt, sonst schlägt er noch alles kurz und klein.
Weller möchte den Anstaltsleiter vorbereiten, aber der Kranke schiebt ihn zur Seite und tritt an den Schreibtisch. Er macht eine leichte Verbeugung und sagt: »Major Neston vom achten Linienregiment! – Herr Doktor, ich kann nicht umhin, es sehr sonderbar zu finden, mich da einfach in einem verschlossenen Zimmer liegenzulassen. Was ist denn eigentlich los? Hatte ich einen Ohnmachtsanfall, oder wie komme ich hierher?«
Der Anstaltsleiter, ein grauhaariger, etwas verknöchert aussehender Herr mit merkwürdig jugendlich scharfen Augen, hat sich überrascht erhoben. Er erwidert höflich die Verbeugung und murmelt seinen Namen. Er weist auf einen Sessel und sagt: »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Major! Wie – wie war doch Ihr Name, bitte?«
»Neston, Frederic Neston!«
Der Anstaltsleiter sieht sein Gegenüber forschend an. Neston? War da nicht im vergangenen Monat in London ein Major dieses Namens verschwunden? Hm. Aber die Polizei von Linton hatte den Mann doch als Landstreicher aufgelesen, seine Kleidung war auch völlig zerlumpt.
»Herr Doktor,« fängt der »Major« wieder an, »ich habe leider keine Zeit, mich hier mit Ihnen zu unterhalten, zumal, wenn Sie sich darauf beschränken, mich nur anzusehen. Meine erste und zweite Kompanie haben Nachtübung, oder ist heute etwa schon Montag, und habe ich die ganze Nacht hier gelegen?«
»Nein, heute ist Sonntag. Wo liegt denn Ihr Regiment, Herr Major?«
»Das achte Linienregiment liegt bekanntlich hier in London.«
Der Arzt lächelt. Ob das Regiment in London liegt, das weiß er nicht. Aber er weiß, daß »hier« nicht London ist; bis London sind es gut und gern hundert Meilen.
»Herr Doktor! Ich erlaubte mir eben schon zu erklären, daß ich keine Zeit habe. Wollen Sie freundlichst veranlassen, daß man mir meine Kleider bringt und eine Taxe bestellt. Nur das möchte ich gern noch wissen, was eigentlich mit mir los war. Hatte ich wirklich einen Ohnmachtsanfall, und hat jemand mich in Ihr Krankenhaus gebracht?«
Der Arzt will Zeit gewinnen. Möglich, daß der Mann wirklich der Major ist, der da Ende Oktober verschwand. Viel wahrscheinlicher aber ist es, daß der Kranke nur von diesem Vorfall gehört hat und sich jetzt für den Major Neston ausgibt, um aus der Anstalt entweichen zu können. Der Arzt räuspert sich und sagt: »Hm, ja, Sie waren in der Tat ohnmächtig geworden, Herr Major. Sie dürfen es mir aber nicht übelnehmen, daß ich Sie nicht kannte, denn Sie hatten keinerlei Papiere bei sich. Die Leute, die sie herbrachten, kannten Sie auch nicht.«
»Was? Ich hatte doch meine Brieftasche bei mir. Wer, zum Teufel, hat die mir gestohlen?!«
Der Arzt zuckt bedauernd die Achseln. »Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben, Sir. Als Sie hier eingeliefert wurden, hatten Sie, wie ich schon sagte, keinen Ausweis bei sich, auch kein Geld oder sonst etwas.«
»Verdammt nochmal, dann haben die Halunken mich ja regelrecht ausgeplündert? Wie ist denn so etwas mitten in London möglich? Ich bin auch in meinem Leben noch nicht ohnmächtig geworden. Herr Doktor, ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß hier faules Spiel getrieben worden ist. Ich bin genötigt, sofort die Polizei zu verständigen.«
Ein Bürobeamter des Irrenhauses kommt und bringt dem Anstaltsleiter eine Karte. »Hauptpolizeiinspektor Hilleary von Scotland Yard,« liest er und fügt mit einem zweideutigen Lächeln hinzu: »Ihr Wunsch ist schnell in Erfüllung gegangen, mein Herr ›Major‹, die Polizei ist schon da.«
*
Eine halbe Stunde später verläßt eine Taxe, in der Inspektor Hilleary und Major Neston – denn er ist es wirklich – sitzen, die Irrenanstalt der Grafschaft Cambridgeshire.
