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Zweites Capitel.

Das Wetter begünstigte das Vorhaben des jungen Vanpotter, der die Absicht hatte, seine Wanderung zu Fuß anzutreten. Dazumal waren solche Entschließungen noch kein Wunder. Man scheuete die Ermüdung nicht, mied die dumpfigen Postcaleschen so lange wie man nur konnte, und fand sich reichlich belohnt durch die schattigen Waldwege, wenn man den Sonnenbrand eine Zeitlang ertragen hatte.

Charles Vanpotter durchstreifte in kleinen Tagesmärschen den ziemlich weiten Zwischenraum, der das Bergstädtchen Schalenberg von dem Dorfe Altingeroda trennte. Er benutzte die Zeit, um sich in den größern Städten zu seiner Belehrung aufzuhalten. Der Herbst versprach dauernd trocknes und gutes Wetter, und ob er eine Woche früher oder später in der Heimath seines verstorbenen Vaters anlangen würde, darauf kam nichts an. Ueberhaupt legte er auf diesen Versuch, Familienbande neu zu knüpfen, nicht halb so viel Werth, wie er im Gespräche mit seiner Mutter verrathen hatte. Er theilte im Stillen die Ansicht derselben, daß der Tod hier ganz erwünscht eingetreten sein möchte, und es fiel ihm nicht ein, mit Erbansprüchen vor den alten Mann zu treten, wenn er ihn noch lebend finden sollte.

Am einundzwanzigsten Tage nach seiner Abreise näherte er sich endlich der Gebirgskette, die überstiegen werden mußte, um nach Altingeroda zu gelangen. Der Tag war warm und heiter gewesen. Die Luft hatte das Duftige des Herbstes, das die Fernsicht beschränkt, und Charles, der von der prächtigen Uebersicht gehört hatte, welche man von der Felsenkante des steil abgrenzenden Gebirgszuges haben solle, bedauerte einigermaßen, daß die Luft nicht klarer war.

Das breite, sonnige Thal, worin Altingeroda lag, war von den Bergen kranzförmig, aber in gehöriger Entfernung, umschlungen. Zwei kleine Flüsse, die sich in einem Winkel des fruchtbaren Edens vereinigten, um dann als schiffbarer Fluß die Ebenen zu durchströmen, zogen sich wie Silberbänder durch diese schöne Au, die dem geschäftskundigen Auge des Oekonomen ein irdisches Paradies erschien, während der Vergnügungsreisende der Landschaft etwas mehr Schatten gewünscht haben würde.

Charles Vanpotter erreichte den Gipfel der Bergwand, als die Sonne eben, mit leichten Nebelschleiern umhüllt, scharf dem Westen sich zuneigte. Die prächtigen Veränderungen des Abendhimmels entzückten den jungen Mann. Feurige Streifen zogen sich wie Glorien um die fernen Bergwaldungen und spannten sich dann quer über das Thal hinweg, das in seiner idyllischen Ruhe wie ein Hafen des Erdenlebens da lag. Nach und nach rückten die Nebelschleier von dem Horizonte herauf und fingen an, die Dörfer mit ihren Thürmen, die von seiner Höhe herab betrachtet, wie Kinderspielwerk aussahen, zu umschleiern.

Gefesselt stand er unter den uralten Bäumen, obwohl er einsah, daß ihm bald ein Nachtlager nöthig sein werde. Er konnte sich nicht trennen. Sein Auge schweifte mit dem innerlichen Gefühle umher, als müsse er etwas suchen, etwas finden, was ihm gehöre und als er endlich zögernd den Pfad betrat, der ihn hinab führen sollte in dies vom letzten Sonnenglanze durchleuchtete Thal, da gelobte er sich diese Stelle heilig zu halten, im Falle das Geschick ihm hier einen Platz reservirt habe. Langsam stieg er bergab. Der Pfad war bequem ausgetreten, aber enorm steil. Nach einer viertelstündigen Wanderung wendete sich ein Weg rechts, ein anderer links.

