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Es war am Pfingstfeste, als feierten die Genien des Frühlings mit nie gefühlter Lust ihr kurzes, flüchtiges Dasein. Leuchtender Sonnenschein auf den Auen – leuchtender Frohsinn auf den holden Gesichtern der jugendlichen Menschen. Mit neuem Lebensmuthe schauten die auf zum ätherblauen Himmel, die nur des hellen Sonnenscheines bedurften, um zu genesen und mit dem wonnigen Schauer, womit das verzagende Herz die himmlischen Frühlingsdüfte einsog, erstarkte auch zugleich die Zuversicht auf Gottes Güte.
In Felsberg war es entzückend schön! Die Weißdornhecken umhegten den Park gleich einem blühenden Kranze. Blüthen überall! Duft, berauschender Duft und Vogelgesang überall! Heitere Augen und fröhliches Gelächter überall! Lustreisende kamen über den Bergrücken hinweg- und aus den tieferliegenden Thälern herausgezogen, um im prächtigen Felsberg Pfingsten zu feiern. Singend und plaudernd, lachend und scherzend durchirrten sie lustwandelnd die Anlagen, welche im Frühlingsschmucke prangten. Was diese jungen Herzen bedrückt hatte, das war mit den Wolken fortgezogen und der Sonne Glanz entzündete electrisch die glänzende Laune der Jugendlust.
Marilia war aber nicht fröhlich, trotz der allgewaltigen Schönheit der neu aufquellenden Natur. Sie legte die Hand fester als sonst auf ihr Herz, das unter der bittern Entsagung mehr litt, als sie zeigen durfte. Auch Adelheid blickte nicht heiter auf das Spiel der lebensfrischen Jugend. Was ihnen im Laufe des Winters geraubt war, das konnte keine Frühlingswonne ersetzen! Nur wehmüthiger und weicher erschienen Beide und die Demuth der Resignation zeichnete ihr Mienenspiel, indem sie bewundernd das zauberhafte Erwachen der waldbewachsenen Höhen beobachteten. Die Thränen, die dabei in ihren Augen zitterten, waren keine Freudenthränen. Sie war ein Zoll tief verborgener Schmerzen. Marilia's Oheim ärgerte sich über die stille Wehmuth der beiden jungen Wesen.
»In Thränen gedeihen keine Blumen!« sagte er am späten Nachmittage, als die Lust im Park nachgelassen und eine Art Ruhe in den wilden Taumel der Freude eingekehrt war.
»Warum entzieht Ihr Euch dem Tanz und dem Spiel? Bist Du zu alt dazu, Marilia? Sind Sie zu weise zur Fröhlichkeit, meine Gnädige? Was habt Ihr auf dem Gewissen, Ihr hübschen Kinder? Richtig ist's nicht mit Euch, weder im Herzen, noch im Kopfe!«
»Nur kein Mißtrauen, lieber Onkel,« bat Marilia sanft lächelnd.
»Ei was, Mißtrauen ist ein gutes Präservativ gegen Geisteshochmuth! Es ist dem Menschen, der immer Glauben und Vertrauen gefunden hat, recht gesund, einmal auf Mißtrauen zu stoßen! Gretchen – sehen Sie doch nicht so arg mitleidig aus –«, fügte er laut lachend hinzu, als das alte, gute Fräulein mit leicht gesenktem Kopfe die beiden Freundinnen betrachtete.