Der Anstaltsleiter war ungeheuer liebenswürdig geworden, hatte Neston einen von seinen Anzügen geborgt und ihn unter fortwährenden Entschuldigungen zum Wagen begleitet. Er hörte nicht auf, bis Neston ungeduldig sagte: »Schon gut, bester Herr Doktor! Wir wissen es ja alle, daß Sie nichts für die Schweinerei können.«
Der Wagen fährt in schneller Fahrt nach London. Es ist ein auffallend freundlicher und warmer Novembersonntag, die Straßen sind belebt von Fahrzeugen aller Art, die Großstädter machen ihren Sonntagsausflug; die Autos, die ihnen entgegenkommen, tragen fast alle Londoner Nummern.
»Und heute ist wirklich Sonntag, der vierzehnte November, Inspektor, und nicht der letzte Oktobersonntag?« fragt Neston.
»Ganz recht, Herr Major, wir sind mitten im November.«
»Toll, einfach toll! Dann sind also wahrhaftig vierzehn Tage meines Lebens ausgelöscht, an die ich nicht mehr die geringste Erinnerung habe. Das ist eine verdammte Geschichte, an die ich mich erst noch gewöhnen muß.«
Der Kriminalinspektor lächelt. »Seien Sie froh, daß ich heute schon zu der Irrenanstalt kam! Ich wollte eigentlich nicht, weil heute Sonntag ist. So leicht hätte man Sie da nicht losgelassen, wenn ich nicht gekommen wäre. Die Sache war nämlich die, daß da noch ein Kerl von der Bande dieses Yogis rumläuft, wir kennen nur seinen Vornamen Benjamin. Und solange wir nicht wußten, wo Sie steckten, lag die Gefahr vor, daß dieser Kerl Sie umbringen könnte, um sich einen Belastungszeugen vom Hals zu schaffen. Sie dürfen die ganze Sache wirklich nicht so leicht nehmen, Sir.
Nun, vorgestern Nacht kam das Telegramm aus Frankfurt.
Gestern früh fuhr ich nach Sandy und nahm mir die Ortspolizei vor. Von einem Major Neston wußten die nichts, aber sie erzählten mir eine merkwürdige Geschichte von einem taubstummen Landstreicher, den sie vor zwei Wochen gefunden hätten. Der Zeitpunkt stimmte und die Beschreibung zur Not auch. Richter Walksin erklärte mir, die Gemeinde habe den anscheinend geisteskranken Tramp eine Woche beherbergt und ihn dann als heimatlos an die Irrenanstalt der Grafschaft abgeschoben.«
Major Neston hat kopfschüttelnd zugehört. »Und einen Mann, der meine Kleider trägt, meinen Ausweis besitzt und das andere, haben Sie in London verhaftet und hielten ihn für meinen Mörder? Wie soll denn das nun wieder zusammenhängen?«
Hilleary erzählte, wie es zur Verhaftung des Mannes gekommen ist. »Wir dachten alle, er löge. Und wenn Sie nicht am Leben wären, Major, dann stünde es schlecht um den armen Kerl. Ja, und wie das zusammenhängt? Ich denke mir, der Inder hat ganz schlau sein wollen. Ausweis, Scheckbuch und was sonst geeignet war, Sie zu erkennen, mußte er Ihnen ja abnehmen, weil er Sie aussetzen und verhindern wollte, daß jemand Sie erkenne. Den Kleidertausch hat er nur vorgenommen, um die Spur von sich abzulenken, er hoffte, man würde den Mann, der Ihre Kleider trug, für Ihren Mörder halten. Es ist ja auch richtig so gekommen. Das war übrigens wieder dieser Benjamin, der Ihre Kleider anzog, und sie dann mit dem Mann, den wir verhafteten, tauschte. Eine verrückte Geschichte: Erst zieht Benjamin Ihre Kleider an, dann tauscht er sie gegen die Lumpen des Verhafteten, und die werden dann wieder Ihnen angezogen.«
»Und das alles hat mehr oder weniger dieser Detektiv Hunt herausbekommen, den meine Freunde Walford und Lively damit beauftragt hatten, mich zu suchen?« fragt Neston.