»Herkules am Scheidewege!« sprach Charles lachend und wählte den Weg zur rechten Hand. Ein Brausen und Sausen und Rauschen tönte bald darauf an sein Ohr. Es war der Gebirgsbach, der vom Plateau herab als kleine Quellenrinne schon oftmals seinen Weg durchkreuzt hatte. Jetzt schien er verstärkt und gewaltiger zu werden.

Charles stand wieder still und überlegte. Sein vortrefflicher Ortssinn machte ihm bemerklich, daß ihm dieser Bach späterhin Hindernisse in den Weg legen könne, wenn er auf dem Pfade bliebe, der auf der linken Seite neben dem strudelnden Wasser hinlief. Also wieder rechts, denn rechts lag das Thal.

Flugs sprang er hinüber und kam nun in einen reizenden Waldweg, der sich bald nahe, bald ferner vom Wasser hinzog. Ueberraschende Aussichten in das Thal wechselten mit dunkeln Waldstellen. Abgerissene Felsmassen lagen bald rechts, bald links vom Pfade und das Wasser rauschte immer wilder und floß immer hastiger, in natürlichen Katarakten sich Bahn brechend, den Berg hinab.

Das Laubgewölbe, von dem rothglühenden Sonnenlichte durchwoben, flüsterte geheimnißvoll. Glockengeläute von weidenden Heerden drang durch die stille Luft. Charles warf sich endlich überwältigt durch einen nie empfundenen heiligen Schauer auf ein bemoostes Feldstück nieder und ließ sich von seiner aufgeregten Phantasie himmelan tragen.

Nur eine Minute ruhete er hier versteckt hinter den breitästigen Haselstauden, als er Stimmen über den Bach dringen hörte. Es waren helle, frische, fröhliche Mädchenstimmen. Sie mußten schon ziemlich nahe sein, befanden sich aber auf der linken Seite des Wassers, das den Schall ihrer Worte übertobte.

Charles verließ seinen Platz vorsichtig, um die Mädchen nicht zu erschrecken. Er wählte einen zweitausendjährigen Buchenstamm, um seine hohe schlanke Gestalt zu verbergen, und heftete mit einer gewissen Neugierde sein scharfes Auge fest auf die Wölbung gegenüber, die ihm eine Ausmündung des Weges schien.

Richtig. Es verfloß keine Minute mehr und zwei elegant gekleidete junge Damen erschienen unter dem Laube und eilten hastig der Lichtung zu.

»Da haben wir die Bescheerung,« rief die zuerst Hervorgetretene, eine Blondine mit dem schönsten, rosigsten Gesichte, das man sich denken kann. »Nein, diese verwünschten Waldwege! – Was machen wir nun, Adele?«

Die andere Dame war nun auch hervorgekommen, sah allerdings ebenfalls etwas bestürzt aus, sagte aber mit der möglichsten Gelassenheit: »Es bleibt uns nichts weiter übrig, als umzukehren, denn hinüber können wir nicht!«

Diese Dame war brünett und nicht so überraschend schön, als die Blondine, aber ihr Auge war schöner. Es strahlte Feuer und Geist zugleich aus und verlieh dem blassen Gesichte einen zauberhaften Reiz. Der Mund zeigte sich eng und fest geschlossen, selbst beim Lachen nur wenig bewegt, während sich bei der Blondine schon tausend reizende Grübchen in Kinn und Wangen bildeten, wenn sie kaum die Absicht hatte zu lachen.

»Umkehren, Adele!« rief die Blondine mit lachendem Entsetzen. »Du denkst wohl, ich habe mehre Paar Beine zuzusetzen, daß Du mir zumuthest, den langen Weg noch einmal zu machen. Ach, diese verwünschten Waldwege – einer sieht aus wie der andere! Ich bade durch das Wasser, Adele,« fügte sie entschlossen hinzu und schien nicht übel Lust zu haben, ihre Worte unverzüglich wahr zu machen.

