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Er kommt nicht hierher, Jetty,« flüsterte Helene spöttisch. »Wie albern stolz!«
»Aber Lena – er muß doch die ältern Herrschaften erst begrüßen,« schalt Henriette.
»Wozu denn? Meinetwegen. Ich habe nicht darauf gerechnet, mit ihm zu tanzen.«
Das junge Mädchen wendete sich und tanzte mit dem jüngsten Sohne des Oberamtmanns, der, beiläufig gesagt, kaum zwölf Jahre alt war, lustig durch die geschmückte Scheune. Helene tanzte mit Leidenschaft. Sie tanzte außerordentlich lebhaft, leicht und graziös. Ihr junger Tänzer umhüpfte sie wie ein kleiner Frosch; das störte sie nicht, sie gab sich ihrer Passion ganz hin, unbekümmert um das Aufsehen, das sie machte.
»Erlauben Sie,« sagte eine Stimme mitten im Walzer, und die kleinen dünnen Arme ihres Tänzers lösten sich, zwei starke Arme umfaßten sie – Alles mitten im Tanze unter dem Gewühl der Tanzlustigen, die auf der Tenne umhersprangen und stampften, als wären sie toll geworden. Ein Schrecken durchrieselte Helene, als sie aufschaute und sich in Edmunds Armen fand, ganz nahe seinen strahlenden Blicken. Ob ihr schwindelte – ob er sie fest an sich zog? Genug, sie schmiegte sich an ihn und von den Tönen einer zwar einfachen aber harmonischen Melodie getragen, wiegten sie sich im anmuthigen Tanze, bis sie erschöpft waren.
Helene eilte sogleich zu Henriette. Verwirrung im Blick, fragte sie mit zitternder Hast: »Es schmerzt dich doch nicht, Jetty, daß er mit mir tanzte?«
»Nein, meine liebe Helene,« flüsterte Henriette weich und gütig. »Es freute mich! Es freute mich!«
Das Geburtstagsfest nahm seinen Verlauf nach dem Programm, das die Familie des Oberamtmanns entworfen hatte. Man sah überall frohe Gesichter, ein Zeichen, daß man befriedigt war. Die junge Welt tanzte nach Herzenslust. Bald unten in der Scheune mit dem Volke, bald oben im Salon. Schließlich zog man sich dorthin zurück, um dem wachsenden Gewühl auf der Tenne zu entgehen. Ein splendides Abendessen vereinte endlich die Jugend und das Alter. Als das Souper zu Ende war, brachen viele der Gäste auf, um den Rückweg nach Hause anzutreten.
Auch Herr von Bohlberg nebst Familie begann sich zu rüsten. Er hatte zwar keinen weiten Weg zurückzulegen und seine raschen, muthigen Pferde würden ihn selbst im nächtlichen Dunkel innerhalb einer Stunde nach Haus gebracht haben; allein der wackere Landwirth wollte weder seinen Pferden, die am nächsten Tage wieder scharf arbeiten mußten, eine nächtliche späte Fahrt zumuthen, noch seine, nicht übermäßig kräftige Gattin einer längeren aufregenden Zerstreuung überantwortet sehen.
»Es ist uns Allen besser, wenn wir um Mitternacht zur Ruhe sind,« sagte er scherzend, als der Oberamtmann bat, noch länger zu bleiben.
Die Dame des Hauses kam auch herbei und protestirte gegen Bohlbergs Aufbruch. Die Kinder des Hauses schlossen sich diesem Proteste an, es entstand ein lustiger Kampf, man pries alles das Amüsante, was noch bevorstand, man wollte noch in Jubel und Freude bis zum Aufgang der Sonne zusammenbleiben. Bohlberg blieb fest, denn ein Blick seiner Gattin hatte ihn gebeten, sie dem Tumulte zu entführen. Ihr zarter Organismus vertrug nicht solche lärmvolle Vergnügungen.
Nach und nach hatte sich der größte Theil der Gesellschaft um Bohlberg gruppirt und Theil an den Debatten für und wider die Abfahrt genommen. Der Drost trat auf seine Seite. Der alte Herr hatte auch genug des Vergnügens und fand den Wunsch der Frau Bertha nach Ruhe erklärlich. Er wollte ebenfalls aufbrechen, und da sein Weg an Wederstedt vorüberlief, so gefiel es ihm, mit Bohlberg zusammen zu fahren.
»Mein Herr Neffe scheint sich noch zu amüsiren, er hat spät damit angefangen, und da er zu Pferde hergekommen ist, so mag er bleiben, wenn es ihm beliebt,« schloß der würdige Herr.
»Prächtig,« erklärte nun der Oberamtmann mit guter Laune, »prächtig, daß Edmund bleibt, mögt Ihr denn fahren, Bohlberg, wenn es Euch beliebt, aber laßt uns Helene hier! Morgen sende ich sie per Expreß hinüber.«
Ein endloser Jubelruf folgte diesem Vorschlag. Helene erhielt heiter die Erlaubniß bleiben zu dürfen, und Bohlbergs Wagen fuhr gleich darauf vor.
Mitten im Gewühl stand Helene vor Henrietten und legte ihre Arme um deren Nacken. Ein ängstliches Lächeln auf dem rosigen Gesichte, heftete sie ihren Blick forschend auf Henriette und flüsterte beklommen:
»Jetty, mir ist so bange, o so weh, so bange!«
»Sei kein Kind, Helene,« bat Henriette leise. »Was hättest du wohl für Ursache, zu bangen?«
»Mir ist als begehe ich ein Unrecht.«
»Wenn du nach erhaltener Erlaubniß hier bleibst, kleine Thörin?«
»Deinetwegen müßte ich es nicht thun.«
»Verscherze dir doch nicht unnöthig des Lebens Freuden.«
»Mir ist's, als wäre ich im Begriff, dich zu berauben,« sagte das junge Mädchen mit erstickter Stimme. »Edmund ist freundlich gegen mich – kränkt dich das nicht, Jetty?«
»Nein,« entgegnete Henriette mit himmlischer Freundlichkeit. »Gott segne dich und ihn!«
»Zürnest du Edmund nicht, daß er immer mit mir plaudert, daß er dich ganz zu vergessen scheint? Sag' es mir, Jetty, sag' es mir aufrichtig, dann fahre ich lieber mit euch und sehe ihn nie wieder freundlich an.«
»Ich zürne weder dir, noch Edmund,« entgegnete Henriette fast feierlich. »Ich habe euch beide lieb. Gieb dich ungestört deiner Fröhlichkeit hin, plaudere, tanze, lache und scherze mit Edmund und morgen erzähle mir dann, was ihr Beide Alles gesprochen, was auch für Thorheit und was für Unsinn mit untergelaufen sein mag.«
»Ja, Jetty! Morgen erzähle ich dir jedes Wort. Ach ich bin so glücklich und doch bin ich so betrübt, so ängstlich, als läge mir ein Stein auf der Brust, mir sind die Thränen nahe als hätte ich ein Unglück zu beweinen. Nicht wahr, Jetty, o, wiederhole es nochmals, nicht wahr, du hast mich so lieb, wie Edmund, und du hast Edmund so lieb wie mich, und du gönnst uns ohne Schmerz unsere Freude?«
»Thörichtes Kind,« sprach Henriette sehr heiter. »Ich habe dich tausendmal lieber, als Edmund, und wenn mir seine kurze Auszeichnung wohlgethan hat, so bin ich jetzt um so weniger durch seine Zurückhaltung verletzt, weil er mir edelherzig offenbart hat, warum das geschehen müsse. Sieh dir die Sache nicht durch die Gläser der Romantik an, Kleine, dann wirst du sie richtiger beurtheilen. Nun amüsire dich, liebes Kind, erkälte dich nicht, morgen schwatzen wir mehr.«
Sie küßte Helene und wollte hinauseilen.
»Jetty!« rief Helene so laut und schmerzlich, daß es allen Anwesenden auffiel, »ich möchte mitfahren, ich möchte nicht hier bleiben!«
Henriette antwortete nur durch ein fröhliches Gelächter, stieg rasch die Treppen hinunter und setzte sich in den bereitstehenden Wagen. Gleich darauf rollte derselbe vom Hof.
»Wie zärtlich Helene das Mädchen liebt!« murmelten einige der Gäste unter einander.
»Man sagt ja, es sei ihre Tante. Jedenfalls ist Henriette eine Verwandte des Hauses, da sie von Wederstedt heißt. Finden Sie nicht eine große Aehnlichkeit zwischen diesem Fräulein von Wederstedt und jenem Fräulein von Wederstedt, die vor circa fünfundzwanzig Jahren bei Frau von Thurngau lebte? Durchaus nicht! Nicht eine Spur von Aehnlichkeit, das bilden Sie sich nur ein! Wo ist diese Dame geblieben? Todt, lange todt!«
Während dieser kurzen, abgerissenen Conversation hatte sich die zurückgebliebene Gesellschaft wieder im Salon vereinigt. Der Tanz begann von Neuem. Helene verlor bald alle Trauer aus dem schönen Gesicht und ihre Augen erzählten es Jedem, der es wissen wollte, wie kindlich heiter, wie befriedigt ihr junges unschuldiges Herz war. Sie tanzte, sie lachte und scherzte, und der Vorsatz, Alles ihrer lieben Jetty erzählen zu wollen, störte sie keineswegs in ihrer Lust.
Mittlerweile war Bohlberg, in Begleitung der Werderschen Equipagen, Wederstedt näher gekommen und der Kutscher hielt am Scheidewege an, wie sein Herr es ihm geboten.
»Gute Nacht, meine Gnädigsten!« rief der alte Drost mit gewohnter Artigkeit und bog sich grüßend aus dem Wagen. »Möge Ihnen allen das Spektakelfest wohl bekommen. Gute Nacht, Bohlberg, es freut mich, daß Sie vernünftig geworden sind; morgen also sprechen wir weiter über die Sache – gute Nacht.«
Man dankte dem würdigen Herrn und sein Wagen fuhr weiter. Er war noch nicht weit gefahren, da hielt sein Kutscher an und sagte:
»Haben Gnaden schon gehört, daß Herr von Thurngau wieder da ist?«
Als hätte ihn ein Skorpion gestochen, so fuhr Herr von Werder auf.
»Was? Davon hat mir Bohlberg nicht ein Wort gesagt.«
»Herr von Bohlberg wird's wohl noch nicht wissen. Ich habe es von einem Knechte in Groß-Heilungen, der ist dem Postillon begegnet, als er zurückgefahren ist. Der Postillon hat schmählich geschimpft und gemeint, solch' ärmlichen Passagier noch niemals gefahren zu haben. Ganz verhungert und verdurstet wären sie in Wederstedt angekommen, auf keiner Station hätte der Herr Passagier etwas verzehrt, geschweige Trinkgelder gezahlt. Er selber habe auch nichts erhalten, aber die Köchin vom Gute hätte ihm wenigstens etwas gegeben. Der Postillon meinte, sein Passagier habe gewiß seinen letzten Groschen angewendet, um die Post zu bezahlen –«
»Schon gut, Friedrich,« unterbrach der Drost den gutmüthigen Schwätzer. »Ich bekümmere mich nicht gern um den Geldbeutel anderer Leute.«
Der Kutscher hieb auf seine Pferde. Herr von Werder wußte genug, um seine Freunde in Wederstedt zu bedauern.
»Ein trübseliges Nachspiel,« murmelte er und wickelte sich fröstelnd in seinen Mantel. »Das muß geändert werden. Morgen mag der Kampf beginnen, ich bin gerüstet!«
Bohlbergs Wagen rollte unaufhaltsam seinem Ziele zu. Es herrschte eine befremdliche Stille im Wagen. Die Herrschaften schienen sich in der dumpfen und unbehaglichen Stimmung zu befinden, welche eine totale Ermüdung voraussetzen läßt.
Mit einem erleichternden Athemzuge richtete sich Frau von Bohlberg aus den Polstern auf, als ihr Kutscher durch Klatschen mit der Peitsche das Zeichen zur Oeffnung des Thorweges gab. Auch Henriette seufzte, sagte aber lachend:
»Mir erscheint solch' Vergnügen wie eine langweilige Arbeit, Bertha!«
»Sie haben Recht, Jettchen,« stimmte Bohlberg bei. »Zwei Jahre lang täglich solche Amüsements, und ich wäre todt. Wie halten das manche Leute aus?«
»Sie sind es gewohnt, Oswald. Aber Himmel, was hat denn unsere Köchin zu berichten? Sie stürzt wie ein Pfeil uns entgegen; mein Vater ist da, ich habe es geahnt! Oswald – Oswald, mein Vater ist da!«
Die arme Dame verhüllte ihr Gesicht, Oswalds Gesicht verfärbte sich. Henriette schlug betend die Hände zusammen und hob stehend ihr Auge zu Gott empor. Ob sie sich dem Geschick zum Opfer darbot, um nur dieses Gespenst aus dem Dasein der glücklichen Menschen zu bannen?
Die Köchin kam keuchend an den Wagen. Der gnädige alte Herr war angekommen. Er hatte geflucht, gezetert und gewettert, daß Niemand zu Hause war und daß er alle Zimmer verschlossen und verriegelt fand. Er war wie ein Irrsinniger im Hause umhergekrochen, hatte an allen Thüren gerüttelt und mit furchtbarem Appetite gespeist.
Dies zu berichten, war das treue Mädchen gleich nach dem ersten Peitschenknall fortgelaufen, damit der alte Herr, der gewiß auf der Lauer liege, nicht gewahr werde, was sie vorhabe.
Herr von Bohlberg befahl ihr, ruhig wieder in's Haus zu gehen, es sei ihm lieb, die Ankunft des alten Herrn zeitig genug erfahren zu haben.
»Sei ruhig, Bertha,« bat er die still weinende Gattin, sehr bewegt. »Sei ruhig! Ich werde dahin wirken, daß unser häuslicher Frieden ferner nicht so leicht gestört werden kann.«
Der Wagen hielt. Die Dienerschaft kam herbei. Der Major ließ sich nicht sehen.
»Wo ist er?« flüsterte Henriette der Köchin zu.
»In seiner Stube!« war die kaum hörbare Antwort.
Da stand der Major plötzlich in der Hausthür.
Henriette sah ihn zuerst. Sie eilte auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich. Er ließ sich mit würdiger Herablassung die Hand küssen, strich dann mit huldvollem Blicke über ihr Gesicht und sagte:
»Bist ein gutes Kind! Bist mein liebes Mädchen! Ich will bei Gelegenheit einmal aufrichtig mit dir sprechen.«
Henriette sah ihn bestürzt an und trat zurück. Ob ihr reines edles Herz von einer Ahnung erfaßt wurde, was wohl dieser Mann mit ihr aufrichtig zu besprechen haben könne?
»Guten Abend, Herr Vater!« rief Bohlberg mit ernster Höflichkeit, indem er die Schlüssel zur Wohnstube und zu den andern Zimmern aus der Seitentasche zog. »Es thut mir herzlich leid, daß Sie uns nicht zu Hause getroffen haben und dadurch auf Ihr eigenes Zimmer beschränkt worden sind.«
»Ja, es ist erstaunlich,« antwortete der Major in zornigem Hohne, »daß ich nicht auch den Thorweg verschlossen und die Hunde losgelassen gefunden habe, um den unbequemen Vater abzuwehren.«
»Vater, sei doch nicht böse,« bat Frau von Bohlberg ängstlich. »Hätten wir ahnen können, daß du eintreffen würdest –«
»Mach' keine unnützen Entschuldigungen Bertha,« unterbrach der Hausherr sie schroff; »es wäre unbillig von einem Gaste, wollte er verlangen, man solle seinetwegen Thor und Thür offen lassen.«
Sie traten in das Wohnzimmer, das schnell erleuchtet wurde. Es war eine unerquickliche Begrüßung gewesen, keineswegs dazu angethan, den verhaltenen Groll in den Gemüthern zu lösen. Frau Bertha ging bald hinaus, um Wirthschaftsanordnungen zu treffen, Henriette folgte ihr, die beiden Männer blieben allein.
Der Major hatte ganz augenscheinlich während seiner Abwesenheit sich selbst die Ueberzeugung eingeredet, daß seine unverständigen Ansprüche mit Gewalt durchgeführt und zum Austrag gebracht werden müßten. Es mochte ihm dabei ganz aus dem Sinne gekommen sein, daß seine Pläne fehlgeschlagen und woran sie scheitern konnten. Er mußte sich in den Glauben hineingelebt haben, es genüge, energisch zu wollen, um Alles gelingen zu sehen. Genug, durch dergleichen Voraussetzungen ist es zu erklären, daß er vor Bohlberg hintrat und mit brüskem Tone sagte:
»Haben Sie jetzt genugsam überlegt, auf welche Weise Sie Ihre Verbindlichkeiten gegen mich lösen wollen?
Bohlberg sah ihn fest an. Seine Galle regte sich.
»Ich habe keine Verbindlichkeiten gegen Sie!« war seine Antwort.
»Das werde ich Ihnen beweisen,« meinte Thurngau hämisch.
»Versuchen Sie es,« gab Bohlberg erbittert zurück.
»Das Gut gehört mir! Sie werden von mir fortgejagt werden. Verlassen Sie sich darauf!«
»Das sind Ansichten eines Thoren, der die Gesetze nicht kennt.«
»Ich brauchte Ihnen noch nicht einmal den Erbantheil Ihrer Frau herauszuzahlen.«
»Lächerliche Ideen. Ich habe Sie für klüger gehalten.«
»Geben Sie gutwillig nach, ich werde sonst das Aeußerste wagen, um zu meinem Besitzthum zu gelangen.«
»Wagen Sie es immerhin, es nützt Ihnen nichts! Für heute nicht ein Wort mehr über die Sache, morgen soll sich entscheiden, wer Wederstedt auf immer zu verlassen hat.«
»Sie wollen mir drohen?« wüthete der alte Herr plötzlich und machte eine Bewegung, als wolle er ein Schwert ziehen.
Bohlberg lachte verächtlich.
»Lassen Sie stecken und gehen Sie zur Ruhe. Mit solchen Alfanzereien schreckt man keinen vernünftigen Mann. Ueberlegen Sie sich während der Nacht was Sie thun wollen, denn morgen wird Ihnen wenig Zeit zur Ueberlegung gelassen werden. Der Drost von Werder und der Oberamtmann Hedemann werden in meiner Gegenwart Documente produziren, die Ihnen den richtigen Weg zu zeigen im Stande sind.«
»Dokumente,« lachte der Major hohnvoll, »Dokumente – nachgemachte, gefälschte, selbstfabrizirte Dokumente, die gar kein Gewicht haben, wartet!«
»Es wird sich alles finden, heute Abend kein Wort weiter! Verstehen Sie mich?«
Der Major stürzte fort, man hörte ihn seine Zimmerthür krachend zuschlagen.
Erschrocken kam Frau von Bohlberg.
»Was habt Ihr vorgehabt, Oswald?« fragte sie.