»Lassen Sie mich doch fühlen und aussehen, wie es meine Natur verlangt,« antwortete sie ganz eifrig. »Denken Sie, daß ich von Stahl und Eisen bin, wie Sie, Doctor?«
»Bin ich wirklich von Stahl und Eisen?« fragte der Doctor, sich den Anschein freudiger Ueberraschung gebend. »Ei, das wäre mir ja lieb!«
»Ja, ja!« Ein Barbar sind Sie, pur Stahl und Eisen gegen unsere Marilia, die doch sichtlich leidet, die gar nicht mehr das liebe, herzige, fröhliche Mädchen ist, wie im vorigen Jahre.« –
»Wie scharfsichtig Sie sind, Gretchen! Also Marilia leidet? Was nennen Sie denn Leiden?« –
Fräulein Meta Heimann blieb ihm die Antwort schuldig. Er fuhr fort:
»Hat Marilia Zahnschmerzen? Hat sie Kopfschmerzen? Thut ihr der Magen weh? Zwickt es sie im Arme oder im Beine?«
»Hören Sie nur auf, Doctor,« rief das alte Fräulein halb grollend, halb lachend. »Als wenn das Leiden wären!«
»Gretchen, sprechen Sie vernünftig, wie es sich für Ihre grauen Haare paßt,« unterbrach der Doctor sie. »Sind Zahnschmerzen nicht ein wahres, unbestreitbares Leiden? Lassen Sie sich von mir belehren, daß wir Aerzte wahren Leiden weit weniger oft begegnen, als eingebildeten.«
»Ja wohl!« fiel Fräulein Meta Heimann streitlustig ein. »Aber merkwürdigerweise bemühen sich die Herren Aerzte weit weniger, diese wahren Leiden zu beseitigen.«
»Ganz natürlich, weil sie von selbst vergehen, wenn man so gescheid ist, den schlimmen Zahn ausziehen zu lassen. Eingebildete Leiden wuchern aber im Gehirne und verbreiten sich gleich Trichinen im ganzen Körper. Um solchem Uebel zu begegnen, muß man freilich von Stahl und Eisen sein. Nun sprich 'mal Mari – wo fehlt es Dir? In den Zähnen oder im Kopfe?«
Marilia nahm seine Hand und streichelte sie schmeichelnd. »Beides ist gottlob gesund an mir,« sagte sie, gemüthlich in sein Auge blickend. »Wenn ich eines Tages recht viel Muth habe, will ich Dir erzählen, warum die Blüthen des Frühlings mein Gemüth zur Wehmuth stimmen.«
»Ueberlaß es mir, diese Episode aus Deinem Leben zu erzählen,« sagte Frau Adelheid rasch.
»Nicht doch! Der Onkel würde bald ungeduldig werden bei Deiner übertriebenen Schilderung von eingebildeten Leiden,« scherzte Marilia, leicht erröthend.
»Spielt Marilia's Herz eine Rolle in dieser Lebensepisode?« fragte Fräulein Meta, jungfräulich verschämt und leise.
»Wenn Kämpfe der Liebe und Freundschaft ohne das Herz ausgefochten werden könnten, so würde man den sogenannten eingebildeten Leiden weniger oft begegnen,« sprach Adelheid ernst. »Die Aerzte kuriren aber nur epileptische Herzenszuckungen, weil sie von dem tiefen, heißen Weh, das unsere Lebensfreuden vergiftet, nicht gern Notiz nehmen.«
»Schwere Anklagen, meine Gnädige!« spottete der Doctor. »Wir hätten aber viel zu thun, wollten wir erst die gesammten Liebesbriefe einer Dame lesen, bevor wir ein Recept schreiben.«
»Sie würden auch in allen Fällen nichts nützen, diese Recepte,« flüsterte Marilia kaum vernehmbar. »Wunden des Herzens heilen nur durch Willenskraft und Zeit. Als Palliativmittel dient geduldige Ergebung!«
Jetzt stand der Doctor auf, trat dicht vor Marilia hin und schaute ihr fest in's Auge. Er liebte seine Nichte stark und innig. Da er nie eine Tochter besessen, so hatte er das holde, sanfte Kind gleichsam als Tochter adoptirt und ihr die weiche Seite seines Innern zugewendet. Dem erfahrnen Manne war es trotzdem entgangen, daß ein heißer Funke in ihrem Innern brannte, der ihre liebliche Heiterkeit zerstörte. Die kleine Veränderung in ihrer Laune schrieb er dem Einflusse der stark sentimentalen Freundin zu und erst der seelenvolle Ton, womit sie die letzten Worte sprach, weckte ihn aus seinem gleichmüthigen Behagen. Es traf ihn schmerzlich, daß ihr Auge weinen, ihr Herz bluten und ihr Geist ruhelos sein könnte!