»Das wirst Du bleiben lassen, Rosa,« erwiederte Adele energisch ihre Hand fassend. »Ich bin verantwortlich für Deine Gesundheit und dann – der Bach ist gefährlich zu passiren.«

»O, ist hier nicht eine Furth? Sieh nur, das Wasser spielt nur leicht über die Steine.«

Adele hob eine trockene Haselgerte, die am Boden lag, auf, jedoch ohne die Hand ihrer muthwilligen und augenscheinlich jüngeren Gefährtin loszulassen.

»Das Wasser wird mir kaum bis an die Knöchel gehen,« setzte Rosa hinzu, als sie merkte, daß eine Vermessung stattfinden solle.

»Meinst Du, Kleine? Sieh her.«

Sie senkte die Gerte hinein. Das Wasser war mehr als zwei Ellen tief und dabei unglaublich ungestüm.

»Aber hier sind doch Menschen durchgegangen, man sieht es ja. Dort drüben führt der Weg weiter,« schmollte das junge Mädchen.

»Es ist möglich, daß dies im hohen Sommer, wo alle Gebirgsbäche sparsam mit Wasser versehen sind, geschehen sein kann,« versetzte Adele. »Allerdings, wenn wir hinüber könnten, wäre uns geholfen, sieh, da fährt Dein Wagen, jetzt hält der Kutscher, dort also ist der Wolfssteg, wir sind nahe dabei. Komm, Kleine!«

»Ach mach' mich nicht toll. Ich kehre nicht um. Ich versuche einen Ueberweg zu finden!«

»Du findest keinen, Rosa. Sei vernünftig, komm!«

»Wenn sich doch nur irgend ein Waldkobold meiner erbarmte!« sagte das Mädchen.

»Hier zu Lande giebt es keinen Rübezahl,« meinte Adele lächelnd.

Charles war bei dieser Wendung des Gespräches langsam von dem Baumstamm weggetreten und hatte sich schleichend in das Gebüsch begeben, das sich dicht am Bache hinzog.

»Aber vielleicht einen Samiel,« wendete Rosa keck ein. »Soll ich ihn rufen?«

»Versuche Dein Heil,« sprach Adele langmüthig und geduldig. »Aber eile Dich, die Sonne schwindet jetzt schnell und Dein Kutscher wartet.«

Rosa lachte, stellte sich darauf in die gehörige Position und rief mit schöner glockenheller Stimme: »Samiel, hilf! Samiel, hilf! Samiel, hilf!«

Im Nu, ohne bedeutendes Geräusch, wie hingezaubert, stand der junge Mann plötzlich dicht am gegenüberliegenden Rande des Baches, theatralisch mit untergeschlagenen Armen. Solche Späße schlugen in sein Fach und er spielte seine Rolle vortrefflich. Beide Damen schrieen laut auf vor Schreck. Rosa wollte davonlaufen, Adele wich bestürzt um einige Schritte zurück.

»Sie haben mich gerufen – was befehlen Sie, meine Damen?« fragte er mit lauter, dröhnender Stimme.

Rosa blickte zurück – sie blickte hinüber.

»Ein hübscher Samiel!« flüsterte sie lachend.

Adele faßte sich eben so schnell.

»Verzeihen Sie, mein Herr, der Ruf galt einem Geiste, der helfen könne. Das wird aber schwerlich in Ihrer Macht stehen!« sagte sie laut mit sehr artiger Verneigung.

»Warum nicht?« entgegnete Charles eben so laut wie vorhin. »Wünschen Sie eine Felsenbrücke über dieses rauschende, zischende, spritzende, brausende Wasser?«

»Wenn es Ihnen gefällig wäre!« rief Rosa amüsirt.

»Treten Sie zurück und schließen Sie die Augen!« befahl Charles mit Stentorstimme.

Lächelnd willfahrte Adele, laut aufjauchzend vor Lust an diesem Abenteuer rannte Rosa in den Waldweg zurück.