»Ich mußte ihn zur Ruhe verweisen, mein liebes Weib,« antwortete Bohlberg und umschlang sie mit beiden Armen. »Es wird morgen ein schwerer Tag werden; Werder und Hedemann kommen, aber dann tritt hoffentlich wieder himmlischer Frieden ein, theure Bertha.«
»Ob wir uns dieser Hoffnung hingeben dürfen, Oswald!«
»Ja! in uns ruhet das Bedürfniß des Friedens, in uns liegt die göttliche Ruhe der Zufriedenheit, auf solchen Grundlagen kann man schon Hoffnungen auf friedliches Glück bauen, Bertha.«
»Ich bin so leicht verzagt, Oswald, du mußt mich stützen! Meine Mutter hat dich richtig erkannt, als sie an unserm Hochzeitstage zu mir sagte: du bist ein schwaches Zweiglein, darum mußt du dich an einen festen und starken Baum binden!«
»Wenn deine Mutter dich richtig zu beurtheilen wußte, so lag dies in meiner unbedingten Offenheit, mit der ich mein Inneres kund gab, Bertha. Sie berief mich zu ihrem Schutze hierher und machte mir Hoffnung, Wederstedt an mich zu verkaufen. Ich kam. Sie prüfte mich. Dann sagte sie mir ohne Umschweife, daß sie mir ihre Tochter zur Gattin bestimmt habe. Du warst vom ersten Augenblick der Abgott meiner Seele gewesen, aber ich zweifelte, daß einem so zarten Wesen der derbe kräftige Landjunker gefallen könne.«
»O, ich liebte dich abgöttisch!« sagte Frau Bertha in zärtlicher Schwärmerei.
»Wir waren so jung noch,« fuhr Oswald bewegt fort. »Wir sind noch so jung, wir lieben uns so herzinnig, wie vor fünfzehn Jahren, ist das nicht auch ein Glück, Bertha?«
»Und unsere Helene?« fragte Frau von Bohlberg mit strahlendem Lächeln.
»Sie wird auch so jung geliebt werden,« scherzte er. »Edmund wird unser Stolz sein!«
»Wie glücklich macht es mich, daß sie dir gleich, daß sie dir ähnlich ist an Leib und Seele!«
»Ihren Strudelkopf abgerechnet,« warf Oswald lachend ein.
»Hast du den nie gehabt?« fragte die kleine Frau schelmisch.
Henriette trat ein und störte das friedliche Plaudern der Eheleute. Sie sagte ihnen gute Nacht und ging zur Ruhe. Man hörte in der Ferne den Nachtwächter Mitternacht verkünden. Noch einige Minuten verweilte das Ehepaar im Wohnzimmer, dann trennte es sich.
Erst als Bohlberg im Bette lag, fiel es ihm schwer auf's Herz, daß seine Frau allein im Zimmer schlafe, weil Helene in Heilungen geblieben. Eine Sorge überschlich seine Seele. Freilich, Henriette schlief dicht daneben, aber es fehlte eine Verbindungsthür zwischen beiden Gemächern. Unter sorglichen Gedanken überlegte er, was zu thun sei; schon wollte er wieder aufstehen, als er die Thür von des Majors Zimmer leise knarren hörte. Nein, mit diesem Manne wollte er nicht zusammentreffen, er wollte warten – vielleicht – nachher – nur an ihrer Thür lauschen. –
Das war sein letzter Gedanke. Er entschlief und fiel nach und nach in einen sehr festen Schlaf. Die Aufregung des Tages, der feurige Wein, die Erschlaffung der Nerven nach solchen Vergnügungen. Alles wirkte, Bohlberg schlief außergewöhnlich fest und tief.
Im Beginn seines Schlummers umgaukelten liebliche Bilder seine Seele. Das holde Geplauder mit seiner Gattin wirkte darin nach. Er liebte diese Frau mit der ganzen Kraft seines unverdorbenen und unentweihten Herzens und sie hing mit derselben ungetheilten Liebe an ihm –war es ein Wunder, wenn seine Phantasie auch noch im Schlafe sich mit ihr beschäftigte?
Erst als seine Sinne immer fester der Wirklichkeit sich verschlossen, als sein Bewußtsein ganz erstarb, als er jedem Eindruck von außen unzugänglich wurde, erst da veränderten sich seine Traumgedanken und eine quälende Vision trat an ihre Stelle. Träume von grauenhafter Bedeutsamkeit ängstigten ihn, ohne daß es ihm gelingen wollte, den Schleier der Betäubung zu zerreißen.
Ihm schien ein furchtbares Gespenst von riesiger Beschaffenheit im Hause thätig zu sein: bald griff es seine Gattin an, bald zerrte es seine Tochter Helene mit sich fort – er hörte den Klagelaut der ersteren, er vernahm den grellen Angstschrei der letzteren, aber er konnte nicht zu ihnen, seine Hände waren gefesselt, sein Körper lag in unlösbaren Banden, eine unsichtbare Gewalt hielt ihn zurück. Das Gespenst nahte auch ihm; er erkannte endlich die Züge dieses entsetzlichen Wesens – es war Thurngau, der Vater seiner Gattin. Seine Furcht, seine Angst schwand. Selbst im Traume fiel es ihm schwer, an eine Macht dieses bösen Geistes zu glauben. Der Alp, der seine schweren, schwarzen Fittige auf seine Brust gelegt, wich, und sein Schlaf wurde ruhiger unter dem dumpfen Bewußtsein, daß der Wortwechsel des Abends diesen Spuk vor seiner Seele entfaltet hatte.
Aber nicht lange währte diese Beruhigung. Wieder und immer wieder tauchte das phantastische Gespenst vor ihm auf; sein Herz klopfte, der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Der kräftige, starke, vernünftige Mann wand sich wie ein Kind unter dem Einflusse dieses Traumes, der wie glühendes Blei über ihn gegossen schien, um ihn unter Todesqualen zu martern.
Endlich rang er gewaltsam nach Besinnung. Er löste unter einem momentanen Aufblitzen seines Geistes die Fesseln des Schlafes und richtete sich jäh in die Höhe. Noch schlaftrunken saß er da im Bett. Da – träumte er denn noch? Ein Schrei? Ein gräßlich wilder Schrei? Wie?
Hülfe! tönte es wie aus weiter Ferne. Hülfe! Hülfe! rief es von Neuem. Hülfe!
Mit einem Sprunge war Bohlberg zum Bette hinaus, warf einige Kleidungsstücke über und öffnete seine Thür.
»Mein Gott, meine Frau, meine Bertha! Sie ist allein – Gott im Himmel!« stöhnte er.
Wie ein Pfeil durcheilte er den Korridor und riß die Thür zum Hausflur auf.
Flammen, gräßlich wilde Flammen schlugen ihm entgegen, die Treppe nach den Giebelzimmern brannte, und oben, hinter dem Gewirre der prasselnden Gluth, wankte eine Gestalt im Nachtgewande unter furchtbarem Jammergeschrei.
Ohne Besinnen stürzte Bohlberg hinauf, die Stufen krachten schon unter seinen Tritten.
»Bertha! Bertha!« rief er.
Die Gestalt stürzte ihm entgegen, sie warf sich, ermuthigt durch seine Nähe, in das brausende, verwirrende Flammenmeer – seine Arme umfaßten das geliebte Weib, die Treppe brach – sie stürzten zusammen in den untern Raum.
Aber Bohlberg raffte sich aus der sprühenden Gluth auf und trug seine Gattin durch den Korridor in sein jetziges Schlafzimmer, das fern genug vom Herd des Feuers lag. Nun erst erwachte die arme Frau zum Bewußtsein.
»Oswald!« fuhr sie gellend auf, »Henriette! Sie schläft noch!«
»Bleibe hier, Bertha!« stöhnte Oswald, der schwer verletzt war.
Er rannte wild zurück, er rief »Feuer!«
Seine Dienstboten erwachten und im Dorfe wurde es lebendig, denn die Flammen schlugen nun aus allen Dachfenstern hervor. Das Feuer mußte innerlich schon arg gewüthet haben, bevor es Luft bekommen. Nicht zehn Minuten nach der Rettung der Frau von Bohlberg brachen die schwachen Seitenwände des Giebelhauses zusammen! Was dort geweilt hatte, war auf ewig verloren!
Jetzt strömte die Hülfe von allen Seiten herzu. Die Leute, die da retten wollten fanden alle Thüren offen, wer sie geöffnet hatte, wußte späterhin kein Mensch zu sagen. Die Pforte im Thorweg hatte offen gestanden, die Hausthür war nur angelehnt gewesen, die Wohnstube, das große Nebenzimmer, alles hatte man unverschlossen gefunden und dennoch die Schlüssel an ihrem gewöhnlichen Platze verwahrt und der Schlüsselkorb im Schlafzimmer des Hausherrn, wie immer.
Bohlberg erfuhr davon zur Zeit nichts. Nachdem er Hülfe geschafft, brach er vor Schreck zusammen. Seine Beine, die er in der Eile nicht bekleidet hatte, waren furchtbar verbrannt. Wimmernd lag er in einem Bauernhause, wohin man ihn und die ebenfalls mit Brandwunden überdeckte Gattin geschafft hatte.
Das Feuer wüthete fort. Es ergriff das untere Stockwerk. Man schaffte die Möbel in den Garten. Der große Familienschrank, der Zeugniß von verruchter Gewissenlosigkeit geben konnte, verbrannte. Das Bureau wurde gerettet, aber man fand, daß es geöffnet gewesen und seines ganzen Inhaltes beraubt worden war.
Und Henriette? Sie fehlte. Sie mußte verbrannt sein! Vielleicht hatte der eingedrungene Rauch das junge Mädchen betäubt, getödtet und so ihrem Leben mitleidig ein Ende gemacht, bevor sie der Gefahr inne wurde, die ihr drohte.
Wo aber war der Major geblieben? Kein Mensch dachte an ihn. Man hatte vergessen, daß er am Spätnachmittage angelangt und seit dem Feuer verschwunden war. In dem furchtbaren Wechsel ihres Geschickes, unter den Seelen- und Körperschmerzen, die beide Gatten darniedergeworfen, verlor sich die Erinnerung an ihn, den sie als den Dämon ihres Hauses betrachteten.
Nach Henrietten rief Frau von Bohlberg mit herzzerreißendem Jammer. Sie wies den Trost, den man ihr mit erbarmungsvoller Lüge einzureden versuchte, heftig zurück.
»Wenn Ihr mir sagt, sie werde kommen,« rief sie in halbem Wahnsinn, »so lügt Ihr. Sie ist todt! Sie ist verbrannt! O Jetty! Als ich meine Zimmerthür aufriß, von dem unheimlichen Rascheln und Knacken des Feuers erweckt, da brannte schon die andere Seite des Giebels und aus Henriettens Thür schlugen züngelnde Flammen.«
»Ja,« sprach Bohlberg, männlich sein Leiden unterdrückend, um die geistige Kraft seiner Gattin zu heben, »ja, Henriette ist, sie muß todt sein. Aber sie ist jedenfalls schon todt gewesen, ehe die Flammen sie ereilt haben, sonst würde wenigstens ein Versuch von ihr gemacht sein, sich und dich zu retten. Danken wir Gott für ein leichtes Ende, Bertha, und preisen wir den Allmächtigen, daß nicht ein doppelter Verlust uns betroffen hat, daß uns unsere Helene gerettet ist.«
Frau von Bohlberg faltete, plötzlich beruhigt, ihre Hände und blickte zum Himmel auf. Thränen des Mitleids. Thränen der Liebe um die Verlorene wechselten jetzt mit heißen Dankgebeten. Ihr war ja die Tochter geblieben! Ihre Tochter, o verhängnißvolles Dasein!
Während die Mutter und der Vater vom Tode bedroht, von Schmerzen gefoltert und in thränenvoller Trauer machtlos dem Vernichtungsprozeß des Feuers ihr Hab und Gut geopfert sahen, während die geliebte Freundin der Jugend ihr Leben einbüßte, während das Unglück mit fürchterlicher Gewalt daherkam, tanzte Helene ohne Ahnung dem kommenden Tage entgegen und überließ sich dem Zauber eines ungekannten Glückes.
Wie schnell sollte ihre sonnige Heiterkeit von den grauen Wolken des Unheils vernichtet werden, als ein leises Gerücht auftauchte, es sei irgendwo Feuer, man sehe einen Feuerschein am Himmel. Man forschte voller Theilnahme, wo es brenne.
Der Tanz im Salon des Oberamtmanns Hedemann hatte soeben sein Ende erreicht und mit traulichem Gespräch bildeten sich Gruppen, die lustwandelnd hin und her gingen. In diesem Momente stürzte ein Mann herein und rief:
»Es brennt in Wederstedt, auf dem Gutshofe!«
Helene stand neben Edmund, als diese Nachricht ihr Ohr berührte. Das Wort erstarb ihr auf der Kippe, alles Blut wich aus ihrem Gesichte nach dem Herzen, wo es den Pulsschlag desselben zu hemmen drohte. Sie athmete schwer, sie wankte, aber der Anfall wich eben so schnell, wie er gekommen war.
»Ich muß fort!« sagte sie tonlos und warf ein Tuch um den Nacken.
»Warten Sie eine Minute, bis ich einen Wagen selbst besorgt habe,« bat Edmund, stark erschrocken.
»Warten?« wiederholte Helene und heftete ihren Blick, irr und abwesend, auf den jungen Mann. »Ich muß fort und kann auf nichts warten!«
»Dann begleite ich Sie! Nehmen sie meinen Arm!«
Helene that es und Beide verließen den Saal, ehe nur das Gewirr der ersten Bestürzung überwunden war.
Fort eilten sie, in die Nacht hinaus, instinktmäßig den richtigen und nächsten Weg findend. Nicht ein Wort sprachen die beiden jungen Menschen zusammen. Nur fort, nur fort, damit sie heimkomme! Vor ihnen stieg die Feuersäule empor, Leute kamen ihnen entgegen, um Spritzen von den Nachbardörfern zu requiriren.
»Ein gräßliches Unglück!« sagte der Eine, indem er an den beiden verhüllten Gestalten vorübereilte.
Fragen konnte Helene nicht. Ihre Stimme versagte den Dienst.
Noch rascher, noch stürmischer eilte sie vorwärts.
»Helene Sie überlaufen sich, Sie halten es nicht aus!« bat Edmund leise.
Sie ließ seinen Arm los.
»Bleiben Sie zurück und folgen Sie mir langsamer,« bebte es von ihren Lippen.
»Nimmermehr! Meine Kraft reicht schon aus,« sagte er.
»O, ich bin kein Schwächling!« sagte sie.
Der Feuerschein erhellte jetzt ihren Weg, so nahe waren sie schon gekommen. Ein Mann stürzte an ihnen vorüber und kehrte dann um.
»Ha, sind Sie gerettet, man sprach davon, daß auch Sie im Feuer umgekommen seien.«
Ein Schauder durchrieselte Edmund und machte ihn unfähig zum Sprechen. Helene aber fragte heiser vor Angst:
»Wer ist umgekommen?«
»Fräulein Henriette; der gnädige Herr und die gnädige Frau sind nur stark verbrannt.«
Ein Schrei, wie wohl selten einer Menschenbrust sich entringt, war die ganze Antwort auf diese entsetzliche Kunde, Helene sank zu Boden, Edmund schlug verzweiflungsvoll die Hände vor's Gesicht.
Der Verkünder des Unglücks bereute seine Uebereilung, aber er hatte weder Zeit, noch Mittel, zu helfen. Fort eilte er, denn Hülfe that noth, wollten sie die übrigen Gebäude des Gutshofes retten.
Edmund suchte sich zu ermannen. Er rang sich los von der Betäubung, in die er von der Wucht dieses Schicksalsschlages versetzt worden war. Er fühlte, daß er Helenen ein Tröster sein müsse. Als er sich aufrichtete, aus seiner schmerzlichen Versunkenheit, da sah er aber die weiße Gestalt schon weit von sich, unaufhaltsam dem Dorfe zufliegend. Stumm und thränenlos reichte sie ihm die Hand, als er sie wieder erreicht hatte. Was sie litt, verrieth sie nur in dem convulsivischen Zittern ihres ganzen Körpers.
Das Wiedersehen ihrer Eltern nach dem erschütternden Wechsel ihres Geschickes in so kurzer Zeit war endlich ein überwältigender Moment für Helene. Sie stürzte am Lager derselben nieder.
»Es ist wahr! Es ist Alles, Alles wahr, was man uns sagte – meine Jetty, o mein Vater, meine Mutter!« rief sie, dann umhüllte eine tiefe, lange Ohnmacht ihre Sinne.
Was läßt sich von solchen Ereignissen viel erzählen? Wie schwer des Schicksals Hand die armen Menschen getroffen, welche sich in ihrer Redlichkeit unter Gottes Schutz gestellt glaubten, ist nach den Schilderungen ihrer Charaktere leicht zu begreifen. In seinem ganzen Umfange erkannten sie ihr Unglück noch nicht. Ihre Leiden fesselten sie an die Stätte, wohin man sie in der Noth des Augenblickes gebettet hatte. Des Feuers Ausdehnung verschwieg man ihnen schonend, bis der Morgen graute und die Flammen gelöscht waren.
Edmund hatte einen Eilboten an seinen Onkel geschickt, Hedemann kam bald nach ihm aus eigenem Antriebe angeritten. Beide wußten nichts von der Ankunft des Majors. Erst als Herr von Werder verstört, ja man konnte sagen, in einem Zustande leidenschaftlicher Verwirrung eintraf, als er, rasch wie ein Jüngling, aus dem Wagen sprang und wild bewegt fragte:
»Wo ist der Schuft? Wo ist der Schurke, der Urheber dieses furchtbaren Elendes?« erst da dämmerte dem Oberamtmann eine Ahnung.
»Ist denn Thurngau hier?« fragte er gespannt dagegen.
»Ich habe ihn noch nicht bemerkt,« antwortete Edmund schnell.
»Laßt uns nachfragen, er soll gestern gegen Abend gekommen sein. Wehe ihm! Wehe, wehe ihm! Wo ist Bohlberg? Hat es Gefahr mit seinen Brandwunden? Ich habe sofort nach dem Doctor geschickt, und ihm sagen lassen, was geschehen ist, damit er sich mit Hülfsmitteln versieht. Großer, allbarmherziger Gott, die arme Jetty, des Verruchten Kind, von ihm selbst wahrscheinlich dem Feuertode überantwortet!«
»Wie?« fragte Edmund erschüttert. »Thurngau's Tochter? Henriette von Wederstedt?«
»Ja, ja! Mag es jetzt alle Welt wissen, was wir ihr, dem liebenswürdigen Kinde leichtsinniger und verbrecherischer Eltern, verschweigen wollten, mag es jetzt die Welt wissen, daß Thurngau's Gattin, im Edelmuthe eines reinen Herzens, das Kind ihrer Cousine Wederstedt, das sein Dasein einem sündigen Verhältniß mit ihrem Ehegatten verdankte, an ihrem Busen groß gezogen und ihre angebornen Schwächen zum Guten geleitet hat. Henriette hat ihr durch Liebe vergolten was sie gethan. Ihr Tod soll gerächt werden, so wahr Gott ein gerechter Richter ist, es soll des Sünders letzte Sünde sein!«
Herr von Werder bekleidete die Stelle eines Landeshauptmannes in einem kleinen Nachbarstaat Preußens. Obwohl nun Wederstedt und auch Heilungen Grenzdörfer von Preußen waren, so konnte er dennoch bei der Nähe seines Wohnsitzes mit einer Einschreitung drohen, da die nächste preußische Gerichtsbarkeit sehr schlaff vertreten war und man es höhern Orts stets gelten ließ, wenn der geschäftskundige Drost von Werder energisch eingeschritten war.
Der Drost auf Werderswarthe war unter dem Volke der Gauner und Spitzbuben eine bekannte und gefürchtete Persönlichkeit. Es kostete ihn daher nur eine Miene, sich einer Sache anzunehmen, so verbreitete sich ein panischer Schrecken unter denen die sich schuldig fühlten. Die Justizpflege im deutschen Lande, absonderlich in den Provinzen, lag überhaupt damals noch im Argen. Es beherrschte häufig die Willkür eines Einzelnen, der befähigt genug und der Gesetze kundig war, ganze Distrikte, ohne zu besonderer Verantwortlichkeit verpflichtet zu sein. Gefangene waren auch der Willkür unterworfen. Wer nicht durch sein eigenes Gewissen von den Gründen zu seiner Verhaftung unterrichtet wurde, der saß oft wochenlang, ohne zu wissen weshalb man ihn eigentlich eingesperrt hielt.