»Ich dächte, Du nähmest schon heute Deinen Muth zusammen und sagtest mir, was Dein Gemüth zur Wehmuth stimmt, Mari,« sprach er gütig.
»Morgen will ich es thun – morgen sollst Du Alles, Alles erfahren!« antwortete das junge Mädchen.
»Ist es denn eine lange Geschichte?« fragte der Doctor mißmuthig.
»Nicht lang, aber Du mußt Zeit haben, aufmerksam zu sein, da Du mir rathen sollst.«
»Frau Adelheid spielt wohl eine Rolle darin?«
»Ja,« antwortete diese schnell. »Eine Hauptrolle! Und da ich nicht würde sterben können vor Herzeleid und da ich nicht würde leben können vor Gram über Marilia's zerstörtes Glück, so muß gehandelt werden. Ich habe Mari das Versprechen abgenommen Ihnen, liebster Doctor, Alles anzuvertrauen.« Der Doctor rannte durch das Zimmer wie toll.
»Kinder –Ihr habt Euch von dem alten Gretchen einreden lassen, ich sei von Stahl und Eisen – aber es ist wahrhaftig nicht wahr. Sprecht und erzählt, wenn Ihr nicht erleben wollt, daß ich meine ganze Weisheit auskrame. Ihr zögert? Wie? Nun gut, so hört, was ich denke. An dem ganzen Wirrsal ist der edle Alban von Ettinger, das Ideal des Fräulein Meta Heimann schuld. Nun? Hab' ich's gerathen?«
Er blickte triumphirend auf die alte, vor Entsetzen todtbleiche Dame, als Frau Adelheid seine Frage mit einem kräftigen »Ja« beantwortete.
»Alban ist schuld – Alban störte den Herzensfrieden meiner lieben Marilia – Alban!« jammerte das alte Fräulein.
Marilia bedeckte ihr Gesicht mit den zitternden Händen. »Morgen lieber Onkel – morgen!«
»Nein, heute! Heute!« befahl der Doctor eigenwillig. »Die Wunde brennt und blutet nun doch, also frisch daraus los! Ich weiß übrigens schon alles im voraus! Unbegreiflich, wie man da schwanken konnte, wo Redlichkeit die Wagschale hätte halten sollen.«
Marilia blickte bestürzt zu ihrem Onkel auf. Ehe sie ihrer Bestürzung aber Worte geben konnte, ertönte aus weiter, weiter Ferne, fast nur einem Hauche gleich, ein Posthorn und zog des Doctors Aufmerksamkeit von ihr ab. Er horchte auf.
»Badegäste!« flüsterte das alte Fräulein. Marilia athmete erleichtert. Sie stand auf und machte Miene das Zimmer zu verlassen, indem sie Adelheid winkte, ihr zu folgen.
»Nur nicht heute – nur nicht heute!« sagte sie dabei.
»Sag mir nur Eines liebe, liebe Mari,« bat Fräulein Meta ganz leise. »Ist Alban schuld, ist Alban an Deinem Herzeleid schuld?«
»Nein und Ja!« erwiderte Marilia eben so leise. »Er hat recht gehandelt – er konnte eigentlich nicht anders handeln und vielleicht kommt noch ein Tag, wo in Ihrer Hand die Vermittlung liegt – sorgen Sie nicht, Meta, Albans Ehre forderte unser Opfer.«
Sie verließ das Zimmer und flüchtete in die Veranda, wo sie Kühlung und Erfrischung hoffen konnte. Adelheid saß ihr sehr bald zur Seite und der Doctor erschien auch alsbald mit einem Angesichte, worauf Zorn, Mitleid und Spannung schärfere Linien gezeichnet hatten.