Charles, der ein locker liegendes Felsstückchen seitwärts des Baches erspähet hatte, wendete seine ganze Kraft, die nicht gering war, auf und schob, hob, rollte und rüttelte so lange, bis sich das Gestein in Bewegung setzte. Dann war es ein Leichtes, dasselbe vom Ufer hinabzustürzen. Es gelang. Mit furchtbarem Klatschen schlug es in das strömende Wasser. Es füllte die ausgespülte Tiefe des Baches und ragte so weit hervor, daß man es springend von jeder Seite des Ufers erreichen konnte. Damit nicht zufrieden, warf der junge Baumeister beharrlich und behende alle Steine, die in seinem Bereiche lagen, so geschickt in die Spalte zwischen dem Ufer und dem Felsstücke, daß eine handliche Mauer entstand. Als dies innerhalb weniger Minuten bewerkstelligt war, ging er festen Fußes darüber hin, schwang sich vom Mittelstücke nach dem Ufer, wo die Damen standen und begann dort dasselbe Werk.

Wahrend die blonde Rosa, innerlich aufs Höchste belustigt, ihm Steine suchen und selbst herbeischleppen half, stand Adele wie in einem Traum befangen und fragte sich immerfort: wer das sein möge, wo sie diesen Mann schon gesehen haben könne? Ihre feurigen schwarzbraunen Augen hatten sich nur einen kurzen Moment mit den hellen blauen Sternen des jungen Mannes gekreuzt, aber der Eindruck war ein mächtiger gewesen. Wie ein Bild aus ihrer Phantasie, wie ein Ideal ihrer Träume, wie eine Erscheinung aus längst vergangenen Zeiten, wie eine Wiederauferstehung aus dem Grabe der Erinnerungen stand derselbe vor ihr.

»Meine Damen, die Brücke ist fertig!« sprach Charles mit tiefer Verbeugung. »Erlauben Sie mir, daß ich Sie hinüber führe.«

Rosa sprang lachend voran und befand sich längst am andern Ufer, als Adele, befangen wie nie in ihrem Leben, zögernd an Charles' Hand die Steine betrat.

Drüben angelangt, grüßten beide Mädchen mit Grazie den Helfer in der Noth, sprachen ihren Dank aus und flogen, gleich schüchternen Tauben, den Bergpfad hinab. Charles sah ihnen nach. Er bemerkte jetzt tief unten im Thale ebenfalls den Wagen, sah, daß die blonde Rosa einstieg, daß der Kutscher derb auf die Pferde hieb und sah, daß die Dame, welche Adele genannt war, in einem Seitenwege, der zurückführte, verschwand.

»Sie bleibt also hier,« murmelte Charles. »Sie wird also zu finden sein, wenn ich mir mein Honorar für mein Meisterstück auszubitten willens sein sollte. Wie sonderbar, daß die erste Frauengestalt, die mir im Leben einen wohlthuenden Eindruck gemacht hat, Adele heißt, gleich meiner Maman! Wie sonderbar!«

Er wendete sich nun langsam wieder zu seinem verlassenen Ruheplatze, wo er Hut, Tornister und Wanderstab gelassen hatte, und er fand zu seinem Erstaunen das Plätzchen von einem alten Hausirer besetzt, der ihm ein »Grüß Gott,« entgegenrief.

»Ei sieh da!« sprach der junge Mann. »Also für Euch Packenträger hat der große Weltenschöpfer diese Felswand so bequem zugerichtet?«

»Mag wohl sein!« entgegnete der Alte behaglich lachend. »Ist es nicht ganz dazu geschaffen, um die müden Knochen ein Augenblickchen zu ruhen, ohne die Last abwerfen zu brauchen? Geben's mir Feuer, junger Herr,« fügte er hinzu, als Charles ein Blechkästchen aus der Tasche zog, um sich seine Cigarre wieder anzuzünden. Dabei machte er Platz neben sich und schien große Lust zu haben, ein Plauderstündchen zu feiern »Wir haben ja Zeit,« meinte er.