Solche Ueberschreitung seiner Amtspflicht konnte man dem alten, würdigen Drost nicht nachsagen, wohl aber traf ihn der Vorwurf, daß er sich von seinem Amtseifer zu Maßregeln hinreißen ließ, die ihm nachher selbst leid waren, nicht mit Unrecht. Er mischte sich oft in Dinge, die ihn nichts angingen, so auch hier in Wederstedt, wo er durch Freundschaftspflichten ein Recht zu haben meinte, einen Uebelthäter zu entlarven.
Es kostete ihn wenig Mühe, den Besuch des Majors festzustellen. Eine innere Antipathie gegen diesen unliebenswürdigen Gast des Gutsherrn machte alle Leute im Dorfe bereit, ihre Beobachtungen über ihn rücksichtslos auszusprechen. Der eine hatte den alten gnädigen Herrn gegen Abend in einer Postkutsche anlangen sehen und dabei einen heftigen Wortwechsel zwischen dem Postillon und ihm vernommen. Unter Anderm hatte er deutlich gehört, daß er gesagt habe, wenn er zurückfahre, so passirte er ja die Station, wo der Postillon zu Hause sei und dann wollte er ihm ein reichliches Trinkgeld verabreichen. Darauf habe der Postillon hämisch geantwortet, daß dies Redensarten seien, worauf er nicht einen Heller Credit gäbe.
»Also der Herr Major hatte einmal wieder kein Geld,« sagte Werder, wichtig die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Ein verdächtiger Umstand.«
Die Dienstboten des Gutshauses gedachten erst bei der Nachfrage mit Schrecken des Gastes. Wo war er geblieben? Sollte der alte Herr auch verbrannt sein? Kein Mensch glaubte dies. Dazu schien der gnädige Herr nicht nach Wederstedt gekommen zu sein, um sich verbrennen zu lassen.
Aber, ob er nicht aus Bosheit das Feuer angelegt und dann auf und davon gegangen sei? Man sprach diese Möglichkeit ganz unverhohlen aus. Freilich, wie hätte er aus dem Hause kommen können, das stets sorgfältig geschlossen wurde? Das Haus hatte ja offen gestanden, der Thorweg auch!
Herr von Werder fühlte ein gelindes Grauen seine Seele durchfliegen. Dieser Umstand verdächtigte den Major in seinen Augen noch stärker, dieser Umstand ließ auf eine Absicht, auf einen wohlüberlegten gut vorbereiteten Plan schließen.
»Fehlt irgend etwas? Hat man Spuren von Raub? Sind Kasten erbrochen?«
»Erbrochen ist nichts,« sagte der Knecht. »Das Schreibbureau ist aufgeschlossen gewesen, wahrscheinlich hat Herr von Bohlberg seine Baarschaft und sonstige wichtige Papiere retten wollen, als er das Feuer entdeckte.«
»Bohlberg? Mit verbrannten Beinen soll er Geld und Papiere gerettet haben?« fragte der Oberamtmann zweifelnd.
Werder hob drohend seine Hand empor. Seine Erbitterung hatte den höchsten Grad erreicht.
»Fragen Sie einmal den Nachtwächter aus, gnädigster Herr,« mahnte ihn der Knecht. »Was er beobachtet hat, ist recht sonderbar.«
Der Nachtwächter wurde geholt.
»Ja, gesehen habe ich eigentlich wenig,« meinte der Wächter befangen, »aber, ich dachte mir mein Theil!«
»Laßt uns hören, was du gedacht hast, alter Andreas,« ermuthigte ihn der Drost, der fieberhaft bewegt die Verdachtsgründe sammelte. »Sprich dreist, ich nehme jede Verantwortlichkeit auf mich.«
»Sehen Sie, gnädiger Herr,« begann nun weitschweifig der Wächter, »ich war nachmittags auf dem Gutshofe gewesen und hatte Erbsen gedroschen, als gerade Herr von Thurngau ankam und wie Beelzebub umherwüthete, weil die Herrschaft Alles verschlossen hatte. Das war ein gemachter Zorn, gnädiger Herr Droste, ihm war es im Gegentheil ganz genehm, daß er Niemanden fand, denn er kroch im ganzen Hause umher bis oben in die Dachspitze. Ich hab' ihn dort aus dem runden Loche herausgucken sehen. Die Köchin rief mir zu, ich solle ihr ein Bund starkästiges Reisig in die Küche bringen. Als ich in die Hinterthür trat, sah ich durch die offengehende Korridorthür in den Vorflur und erblickte den alten Herrn vor der Wohnstube stehend. Mir war's, als zöge er einen Schlüssel aus dem Schlosse. Dann rieb er sich die Hände, wie Einer, dem etwas geglückt ist. Weiter habe ich nun eigentlich nichts gesehen, gnädiger Herr!«
»Nun gut! was hast du dir denn gedacht, alter Andreas?« fragte Werder ermunternd.
»Sehen Sie, gnädiger Herr, als ich Mitternacht abrief, da bemerkte ich, daß der Gutshof noch überall erleuchtet war. Ich blieb stehen vor der Pforte, faßte an, ob zugeschlossen war, und sah bei der Gelegenheit durch's Gitter. In der Wohnstube brannte noch Licht und irgend Jemand ging dann mit einem Lichte durch's Vorderhaus nach hinten, dort jedenfalls die Treppe hinauf und dann in die links gelegene Giebelstube. Es währte keine Minute, da löschte das Licht aus.«
»Das war Henriette gewesen, sie schlief dort,« sagte der Oberamtmann bewegt.
Der Nachtwächter nickte zum Zeichen, daß er derselben Meinung sei.
»Ich ging weiter hinab in's Dorf,« fuhr er fort. »Von dort aus konnte man die Seitenstube sehen, wo der alte Herr gewohnt. Auch er hatte noch Licht. Dann kam plötzlich Licht in die Gartenstube, die auf der andern Seite des Korridors liegt, und als ich wieder beim Rückwege am Gutshofe vorüber kam, da war oben im Giebel rechts auch Licht. Jetzt gehen sie alle zu Bette, dachte ich, und ging die breite Dorfstraße hinauf. Es ist ein tüchtiges Ende, wie Sie wissen, und ich ging langsam, so daß ich wohl eine Viertelstunde gebraucht hatte, um den großen Bogen zu umschreiten, den das Dorf hier macht. Von der Dorfstraße aber kann man das Gutshaus von hinten sehen und da erblickte ich denn zu meinem Erstaunen, daß die Herrschaften doch noch nicht zur Ruhe sind. Es ging Jemand mit Licht sehr eilig durch den Korridor, der oberwärts kleine Fenster hatte; dann ging dieser Jemand in's Vorderhaus, alles so fix, so eilig, als würde er gejagt. Ich kann sagen, es überlief mich kalt, als sähe ich einen Geisterspuk, husch, husch, das Licht konnte sich kaum brennend erhalten. Ich dachte mir schon, es könne Jemand krank geworden sein und überlegte, ob ich nicht meine Hülfe anbieten solle. Aber da die Domestikenstuben ganz dunkel blieben, so gab ich diesen Gedanken wieder auf. Etwas rascher ging ich wieder meinen Weg die Straße hinab und setzte die Füße noch flinker vor einander, als ich wieder Licht in der Wohnstube zu erblicken glaubte. Richtig da brannte Licht, doch nicht in der Wohnstube, sondern in der Visitenstube. Die Läden waren zwar geschlossen, doch blitzte der Lichtschein aus den zwei runden Oeffnungen, die im Laden waren. Das ist ja komisch, dachte ich und ging weiter, wieder nach der Seite, wo der alte Herr gewohnt hat. Dort war Alles dunkel, die Gartenstube sowohl, als das Schlaf- und Wohnzimmer des alten Herrn. Da wurde mit einem Male, wie mit einem Blitzschlage, Herrn von Thurngau's Stube hell, eine Minute aber nur, wohl kaum eine Minute, dann war es wieder finster. Ich lief nach vorn und schaute durch die Pforte, Alles finster.«
»Was war die Glocke, Andreas?« fragte der Drost mit beklommener Stimme.
»Ein Uhr. Um halb zwei Uhr sah ich die Flammen aus dem Dache brechen, ich fand die Pforte offen, fand die Hausthür offen und unsere gnädige Herrschaft im jämmerlichen Zustand in der Gartenstube.«
»Hättest du Lärm geschlagen, so wäre wenigstens Henriette gerettet! Um ein Uhr muß es schon im Innern gebrannt haben. Und die Thüren waren offen?«
»Alle offen.«
»Steckten Schlüssel in den Schlössern?«
»Nein. Ich griff danach ganz mechanisch, fand aber nirgends einen Schlüssel. Das war das Erste, was mir auffiel. Dann fiel mir auch auf, daß der große Hund auf dem Gutshofe sich gar nicht gerührt, nicht ein einziges Mal angeschlagen hatte. Wäre ein Fremder auf dem Hofe gewesen und hätte alle Thüren aufgeschlossen, so würde er schön gewüthet haben. Mit dem Herrn von Thurngau war er indeß sehr gut Freund.«
Herr von Werder verstand die Andeutung und trat ihr stillschweigend bei. Nach seiner Meinung war es bis zur Evidenz erwiesen, daß man vor einem höllischen Bubenstück stand, und er beschloß seine Maßregeln danach zu treffen, daß die Nemesis nicht länger schlafe, sondern die schauderhafte That aus den Nebelschleiern der Vermuthung an's Licht der Erkenntniß dringe.
Unter der Erzählung des Nachtwächters war sein Plan gereift, da er aber niemals gewohnt gewesen war, seine Vorsätze kund zu geben, so ging er über die letzten Verhandlungen schweigend hinweg und gab nur seiner Empörung noch einige geeignete und bezeichnende Worte.
Ihn verlangte jetzt nach seinen armen Freunden. Sein Herz wollte sich nicht länger beschwichtigen lassen, er mußte Helene sehen, er mußte ihren Eltern Trost zusprechen. Die Herren gingen zusammen hinüber in's Nachbarhaus.
Ein rührender Anblick bot sich ihnen dar. Vater, Mutter und Tochter, innig an einander geschmiegt, die bleichen Gesichter dicht zusammen, die Arme verschlungen, als hätten sie eine Trennung gefürchtet, ein Friedenslächeln auf den Lippen, so lagen sie gebettet auf der Erde und schliefen. Von den ungeheuren Seelen- und Körperleiden erschöpft, waren sie, unter kosenden und liebevollen Worten, entschlummert, um für eine kurze Spanne Zeit der Trübsal entrückt zu sein.
Die drei Männer standen und blickten mit Thränen in den Augen auf die Gruppe nieder, Ihre Blicke trafen sich dann.
»Ich werde diesen lieben Menschen helfen mit Rath und That, wo ich nur kann!« flüsterte der Oberamtmann. »Ich werde für ihre Sicherheit sorgen, damit das Unheil ferner ihren Weg nicht kreuze!«
Edmund leistete nur schweigend einen Schwur. Sein Auge suchte den blauen gewölbten Himmel, an dem mit ungetrübtem Glanze die Sonne emporstieg. Die Erinnerung an Henriettens entsetzliches Ende mußte erst verbleichen, ehe sein Herz anderer Empfindungen fähig war.
Im Hotel zur Stadt London herrschte ein reges Leben. Der König von Preußen weilte mit seiner Familie in den Mauern Magdeburgs und der beschränkte Raum in der Domdechanei, wo die Herrschaften zu wohnen pflegten, machte es nöthig, daß einige der jüngsten Prinzen im Hotel London Wohnung nahmen. Die Volksmasse, von dem ungewohnten Besuche in einige Aufregung versetzt, belagerte die Plätze, um die Mitglieder ihrer Königsfamilie zu sehen. Die Stadt erschien im Festgepränge und das Hotel war nach Kräften aufgeputzt, um den Namen eines ersten Gasthofes Ehre zu machen. Wer schon im Hotel gewohnt hatte, wurde berücksichtigt und erhielt statt seines bisherigen Zimmers wohl irgend einen andern Raum, wo er sein Haupt während dieser Tage niederlegen konnte. Außerdem nahm das Gasthaus keine andern Fremden an. Die Zimmer waren von vornherein alle in Beschlag genommen.
Major Thurngau hatte seit der Zeit seiner Uebersiedelung nach Magdeburg im Hotel gewohnt, erhielt also ein Kämmerchen, nach dem Hofe gelegen, angewiesen mit der höflich ausgesprochenen Weisung, sich anderwärts ein Quartier zu suchen, wenn ihm dies nicht anstehen sollte.
Es stand ihm aber an, so hochfahrend er sich auch sonst gezeigt hatte. Es stand dem Major an, weil er hier unter der Verwirrung Vorsätze zur Ausführung zu bringen gedachte, die mit jedem Tage dringlich nothwendiger wurden.
In dem gesteigerten Verkehr des Hotels verlor man Männer seines Standes eher aus den Augen, darauf baute er fest. Ob er aber richtig calculirt hatte, blieb doch unsicher.
Die Tage des Tumultes waren endlich vorüber, die Thür des Hotels war zum ersten Male nicht mehr belagert und auf der Freitreppe stand Monsieur Dreifuß, das Factotum des Hauses und der gute Freund aller derer, die als gute Bezahler den Gasthof frequentirten.
Herr Dreifuß zeigte eine wohlgefälligere Miene, als sonst. Es ist auch keine Kleinigkeit für einen gut königlich gesinnten Bürger, mit den Söhnen des Landesvaters in solch intimem Verkehr gestanden und sogar unter einem Dache geschlafen zu haben. Dies himmlisch wohlthuende Gefühl kennt freilich der republikanisch Gesinnte nicht – bedauern wir ihn deshalb.
Herr Dreifuß sah glücklich aus, das ließ sich nicht in Abrede stellen, und sein Gesicht verlor nichts von seiner Glückseligkeit und Zufriedenheit, als im scharfen Schritte ein Mann quer über den Breitenweg geschritten kam und ihn in seinen Morgenbetrachtungen störte.
»Der Spektakel vorüber Dreifuß?« fragte der Mann in cordialem Tone.
»Zu dienen Herr Polizeicommissar,« antwortete Herr Dreifuß lächelnd. »Sie haben ja auch mancherlei Misere und mancherlei Ehre davon gehabt.«
Der Polizeicommissar Georgi strich seinen hochblonden Bart glatt.
»Die Ehre wiegt die Chikanen nicht auf – bei solchen Gelegenheiten häufen sich die Verdrießlichkeiten unseres Berufes. Sie haben den Vortheil davon gehabt und ich den Schaden.«
»So arg ist's nicht, Herr Commissar. Sie haben heute den schweren Dienst schon abgeschüttelt, ich sehe das daran, daß sie in Civil erscheinen, und ich habe nun mit den Nachwehen zu kämpfen.«
»Ja so, die unbezahlt gebliebenen Naturalverpflegungen!« rief Georgi lächelnd. »Das wiegen die Douceurs der Prinzen wieder auf. Haben Sie außerdem viel Fremde im Hotel gehabt?«
Sein Blick streifte dabei lauernd des Herrn Dreifuß Gesicht.
»Nur einige alte Stammgäste, die vorlieb nehmen wollten. Herr Römers muß bauen; bei solchen Gelegenheiten sieht man, daß es uns überall an Raum gebricht.«
»Ihr alter Major hat sich aber Tag's zuvor aus dem Staube gemacht, ihm waren die königlichen Herrschaften nicht bequem, obwohl er sich immer rühmt ein Spielkamerad des Königs gewesen zu sein, als er Page beim alten Fritz war.«
Dreifuß machte eine Geberde, die wenig Achtung ausdrückte.
»Der alte unausstehliche Rodoteur,« brummte er. »Wenn wir ihn nur loswerden könnten! Ich wollte, er hätte sich aus dem Staube gemacht!«
Er kroch hinten in die Bedientenstube und blieb.
»Ich habe ihn doch in einer Extrapost wegfahren sehen,« sagte Georgi aushorchend.
»Unsern Major? Da haben Sie sich geirrt!« sprach Dreifuß sehr bestimmt. »Er ist hier!«
»Ja, das mag sein, aber fort gewesen ist er.«
Dreifuß hob seinen Kopf etwas verdrießlich hoch auf, schob die schwarze Perrücke etwas zurück und sagte mit einiger Malice:
»Wie Sie befehlen, mein Herr, ich habe nichts dagegen einzuwenden.«
Georgi nahm einen spöttisch fröhlichen Ton an.
»Vielleicht hat er sich das Pläsir gemacht, eine Spazierfahrt per Extrapost zu unternehmen, solche Käutze haben ja allerlei thörichte Einfälle.«
»Wenn sie das Geld dazu haben, ist mir's einerlei! Unser Major hat aber verdammt wenig Moneten, so daß ich ihm auf die Finger sehen mußte. Jetzt ist er wieder bei Kasse.«
»Möglich, daß er sich mit der Extrapost Geld geholt hat.«
»Nein, Sie mit Ihrer Extrapost, Herr Commissar,« fuhr Dreifuß halb ärgerlich auf. »Heda, Charles!« rief er in's Haus hinein.
Ein junger Bursche kam flink herangesprungen und fragte nach seinen Befehlen.
»Ist der Major von Thurngau verreist gewesen?« fragte der Rechnungsführer.
»Nicht, daß ich wüßte,« antwortete der Kellner. »Ich habe jeden Morgen seinen Kaffee servirt, was Nachmittags und Abends und Nachts geschehen ist, weiß ich freilich nicht. Neulich Morgens war es beinahe Mittag, als er um den Kaffee klingelte.«
»Das war Tags vorher ehe die Prinzen einrückten,« warf Georgi ein.
»Jawohl!« bekräftigte der Kellner mit großer Artigkeit.
»Dann ist er wahrscheinlich spät in der Nacht zurückgekommen?«
»In der Nacht auf keinen Fall, denn ich bin wegen unserer Geschäfte bis vier Uhr morgens aufgeblieben. Aber ich vermuthe, daß er die Nacht irgendwo durchspielt und sich erst morgens auf's Bett geworfen hat. Er war Tags über sehr derangirt, so ganz aus aller Ordnung, als hätte er gar nicht geschlafen.«
»Also von Extrapostreisen ist gar keine Rede,« erörterte Dreifuß.
»Ach, der Herr Major brauchen keine Extrapost zum Reisen,« spöttelte der junge Kellner mit jener Dreistigkeit im Urtheile, die auf Nichtachtung beruht. »Der Herr Major sind selbst Extrapost oder Schnellpost, er läuft in einer halben Stunde eine Meile.
»Was? Woher weißt du denn das, Charles.«
»Weil er neulich eine Wette damit gewonnen hat. Die Herren an der Table d'hote persifliren den Major immer auf alle Weise. Er renommirte mit seiner Ausdauer in Fußtouren und da wurde ausgemacht, daß er nach dem Gute des Grafen Schulenburg gehen, dort frühstücken solle und um Mittag Punkt ein Uhr wieder da sein müsse, um eine Wette von sechs Louisd'or zu gewinnen.«
»So? und er hat sie gewonnen?« sagte Georgi sorglos lachend.
»Er hat die Wette gewonnen,« bekräftigte der Kellner. »Er war noch vorzeitig wieder hier, hatte mithin in vier Stunden sechs Meilen gemacht und noch tüchtig gefrühstückt.«
»Ja, dann wäre der Mann ein Thor, sich Extrapost zu nehmen!« brach der Commissar lachend aus. »Ich werde mich wohl geirrt haben.«
Er grüßte und ging fort.