Mittlerweile war die Sonne auf den Rand der Bergkuppen angelangt. Noch wenige Minuten und sie senkte ihre Strahlen nur noch schwach in das tiefere Thal. Im Aether schwamm die Sichel des Mondes. Ein frischer, kühler Wind streifte von den Bergen hernieder und schaukelte die Blüthendolden, damit sie stärker duften sollten. Der Glanz des Tages erlosch allmählig. Friedlich, vom Frühlingsrausche allgemach genesend, zogen die Lustwandelnden in Schaaren heim, sanfte Volksmelodien singend. Näher ertönte das Posthorn. »Badegäste!« sagte nun auch der Doctor, denn der Klang des Hornes zeigte an, daß die Extrapost den Berg zum Bade hinauffuhr. Stärker schaukelte der lustige Abendwind die Blüthen, als wolle er sagen: freut Euch doch auf die Ruhe der Nacht, wo nicht die wilden und ungestümen Menschen, sondern die milden Geister und die lieblichen Elfen Euch umtanzen.
Der Postillon ließ sein Horn ebenfalls lustiger ertönen. Es klang beinah als wisse er, daß er Glück und Frieden verheißen müsse, um sinkende Lebenslust zu heben.
Hoch in den Gipfeln der frisch grünen Bäume säuselte es wie Aeolsharfen und die Sichel des Mondes versteckte sich neckisch zwischen den schwankenden Zweigen, weil die Abendgluth der Sonne ihrem Silberglanze Eintrag that.
Eine feierliche Stille, von der Befangenheit, von Spannung und stillem Mißmuthe hervorgerufen, herrschte in der Veranda. Eng aneinander geschmiegt saßen die Freundinnen wie sie damals auf der Esplanade gelustwandelt hatten. Kein Harm, kein Schmerz konnte die Innigkeit des Bandes lösen, das diese jungen Herzen umschlang.
Adelheids Hand zuckte bisweilen heftig zwischen denen Marilia's. Besorgt sah diese sie an. – »Nein, nein, Mari,« flüsterte sie, »mir ist wohl, o so wohl, so wohl, wie seit langer Zeit nicht! Als das Posthorn zu mir drang, da war es, als fiele ein drückender Schmerz von mir ab und eine himmlische Ruhe kehrte in mir ein. Mir ist wohl!«
Und zwischen den blühenden Alleen, die bergab zum Thale führten, wurde jetzt die Postkutsche sichtbar. Langsam fuhr sie bergan und der Postillon blies dabei eine hübsche sanfte Melodie. Die Sonne verschwand. Ein starkes Rauschen verrieth, daß der Abendwind ihren Abschied mit launischem Uebermuthe begleitete. Wild fuhr er durch die matt gewordenen Blüthen, hob die weißen Blüthenblättchen von der keimenden Frucht und streute sie gleich Schneewolken über die Wege. Die Postkutsche erschien ganz eingehüllt in den Blüthenschleier, als sie jetzt, auf dem Plateau angelangt, rascher näher kam.
Marilia gedachte mit einem wunderbaren Schauer des Tages, wo sie, im Sturm und Schneetreiben das Geständniß Albans hörte und dann durch seinen festen Entschluß von ihm getrennt wurde. Damals waren es wirkliche, eisige Schneeflocken, die sich kalt und naß um ihr Antlitz legten um in Thränentropfen von den warmen Wangen hinabzuträufeln. Jetzt flatterten die Schneeflocken, von Blüthen gebildet, phantastisch in der Luft umher und die Thränentropfen, die sie plötzlich aus ihrer Wange fühlte, waren von der Wehmuth der Erinnerung gelöst aus ihrem eigenen Innern entstammt. Adelheid sah diese Tropfen und küßte sie ihr von der Wange.
»Fürchte nicht, daß Trauer sie hervorrief,« flüsterte Marilia mild lächelnd. »Mir ist wohl und kein Schmerz erpreßte diese Thränen.«
Mit einer Jubelfanfare rollte die Postkutsche nun heran. Der Doctor trat hinaus auf den Rasen. Wenn der Wagen hielt, so konnte der Besuch der Ankommenden Niemandem gelten, als ihm. Und der Wagen hielt. Er wurde geöffnet.