»Das geht nicht, Alterchen. Ich weiß hier nicht Bescheid,« belehrte ihn Charles, »und ich habe nicht die geringste Lust, hier auf dem Felsen zu schlafen.«

»O, ist auch unnöthig. Gehen's nur den Weg, wo die Mamsellen gekommen sind, da kommen's an die Oelmühle des Vanpotter. Der alte Kohnert giebt Ihnen Abendkost und Nachtlager umsonst.«

»So?« fragte Charles, begierig, mehr über diese Oelmühle des Vanpotter zu erfahren. Also Müller waren seine Vorfahren. »Lebt ein Vanpotter hier im Thale?«

»O, ja wohl. Sehen's mal dahin. Das rothe neue Ziegeldach, das ist seine neue Schäferei.«

»Also Schäfer sind meine Vorfahren auch? Bauern – Müller – Schäfer und die Tochter eines Marquis d'Agremont?« dachte Charles belustigt, während er das rothe Dach der Schäferei betrachtete.

»Was ist denn das für ein Gebäude?« fragte er, mit der Hand rechts ab von der Schäferei deutend.

»O, das ist die Holländerei des Vanpotter!« berichtete der Alte.

»Holländerei? Was heißt das?«

»Das ist, wo Butter und Käse gemacht wird. All' die Ställe, die Sie da zusammen sehen, sind vollgepfropft voll Kühe. Sehen's wie schlau der alte Herr das Alles gemacht. Sehen's nur die prächtigen Wiesen zwischen den beiden Wässerchen, welche wie Atlasband im Grünen glänzen. Das sind feine Wiesen und darum hat er die Holländerei dazwischen gebaut.«

»Wohnt der alte Vanpotter in dieser Holländerei?« forschte der junge Mann.

»Behüt' Gott! Sehen's die Ziegelei dort drüben am Berge? Sehen's, das ist Vanpotter's Ziegelei.« Charles fühlte sich etwas überrascht.

»Ah so, dort drüben wohnt er also?«

»Behüt' Gott! Dort hat er einen Ziegelmeister. In der Holländerei einen Verwalter und eine Wirthschafterin, in der Schäferei einen Haushof- und Schafmeister –«

»Wohnt also in der Oelmühle?« schloß Charles lachend.

»Behüt' Gott, junger Herr! Was denken's? Da wohnt der alte Kohnert.«

»Nun, wo wohnt denn in aller Welt der alte Vanpotter? Ich muß das wissen, Alterchen. Wozu hat er denn sein bischen Hab und Gut im ganzen Thale verstreuet?«

»Gehört's ihm doch beinahe ganz,« antwortete der Hausirer.

Charles sah ihn frappirt an.

»Einem Bauern das ganze weite Thal?« sagte er; der Hausirer lachte.

»Mögen's vordem wohl Bauer genannt haben, jetzt nennen's König vom Thale!«

»Wie? Ich verstehe Euch wohl nicht recht, Alterchen.«

»Fragt mal nach! Weit und breit heißt der alte Herr ›der König vom Thale!‹«

Charles sah fast erschrocken vor sich nieder. Das veränderte die Sache wesentlich. Für so reich und angesehen hätte seine ausschweifendste Phantasie einen Bauern nicht halten können. Ein schalkhaftes Lächeln zuckte über seine Mienen, als er dabei an seine Mutter dachte.

»Stehen's mal auf,« fuhr unterdessen der Hausirer redselig fort. »Stehen's mal auf und gehen's um die Felsenkante herum, da rechts. Treten's mal bis zum Rande hin. Sehen's ein Dorf, junger Herr?«

»Ja,« antwortete Charles, der seinen Anordnungen buchstäblich nachgekommen war.

»Das Dorf heißt Altingeroda. Da wohnt der König vom Thale. Sehen's das große Haus mit dem curiosen Thurmbau am Giebel? Sehen's, das ist Vanpotter's Haus. Den Thurm am Giebel hat er vor einigen zwanzig Jahren bauen lassen. Es sind Prachtzimmer darin. Sonst ist's einfach bei ihm. Die Mamselle wohnt in diesen Prachtzimmern.«

»Welche Mamselle?« fragte Charles, sehr schnell aus seinem Nachdenken erwachend, in das er bei dem Vergleiche dieser Giebelstuben mit denen seiner Phantasie versunken war.