»Das wäre gemacht und, wie der Herr Landeshauptmann von Werder wünscht, ganz ohne Aufsehen hätten wir hiermit festgestellt, daß der Herr von Thurngau keineswegs wünscht, seine Reise nach Wederstedt zu veröffentlichen. Diese Verheimlichung sagt mehr als er sich vorstellt. Und wer in vier Stunden sechs Meilen zu marschiren vermag, der legt in fünf Stunden schon gern sieben Meilen zurück, zumal wenn das böse Gewissen zur Eile treibt.«
Unter diesen Gedanken wandelte Herr Georgi langsam und bedächtig, äußerlich ganz im Wesen eines Mannes, der in der Welt nichts zu denken und zu sorgen hat, die Straße hinab.
Spioniren wir weiter, murmelte dieser sorglose Mann, indem er in eine Nebenstraße bog, die Schöneckstraße benannt, und dort geraden Weges in ein kleines, aber sehr gut erhaltenes Haus trat, das mit einem großen Schlüssel verziert war.
Eine junge Frau, entschieden allerliebst und nett, wie ihr ganzes Haus, empfing ihn im Hausflure und wies ihn, auf seine Frage nach dem Meister Heßrott, in die Werkstatt.
Meister Heßrott, ein Mann mit einem klugen und ehrlichen Gesichte, begrüßte ihn höflich und fragte nach seinem Begehr. Es war augenscheinlich, daß dieser Mann keine Ahnung davon hatte, wer ihm die Ehre seines Besuchs schenke.
»Ich habe mir sagen lassen, Meister Heßrott, daß Sie hier in Magdeburg zur Zeit der geschickteste Schlosser wären,« begann Georgi in gleichgültigem Geschäftstone.
»Zu viel Ehre, mein Herr, andere Meister verstehen auch ihr Geschäft!« entgegnete der junge Meister geschmeichelt. »Was befehlen Sie für ein Kunststück?« fügte er lächelnd hinzu.
»Sehen Sie hier den Schlüssel, ein alterthümliches Kunstwerk? nicht wahr?«
Meister Heßrott nahm den Schlüssel, blickte darauf nieder und sah dann frei in's Auge des vor ihm stehenden Polizeiagenten.
»Allerdings alterthümlich, aber nach heutigen Begriffen kein Kunstwerk.«
»Könnten Sie den Schlüssel nacharbeiten, oder ist das nicht zu machen?«
Meister Heßrott lachte.
»Auf alle Fälle. Ich habe kürzlich einen sehr ähnlichen, ja ich möchte sagen, einen ganz gleichen Schlüssel nach einem Wachsabdruck gearbeitet und er muß wohl gepaßt haben, sonst hätte ich ihn wieder bekommen.«
»Ei, sehen Sie mal. Nach bloßem Abdruck in Wachs kann man Schlüssel arbeiten?« fragte Georgi mit verstellter Naivetät.
»Freilich! Denken Sie aber nichts Böses dabei! Es war ein vornehmer Mann, ein ehemaliger Militär von auswärts, der seine sämmtlichen Schlüssel an einem Ringe getragen und so verloren hatte. Dem habe ich nach Wachsabdruck sämmtliche Schlüssel machen müssen und sie müssen gepaßt haben, sonst hätte ich sie zum Nachfeilen wiederbekommen.«
Georgi hörte andächtig mit dem Anscheine einer wachsenden Hochachtung zu.
»Das freut mich, daß der Zufall mich zu dem rechten Manne geführt,« sagte er dann herzlich. »Für jetzt ist dies nur eine bloße Erkundigung, Sie werden weiter von mir hören.«
»Soll mir angenehm sein!« erwiederte der Meister und begleitete ihn bis zur Hausthür.
Herr Georgi wanderte, innerlich etwas aufgeregter als er zeigen wollte, wieder nach dem Breitenwege hinaus. Im Fortschreiten überdachte er, wie glücklich sich heute seine Bemühungen abwickelten. Nun noch zur Frau Tischlermeister Kühne, Jakobsstraße, dann wäre für heute mein Tagewerk vollbracht, murmelte er und zog einen großen Brief aus der Tasche. Er überlas ihn im Weiterschreiten mit einer Gleichgültigkeit in den Mienen, als stände nichts weiter darin, als die Bitte um Besorgung einiger Paar Handschuhe; der Brief enthielt indeß ganz andere Dinge. Der Schluß desselben lautete zum Beispiel:
»Betrachten wir die Sache so lange als eine Privat-Angelegenheit zwischen uns, mein bester Herr und Freund, bis evident nachgewiesen werden kann, daß es ein boshafter, eigennütziger und lange vorbereiteter Plan gewesen ist, Herrn von Bohlberg und seine Familie gründlich in's Elend zu stürzen und dann über ihn zu triumphiren. Zur Feststellung dieses Verdachtes ist es nöthig zu erforschen, ob Thurngau seine Reise nach Wederstedt verheimlicht hat, ob er sich auf irgend eine Weise Schlüssel zum Bureau, zu den Zimmern und zu den Hausthüren verschafft hat, ob er gewußt hat, daß seine Familie nicht zu Hause war, er somit gänzlich freie Hand bis zur Nacht behielt. Es wird Schwierigkeiten machen, was ich von Ihnen verlange, allein ich weiß, wem ich mein Vertrauen schenke. Finde ich eine ausgeprägte vollkommen überlegte Bosheit in dem ruchlosen Werke, so werde ich nicht ruhen, bis dieser Mann den Richtern in die Hände fällt. Ist es bloße, schändlich leichtsinnige Uebereilung gewesen, dann müssen wir Mittel ersinnen, ihn für immer unschädlich zu machen. Ich erlaube mir, Sie zunächst zu einer unbefangenen Recognition in seinem Quartiere zu veranlassen, Sie dann zur Nachfrage in einigen Schlosserwerkstätten aufzufordern und schließlich Sie um einen Besuch bei der Madame Kühne, Frau eines Tischlers, zu ersuchen, da diese Frau in früherer Zeit seine Vertraute und Helfershelferin gewesen ist. Nach Ihrer Berichterstattung komme ich selbst nach Magdeburg, um weitere Maßregeln mit Ihnen zu besprechen. Gott helfe uns diesen Teufel besiegen!«
»Also nach Madame Kühne, der früheren Helfershelferin des würdigen Majors,« dachte der Commissar, den Brief wieder einsteckend. »Diese Mission ist der schwierigste Theil der Requisition. Wir müssen dort andere Saiten aufspannen, als beim ehrlichen Meister Heßrott. Guter Meister, was wirst du sagen, wenn du eines Tages erfahren solltest, wozu man deine Geschicklichkeit und Ehrlichkeit benutzt hat. Sonderbar, daß mir sogleich das Bild des jungen Schlossers mit dem klugen Gesichte vor Augen stand, während ich die Requisition des alten Landeshauptmann durchlas.«
Herr Georgi verfügte sich ohne Herzklopfen in die Behausung der Madame Kühne, die er persönlich zu kennen noch nicht die Ehre hatte. Vorsichtig eingezogene Erkundigungen schilderten sie als eine schlaue Frau. Sonst wußte man nichts Böses von ihr. Im Hause hieß sie das Kätzchen. Vor dergleichen Persönlichkeiten fürchtet sich ein Polizeicommissar nicht, da er Mittel hat, die drohenden Krallen in Sammetpfötchen zu verwandeln.
Herr Georgi klopfte etwas stark an die Werkstattthür, wo wiederum ein erfreulicher Beweis von reger Geschäftstätigkeit gegeben wurde, so daß Einem Hören und Sehen verging vor allem Hobeln, Klopfen und Sägen.
Madame Kühne, welche gerade in der Werkstatt anwesend war, öffnete selbst und führte den Commissar sogleich in ihr Stübchen vorn. Sie kannte den Mann nicht, aber sie erinnerte sich dunkel, dieses rothblonde Lockenhaar schon irgendwo gesehen zu haben, respective bewundert zu haben.
Herr Georgi ließ Madame Kühne nicht viel Zeit zu Reflexionen. Er hatte alsbald erkannt, daß er bei dieser kleinen Person durch Ueberrumpelung mehr gewinnen könnte als durch weise Vorbereitungen.
»Ich bin der Ueberbringer wunderbarer und trauriger Nachrichten aus Wederstedt, meine liebe Madame Kühne,« begann er sogleich nach seinem Eintritt in's Stübchen.
Frau Kühne warf einen Blick zu ihm hinauf und huschte dann an die Thür des Nebenzimmers, wo sie, wiederum mit einem Blicke durch's Schlüsselloch, untersuchte ob Madame Erlang wohl noch nicht zu Hause sei. Diese brauchte von Wederstedt nicht alles zu hören.
Beruhigt kehrte sie zu ihrem Gaste zurück. Madame Erlang war noch nicht da.
»Oder haben Sie vielleicht vom Herrn von Thurngau schon die unglückliche Geschichte vernommen?« fügte Georgi, der mit schnellem Verständniß die Bewegungen der kleinen Frau beobachtet hatte, hinzu.
»Mein Gott, nein, ich weiß nichts!«
»Sie wissen noch gar nichts? Seit wann haben Sie den Herrn von Thurngau nicht gesprochen?«
Es war ein Kunstgriff von Georgi, ihre Neugierde dergestalt zu reizen, daß sie sich durch Selbstvergessenheit verrieth.
»Seit Montag vor acht Tagen.«
»Und da hat er Ihnen nichts gesagt?«
»Was denn? Von Wederstedt? Ach Gott, er hat mir Mancherlei erzählt, vielleicht weiß ich – aber nein, von traurigen Dingen war nicht die Rede. Spannen Sie mich nicht auf die Folter –«
»Nur von freudigen Ereignissen erzählte der gnädige Herr? Vielleicht von den Geburtstagsfeierlichkeiten in Groß-Heilungen?«
Sie warf wieder einen Blick zu ihm hinauf.
»Ja, davon hat der gnädige Herr gesprochen und dabei geäußert, daß der reiche Oberamtmann wahrscheinlich nicht wisse, was er mit seinem Gelde machen solle.«
»Und weiter nichts?«
»Nein, nein! Sprechen Sie doch endlich!«
»Und er hat Ihnen nicht gesagt, daß er nach Wederstedt reisen wolle?«
»Nein! er hat mir blos mitgetheilt, daß ein Feuerwerker von hier nach Groß-Heilungen berufen sei, um dort ein Feuerwerk abzubrennen.«
Jetzt wußte Georgi genug
»Dann wissen Sie also nicht, werthe Frau, daß das Wederstedter Gut abgebrannt ist?«
»Heiliger Gott!« schrie Frau Kühne grell auf.
»Und daß Herr von Bohlberg nur durch ein Gotteswunder sich und seine Frau Gemahlin aus den Flammen gerettet hat?«
Madame Kühne starrte den Erzähler mit weit aufgerissenen Augen an.
»Und daß Fräulein Henriette von Wederstedt elendiglich in den Flammen umgekommen ist?«
Madame Kühne sank auf einen Stuhl und schluchzte laut.
»Es thut mir leid, Ihnen so traurige Nachrichten überbringen zu müssen, liebe Madame. Ich hatte es aber einmal übernommen und mußte Wort halten. Lassen Sie sich das Unglück nicht allzusehr zu Herzen gehen. Leben Sie wohl!«
Herr Georgi entfernte sich weit eiliger, als ein Trauerbote, der noch allerlei Auskunft zu geben vermag, sich zu entfernen pflegt. Er wußte jetzt, daß Thurngau von der Abwesenheit Bohlbergs Kenntniß gehabt hatte. Die Requisition des Drosten von Werder war erledigt. In höchster Selbstzufriedenheit schlenderte er nach Hause, um nun seinen Civilanzug wieder mit der Uniform zu vertauschen.
Was nun weiter geschehen sollte, mußte er dem alten Herrn Werder überlassen. Aber er glaubte, im Gefühle seiner Unfehlbarkeit, zu der maßgeblichen Meinung berechtigt zu sein, dem Herrn Drost die schleunige Verhaftung des Herrn von Thurngau dringend anzuempfehlen. Nachdem er auf diese Weise seinen unterthänigsten Rapport nach Werderswarthe hatte abgehen lassen, faßte er sich in Geduld und war des Weitern gewärtig.
Auf den Herrn von Werder machte diese Berichterstattung einen merkwürdigen Eindruck. Der alte Mann hielt sich in dem Augenblicke für einen Arm der ewigen Gerechtigkeit und meinte des Schicksals Stimme zu vernehmen, die ihn beschwor, das Rächeramt zu verwalten. In dieser Gemüthsverfassung, die er vor seinem Neffen verhehlte, machte er sich auf, um in Wederstedt nachzusehen, wie die Sachen dort standen.
Beim Einfahren in den Hof sah er sogleich, daß man in dem abgebrannten Hause die Küche und die daneben liegende Domestikenstube wieder in brauchbaren Zustand versetzt und durch Bretterüberkleidung von oben geschützt hatte. Er bemerkte auch, daß ein kleines Haus, worin Tagelöhner gewohnt hatten, in Angriff genommen war, um es zu reinigen, zu übertünchen und innerlich nach Kräften bequem einzurichten.
Das Geräusch des rollenden Wagens lockte sogleich einige Dienstboten herbei, die ihm ungefragt mittheilten:
»Mit der gnädigen Frau sei es besser, aber die Beine des gnädigen Herrn gäben zu allerlei Befürchtungen Anlaß. Er sei zu unruhig, er verschlimmere seinen Zustand durch allerhand Versuche, wieder thätig zu sein, und da habe endlich das gnädige Fräulein den Ausweg, gefunden, den Papa in das Häuschen bringen zu lassen, damit er vom Fenster aus seine Anordnungen treffen könne.«
»Und Helene?« fragte der alte Herr. »Wie befindet sich unsere Helene?«
Die Köchin zuckte die Achseln, der Knecht platzte voreilig heraus:
»Das gnädige Fräulein verliert noch ihren Verstand über die Geschichte. Sie sieht sich gar nicht mehr ähnlich! Seitdem sie erfahren hat, daß der alte Herr hier gewesen ist, vor dem Feuer« – die Köchin gab ihm verstohlen ein Zeichen, zu schweigen. »Nun ich sage ja nichts, Annedorothee,« wehrte er ärgerlich ab, »ich sage ja nichts, aber Gedanken sind zollfrei.«
»Ihr wolltet aber etwas sagen, Gottfried, und ich wünsche, daß Ihr es sagt. Wenn die Annedorothee es nicht hören mag, so kann sie weggehen,« sprach Herr von Werder, verdrießliche Blicke auf das Mädchen werfend, das die interessanten Mittheilungen Gottfrieds zur Unzeit unterbrochen hatte.
»Meinethalben mag doch der Gottfried sagen was er will,« meinte die Köchin etwas schnippisch, »ich wollt' ihm blos bemerklich machen, daß er doch nichts beschwören kann.«
»Vom Beschwören ist gar keine Rede, Jungfer Annedorothee,« fuhr Werder sie an. »Wenn ich hierherkomme, um mich nach dem Befinden meiner Freunde zu erkundigen, so halte ich nicht Gerichtstag, versteht Ihr mich?«
»Nun ja,« antwortete die Köchin zögernd und zog sich zurück.
Knecht Gottfried nahm aber nun die Backen voll und erzählte jedes Wort, das in der Domestikenstube gefallen war.
»Danach hat kein anderer das Unglück angestiftet, als Herr von Thurngau. Eines Theiles aus Bosheit und Rache, andern Theiles, um sich des Geldes zu bemächtigen, das im Bureau gelegen.«
»Sollte das viel gewesen sein, Gottfried?« fragte Werder antheilvoll.
»Gegen dreitausend Thaler.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Gnädige Frau haben's der Köchin gesagt.«
»Das wäre ein harter Verlust!« rief der alte Herr erschrocken.
Ehe er weiter fragen konnte, um über Helenens geistigen Zustand etwas zu erfahren, kam diese selbst über den Hof und schritt auf ihn zu. Ja, Knecht Gottfried hatte Recht, Helene sah sich nicht mehr ähnlich. Ihr Gesicht war todtenblaß, ihr Auge träg und lebensmüde, nicht die Spur eines Lächelns um die Lippen. So stand sie vor dem alten Herrn, der sie mit schmerzlichem Erstaunen betrachtete.
Sie bot ihm die Hand zum Gruße und sagte gelassen:
»Guten Tag, Herr von Werder, mit der Mutter geht es besser, sie ist heute außer dem Bette. Es bildet sich schon eine Haut über ihren Wunden.«
»Das freut mich! Ich bin acht Tage nicht hier gewesen auf des Doktors Befehl, Helene.«
»Ich dachte mir's. Der Doktor fürchtete des Vaters Aufregung, die doch unvermeidlich ist.«
»Ist sein Fieber gewichen, Helene?« fragte Werder und gab dem Knechte ein Zeichen, sich zu entfernen.
»Sein Fieber?« fragte das junge Mädchen zerstreut. »Jawohl! Aber die Wunden an den Beinen sind fürchterlich,« schloß sie mit einem innern Schauer. »Wenn nur nicht der Brand hinzutritt.«
Der alte Herr schlug vor Schrecken die Hände zusammen.
»Welch' ein Jammer! Welch' ein Elend! und das sollte ungestraft bleiben?«
»Hätten wir ihm doch Alles, Alles gegeben und wären bettelarm von dannen gezogen,« flüsterte Helene geisterhaft leise. »Mein armer Vater! Meine liebe Jetty!«
»Es kann nicht ungestraft bleiben!« rief der alte Herr erschüttert.
In Helenens Augen blitzte es hell auf. Ein Schimmer von Röthe flog über ihre bleichen Wangen.
»Ja, gestraft,« stammelte sie, »um all das Elend, welches er über uns alle gebracht hat, gerächt zu sehen! Aber wer kann, wer wird ihn strafen, da Gott ja zuließ, daß er uns alle in's Verderben, in Schmerz und Jammer stürzte! Wer will es beweisen, daß er seine eigene Familie in Armuth zu stürzen versuchte?«
»Ich will es beweisen, Helene! Willst du mir helfen beim Rächeramte?«
»Ja, ja!« rief das junge Mädchen mit wilder Freude. »O, ihm durch Urtheil und Gesetz beweisen zu können, wie schandbar er gehandelt! Sagen Sie mir, was ich thun soll? Man wird uns nicht glauben?«
»Du irrst, Helene! Diese Papiere sind in meinen Händen! Dein Vater brachte sie mir mit nach Groß-Heilungen an jenem Unglücksgeburtstage des Oberamtmannes.«
»Ah! Gott sei gelobt! Davon wußte ich nichts!«
»Deine Mutter weiß es. Es freut sie indeß nicht, da sie sich ohnedies für immer verloren hält. Wir beide wollen aber der Viper den Giftzahn auf ewig ausreißen. Schlag ein! Verschwiegenheit vor allen Dingen!«
»Ich gelobe Verschwiegenheit,« sagte das junge Mädchen mit klarer Stimme.
»Dann Vorsicht, Vertrauen zu mir, Folgsamkeit meinen Anordnungen, das Werk muß gelingen, der Dämon Eures Hauses muß unschädlich gemacht werden auf ewig!«
»Auf ewig!« wiederholte Helene mit wilder Schwärmerei. »Unsern Haß, unsere Verachtung hat er verlacht, verhöhnt, unsere Macht verspottet, nun soll ihm eine höhere Gewalt darthun, daß man nicht ungestraft ein Menschenleben auf's Spiel setzt oder gar mordet! Was soll ich thun, um ihn dem Richter zu überantworten, was soll ich thun, sagen Sie es mir!« rief sie heftig.
Der Fanatismus des Schmerzes machte sie blind für die Verantwortung, die sie mit dieser beabsichtigten Anklage übernahm.