»Ja, Sir, eigentlich alles,« gibt Hilleary ehrlich zu. »Wir haben in Scotland Yard nicht sehr viel dabei geschafft. Dieser Hunt ist aber auch ein hervorragend tüchtiger Mann, wir kennen ihn sehr genau in Scotland Yard. Er ist übrigens ein Amerikaner, der früher drüben bei Pinkerton war.«
»Ich möchte nur wissen, wie er das alles herausbekommen hat.«
»Die Einzelheiten kenne ich auch nicht alle, Sir. Mr. Walford sagte mir aber, Hunt hätte Ihr Tagebuch aus Indien in Ihrer Wohnung gefunden, und als dann auch der Oberst Morris überfallen wurde, da sei er sicher gewesen, daß der Yogi Bairab dahinter stecke, und habe diese Spur zäh und geschickt verfolgt.«
»Dr. Lively und Hunt sind noch in Frankfurt, sagten Sie, Inspektor?«
»Yes, Sir. Der Yogi war dahin geflohen. Mr. Walford sagte mir, daß Hunt und Ihr Freund, der Arzt, hingeflogen seien, um den Indienmann zu verhaften; wird wohl inzwischen erledigt sein.« Da Hilleary seit Samstag nicht mehr in London, war, weiß er nicht, daß Bairab inzwischen in Marseille sein Schicksal ereilt hat. Neston seinerseits ahnt nicht, daß er infolge des Ablebens des Yogis wieder zum Bewußtsein erwacht ist.
*
Neston sieht mit gekrauster Stirn aus dem Fenster des Wagens auf die vorbeifliegende Landschaft. »Ich beneide eigentlich Morris, der hat doch wenigstens noch Zeit gehabt, dem braunen Teufel eins aufs Fell zu brennen, wie Ihnen Walford erzählt hat. Aber ich weiß überhaupt nicht, was mit mir geschehen ist, den schuftigen Inder habe ich ganz gewiß nicht zu Gesicht bekommen.«
»Können Sie sich denn gar nicht erinnern, wie das zugegangen sein soll?« fragt der Kriminalinspektor mit schlecht verhehlter Neugierde.
»Eben nicht, das ist das Schändliche! Ich war in der Kaserne gewesen und hatte mit meinem Adjutanten darüber gesprochen, was mit der Nachtübung werden solle, wenn der Nebel noch dichter würde. Dann verließ ich die Kaserne und ging nach Hause. Das heißt, das wollte ich. Wie im Traum bin ich dann aber immer weitergegangen. Ein Ziel hatte ich nicht, ich wollte auch nicht, aber ich mußte einfach. Mir ist so, als ob ich zuletzt keine Häuser mehr sah, sondern nur noch Bäume und Rasenflächen. Aber dann weiß ich auch rein nichts mehr, bis ich heute früh in der Irrenanstalt aufwachte und Krach schlug, weil ich mir nicht erklären konnte, wie ich dahin gekommen und wieso die Tür abgeschlossen war.«
Neston sieht lange vor sich hin und schüttelt den Kopf. »Ich kann es mir nur so erklären, daß dieser Yogi hinter mir hergeschlichen ist und mich so hypnotisiert hat, daß ich willenlos immer weiter ging. In Indien habe ich noch tollere Sachen gesehen, aber immer nur als Zuschauer. O Indien! Der arme Morris hat Frau und Kind in Indien verloren, auch durch so einen verfluchten Yogi!«
*
Im Palmengarten zu Frankfurt am Main sitzt eine vergnügte Kaffeegesellschaft: Dr. Lively und Ethel Morris, Hunt und sein Gehilfe Walker. Bully scharwenzelt von einem zum anderen und bettelt sich Kuchenbrocken aus.
Hunt wendet sich an Ethel. »Sagen Sie mal, Miß, verstand sich Bairab auch auf künstlichen Starrkrampf? Ich meine, konnte er andere in Starrkrampf versetzen?«
»Ja, das machte er auch manchmal. Meistens ließ er aber nur sich selbst lebendig begraben. – Aber lassen Sie mich doch mit dem gräßlichen Menschen endlich in Ruhe!«
Lively wirft Hunt einen warnenden Blick zu, aber der Detektiv läßt sich nicht beirren. »Nur noch eine Frage, Miß. Ich habe einen Bekannten, der ließ sich auch einmal in künstlichen Starrkrampf versetzen, auch durch so einen Yogi. Der arme Kerl kam nachher aber nicht wieder in die Reihe, er behielt einen Knacks, will sagen, er blieb ein bißchen blöd. Wahrscheinlich hat der Fakir, der das machte, seine Sache schlecht verstanden?«
»Hat der Fakir Ihrem Bekannten denn nicht nachher, als er wieder aufwachte, das Pulver eingegeben?« fragte Ethel Morris.