»Guido, mein Guido!« rief Adelheid. Zwei Männer sprangen aus dem Wagen, Adelheid stürzte ihnen entgegen.
»Alban –Alban ist's!« sprach Fräulein Meta mit sehr stark erhobener Stimme.
Marilia zog sich zurück bis in den äußersten Winkel der Veranda. Dort ließ sie sich wankend im Gartensopha nieder. Sie wußte nicht, daß sie ohnmächtig zurücksank und sie wußte nicht, was geschehen war, als sie wieder zu sich kam.
Man hatte sie vergessen im Tumulte der freudigen Bestürzung. Sie fand sich allein im Winkel der Veranda, ihr Arm hielt die starke Säule derselben krampfhaft umklammert.
Man hatte sie vergessen über Adelheid, die vor Wonne weinte und lachte, die an Guido's Brust, von seinen Armen umschlungen, jauchzend ausrief:
» Sie bringen mir ihn, Ettinger, Sie, Sie bringen mir meinen Gatten – o Gott – er ist freigesprochen – er ist unschuldig befunden und Sie – Sie bringen mir ihn!«
»Er ist gar nicht angeklagt,« antwortete Ettinger mit starker, fester Stimme, »er ist nicht angeklagt, weil die Schuldigen entdeckt sind. Bekon ist's und sein Bruder!«
Der Doctor hatte sein Auge aufmerksam über die Gruppe schweifen lassen. Seine vorgefaßten Meinungen zertrümmerten bei dieser ergreifenden Scene, wie Glasscherben. Er ahnte den Zusammenhang bei Adelheids Worten, behielt aber dessen ungeachtet den jungen Mann im Auge, als dieser die Hand Adelheids ergriff und sie mit einem Blicke voll wahrhafter Ehrerbietung an seine Lippen drückte.
»Bekon ist's –!« antwortete die junge Frau zitternd vor Aufregung. »Albert Bekon? Wie ist das möglich? Er, der reiche Mann – Wechsel auf sich selbst fälschen?«
»Eben weil er nicht der reiche Mann ist, wofür er sich ausgab, mußte er nachgerade zu Mitteln schreiten, die ihm Geld verschafften. Er sicherte stets erst seinen Credit durch Vorspiegelung eines enormen Vermögens und ließ dann seinen Bruder kommen, um diesen Credit geltend zu machen und zu benutzen.«
»Er hat also einen Bruder?« fragte Adelheid fieberhaft schnell sprechend. »Und dieser Bruder ist derselbe Mann, der meinen armen Guido in's Unglück gestürzt? O, mein Gott – wie ist das entdeckt worden?«
»Mein neuer Wohnort ist die Heimath jener Bekon's,« erwiderte Ettinger bewegt.
»Sie – Sie haben die Thäter entdeckt –? Marilia – o liebe Marilia –« rief die junge Frau außer sich. »Gott hat sich unsrer erbarmt!«
Erst beim Namen des jungen Mädchens fuhr der Doctor aus seiner Erstarrung aus. Was hatte Marilia mit dieser Sache zu schaffen, daß Adelheid sagte, Gott habe sich ihrer erbarmt?
Alban hatte mit heißem, verlangendem Blicke die theure Gestalt längst gesucht, aber sie in ihrer Verborgenheit nicht entdecken können. Als Adelheid rief, erhob sich Marilia langsam und versuchte sich zu nähern. Ihr Schritt war schwankend, ihr Angesicht bleich, aber eine himmlische Freudigkeit leuchtete aus ihren Augen. Alban sah sie kaum, so eilte er auf sie zu – es schien Allen, als beuge er das Knie vor ihr.
Adelheid bat mit stummer Beredtsamkeit um Einsamkeit für die Liebenden und schritt am Arme des Gatten schnell in's Haus. Der Doctor folgte. Fräulein Meta betete unter heiliger Wehmuth für die, welche ihres Herzens Lieblinge und ihres Lebens Stolz waren.