»Ruhig, Kind!« beschwichtigte sie der alte Herr von Werder. »Deine Aussagen sollen nur die Grundlage der Anklage bilden. Dazu wird es aber nöthig sein, daß du mich auf einer Reise nach Magdeburg begleitest.«
»Lassen Sie uns sogleich aufbrechen!« rief Helene stürmisch.
»Ruhig, Kind! du hast mir beiläufig erzählt, daß dein Großvater,« Helene fuhr sichtlich zusammen, »sich vielfach mit dem Schlüsselkorbe deiner Mutter zu schaffen gemacht.«
Helene sah ihn verwundert an.
»Du hast mir manches Andere mitgetheilt, was schwer in die Waagschale des Verdachtes fällt. Bist du gesonnen diese Aussagen der Wahrheit gemäß vor einem richterlichen Beamten zu wiederholen?«
»Ja, Herr von Werder, ja! Ich habe den Muth Alles zu wiederholen, ich würde den Muth haben, ihm, den ich nicht Großvater nennen kann ohne zu schaudern, in's Gesicht zu sagen, daß er der Mörder Jetty's ist, daß er, vermöge seiner Lokalkenntniß, recht gut gewußt hat, wie unmittelbar die Flachskammern mit den Giebelstuben und der Treppe in Verbindung stehen.«
»Du hegst also ebenfalls die Ueberzeugung, daß er der Urheber des Brandes ist?«
»So gewiß Gott über uns lebt! Als ich die erste Kunde von unserm Unglücke hörte, dachte ich, Er! Ich sah noch gar keine Möglichkeit, daß es brennen könne, ohne seine frevelvolle Einwirkung.«
»Gut! Ich bin derselben Ansicht gewesen! Wir handeln in Uebereinstimmung und suchen, das zu retten und zu sichern, was von dem Lebensglück für euch noch zu erwarten ist. Euer Wohlstand ist durch den Diebstahl etwas gefährdet.«
»Wenn das Leben meines Vaters gerettet werden kann, wird dieser Umstand bald ausgeglichen sein. Aber meine Jetty, meine Jetty!« stöhnte das arme Kind.
»Außerdem ist euer Schaden durch die Umsicht deiner Großmutter gedeckt. Sie trug sich schon damals stets mit der Furcht, ihres Mannes Bosheit könne sie ihrer Wohnstätte berauben, und sie wehrte sich gegen jeden Schaden durch eine Feuerversicherung, wodurch ihr die Mittel gesichert wurden, sich ein Obdach zu schaffen. Um diese Feuerkassenangelegenheit zu reguliren, muß ich nach Magdeburg und damit verbinde ich die Einleitung eines Criminalprozesses gegen den Mordbrenner.«
»Ich begleite Sie!« sagte Helene mit leidenschaftlichem Trotze. »Der tiefe Groll gegen das Geschick, dem wir willenlos unterworfen schienen, hat mich beinahe getödtet, jetzt will ich leben, um meine Eltern und Jetty zu rächen!«
»Vertraue mir! Es soll des Sünders letzte Sünde sein.«
Wie ein Paar Treuverbündete reichten sie sich die Hände. Der alte Mann erkannte die Gefahr nicht, worin er das Gemüth des jungen Mädchens stürzte. Er verfolgte ein Ziel. Was dabei zu Grunde gehen konnte, beachtete er nicht.
Mit der Feinheit eines Diplomaten fädelte er nachher bei Helenens Eltern die Reise nach Magdeburg ein. Er fand wenig Schwierigkeiten zu überwinden. Helene war die einzige der Familie, die nöthige Auskunft über Schadenersatz geben konnte, und Bohlberg traute seiner jungen Tochter so viel Verstand zu, um vorläufig, unter dem Beistande des ehrenwerthen Drost von Werder, Arrangements zu treffen, welche die spätern Verhandlungen wesentlich erleichtern konnten.
An eine Denunciation seines Schwiegervaters dachte er gar nicht, und noch viel weniger würde er darauf verfallen sein, daß seine Tochter bei dieser Anklage eine Rolle übernehmen wollte. Nach seiner Denkungsweise mußte der Mensch nie Rächer sein, sondern das Rächerämt einem höhern Richter übertragen. Daß er durch eine ruchlose That des Majors in diese Leidensschule versetzt worden war, darüber waltete in ihm nicht der kleinste Zweifel. Und dennoch dachte er nicht an eine Vergeltung dieser unsäglich bittern Erfahrung, denn es war der Vater seiner geliebten Frau, den er an den Pranger hätte stellen müssen. Er hoffte, ihn jetzt auf immer aus seinem Lebenswege verbannt zu sehen. Was ihm diese Sicherheit gekostet hatte, wollte er großmüthig nicht in Anrechnung bringen, um seiner Gattin willen.
Triumphirend kam Herr von Werder nach Hause und theilte nun erst seinem Neffen die Pläne mit, die er zur Sicherung seines Freundes Bohlberg entworfen.
Edmund, seit Henriettens schmählichem Tode in Trübsinn verfallen und wenig theilnehmend für die geschäftliche Thätigkeit seines Onkels gestimmt, hörte sehr zerstreut zu, als der alte Herr in das große Wohnzimmer trat und heftig, hin und her gehend, mit Emphase von der heiligen Pflicht der Freundschaft sprach. Edmund wußte schon aus Erfahrung, daß der Herr Onkel Stunden hatte, wo er mit jugendlichem Pflichteifer die ganze Welt nach seiner Schablone umzuwandeln trachtete. Er glaubte ihn diesem Paroxismus verfallen, bis der Name Helene an sein Ohr schlug. Dieser Name mußte wohl einen Widerhall in seiner Brust finden.
Bis jetzt anscheinend die Stellung eines aufmerksamen Zuhörers einnehmend, spannte er nun seine Aufmerksamkeit wirklich an und wußte sehr bald, was im Werke war. Ein tiefer, schmerzlicher Unmuth verdüsterte sein ohnehin trübes Gesicht und er fragte mit vorwurfsvollem Ausdruck:
»Was hast du vor, lieber Onkel? Glaubst du dir Bohlbergs Dank mit einer Denunciation zu verdienen?«
»Ob Bohlberg mir dankt oder nicht, ist ganz gleich. Ich erfülle nur die letzte Bitte meiner verklärten Freundin, wenn ich mich zum Beschützer ihrer Tochter aufwerfe.«
»Was soll aber Helene, du nanntest Helene?« fragte Edmund minder heftig.
»Helene ist die Einzige, die Auskunft über die Vorgänge der letzten Zeit geben kann. Ich habe streng erwogen, ob ich ohne diese Darlegung der Verhältnisse die Verhaftung des ruchlosen Mannes beantragen könne, ich habe jedoch erkannt, daß alle Verdachtsgründe nur Geltung erhalten, wenn der Besuch des Majors von allen Seiten beleuchtet wird. Helenens Beobachtungsgabe kommt mir hier sehr zu Hülfe.«
»Sollten nicht die früheren Ereignisse genügen?« wendete Edmund ein.
»Bezug darauf nehmend, genügen sie, die plötzliche Ankunft des Thurngau höchst verdächtig zu machen, weiter nichts, denn es liegen viele Jahre dazwischen und die Zeit kann den Charakter ändern. Helenens Aussagen werden klar darthun, daß man sich ohne Scheu der Meinung anschließen kann, die Zeit habe den Charakter Thurngau's eher verschlimmert, als verbessert.«
»Somit werden die Erzählungen Helenens die Grundlage der Anklage bilden?«
»Allerdings!«
»Weiß Helene das? Erkennt sie die Wichtigkeit dessen, was sie thun soll?«
»Thun will! Will, mein lieber, nicht soll. Sie dürstet nach Rache, wie ich.«
Edmund blickte bestürzt in seines Onkels Gesicht.
»Eigene Nachbegierde treibt dies junge Mädchen dazu, als Anklägerin ihres Großvaters aufzutreten? Unmöglich, ganz unmöglich!«
»Nennen wir's nicht Nachbegierde, sondern edle Entrüstung eines tief verletzten Herzens. Jetty's Tod, ihres Vaters furchtbare Leiden treiben sie zur Empörung.«
»Und diese Empörung soll benutzt werden, um das arme Kind sittlich zu erniedrigen?« unterbrach Edmund den alten Herrn etwas schroff. »Statt Helene zur weiblichen Duldung, zur sanften Trauer hinzuleiten, will man aus ihrem trotzigen Schmerze Nutzen ziehen?«
Herr von Werder antwortete nicht, aber der Wechsel seines Mienenspieles zeigte mehr Bedenklichkeit, als Verdruß, obwohl ein direkter Tadel in seines Neffen Worten lag. Doch seinen Plan aufgeben, ja nur ändern, daran dachte er keineswegs.
»Was hilft alles Reden,« sagte er nach einer minutenlangen Pause. »Thurngau muß unschädlich gemacht werden und es giebt kein anderes Mittel, ihn unschädlich zu machen, als ihn dem Urtheil des Gesetzes zu unterwerfen.«
»Unter Mitwirkung seiner eigenen Enkelin!« warf Edmund gereizt ein.
»Wir haben Niemanden, der das Verhalten Thurngau's vor der That beobachtet hätte.«
»Es ist unnatürlich, es ist ehrverletzend.«
»Hör' auf, Edmund! Was ich reiflich überlegt habe, geschieht, damit Punktum!«
»Und ich gebe dir zu bedenken, daß du mit diesem Plane deinen liebsten Wunsch zerstörest! Glaubst du, ich könnte jemals ein Mädchen liebgewinnen, das im Rachedurst den eigenen Großvater an den Pranger gebracht hat?«
»Dann lässest du es bleiben, mein lieber Neffe,« antwortete Herr von Werder in gemüthlicher Grobheit. »Helene handelt eben so gut aus Liebe zu ihrer Pflegeschwester und zu ihren Eltern als aus Vergeltungslust. Helene ist klug genug, einzusehen, daß Ruhe und Frieden nur durch's Schwert der Gerechtigkeit errungen werden kann, Helene soll durchaus unbehelligt von allen weiter Resultaten der Untersuchung bleiben. Helene wird auf meine Veranstaltung ganz einfach dem Criminalrichter die Ankunft Thurngau's und sein Betragen während der folgenden Tage schildern, alles Andere fällt mir zu. Bohlberg erfährt erst die Einleitung der Sache, wenn es zu spät« ist, sie zu verhindern.«
»Ob Frau von Bohlberg ihre Tochter segnen wird, wenn sie dahinter kommt, daß Helene ihres Großvaters Schuld festgestellt hat?«
»Die Liebe zu ihrem Gatten und zu der armen Henriette wird sie mindestens so weit mäßigen, daß sie Helenen nicht fluchen wird. Uebrigens trage ich die Verantwortung und will mit denen, die in unzeitiger Großmuth einen Bösewicht zu schonen sich gedrungen fühlen, schon fertig werden. Ich bitte mir aus, mein lieber Neffe, daß du meine Pläne nicht durchkreuzest und namentlich mein Vorhaben mit Helene, das uns weit schneller zum Ziele zuführen verspricht, nicht durch deinen Einfluß zu zerstören versuchest.«
»Wenn Helene aus freiem Entschlusse dein Vorhaben billigt und zu unterstützen gedenkt, so habe ich die Veranlassung verloren, mich für ihre Handlungen zu interessiren,« antwortete Edmund kalt. »Ich liebe die heroischen Tugenden an weiblichen Wesen nicht. Darum eben war mir Henriette so schnell theuer und lieb geworden, weil sie echte weibliche Güte und Sanftmuth besaß. In ihrem Geiste ist es nicht gehandelt, wenn sich Helene zu ihrer Rächerin aufwirft. Henriette liebte Helene mit unsäglicher Zärtlichkeit, aber es würde ihr nie eingefallen sein, Helenens Tod durch dergleichen Gewaltmittel zu sühnen.«
»Wir wollen das Kapitel schließen,« sprach Herr von Werder barsch. »Gefallen dir die demuthschwachen Weiber besser, als die geistig kräftigen, so magst du dir so ein winselndes, schleichendes, schlangengleiches Geschöpfchen zur Gattin wählen, ich habe nichts dagegen. Bezeigt sich deine künftige Frau Gemahlin deinen weisen Ansichten unterwürfig, so prüfe ja, ob sie auch nicht zu den Amphibien gehört. Für mich ist eine Frau mit offenkundiger Willenskraft ein hochachtungswürdiges Wesen. Hätte Helenens Frau Großmama nur halb so viel Energie besessen, wie dies junge Mädchen, so wäre Alles anders gekommen. Du hast freilich den Vortheil von ihrem weiblichen, schwankenden Charakter. Sie würde meine Gattin geworden sein, hätte sie nicht stets das Urtheil der Menschen berücksichtigt. Dies alte ehrwürdige Stammhaus der Familie Werder möchte dann schwerlich ohne Stammerben geblieben sein und ich würde nicht nöthig gehabt haben, mir von deinem Vater einen Majoratserben zu erbitten. Du hast also den Vortheil von einer weiblichen Schlaffheit, Demuth und Charakterlosigkeit, du magst solche Weiber anbeten.«
Er verließ das Zimmer, ehe sich Edmund zu einer Verteidigung rüsten konnte.
Madame Kühne hatte sich von den Folgen ihres Schreckens über die entsetzenerregende Nachricht aus Wederstedt noch nicht vollständig erholt, so beschloß sie schon, von diesem Ereignisse nicht ein Wort laut werden zu lassen. Weder ihrem Mann, der überhaupt ihrem Verkehre mit dem Major abhold war, noch der Madame Erlang, deren kindisch neugierige Fragelust sie fürchtete, wollte sie Mittheilungen darüber machen. Erfuhren sie es beide anderweit, so konnte sie sich immerhin den Schein einer Ueberraschung geben. Sie dankte im Stillen nur Gott, daß sie bis dahin ihre Pläne, die eine Reise nach Wederstedt zur Folge gehabt hätten, noch nicht ins Werk gesetzt und dadurch einer Verwicklung mit diesem Brandunglück entgangen war.
Brandunglück! Die kluge Meisterin schlug die Hände über den Kopf zusammen. Von einem Zufall, einem Unglücke war nach ihrer Meinung gar nicht die Rede. Sie vermuthete auf der Stelle eine Greuelthat hinter diesem Ereignisse. Dann fielen ihre Gedanken auf den Ueberbringer der Nachricht und sie fragte sich, wer das gewesen sein könne. Es kam ihr befremdend vor, wie er sich seiner Botschaft entledigt hatte.
Sie grübelte darüber nach, wo sie ihn schon gesehen habe. Ihre Gedanken schweiften hin und her, aber auf die rechte Spur kamen sie doch nicht.
Eben so vergeblich, wie hierbei, waren auch ihre Bemühungen, sich zu überzeugen, ob auch Madame Erlang nicht dennoch zu hause und Zuhörerin von dem gewesen sei, was sie ihr verbergen wollte. So viel sie horchte und durch's Schlüsselloch guckte, sicher war sie ihrer Sache nicht.
Zerstört in ihrem Gemüthe, begab sie sich endlich an ihre häuslichen Geschäfte. Der furchtbare Tod Henriettens hatte sie sehr erschüttert, denn ohne Gefühl war Madame Kühne keineswegs.
Madame Erlang aber war wirklich zu Hause. Sie hatte Wort für Wort gehört und saß noch eine lange Zeit nach Herrn Georgi's Entfernung zusammengekauert in einem Winkel, wohin Madame Kühne's spionirender Blick nicht zu dringen vermochte.
Zum ersten Male in ihrem viel bewegten Leben empfand sie einen Schmerz, der sie zu Gott führte. Ein Menschenleben geopfert, das Leben seiner Familienglieder in Gefahr gebracht! Gott sei dem Sünder gnädig, dachte sie, zerknirscht ihre Hände ringend. Trage ich nicht einen Theil dieser Sünde? Wäre ich bei ihm geblieben, so würde er nicht zu diesem Wahnsinn gekommen sein! Er hat sich nicht anders helfen können, o mein Gott, gehe nicht mit mir zu Gericht!
Madame Erlang verhüllte ihre Augen. Ein Mordbrenner! Ihre Phantasie kehrte plötzlich zu dem Tage zurück, wo sie den Major zu verlassen beschlossen hatte. Sie sah sich der Stadt nähern, das Bild der Arbeiter mit ihren auffallenden Anzügen schob sich allmählig in den Vordergrund, sie erinnerte sich, daß sie beim ersten Anblicke dieser Baugefangenen ein Grauen empfunden, als sähe sie den Schleier der Zukunft gelüftet. Ich habe es geahnt, daß etwas Grausiges geschehen würde, ich habe es geahnt und ihn deshalb verlassen. Er war seit der fürchterlichen Katastrophe, wo ich vom Blute des unglücklichen Herrn von Scheffler überspritzt wurde, für mich ein Gegenstand innerer Furcht und Verachtung, er wurde ja täglich wüster und gemeiner, täglich frecher und verbrecherischer, ich wußte, daß er am Galgen enden würde, ich wußte es und darum verbarg ich mich vor ihm, darum versteckte ich mich unter dieser Maske. Ich hätte ihn nicht verlassen sollen, ich hätte ihm meinen Beistand nicht entziehen müssen, dann wäre es nicht mit ihm dahin gekommen, daß er als Mordbrenner endigte. Was wird sein Loos sein? Man ist ihm auf der Spur. O die unglückselige Frau Kühne merkte die Falle nicht, die man ihr stellte. Thörichte Frau, wenn deine Klugheit nicht einmal so weit reicht! Dem Mann, der diese Botschaft brachte, kam es nur darauf an, zu erfahren, ob der Major von der Abwesenheit Bohlbergs Kenntniß gehabt habe.
Madame Erlang erhob sich langsam und geräuschlos. Jetzt gilt es vorsichtig sein; jetzt gilt es, zu erforschen, ob Thurngau nicht schon in den Händen der Gerechtigkeit ist; jetzt beginnt ein neuer Abschnitt meines Maskenspiels, je unbefangener ich bleibe, desto sicherer ist mein Spiel gedeckt.
Leise hüllte sie sich in ihr Umschlagetuch, setzte die Kapuze auf und warf den schwarzen Schleier über, leise drehte sie den Schlüssel in der Thür um, öffnete dieselbe nur so weit, daß sie den Vorsaal und die Treppe übersehen konnte, und schlüpfte dann mit unhörbaren Schritten hinaus, um unbemerkt das Haus zu verlassen. Eine innere Unruhe trieb sie fort. Kaum daß sie die nöthige Vorsicht beobachtete, um nicht aus ihrer Rolle zu fallen.
Unter mancherlei guten und bösen Gedanken erreichte sie endlich den Fürstenwall, wo um diese Zeit Musik vor dem Commandantenhause gemacht wurde. Sie hatte hier den Major mit seiner Elite stets vorgefunden und war nach und nach so dreist geworden, in seiner Nähe Platz zu nehmen, ohne daß er sie erkannt hatte. Natürlich! wie konnte es ihm auch einfallen, in der krüppelhaft zusammengedrückten Gestalt die hübsche schlanke Gefährtin seines Vagabundenlebens zu suchen.
Blitzschnell musterte Madame Erlang die Gruppen der Männer, die theils aufmerksam der Musik lauschten, theils plaudernd zusammenstanden. Eine Minute war sie unsicher, eine Minute gab sie sich der Furcht hin – nein, er war noch frei, die Hand der Gerechtigkeit hatte sich noch nicht gegen ihn erhoben! Da stand der Major zwischen einem Trupp Männer, die gleich ihm in der Welt nichts weiter zu thun fanden, als ihre Beutel auf rechtmäßige und unrechtmäßige Weise leeren zu lassen. Man sah den verlebten Gesichtern das unregelmäßige Leben an, und wenn es auch oft edle Züge waren, die der erniedrigenden Lebensweise standhaft Trotz boten, so hatte sich dennoch die Gemeinheit überall dergestalt eingenistet, daß man sogleich erkannte, welch' Geistes Kinder diese Männer waren.