»Nun, die große schwarzäugige Mamsell, der Sie eben über den Bach geholfen haben. Die Blonde ist auch eine Vanpotter, aber nicht aus dem Thale. Ihre Eltern wohnen hinter den Bergen in der Ebene. Sehen's da, der Wagen fährt eben durch die Schlucht dort drüben, dorthin wohnt der andere Vanpotter.«

»Ein Sohn dieses Alten?« forschte Charles.

»Behüt' Gott! Die Verwandtschaft ist von uralten Zeiten, aber der junge Karl Vanpotter, der eine Gerichtsperson ist, hat's Röschen gern und wird sie wohl heirathen.«

»Wer ist der Herr Karl Vanpotter? Ein Sohn des Alten?«

»Mag wohl sein! Es ist der Bruder der schwarzäugigen Mamsell.«

Charles blickte erstaunt auf den alten Hausirer. Es machte ihn bedenklich, daß er den Platz besetzt fand, den er für sich aufbewahrt geglaubt hatte. Nur durch eine zweite Heirath des alten Vanpotter konnten sich diese Nachkommen angefunden haben.

»Lebt des alten Herrn Frau noch?« fragte er rasch.

»Nicht, daß ich wüßt'! Fragen's nur den alten Kohnert in der Oelmühle, der ist des Hauses rechte Hand. Ist mein alter Kriegscamerad, ein charmanter Mann, gar nicht stolz und doch so angesehen bei Vanpotters, daß er am Herrentisch mit ißt, wenn er hinunterkommt. Nun aber machen's, junger Herr. Die Sonne ist weg, nun wird's gruselig im Walde. Gehen's nur den Weg hinein, wo die Mamsellen gekommen, dann sind Sie in einer halben Stunde bei der Mühle. Grüßen's den Kohnert von mir.«

Charles schüttelte dem Hausirer die Hand und ging. Er überschritt seine improvisirte Brücke, jedoch mit ungleich schwererm Herzen, als vorhin. Was hatte er nicht in dem kurzen Zeitraume von einer halben Stunde Alles gehört? Seine gute Laune war vollständig zerstört. Eine sonderbare Angst vor der nächsten Zukunft packte ihn. Er blieb mehrmals zögernd stehen, als wolle er umkehren und frohmüthig lieber zu seiner zufriedenen Mutter zurückkehren, ehe er sich hier in unangenehme Reibungen brachte.

Mittlerweile war er doch allmälig soweit bergab gestiegen, daß er sich nur noch wenig mehr, als thurmhoch über dem Thale befand. Bei einer Wendung des Baches, neben dem sein Fußsteig unveränderlich verblieb, hatte er plötzlich das ganze Dorf Altingeroda vor sich, und noch einige Schritte weiter trat er aus dem Walddickicht auf eine breite gut gehaltene Fahrstraße, die sich nach der Mühle, und von dort gerade aus nach dem Hofe des großen Giebelhauses zog, welches ihm der Hausirer als Vanpotter's Wohnhaus bezeichnet hatte.

Jetzt erst konnte Charles das ganze Thal in seinen Dimensionen beurtheilen, und er mußte gestehen, daß man den Besitzer dieser fruchtbaren Flächen nicht mit Unrecht den König des Thales nannte. Allein so angenehm es dem jungen Manne einerseits war, seinen Großvater Vanpotter nicht in demüthig-bäuerlichen Verhältnissen gefunden zu haben, ebenso peinlich war ihm der Gedanke andererseits, ungerufen und unerwünscht als Sohneskind zu Demjenigen einzutreten, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach durch anderweit geknüpfte Verhältnisse völlig getröstet hatte.

»Die Vorsehung hat Launen,« murrte er verdrießlich, über die herbstlich feiernden Fluren hinwegschauend und dem Laufe des Baches seinen Blick nachsendend, wie er jetzt still und gezähmt den Boden des Thales berührte und unter spielendem Plätschern seine kleinen Wellen auf das Gras warf. »Die Vorsehung hat wirklich Launen! Nachdem sie meine Gedanken und Entschlüsse bis hieher gut gelenkt, stellt sie mir Dornenhecken und Distelsträuche in den Weg, um mir das Paradies zu verleiden. Aber, nichts da. – Vorwärts!«

*


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