»So enden also die Räthsel endlich, die man mir in's Haus geschleppt,« sagte der Doctor grollend. »Aber diese Begebenheit soll mir eine Lehre für die Zukunft geben. Künftig nehme ich keinen Curgast wieder in mein Haus, der mir nicht vorher ein vollständiges curriculum vitae eingesendet hat. Was sind das für Dinge, meine Gnädige! Wissen Sie, daß ich Sie in schmählichem Verdachte gehabt habe? Daß ich statt eines Kriminalverbrechens einer Herzensuntreue zu begegnen glaubte?«
Frau Metthorst schlug verwundert die Augen zu ihm auf. »Ja, sehen Sie mich nur an, als sei so etwas unmöglich. Es ist schon öfter dagewesen und ich armer Badedoctor habe bisweilen mit Sturm auf den Unterleib loskurirt, während das Herz nichts taugte. Sagen Sie mir nur, was hat denn Marilia's Liebe mit Ihrer Schuldfrage zu thun, bester Herr Metthorst? Lichten Sie doch das Dunkel gefälligst, worin ich unglückseliger Onkel schwebe.«
Frau Adelheid nahm das Wort und erzählte mit dem Flammeneifer der Zärtlichkeit von Marilia's Prüfung. Während sie sprach, ging der Doctor langsam und leise auftretend immerfort im Zimmer auf und nieder. Fräulein Meta aber weinte still vor sich hin. Als die junge Frau die letzte Scene am Wasserfall berichtete, wo sie eigentlich erst erfahren hatte, wie hoffnungslos Marilia in die Zukunft sehen mußte, da blieb der Doctor vor ihr stehen. Sein Auge glänzte und seine Lippen zuckten in unwillkürlicher Rührung. Dennoch aber sagte er im Tone des gemüthlichsten Spottes:
»Ich werde doch gleich nachher einmal Marilia's Kopf einer genauen Prüfung unterwerfen. Nach Galls Schädellehre muß bei ihr das Organ der Freundschaft prächtig ausgebildet sein. Was sagen Sie denn nun, Gretchen,« fuhr er zu dieser armen, alten, stillweinenden Dame gewendet, fort. »He! Was sagen Sie denn nun? Sehen Sie, Ihr Alban, Ihr Ideal ist auch von Stahl und Eisen.«
»Ach mein Himmel – nie, nie hätte ich ihm das zugetraut!« jammerte Fräulein Meta.
»Beruhigen Sie sich nur, Gretchen. Im Grunde hatte er recht, wenn ich auch gerne zugeben will, daß er die Sache etwas überspannt auf die Spitze getrieben hat. Beruhigen Sie sich nur! Die beiden jungen Menschen werden jetzt im besten Zuge sein, eine ewige Versöhnung zu beschließen und Marilia kann die kleine Angst nicht schaden. Man lernt stets besser schätzen, was uns hatte verloren gehen können.«
Er verstummte plötzlich, denn Alban und Marilia traten ein. Von ganz eigenthümlichen Empfindungen übermannt, schaute er dieß Menschenpaar an, das im Verklärungsscheine eines tief empfundenen Glückes vor ihm stand.
»Marilia's Vater hat mir erlaubt, seine Tochter als Braut zu umarmen – wir bitten aber auch um Ihren Segen, denn Marilia liebt Sie gleich einem Vater,« sagte Ettinger, seine Hand ergreifend. Einige Minuten lang herrschte die feierlichste Stille im Zimmer, dann aber brachte des Doctors Humor die Stimmung wieder in's Gleichgewicht.