Unter dieser Elite von Spielern, Schlemmern und Nichtsthuern hatte der Major einen Platz erzwungen. Man duldete ihn nur, weil er zu Neckereien dienen konnte, wie sie kein ehrenhafter Mensch sich gefallen läßt. Man nahm ihn in's Schlepptau, um sich über ihn lustig zu machen, aber man sah ihm scharf auf die Finger, wenn ein Spiel gemacht wurde. Daher kam es, daß er mehr verlor als gewann, und zu allerlei Dingen greifen mußte um einen Nebenerwerb zu haben.
Nachdem sich Madame Erlang beruhigt und aus dem sorglosen Mienenspiele des Majors die Hoffnung geschöpft hatte, daß er von keiner Seite beargwöhnt werde, suchte sie sich wieder einen Weg durch das zahlreich versammelte Publikum, das fälschlicherweise die königlichen Gäste noch in der Stadt gewähnt, zu bahnen. Sie stieß auf Schwierigkeiten und mußte oft einige Minuten warten, bis man aus Mitleid ihr Platz verschaffte. Dabei geschah es, daß eine Stimme ihr Ohr traf, eine Stimme, die sie vor wenigen Viertelstunden erst vernommen, eine Stimme, die etwas Furchtbares verkündet hatte. Sie zweifelte nicht im geringsten, daß es derselbe Mann war, welcher das Brandunglück in Wederstedt zur Kenntniß der Frau Trinette gebracht, der da sprach.
Sie bemühte sich, dem Manne in's Gesicht zu sehen, es gelang ihr jedoch nicht. Er wendete sich und ging auf die Gruppe der Männer zu, bei denen der Major stand. Als er aus dem Gewühle heraustrat, gewahrte Madame Erlang, daß er eine Uniform trug und daß sein Hinterkopf eine merkwürdige Fülle rothblonder lockiger Haare aufwies. Sie hätte jetzt sehr leicht erfragen können, wer dieser Herr sei; allein den Prinzipien des Majors zufolge unterließ sie jede Frage und überließ es dem Zufall, sie zu belehren.
Höchst ermüdet kam sie Mittags nach Hause. Madame Kühne überzeugte sich zu ihrer Zufriedenheit, daß sie wirklich abwesend gewesen war, und Madame Erlang ließ es an nichts fehlen, um sie in dieser Meinung zu bestärken.
Es entwickelte sich für die nächsten Tage ein merkwürdiger Verkehr zwischen beiden Frauen. Jeder brannte das Herz nach dem Worte vertraulicher Mittheilung und keine traute der andern. Sie gingen nebeneinander durch wie ein Paar Kätzchen, die ihre Krallen verstecken und schmeicheln, während sie innerlich lauern und die Gelegenheit abwarten, wo sie etwas erhaschen können. Dies galt für den Augenblick mehr von Madame Erlang, als von Madame Trinette.
Wem indessen das Herz übervoll wird, dem geht der Mund über. Madame Kühne war auf dem Markte gewesen, um für ihren Haushalt einzukaufen und kam athemlos, voller Schrecken und unfähig ihre Unruhe ferner zu bemeistern, von diesem Gange zurück. Kaum daß sie ihren großen Marktkorb in der Küche niedergesetzt hatte, so stürzte sie durch die Werkstatt in ihr Vorderstübchen und klopfte ungestüm an die Zwischenthür.
Madame Erlang, mit der interessanten Arbeit beschäftigt ihr Korsett um einige Goldstücke leichter zu machen, fuhr heftig erschrocken in die Höhe, fragte aber schnell gefaßt, weinerlichen Tones, »was es denn gäbe, sie sei dabei, sich anzuziehen.«
»Ach machen Sie doch nur auf, Liebe,« flehte Frau Trinette, »Frauen unter sich brauchen sich nicht zu geniren. Ich muß Ihnen etwas anvertrauen, sonst frißt's mir das Herz. Es giebt ein Unglück, passen Sie auf, nun kommt er richtig noch an den Galgen.«
Madame Erlang fragte auffallenderweise gar nicht, wer an den Galgen käme, sondern warf nur ihr golddurchnähtes Korsett in die Komode, hüllte sich in ihr großes Tuch und öffnete die Thür.
»Sie sind ja ganz außer Athem!« sagte sie mit der monotonen Langsamkeit. »Was ist Ihnen denn passirt?«
»Du, mein Jesus, der alte Drost ist hier! Mit ihm zugleich kam ein junges, schönes Mädchen. Ich sah die Equipage aus der Ulrichstraße kommen und in den Gasthof zum Schwan fahren. Wie vom Donner gerührt stand ich da, Liebste.«
»Warum denn?«
»Weil mir's ahnte, daß der alte Drost nicht aus Langeweile hierher gekommen.«
»Was ist denn das für ein Mann?«
»Das ist ein alter Gerichtsmann aus der Nachbarschaft von Wederstedt, dabei ein Todfeind vom Major noch von Alters her. Sie nennen ihn dort in der Gegend nicht anders als den Rattenfänger, und wen er an's Messer bringen will, den bringt er ganz sicher daran. Und die hübsche Dame? Das war Bohlbergs Tochter, darauf wette ich.«
»Bohlbergs Tochter? Das wäre ja des Majors Enkelin? Die junge Dame will gewiß ihren Großpapa besuchen,« wendete Madame Erlang gutmüthig lachend ein.
»In Prison will sie ihn bringen, in Prison, so gewiß, wie ich vor Ihnen stehe,« fuhr die kleine Meisterin heraus.
»In Prison? Das heißt doch in's Gefängniß, Frau Meisterin?« fragte Madame Erlang mit verstellter Naivetät. »Sie scherzen wohl nur? Weshalb sollte das Fräulein ihren Großpapa in's Gefängniß bringen?«
»Weil, weil!« Frau Trinette besann sich zur rechten Zeit und verschluckte die Erklärung. Es entstand eine Pause, die von der Erlang mit Vorsatz nicht unterbrochen und durch Fragen ausgefüllt wurde.
»Ach, was hilft denn alles Verschweigen und Verstecken,« begann die kleine Meisterin wieder, und sie fuhr fort: »Sie sind eine Frau, auf die man sich verlassen kann, Liebste. Ich hätte es Ihnen gleich erzählen sollen, Sie würden nicht davon geplaudert haben. Denken Sie nur, in Wederstedt hat's gebrannt!«
»Was Sie sagen!« – – schob Madame Erlang hastig ein und ihre Stimme zitterte von erheucheltem Schrecken.
»Und der Major ist gerade zum Besuch dagewesen. Und Bohlbergs sind zu einem Geburtsfeste beim Oberamtmann Hedemann gewesen. Und der Major hat das gewußt, er hat mir's selber gesagt. Und bei dem Brande ist Henriette von Wederstedt verunglückt. Und Bohlberg hat seine Frau mit Lebensgefahr gerettet, liegt aber fast hoffnungslos darnieder. Und dreitausend Thaler sind gestohlen aus einem Schreibpult, das nicht erbrochen werden kann. Und nun kommt der Drost von Werder hierher mit Bohlbergs Tochter! Und ich habe gesehen, daß der Herr Criminalrichter Imann, den ich ganz gut kenne, die Straße herab kam, gleich in den Gasthof zum Schwan ging, wo eben erst die Herrschaften aus dem Wagen stiegen, und sie mit feierlicher Artigkeit begrüßte. Das war nicht von ungefähr. Auch das war nicht von ungefähr, daß der Criminalrichter, als er gleich darauf wieder wegging, auf der Straße einen Polizeicommissar traf, der mit ihm umkehrte. Es ist etwas im Werke, Liebste, wahrhaftig, es ist etwas im Werke, denn ich kenne den alten Drost von Werder.«
»Was meinen Sie denn eigentlich?« fragte Madame Erlang abermals mit affectirter Treuherzigkeit.
»Was ich meine? Nein, Sie sind doch wahrlich allzu kindlich!« rief die kleine Meisterin entrüstet. »Ich habe die Ueberzeugung, daß man dem Major die Brandstiftung nachgesagt und daß man eine Criminaluntersuchung vorbereitet. Die Sache schwebt schon lange in der Luft. Herr von Werder hat es dem Herrn von Thurngau schon vor fünfzehn Jahren angedroht. Daß man eine Verhaftung vor hat, beweist der Polizeilieutenant.«
»Polizeilieutenant,« fiel Madame Erlang fast zu rasch ein. »Ist das etwa ein Mann mit hochblondem Lockenkopf?«
Frau Kühne horchte auf, ohne sich klar zu sein, weshalb sie aufmerksam wurde.
»Ich habe so einen Herrn, der einem Lieutenant gleicht, von hinten gesehen und zwar damals, als die königlichen Herrschaften hier waren,« fügte Madame Erlang gleich hinzu. »Er hatte Uniform an. Ich hielt ihn für einen Militär.«
»Das wird ein Commissar gewesen fein,« bekräftigte Frau Kühne, weit sorgloser, als ihre sonstige Schlauheit erwarten ließ. Selbst die Erwähnung des hochblonden Haares war nicht im Stande gewesen, ihr das Bild desjenigen zurückzurufen, der sich auf so kuriose Art der Meldung des Unglückes entledigt hatte.
Madame Erlang aber dachte:
»Wenn dieser Bote ein Polizeibeamter gewesen ist, so weiß ich Bescheid! Armer Major, man umspinnt dich mit den Netzen des Beweises, bevor man sich an dich macht.«
Laut fragte sie dann:
»Sagten Sie mir nicht eines Tages, dies Fräulein Henriette sei des Majors Tochter? Ich kann mir nicht denken, daß ein Mann seine eigene Familie in Lebensgefahr bringen sollte.«
»Herr von Thurngau ist ein Mann, der nur an sich denkt! Die Strafe wird ihn ereilen und mir scheint, daß der Augenblick gekommen ist, wo er als Verbrecher durch die Straßen geführt wird,« erwiederte die kleine Meisterin, indem sie sich anschickte, die Stube zu verlassen. »Wir halten natürlich den Mund, Liebste. Was geht uns die Sünde unseres gnädigen Herrn an? Besser wir schweigen, als wir reden darüber.«
Sie ging und die Erlang sah ihr verächtlich nach.
»Diese weise Regel hätte Madame Trinette nur früher üben sollen,« murmelte sie, und versank in tiefes Sinnen.
Ihr Nachdenken mußte gute Folge gehabt haben. Sie beschäftigte sich eifrig mit dem Auftrennen einer Anzahl Goldstücke, zählte die noch eingenähten, und kleidete sich dann mit zufriedenem Lächeln vollständig an.
Bemerkenswerth war es, daß sie ihren großen Strickbeutel mit allerlei Wäsche füllte, daß sie eine kleine Kiste mit Gegenständen aus dem Schranke packte, dieselbe zuschob und mit einem Nagel verschloß; daß sie zwei ganz unscheinbare Kleider zurücklegte, eine Haube mit rosarothem Bande hervorholte, alle Röcke, die sie besaß, übereinander zog, und dabei immer zufriedener lächelte.
Nachdem sie sich also gerüstet hatte, verließ sie ihre Stube und ging schlurfend und mattherzig, gebückt und traurig, wie immer die Treppe hinab. Sie hatte einen Entschluß gefaßt, der sie endlich aus ihrer qualvollen Maske befreien sollte.
Wer sie dahin wanken sah, der hätte nimmer geahnt, daß sie mit kecken Entwürfen sich Flügel wünschte, um sie ausführen zu können.
Schnurstracks verfügte sie sich in das Hotel »Stadt London« und fragte dort unter verstellter Schüchternheit nach dem Major von Thurngau. Sie wußte, daß er um diese Mittagsstunde zu Hause war. Der Kellner wollte sie abweisen, weil er sie für eine Bettlerin hielt, die zur verschämten Armuth greift, um ihr Leben zu fristen. Als er sie jedoch streng gemustert, fand er sich bewogen, ihr die Nummer des Zimmers zu sagen, wo der Major wohnte.
Madame Erlang dankte ihm so überaus artig, daß er sich geschmeichelt dahin verstieg, sie die Treppe hinauf zu begleiten und ihr die Zimmerthür zu öffnen.
Es lag etwas in dem Wesen der elenden Frau, das den routinirten Marqueur zu der Ansicht brachte, eine herabgekommene Dame vor sich zu haben.
Der Major schien diese Meinung nicht zu theilen. Er lag der Länge nach auf dem Kanapee und mochte eben aus einem Mittagsschläfchen erwacht sein.
»Herr Major, eine Dame!« rief der Kellner.
Madame Erlang trat ein.
Der Kellner schloß die Thür und entfernte sich. Im Fortgehen hörte er den Major barsch und laut fragen: »Was wollen Sie? Gewiß eine Bettelei!«
Madame blieb an der Thür stehen und regte sich nicht, bis der Schritt des Kellners verhallt war. Nun schob sie, zum Entsetzen des Majors, dessen größte Schwäche eine feige Furcht vor allem Außergewöhnlichen war, den Nachtriegel vor.
»Sind Sie verrückt?« rief er, machte aber keine Anstalt, seine bequeme Lage zu verändern.
Madame antwortete nicht. Sie schritt schlurfend das Zimmer entlang, ohne sich um den Major zu bekümmern, nestelte ihr großes Umschlagetuch los und legte es ab.
»Wahrhaftig, es ist eine Verrückte, eine Wahnsinnige!« rief der Major.
Sie legte gebieterisch ihren Finger an den Mund und drohte ihm mit der andern Hand. Dabei setzte sie ihre verhüllende Kapuze ab und begann die Knöpfe und Haken ihres Kleides zu lösen.
Der Major lag wie erstarrt. Er erinnerte sich, diese seltsame Gestalt bisweilen in der Entfernung gesehen zu haben. Was führte sie hierher? Was hatte sie im Sinne? Ihr Verstand mußte gelitten haben.
Madame fuhr unterdessen fort, sich ihres obersten Gewandes in vollster Seelenruhe zu entledigen. Ein zweites Kleid kam zum Vorschein. Auch dies abzuziehen schien ihre Absicht zu sein.
Den Major überlief es heiß und kalt. Bald wollte er aufspringen und Hülfe schreien, bald trieb es ihn, sich männlich zu erheben und das wahnsinnige Frauenzimmer aus dem Zimmer zu jagen.
Madame mochte seine wechselnden Entschließungen auf seinem Angesichte lesen. Sie stampfte mit dem Fuße auf und verdoppelte ihre drohenden Geberden.
Das zweite Gewand zog sie indeß nicht ab, sondern sie knöpfte nur einen breiten Gurt los, der ihrem Nacken den nothwendigen Zwank auferlegte. So von ihren Fesseln frei, warf sie mit einer bewunderungswürdigen Schnelligkeit ihr reiches Haar von der Stirn zurück und eilte dann, wie entzaubert, mit einer graziösen Verbeugung dem Kanapee näher.
»Lutka!« rief der Major außer sich und es lag ein freudiges Leben in dieser rauhen, unmelodischen Stimme. »Bist du es wirtlich, Lutka?«
»Zu Befehl, Herr Major!« entgegnete Lutka mit neckischem Pathos.
Der Major brach in ein lautes Gelächter aus.
»Also in der Maske eines alten, buckligen Weibes hast du mich hier umschwebt, Lutka?«
»Still! Zum Lustigsein ist wahrlich die Zeit nicht angethan, Major! Ich habe Schweres mit dir abzurechnen. Laß uns aber vorsichtig unsere Stimmen dämpfen. Hier zu Lande haben die Wände Ohren und die Thüren Augen. Ich habe eine trübselige Zeit durchlebt.«
»Das ist deine Schuld,« sagte der Major spöttisch. »Mir ist's gut gegangen und du hättest die guten Tage mit mir genießen können. Sieh hier! Er griff in die Tasche und warf eine Hand voll Goldstücke auf den Tisch.
Lutka schob das Gold zusammen. »Nimm es und halte gut Haus damit. Ich mag nichts davon, denn es hat Menschenleben gekostet!« sprach sie mit ernster Verachtung.
Der Major sah sie groß an.
»Du wirst wahrscheinlich bald das Vergnügen haben, dein Geld sehr nothwendig zu gebrauchen, Major,« fuhr Lutka gelassen fort, indem sie das Gesicht des Mannes prüfte, dem sie das Gewissen zu rühren sich vorgenommen hatte.
»Wie weise du bist, Lutka! Ich brauche immer Geld!« polterte der Major ärgerlich hervor.
»Findest du das schon jetzt, Major?« fragte Lutka. »Du wirst dann freilich Gelegenheit haben, über die Fortschritte in der Weisheit zu staunen, die ich während meines Aufenthaltes hierselbst gemacht habe. Aber sonderbar – meine Klugheit reicht dessenungeachtet noch nicht aus, deine Sorglosigkeit zu begreifen.«
»Sprich deutlicher!« fuhr der Major auf.
»Hast du wirklich keine Furcht vor gerichtlichen Verfolgungen, Major?
»Nicht die geringste Furcht!«
»Trotzdem dein Bewußtsein dir sagen muß, daß Wederstedt nicht von selbst in Flammen aufgegangen ist?«
»Was geht mich das an! Als ich von Wederstedt fortging, brannte es noch nicht!«
»Da lebte also Henriette von Wederstedt noch?«
»Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch,« fiel der Major mit brüskem Scherze ein.
»Sie ist verbrannt!« sagte Lutka ganz ruhig, aber ihre Hände zuckten in nervöser Aufregung.
Der Major blickte, wie gelähmt vor Schrecken, starr geradeaus.
»Herr von Bohlberg hat seine Frau nur vom gleichen Tode retten können, indem er sein Leben wagte. Er liegt hoffnungslos darnieder.«
Kein Glied rührte der Major. Sein Auge schien verglast, sein Körper erstarrt.
»Dreitausend Thaler sind geraubt!« –
Jetzt kam Leben in ihn zurück.
»Geraubt?« fuhr er auf. »Es war mein Geld, das man mir vorenthielt.«
»Und darum stecktest du das Haus an? Um dreitausend Thaler! Um eine erbärmliche Summe, die du an einem Abende gewinnen und verlieren kannst?«
»Die Zeiten sind vorbei! Uebrigens war's mir nur um meine Verzichtsurkunde zu thun.«
»Mache mir nichts weiß! du brauchtest Geld!«
»Und wenn das wäre – wer sagt denn, daß ich das Haus angesteckt habe? Die Herrschaften kamen ja halb betrunken vom Feste in Groß-Heilungen wieder – mein Herr Schwiegersohn behandelte mich in seinem aufgeregten Zustande so brutal, daß ich nicht eine Minute länger unter seinem Dache weilen wollte.«
»Major, mir brauchst du nichts vorzulügen –«
»Mach' mich nicht wild!« fuhr er fort. »Warum soll ich denn das Feuer angelegt haben – he?«
»Weil du stehlen wolltest! Weil du stehlen mußtest!«
»Deine Weisheit geht schief. Ich bin mit Extrapost hinausgefahren, Bohlbergs zu besuchen.«
»Ein kluger Einfall, wenn du nicht die Unvorsichtigkeit begangen hättest, zu verrathen, daß Bohlberg mit seiner Familie in Groß-Heilungen zum Geburtstag sein würde.«
»Das habe ich nur zu Trinetten gesagt!«
»Diese hat es jedoch auf Betragen einem Polizeispion mitgetheilt.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe es gehört. Ich wohne im Hause, wo Madame Trinette wohnt; wohne sogar in der Stube, die Madame Trinette für deine Frau Majorin gemiethet hatte –«
»Du bist doch ein verdammt schlaues Frauenzimmer!« schaltete der Major erstaunt ein.