»Damn't! Was für ein Pulver?«
»Nun, die Inder haben da so ein geheimnisvolles Pulver, das sie aus verschiedenen merkwürdigen Pflanzen herstellen. Es sieht grau aus, aber es löst sich in Wasser ganz klar auf. Davon bekommen die Leute nach dem Erwachen ein paar Tropfen, dann ist alles wieder gut. Bairab mußte ich immer die Tropfen geben, wenn er ausgegraben war. Er hatte das Pulver immer in seinem linken Auge bei sich, das ein Glasauge und hohl war.«
»Damn't!« flucht Hunt wieder. »James J. Hunt ist doch wirklich ein Stümper!«
Die anderen sehen den Detektiv verwundert an, aber er gibt keine Erklärungen. Lively nickt still vor sich hin, er merkt, daß Hunt das Geheimnis entdeckt hat, warum Oberst Morris noch nicht wieder »in der Reihe« ist.
Als die Gesellschaft ins Monopol zurückgekehrt ist, nimmt Hunt den Arzt beiseite. »Mr. Lively, ich habe eine große Dummheit gemacht. Als der Yogi in Marseille zur Hölle fuhr, da sagte er noch so etwas, daß sein Auge den Verruchten auch im Tode noch in seinem Banne hielte. Verstehen Sie, Mr. Lively? Der Schuft hatte ja in seinem Auge das Pulver, ohne das Oberst Morris nicht wieder gesund werden kann, und freute sich, daß der arme Kerl nun als Blödian weiterleben muß.«
»Darauf wäre ich auch nicht gekommen, Mr. Hunt. Was sollen wir denn nun machen?«
»Ich habe schon an die Polizei in Marseille gedrahtet, daß sie uns das Glasauge des Inders rettet und wie ein rohes Ei behandelt. Walker muß nach Marseille fliegen und das Auge mit dem kostbaren Pulver nach London bringen. Ich fahre dann sofort nach London.«
Hunt erkundigt sich. Nach London kann er die fahrplanmäßigen Verbindungen benutzen, aber nach Marseille ist die Verbindung schlecht.
»Würden Sie für Walker ein Sonderflugzeug nehmen, Doktor? Wir wissen nicht, ob der Oberst nicht Schaden leidet, wenn er zu lange auf seine Tropfen warten muß.«
Lively ist sofort einverstanden. Ein Sonderflugzeug wird gemietet und Walker mit seinem Auftrag hineingesetzt. Abends kommt schon aus Marseille Antwort, daß das Glasauge sichergestellt sei.
Gleich danach kommt noch ein Telegramm aus London, in dem Walford meldet, daß Major Neston soeben wohlbehalten bei ihm aufgetaucht sei.
»Allright,« nickt Hunt vergnügt. »Dann werde ich meinen Koffer packen und nach London fliegen. Wenn Walker mit dem Pülverchen eintrifft, werde ich Morris in die Kur nehmen. Schätze, daß James J. Hunt dann seinen Auftrag erfüllt hat und abtreten kann. Freut mich für Sie und Mr. Walford, die Sache sah erst ziemlich hoffnungslos aus und hat sich nun doch noch gemacht.«
»Sie haben es gemacht, Mr. Hunt, und wir werden Ihnen das nie vergessen,« antwortet Lively und drückt dem Detektiv warm die Hand.
»Schon gut, Sir. Habe nur meine Pflicht getan und muß sagen, daß es mir Spaß gemacht hat, gerade, weil es erst so verzwickt aussah. Und jetzt werde ich Ihnen noch etwas sagen: Walker segelt schon durch die Wolken, und ich werde mich auch gleich empfehlen. Sie bleiben also ganz allein hier mit Miß Morris und behalten nur Bully als Leibwache, genügt jetzt aber auch vollkommen.
Bleiben Sie schön noch ein paar Tage in Frankfurt und sehen Sie sich die Gegend an! Gehen Sie in die Oper oder sonstwo hin, damit es Miß Morris nicht langweilig wird, oder kaufen Sie ihr ein paar Kleider, damit kann man Frauen immer beschäftigen! Und dann warten Sie ruhig, bis ich aus London melde, daß der Oberst wieder in Ordnung ist! Schätze, er wird sehr froh sein, gleich zwei Kinder wiederzubekommen.«
Lively errötet. »Haben Sie auch schon was gemerkt, Mr. Hunt?«
»Ich bin Detektiv,« antwortet Hunt trocken. »Auf Wiedersehn, Sir, ich muß meinen Koffer packen.«