»Eigentlich sollten wir beiden Doctoren Hattorp, resp. Vater und Oheim dieses holden Kindes, das Marilia genannt wird, mißtrauend anstehen, das Glück desselben einem Mann anzuvertrauen, der den Spitzfindigkeiten seines Ehrgefühls mehr Raum gibt, als der Liebe; allein da sich unser Kind Marilia glücklicherweise auch etwas renitent gezeigt hat, so haben wir unser Recht, darüber zu richten, eingebüßt. Ich mochte mir aber doch die Frage erlauben, was daraus geworden sein würde, wenn sich nicht alles so rasch aufgeklärt hätte?«
Marilia und Alban sahen sich schnell in die Augen. »Wir hätten gewartet – aufklären mußte sich die Sache endlich,« entgegnete Ettinger.
»Und wenn es sich nicht aufgeklärt hätte?« wendete der Doctor beharrlich ein.
»Dann hätten wir unsere Trennung als eine Schickung Gottes ertragen!« sprach Marilia mit Erhebung. »Ich wiederhole hier im Angesichte aller derer, die ich liebe, ich wiederhole es dem, welcher mir das theuerste Wesen aus der Welt ist, daß ich niemals auf eigenes Glück hätte hoffen können, wenn ich im Egoismus meine Pflichten der Freundschaft vernachlässigt haben würde. Der Gedanke daran hätte alle meine Freuden vergiftet und den kleinen Leiden des Lebens, die mich betroffen, eine unerträgliche Qual beigemischt.«
»Du bist kein Kind der Zeit, Marilia,« versetzte der Doctor lächelnd. »Verstecke Dich ja, damit man nicht schon jetzt ein Denkmal für Dich in Angriff nimmt. Am glücklichsten von uns allen ist jedenfalls Gretchen Heimann, denn ihr Ideal steht gerechtfertigt vor ihren Augen.«
Nachdem auf diese Weise die Gedanken auf das Alltagsleben zurückgewendet worden waren, fragte Adelheid plötzlich:
»Und der Herr von Beroda–? Guido, weiß er schon, weß Geistes Kind sein Freund Bekon ist?«
»Natürlich schrieb ich es ihm sofort, als Ettingers Telegramm mir vorläufig die glückliche Nachricht brachte,« erwiderte Metthorst mit einem Anfluge von Schadenfreude. »Er ist außer sich, daß seine Kinder klüger gewesen sind, als er!«
»Außerdem wird dieser Herr wohl noch in Besorgniß um eine Bürgschaft sein, die er für Bekon geleistet,« fiel Ettinger ein. »Glücklicherweise ist noch so viel Vermögen vorhanden, um die schon in Cours gesetzten Wechsel sowohl, als Berodens Bürgschaft zu decken. Stellen sich nicht noch weitere Gaunereien und Prellereien der liebenswürdigen Brüder heraus, so wird ihnen auch noch so viel übrig bleiben, ihre beabsichtigte Uebersiedlung nach Amerika bewerkstelligen zu können, nachdem sie ihre Strafe verbüßt haben. Ich bin zur rechten Zeit gekommen, um den Rest des väterlichen Vermögens aus den Händen dieser leichtsinnigen und verschwenderischen Burschen zu reißen.«
»Es grenzt an's Wunderbare, daß Sie, gerade Sie, in die Heimath der Betrüger gesendet wurden,« rief Adelheid bewegt, »und ich hege den festen Glauben, daß Gottes Barmherzigkeit Sie dorthin geleitet hat.«
»Man hat sicherlich in keinem Berufe mehr Gelegenheit die Fügungen Gottes zu bewundern, als in der Ausübung der Rechtspflege,« schloß Ettinger das Gespräch. –
Der Morgenglanz des zweiten Pfingsttages fand vier glückliche Menschen am Wasserfalle, der nicht mehr in wilder Aufregung seine Wellen von der Höhe herab walzte, sondern mit gleichmäßig melodischem Schalle von Absatz zu Absatz rauschte, ganz angemessen dem milden duftigen Wehen des Lenzes und dem Farbenglanze des schwellenden Grün. Was diese vier glücklichen Menschen empfanden, als sie die Blicke umherschweifen ließen über Wald und Flur, über Thäler und Höhen, das grenzte an Himmelsseligkeit. Nie, nie werden sie des Frühlingsfestes vergessen, das ihnen Glück und Frieden brachte!
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