»Von Madame Trinette erfuhr ich alle die Geschichten, die dich hätten abhalten sollen, der Familie deiner verstorbenen Gattin jemals wieder nahe zu kommen.«
»Pah! Man hat mich betrogen! Ich mußte mir selbst helfen! Wer kann behaupten, daß ich der Brandstifter bin? Kann nicht die Jetty unvorsichtig mit dem Lichte umgegangen sein.«
»Still, Major! Du bist ein Rabenvater! Nicht allein daß du dies arme Mädchen, das Kind deiner Geliebten –«
»Was? Wirklich? Wirklich?« unterbrach er sie und schlug erschüttert die Hände vor's Gesicht.
»Hast du's nicht gewußt, daß Henriette von Wederstedt deine Tochter ist?« fragte Lutka, überrascht von diesem Zeichen des Gefühls.
»Nein, nein!« stöhnte er. »Gedacht habe ich einmal daran, aber ich konnte nicht glauben, daß meine selige Frau dies Kind erzogen haben würde. – Jetty! ach mein Gott im Himmel – warum nicht die Andere – die Andere, die ich hasse – o warum nicht die!«
»Keine frevelhaften Wünsche, wenn ich bitten darf, Major!« sagte Lutka streng.
»Wahrhaftig, Lutka, mein Wille war das nicht, an's Leben wollt ich Niemandem –«
»Ich glaube es jetzt!«
»Sie kamen zu schnell heim von dem Gastmahl! Wäre das Gesinde erst zur Ruhe gewesen, so hätte ich meine Papiere zu erlangen gesucht und wäre unter dem Vorwande des Verdrusses wieder abgereist.«
»Die Papiere?« wiederholte Lutka verächtlich. »Wo hast du denn nun die Papiere und was nützen sie dir?«
»Papiere habe ich wohl, aber mein Entsagungsdocument ist nicht dabei! Ich kann also die Kauf-Kontrakte nicht umstoßen, da ich meine Rechte an Wederstedt aufgegeben.«
»Du kannst überhaupt nichts Besseres thun als fliehen und zwar so weit nur deine Füße dich tragen wollen.«
»Fliehen? warum nicht gar!«
»Dann warte, bis man dich verhaftet!«
»Verhaftet? Warum nicht gar!«
»Ich warne dich! Man hat Beweise gegen dich gesammelt, die Polizei spürt deinen Worten und Werken nach.«
»Laß sie nur spioniren, wer will mir das beweisen? Bohlberg's Zeugniß entkräfte ich – er ist betrunken gewesen. Außerdem bin ich hier gewesen und kann mein Alibi beweisen.«
»Thörichter Mann! darum also deine Sorglosigkeit! du bildest dir ein, gesichert gegen alle Anklagen und Verdächtigungen zu sein?«
»Aber ganz gewiß gesichert!«
»Fürchtest du den Drost von Werder nicht?«
Der Major wurde bedenklich.
»Den alten Werder – den Drost –«
»Er ist hier, Madame Kühne hat ihn gesehen. Ein schönes junges Mädchen ist mit ihm hier; gleich bei seiner Ankunft versammelten sich Kriminal- und Polizeibeamte, sie mußten also von seiner Absicht, hierher zu kommen, unterrichtet sein.«
Ein Bild des Schreckens, sprang jetzt endlich der Major vom Kanapee auf und rannte wild im Zimmer umher.
»Himmel und Hölle! Wer mir das eingebrockt, den mag ein Donnerwetter erschlagen! Was? Die Trinette hat's gethan – nicht wahr?«
»Ich glaube nicht! Sie war zum Tode erschrocken und theilte mir in ihrer Herzensangst die Ankunft des Herrn von Werder mit.«
»Der Werder, der Werder!« sprach der Major zähneknirschend. »Ich wette der alte Rattenfänger hat seit meiner Heimkehr nach Wederstedt im Hinterhalte gelegen und auf Gelegenheiten gelauert, mir anzukommen.«
»Wenn du Ursache hast, ihn zu fürchten, so mache dich bereit, die Stadt zu verlassen, sonst erleben wir den Scandal, Major von Thurngau als Mordbrenner, mit gefesselten Armen und Beinen, durch die Straßen wandern zu sehen,« sprach Lutka kaltblütig und nestelte ihr Haar wieder über der Stirn zusammen.
»Es ist nicht nöthig, sage ich dir, es ist nicht nöthig zu fliehen!« entgegnete der Major rauh. »Wie leicht kann Henriette das Feuer verschuldet haben, da die Flachskammern dicht bei ihrer Schlafstube liegen! Als ich fortlief, um möglicherweise meine Extrapost wieder einzuholen, da Bohlbergs Empfang mir den längern Besuch verleidet hat, brannte es nirgends. Ja, ich behaupte, Bohlberg mit der ganzen Familie war noch nicht zu Bette.«
»Und wer hat das Geld gestohlen, wenn Bohlbergs noch nicht zu Bette waren?« fragte Lutka spöttisch, indem sie ihr Tuch ergriff und den Ledergurt um Hals und Schultern zog, um ihn dann an der Taille zu befestigen.
Der Major vergaß die Antwort, während er ihr zuschaute, wie sie aus sich eine verkrüppelte Figur bildete.
»Eine famose Verkleidung!« sagte er bewundernd. »Du bist wahrhaftig eine erfinderische Person. Wärst du bei mir gewesen, hätte ich's ohne Schwefel vollbracht.«
»Ich würde das dem Herrn Drost von Werder deutlich zu verstehen geben.«
»Mit dem Kerl mag ich nicht anbinden!«
»Dann höre auf mich, die du eben eine erfinderische Person genannt hast.«
»Wenn ich nur erfahren könnte, was er eigentlich hier will!«
»Das ist leicht zu begreifen. Er will einfach dich als verdächtig bezeichnen und hat zur Begründung seines Verdachtes die Tochter Bohlbergs als Zeugin mitgebracht, weil sie möglicherweise die einzige ist, die über deinen letzten Besuch in Wederstedt Auskunft geben kann.«
»Himmel, Hölle und Teufel! Könnte ich dieser überklugen Helene den Mund versiegeln – sie wird mich in's Verderben stürzen.«
»Das hast du selbst besorgt, Major. Du bist nachgerade kindisch geworden, dein ganzes Thun und Treiben verräth es. Jetzt höre mein letztes Wort. Ich bin bereit, dir von hier fortzuhelfen, dich sicher aus der Stadt und über die Grenze zu bringen. Dann aber trennen sich unsere Wege auf immer. Wir scheiden. Ich suche mir einen ehrlichen Erwerbszweig; meine Subsistenzmittel zu verdienen auf rechtliche Weise soll mir nicht schwer werden. Du magst gehen, wohin du willst, magst thun, was du willst! Geht es dir eines Tages schlecht, will ich dir helfen, will dich satt machen wenn du hungrig, will dich tränken wenn du durstig, will dich kleiden wenn du abgerissen und zerlumpt bist. Eine Gemeinschaft findet aber nie wieder statt! Nun überlege dir meinen Vorschlag. Um sieben Uhr bin ich wieder hier. Meine Verkleidung behalte ich bei, bis es nöthig ist, daß ich dich in dieser Verkleidung fortschaffen muß.
Du erlaubst, daß ich mich einiger Röcke entledige, die dazu nöthig sein werden und versteckst wohl gefälligst dies Kleid, die betreffenden Unterröcke, diese Enveloppe und dies Häubchen. Auf Wiedersehen heute Abend um sieben Uhr. Erfordert es die Noth, komme ich früher. Du wirst gut thun, dich so wenig wie möglich erblicken zulassen, mir ahnet, daß jeder deiner Schritte beobachtet wird.«
Lutka schlurfte, als Madame Erlang, schwerfällig durch's Zimmer, nickte noch einmal zum Abschiede und verließ ungefährdet das Gasthaus.
Ihr nächster Gang war nach dem Gasthofe zum Schwan.
Sie sah schon von fern einen stattlichen Mann mit Stulpenstiefel, gelbledernen Hosen und Dressenrock im gewölbten Eingang des Hotels stehen und vermuthete nicht mit Unrecht, daß dies der Kutscher des Herrn von Werder sei, der sich die fremde Stadt etwas betrachte. Den Mann suchte sie eben. Sie nahm es deshalb als eine gute Vorbedeutung, ihn ohne viele Nachfragen zu finden.
Langsamer näherte sie sich, um Gelegenheit zu haben, aus seiner Physiognomie auf seinen Charakter schließen zu können. Sie begegnete einem gutmüthig mitleidigen Blicke, das war ihr genug. Schüchtern schlich sie neben ihm zum Thorweg hinein, vergaß aber. nicht, ihm ehrerbietig einen guten Tag zu wünschen.
Der Mann im Tressenrocke nahm dies sehr gut auf. Er nickte zutraulich und ließ das arme Frauenzimmerchen passiren. Gleich darauf sah er es wieder neben sich.
»Sie entschuldigen, lieber Herr.« sagte Lutka mit ihrer bittenden Stimme. »Sie können mir wohl nicht sagen, ob ich hier im Gasthofe eine Gelegenheit nach Schöningen fände.«
»Nach Schöningen?« wiederholte der Tressenträger mit freundlichem Grinsen. »Wollen Sie nach Schöningen in Braunschweig oder giebt's noch ein anderes Schöningen?«
»Nein, nach diesem Schöningen,« erklärte das arme Frauenzimmer.
»Hm, ich bin aus der Gegend und komme an Schöningen vorüber, weswegen fragen Sie denn nach einer Gelegenheit dorthin? Eine Botschaft oder Päckchen könnte ich schon mitnehmen.«
Das arme Frauenzimmerchen schüttelte traurig den Kopf.
»Ach nein, ich wollte die Gelegenheit mit meiner Tochter benutzen, um dort einen Doctor um Rath zu fragen wegen meiner Augen. Ich fürchte, blind zu werden.«
»Na, ich dächte, Sie hätten schon genug der Leiden,« platzte der mitleidige Kutscher heraus. »Aber mitnehmen kann ich Sie nicht. Ich bin Kutscher des Herrn von Werder auf Werderswarthe und darf keine Passagiere annehmen, obwohl es unsern vier Pferden nicht zu viel wäre und wir auch Platz genug hätten. Wir wollen noch vor Sonnenuntergang wieder fort und die Nacht durch fahren. Deshalb nahm unser gnädiger Herr die große Carosse; die hat einen Bedientensitz hinten und einen Kammerjungfernsitz vorn neben mir.«
»Ach, liebenswürdigster Herr Kutscher, wenn Sie mich und meine Tochter doch auf diese Sitze placiren könnten!« rief Lutka im kläglichen Tone ihrer Rolle.
Auf den Kutscher machte der liebenswürdigste Herr Kutscher einen mächtigen Eindruck.
»Hm! es käme auf eine Anfrage an,« brummte er zwischen den Zähnen.
»Es soll Ihr Schaden nicht sein, Geehrtester! Die Gelegenheit dorthin ist so selten und eine Post geht gar nicht dahin. Einen Wagen zu bezahlen, dazu reicht unsere Kasse nicht aus, erbarmen Sie sich unserer, mein Allerbester!«
»Na, warten Sie einmal hier!« entschied sich Andreas und lief flink die breite Treppe hinauf nach dem Zimmer seines gnädigen Herrn. Er kam sehr bald mit freudestrahlendem Gesichte wieder. »Der gnädige Herr waren beschäftigt, aber das gnädige Fräulein von Bohlberg gaben mir die Erlaubniß, zwei Frauenzimmer bis Schöningen mitzunehmen. Fräulein wollen es beim gnädigen Herrn vertreten,« berichtete er. »Nun kommen Sie aber pünktlich um sieben Uhr. Gewartet wird nicht und wenn die Herrschaft einsteigen will, müssen Sie schon sitzen, hören Sie wohl!«
Lutka bedurfte ihrer ganzen Selbstbeherrschung, um nicht laut aufzujubeln. So leicht hatte sie sich das Arrangement dieses gewagten Planes nicht gedacht. Mit vielen Danksagungen verabschiedete sie sich vom vortrefflichen Kutscher Andreas und verfolgte ihren Weg weiter.
Sie mußte nach Hause, um ihren unvermeidlichen Pompadour zu holen. Nebenbei hatte sie noch einige nothwendige Besorgungen, wozu namentlich ein grüner Augenschirm gehörte. Sie rechnete mit Zuversicht darauf, den Major nach einigen einsam durchlebten Stunden voll Nachdenkens sehr willfährig zur Flucht zu finden, und ihr Plan war: ihre jetzige Maske auf ihn zu übertragen, der vorgeschützten schlimmen Augen zufolge einen grünen Schirm zur Verhüllung seines Gesichts zu benutzen und dadurch ein Erkennen desselben fast unmöglich zu machen.
Das Alles hatte sich im Zeitraume von wenigen Minuten in ihr geformt. Ein einziger Blick auf die Carosse, die im Hofe des Hotels stand, hatte diesen Plan, der nur sehr unbestimmt vor ihrer Seele geschwebt, schnell gereift, und der Zufall hatte die Möglichkeit der Ausführung vermittelt.
In der That es gab wohl kein sichreres Mittel, die Stadt ungestört zu verlassen, als auf dem Wagen dessen, der den Major verhaften lassen wollte. Lutka fand die Idee so ergötzlich, wie praktisch. Sie that sich innerlich auf diesen Gedanken etwas zu Gute. Schöningen lag nahe der Grenze. Von dort konnten sie sowohl Braunschweig als Hannover erreichen. Weiter war für den Augenblick nichts nöthig. Die eigentliche Gefahr für den Major entstand erst nach der Abreise Werders. So lange die Konferenz mit den Gerichtsbeamten dauerte, war gar nichts zu fürchten. Sie errieth, daß der gnädige Herr von Werder mit nichts Anderem beschäftigt war, als mit Vorbereitungen zu Thurngau's Verhaftung, und diese zu verhüten, dafür mußte gesorgt werden.
Wer hätte wohl vermuthet, daß dieses arme Frauenzimmerchen, dem der Kutscher Andreas mit dem glücklichen Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben, noch lange nachschaute, allerlei Allotria im Kopfe hätte, daß dasselbe zu jenen leichtherzigen Geschöpfen des Weltalls gehörte, welche in ihren Schelmenstücken stets der Grenze des Verbrechens nahe kommen und nur durch ihren Widerwillen gegen das Laster vor dem völligen Versinken darin bewahrt bleiben.
Bis zur späten Nachmittagsstunde blieb Lutka, als Madame Erlang, im Hause der Madame Kühne. Dann entfernte sie sich mit einer Unbefangenheit, als gelte es nur einen kleinen Weg, die Straße entlang. Am Hotel »Zur Stadt London« angelangt, ersah sie den Moment, wo Niemand im Hausflur war, und ging so eilig, als ihre Maske erlaubte, um sich geräuschlos in das Zimmer des Majors zu begeben.
Was sie dort in's Werk setzte, läßt sich ohne große Mühe errathen. Der Abend brach bereits herein, als diese gebückte, von Leiden gekrümmte Gestalt wieder die breiten Treppen hinab schlurfte, als sie, noch etwas gebückter und ungeschickter vielleicht, über den Breitenweg schlich und an den Häusern entlang bis zum weißen Schwan sich bewegte. Ein grüner Augenschirm verdeckte die obere Hälfte des Gesichtes und ein schwarzer Schleier fiel von der Kapuze über den ganzen Kopf. Am Thorweg des Gasthofes stand sie still und blickte zurück.
Bald nach ihr war eine andere Frauengestalt aus Stadt London geeilt und hatte mit flüchtigen Schritten denselben Weg verfolgt. Es war eine hübsche junge Frau, einfach aber geschmackvoll gekleidet. Ein Häubchen mit rosa Band zierte den Kopf und die Haarflechten drängten sich zu beiden Seiten üppig darunter hervor. Die junge Frau blickte heiter und unbefangen um sich her und auf ihrer hohen weißen Stirn thronte Verstand und Frohsinn. Sie gesellte sich zu der armen krüppelhaften Madame Erlang und verschwand mit derselben im Hausflur des Schwans.
Die Conferenz zwischen dem Herrn von Werder und dem Kriminalrichter Imann war zur Befriedigung des alten Herrn ausgefallen. Man hatte den vorliegenden Fall gründlich besprochen, Alles weise erwogen und war schließlich einig geworden, daß zum Wohle der Familie Bohlberg eingeschritten werden müsse.
Der Kriminalrichter, ein Mann von scharfem Verstande und lebhaftem Geiste, als Dichter bekannt und als solcher mit großer Empfänglichkeit für die Tragik des Lebens ausgerüstet, hatte die entsetzliche Einwirkung des Herrn von Thurngau auf das Glück seiner Familie sogleich begriffen und erkannt, aber er stand dennoch unter dem Drucke der damals noch vorherrschenden Achtung vor dem Rang und Stande des Angeschuldigten und glaubte die Verdachtsgründe streng prüfen zu müssen, bevor er auf einen Mann aus solcher socialen Stellung Angriffe wagte. Er schloß seine lange und wichtige Unterredung mit dem Herrn von Werder unter dem Versprechen, Indicien zu sammeln und schleunig zur Verhaftung des gefährlichen Mannes zu schreiten, im Falle die Merkmale der Muthmaßungen übereinstimmten mit den vorliegenden Thatsachen.
Herr von Werder empfahl ihm, Abschied nehmend, noch große Vorsicht in seinen Forschungen, da man es mit einem sehr verschlagenen und verwegenen Menschen zu thun habe. Beide Herren trennten sich in der Ueberzeugung baldigen Wiedersehens.
Herr von Werder hatte bis dahin seine Anklage privatim eingeleitet und wollte nach den ersten Erfolgen in der Begründung seines Verdachtes seine Aussagen gerichtlich bekräftigen. Helene von Bohlberg sollte möglichst fern von gerichtlichen Vernehmungen bleiben, obwohl der Criminalbeamte nicht ableugnete, daß gerade ihre Erzählungen ihn in seiner Ueberzeugung von der tiefen moralischen Gesunkenheit des Herrn von Thurngau wesentlich bestärkt hätten.
Mittlerweile war es Abend geworden. Herr von Werder sah den Zweck seiner Reise erledigt und da Helene dringend wünschte, so bald wie möglich wieder bei ihren Eltern zu sein, so gab er ihren Bitten nach und beschloß einen Theil seiner Nachtruhe der Rückreise zu opfern.
»Um zwei Uhr können wir heim sein, Helene,« sagte er tröstend zu dem jungen Mädchen, als sie ängstlich fragte, ob sie noch nicht abfahren wollten. »Meine Pferde sind tüchtige Renner und die Landwege sind noch gut. Freilich besser wäre es, wir hätten Mondschein, aber mein Andreas sieht wie die Katzen im Finstern. Nun noch rasch einen kleinen Imbiß, mein Töchterchen, und dann geht's fort im vollen Galopp. Du hast dich wacker benommen, mein Kind! Nicht ein Haar breit bist du abgewichen von der nöthigen Seelenstimmung. Freimüthig ohne Uebertreibung und Anklagelust – so war's recht! Selbst dein Papa hätte die Schilderung der häuslichen Verhältnisse nicht klarer geben können.«
»Mein Papa?« wiederholte Helene mit leiser Klage im Ton. »Mein Papa wird mir zürnen, wenn er erfährt, was ich erzählt habe. Er wünscht keine Verfolgung, er will, so Gott ihm das Leben schenkt, die ganze fürchterliche Tragödie unseres Hauses in Schleier zu hüllen um unserer Großmutter willen.«
»Wie kann man so absurde Ideen haben!« rief Werder entrüstet. »Hat dein Vater noch nicht genug erlebt? Aber Gottlob, ich habe nicht nöthig, mich an die Ansichten dieser Schwachköpfe zu kehren. Nun, nun, Helene, sei nicht böse, wenn ich zornig über deinen Papa werde. Du weißt, er ist mir nach Edmund der liebste Mensch auf der Welt. Um ihn zu schützen werde ich meine ganze Macht und mein ganzes Ansehen aufbieten. Ich will den Dämon eures Hauses vernichten.«
Die Herrschaften nahmen noch schnell ein kleines Souper ein und stiegen dann gemächlich plaudernd die Treppen hinunter.
Die Carosse des Herrn von Werder stand bereit mit seinem prächtigen Viergespann. Hinten im bequemen Bedientensitz sah man eine wohlverhüllte, zusammengekauerte Weibergestalt, schlafend wie es schien, denn sie regte sich nicht. Vorn auf dem Kutscherbocke, neben dem freundlich grinsenden Kutscher, erblickte man ein hübsches Frauenzimmer, das erst zutraulich mit Andreas, dem Rosselenker, plauderte, aber bei der Annäherung der Herrschaften ehrerbietig schwieg.
Mit weit geöffneten Augen schaute der alte Herr seine also beladene Carosse an. Helene, von ihren Empfindungen und Anstrengungen stark in Anspruch genommen, hatte vergessen, dem Drost mitzutheilen, was sie auf ihre Verantwortung dem mitleidigen Kutscher erlaubt hatte.
»Andreas! Wetterkerl! Was hast du uns denn da für Bagage aufgeladen?« fragte er halb ärgerlich, halb gut gelaunt.
Helene ergriff begütigend feine Hand.
»O bitte, ich hab's dem Andreas erlaubt,« sprach sie hastig, während Lutka von oben herab mit allerliebster Koketterie in Blick und Geberde ausrief:
»O gnädigster Herr! Wenn Sie befehlen, steigen wir sofort wieder ab. Wir baten nur, uns bis nach Schöningen mitzunehmen.«
»Nun, Sie können sitzen bleiben,« entgegnete der alte Herr und reckte den Hals, um nach der zweiten Person zu sehen. »Wer sitzt denn da?«
»Es ist meine Mutter, eine arme lahme und halb blinde Frau!« sagte das junge Frauenzimmer mit kecker Lüge. »Sie ist schon eingeschlafen.«
»Wer seid Ihr denn?« fragte der alte Drost in der zur Gewohnheit gewordenen Manier eines Mannes, dessen Ansehen von Bedeutung ist, indem er Helene in den Wagen hob.
»Ich bin die Wittwe des Sergeant-Major Thunichtgut,« antwortete Lutka, unter keckem Lächeln ihre innerliche Besorgniß versteckend.
»Von hier gebürtig?« fragte er weiter.
»Gott bewahre! Ich würde nicht stolz darauf sein, als geborene Magdeburgerin zu gelten. Man ist hier aus sonderbarem Holze geformt.«
»Was euch nicht gerade gefällt?« fügte der Drost lachend hinzu.
»Nein! Aber es kann im Neide liegen, daß es mir nicht gefällt,« gab sie prompt zur Antwort.
Damit war sie der weiteren Nachforschungen überhoben.
Herr von Werder stieg ein, der Kutschenschlag flog zu und unter dumpfem Gepolter rollte die Karosse durch den gewölbten Thorweg.
Des Tages letztes Glühen lag auf der Flur, als die Reisenden ins Freie kamen. Zwischen dem alten Herrn von Werder und seiner jungen Begleiterin stockte bald das eingeleitete Gespräch. Helene, vom frühen Aufstehen ermüdet, und der alte Herr, von den mannichfachen Anstrengungen des Tages abgespannt, gaben sich jenem träumerischen Schweigen hin, das der Seele mitunter ein Bedürfniß ist.
Auf dem Bocke vorn wurde indeß ein lustiges Gespräch unterhalten. Herr Andreas entwickelte seine Liebenswürdigkeit gegen die Tochter in demselben Grade wie er sein Mitleid gegen die Mutter entwickelt hatte, und es kam ihm wahrhaftig nicht im entferntesten in den Sinn, daß er Mutter und Tochter in einer Person vor sich habe.
Nach und nach wurde es Nacht.
Die arme krüppelige Frau hinten im Bedientensitz hatte so lange geschlafen, wie des Tages Schimmer mit Verrath gedroht hatte. Jetzt fing sie an, sich ein wenig zu regen – vielleicht daß der Hunger sie zwang, von einem reservirten Abendbrode Gebrauch zu machen. Die arme krüppelige Frau wurde dreister. Die eingetretene Dunkelheit verdeckte freilich alle Bewegungen, verdeckte den ungeheuren Appetit, womit die ansehnlichen Vorräthe, die Lutka herbeigeschleppt hatte, vertilgt wurden, aber die Dunkelheit verdeckte nicht das ungebührliche Räuspern und Auswerfen, wozu sie sich verleiten ließ, weil sie sich gesichert vor jener Beobachtung wähnte.
Die Wirkung dieses Lebenszeichens war bemerkenswerth. Helene fuhr, wild aufschreiend, aus ihrem träumerischen Sinnen auf und steckte den Kopf zum Wagen hinaus.
Da hörte sie die hübsche, junge Frau ängstlich rufen:
»Still doch! Still! Vorsicht!«
Helene wußte auf der Stelle, was das zu bedeuten habe. Wie ein Inspiration überkam es sie. Dies Räuspern, dies abscheulich unfeine Speien, sie wußte, ihr Großvater saß dort hinten, verhüllt und verkleidet, um sich durch die Flucht vor einem schmachvollen Prozesse zu retten! Sie wußte, das junge Mädchen war seine sogenannte Gemahlin, sie erkannte den gewagten Humor, womit sie sich die Wittwe des Sergeant-Major Thunichtgut genannt.
Helene begriff das ganze Complott und war auf der Stelle mit sich einig, dasselbe zu begünstigen. Mochte ihr Großvater durch diese Flucht seiner wohlverdienten Strafe entgehen, so erhielten sie doch gleichzeitig eine Garantie dadurch, daß er das Wiederkommen nicht wagen würde. Sie gedachte der Worte ihres Vaters, daß er, so Gott ihm das Leben schenke, nichts zur Verfolgung dieses ausgearteten Familiengliedes thun wolle. Sie hoffte ihren Vater am Leben erhalten zu sehen und nahm es in gläubiger Kindlichkeit als einen Akt der Vorsehung an, daß ihr die Gelegenheit gegeben ward, ihres Vaters Vorsatz zu unterstützen.
Außerdem erstand vor ihrer Einbildungskraft noch das Bild ihrer Pflegeschwester Jetty, deren Opfertod sie so mächtig erschüttert hatte. Erst heute, im Verfolg der eifrigen Mittheilungen des Drosten von Werder, war sie inne geworden, in welchem Verhältnis Jetty zum Großvater Thurngau gestanden hatte. Ihr Erinnerungsvermögen führte sie in die Zeitperioden zurück, wo dies gute, sanfte Mädchen sie oft liebevoll beschworen hatte, sie solle sich bezähmen lernen und ihre Heftigkeit zügeln, sie solle stets Böses mit Gutem vergelten und es dem Schicksal überlassen, kleine Ungerechtigkeiten zu strafen u. s. w.
»Was würde Jetty rathen, wenn sie ihr zur Seite wäre?«
Geduldig lehnte sich Helene in den Wagen zurück und überließ sich einem traurigen Nachdenken. Ihr ganzes Wesen war durch die Begebenheiten der Trauertage aus den Fugen gegangen. Erst hatte der tiefe Schmerz eine kalte Erbitterung gegen den Urheber desselben hervorgebracht, jetzt kehrten sanftere Gefühle in sie zurück und der Keim der Veredlung begann zu gedeihen.
Sie bezwang die Zorneswallungen, die momentan wieder Besitz von ihr nehmen wollten, sie blieb selbst Meisterin ihrer Empfindungen, als in der Nähe von Schöningen der Wagen plötzlich anhielt, die junge Frau vom Bock stieg und der maskirte Major seinen Bedientensitz verließ.
Noch einmal zuckte der Gedanke durch ihr Gehirn:
»Latz ihn nicht frei gehen, wer weiß, was er für Pläne schmiedet, uns Alle zu verderben! Laß ihn nicht frei, halte ihn, laß ihn fesseln, damit die böse Willenskraft endlich einmal in ihm erlahme!«
Aber Helene unterdrückte den Angstruf, den Hülfeschrei, der den alten Herrn von Werder aus seinem sanften Schlummer erweckt, der ihn alarmirt und zur Verfolgung angespornt hätte. Sie bekämpfte den innern Groll, der aus ihrem übervollen Innern auftauchen wollte.
»Nein, nein!« flüsterte sie ganz leise unter rinnenden Thränen, »nein, gehe nur fort, du beklagenswerther Mann, gehe hin in deinen Sünden. Wenn eines Tages die Reue in dir erwacht, dann sollst du nicht sagen können, daß ich in der Aufregung des Abscheues deine Flucht verhindert hätte. Die Zeit muß kommen, wo du es selbst vermeidest, vor uns zu treten. Dein Bewußtsein muß jetzt eine Scheidewand zwischen uns aufbauen. Also geh! geh! Ich will nichts thun, um dein Fortgehen zu verhindern.«
In dem Augenblicke, wo der Major, seine Maske ganz vergessend, querfeldein zu laufen begann, weil die Furcht ihn beschlich, noch jetzt erkannt und festgehalten zu werden, in diesem Augenblicke erwachte der alte Herr im Wagen, rieb sich einen Moment schlaftrunken die Augen und rief dann unwirsch:
»Was ist denn, Andreas? Warum hältst du an?«
»Die beiden Frauenzimmer sind hier abgestiegen, gnädiger Herr,« erwiederte der Kutscher, etwas verwirrt an den Wagenschlag tretend. »Das ist aber eine kuriose Begebenheit, gnädiger Herr, lahm und krumm, bucklig und blind hab' ich die Alte aufgeladen und jetzt läuft sie wie ein Kibitz so flink über die Stoppeln. Wenn das nur richtig ist!«
»Was soll's denn sein, alter Schwede?« schalt Herr von Werder gutmüthig.
Helene hielt sich ganz still. Ihrem Vorsatze getreu, mußte sie eine schläfrige Gleichgültigkeit erheucheln.
»Mir ist's so gruselig zu Muthe, gerade wie an jenem Abend, wie ich mit Ihnen von Groß-Heilungen nach Hause fuhr, gnädiger Herr,« entgegnete der Kutscher, sich im Gefühl eines innern Grausens schüttelnd. »Wenn ich nur nicht in meiner Dummheit die Brandhexe wieder hierher gebracht habe.«
»Dummes, abergläubisches Geschwätz!« schalt der alte Herr.
»O nein! gnädiger Herr, ich kann Ihnen Leute zur Stelle bringen, die eine Gestalt windgeschwind über die Felder haben laufen sehen, als das Feuer in Wederstedt gewesen,« betheuerte der Kutscher. »Als ich die alte Person so fix davon rennen sah, überlief mich ordentlich ein Schauder. Wir wollen nur machen, daß wir nach Hause kommen, wer weiß, ob's nicht brennt bei uns, wenn wir heim kommen.«
»Das gebe Gott nicht! Das verhüte der Himmel!« rief Helene in aufsteigender Angst und das Geheimniß, das sie zum Besten ihres Großvaters bewahren wollte, trat ihr auf die Lippen.
»Laß dich doch durch solch albernes Gewäsch nicht aufregen, liebe Helene,« tröstete sie der alte Herr, während der Kutscher sich auf seinen Sitz schwang und die Pferde zum rasenden Galopp antrieb. »Ich dächte, wir beide wüßten, wer das Feuer in Wederstedt verschuldet hat und was für eine Gestalt nach Vollführung der Schandthat windgeschwind durch die Felder gelaufen ist.«
»Aber – wenn – ach Gott!« bebte es von Helenens Lippen. »Wenn er aus Bosheit, aus Rache –«
Sie brach in ein heftiges Schluchzen aus. Es war zu spät, daß sie daran dachte!
»Ruhig, mein Kind!« beschwichtigte der alte Herr sie. »Wir stehen mit unsern Entschließungen und deren Folgen in Gottes Hand!«
Helene legte ihre Stirn an seine Brust und umschlang ihn mit beiden Armen.
»Ja! Ja! Mag es nun kommen wie es will,« flüsterte sie, »ich konnte nicht anders handeln, ich konnte es nicht, Gott weiß es ja!«
Der alte Mann streichelte voll Erbarmen das Köpfchen des armen jungen Mädchens, das schon so schwer vom Schicksal geprüft worden war. Ob er es gethan, wenn er gewußt hätte, wessen sie sich schuldig bekannte mit jenen Worten?
Pfeilschnell ging es unterdessen fort, trotz dem Dunkel der Nacht. Die feurigen Rosse tanzten sicher und fest auf dem Wege dahin, der sie der Heimath immer näher führte.
Herr Andreas in seiner erwachten abergläubischen Furcht schaute oft rückwärts, als erwarte er nichts gewisser, als die »alte Hexe«, wie er plötzlich seine Schutzbefohlene zu nennen beliebte, dem Wagen nachrennen zu sehen. Sein Schreck war aber ungeheuer, als er plötzlich nicht hinter sich, wohl aber dicht vor sich, vom Fußwege her, eine Gestalt aus dem Dunkel auftauchen sah.
»Alle guten Geister!« betete er voller Angst, und wollte rasend auf die Pferde einhauen.
»Guten Abend, Andreas!« sagte eine bekannte Stimme, und die Gestalt stand neben dem Fahrgeleise still.
»Herr Gott, der junge gnädige Herr!« rief der Kutscher voll Entzücken.
Rasch hielt er die Pferde an.
»Noch nicht, Andreas,« antwortete Edmund. »Schlafen die Herrschaften, dann will ich zu dir auf den Bock steigen.«
Ehe Andreas antworten konnte, steckte Helene schon den Kopf aus dem Wagen.
»Sie sind doch kein Unglücksbote, Edmund?« fragte sie beklommen.
»Nein! Ich konnte mir nicht versagen, Ihnen ein Glücksbote zu sein,« antwortete der junge Mann. »Ich komme von Wederstedt, wo ich den ganzen Tag über gewesen bin, und ging dem Wagen, den ich erwarten konnte, entgegen. Der Doctor hat heute die Bandagen von den Füßen Ihres Vaters genommen, er giebt uns jetzt die Hoffnung, Ihren Vater in kurzer Zeit geheilt zu sehen.«
Während Edmund sprach, hatte er den Wagenschlag geöffnet und schwang sich nun hurtig hinein in die Carosse. Fort ging es wieder, daß die Funken stoben.
Herr von Werder hatte kein Wort zu alledem gesagt. Wäre es weniger dunkel gewesen, so hätte man sein schlaues, bedeutsam sarkastisches Lächeln um seinen Mund sehen können. Nach dem letzten Streite war es zwischen ihm und seinem Neffen ziemlich kühl hergegangen. Edmund konnte sich nicht von der Notwendigkeit seiner Maßregeln überzeugen, und der alte Herr empfand auch nicht das mindeste Verlangen, diese Maßregeln von Herrn Edmund gebilligt zu sehen. Daß derselbe auch Helene verdammte, verdroß ihn am meisten. Aber auch darin ließ sich nichts ändern. Also reiste er nach Magdeburg und nahm Helene mit.
Nach diesen Vorgängen mußte es den alten Herrn wohl überraschen, seinen Herrn Neffen in stockdunkler Nacht auf der Landstraße zu finden, bloß zu dem Behufe, Helenen eine Freude zu bereiten.
»Eine ritterliche Artigkeit!« sagte er endlich, nachdem Edmund Helenen ganz genau die Beschreibung des verflossenen Tages gegeben hatte und durch ihre warmen Danksagungen beglückt worden war.
»Es ist mehr als das,« wendete Helene belebt ein. »Es ist eine unbeschreibliche Güte, Sie haben vorausgesehen, daß ich mit schwerem Herzen der Heimath mich nähern würde.«
»Vielleicht entsprang aus dieser Voraussicht mein Entschluß,« antwortete Edmund mit ruhiger Offenheit. »Das Wahre an der Sache ist, daß ich keine Ruhe hatte, ich mußte Ihnen entgegen gehen.«
Der alte Herr lachte.
»Ich nehme diese Erklärung als das Eingeständniß eines Irrthums,« sagte er sehr vergnügt, »und will dir zur Belohnung erzählen, daß sich meine liebe Helene mit bewundernswürdigem Tacte in der Affaire benommen hat.«
»Wie? Verstehe ich diese Erklärung recht? Sie wünschten meine Betheiligung nicht?« fragte Helene überrascht.
»Nein, ich wünschte es nicht und habe dieserhalb ein sehr langes und ernstes Gespräch mit Ihrem Vater gehabt.«
»Dieser billigt unsere Schritte auch nicht?« fragte Helene ängstlicher noch.
»Anfangs nicht! Im Verlaufe des Gespräches haben wir beide aber eingesehen, daß eine verantwortliche Vernehmung des Herrn von Thurngau das allerbeste Schreckmittel für denselben sein möchte, wir also die Privateinleitung zum Processe gegen ihn gut heißen müßten.«
»Thorheit! Thorheit! – Privateinleitung! – Er wird verhaftet!« rief Werder dazwischen.
»Bohlberg wird dir seine Wünsche darüber mittheilen, lieber Onkel.«
»Nichts! nichts! nichts! Ich höre auf nichts! Ich nehme auf Einwendungen keine Rücksicht! So lange dieser Mann in Freiheit ist, mangelt uns jede Sicherheit!« sprach der Drost mit heroischer Entschiedenheit. »Gebt euch keine Mühe, die Sache ist im besten Gange und alle Reclamationen helfen nichts. Wenn du deshalb deinen nächtlichen Spaziergang unternommen hast, dann dauerst du mich, Edmund. Dein Opfer wird keinen Erfolg haben.«
Edmund ließ diesen gemächlichen Angriff unbeantwortet und wendete das Gespräch auf andere Dinge.
Bald darauf bog der Wagen von der Wederswarther Landstraße ab, umfuhr das Wäldchen, das zwischen beiden Dörfern lag und bewegte sich auf einem holprigen Seitenwege auf Wederstedt zu. Helene, ohnedies viel furchtsamer als sonst, empfand es schon jetzt als eine Wohlthat, daß Edmund ihnen entgegen gekommen war und sie durch den öden, von Brandbalken und eingestürzten Mauern höchst ungemüthlich erscheinenden Gutshof geleiten konnte.
Der Wagen hielt vor der Pforte, Gottfried hatte im nächsten Stalle Wache gehalten. Er kam mit einer großen Stalllaterne ausgerüstet herbei, als Edmund sich anschickte, Helene aus dem Wagen zu heben.
»Es ist ein Trost für mich, daß Sie bei mir sind,« sagte Helene nach dem Abschiede vom alten Herrn leise und zutraulich zu dem jungen Manne, der ihr den Arm bot.
»Ich sah dies voraus,« war seine Antwort. »So lange man unverändert in den Umgebungen bleibt, wo man schmerzliche Erfahrungen gemacht hat, schläft das Grauen – kehrt man aber nach momentanem Vergessen wieder dahin zurück, wacht der Schmerz mit ganzer Stärke von Neuem auf und hat ein stärkeres Grauen im Gefolge.«
»Mich beunruhigen außer diesem naturgemäßen Gefühle noch andere Erfahrungen, Edmund. Darf ich Ihnen mittheilen, was mich ängstigt? Darf ich eine Entscheidung in Ihre Hand legen?« fragte Helene ganz leise, damit Gottfried nichts vom Gespräch verstehen sollte.
»Ihr Vertrauen beglückt mich, Helene. Sprechen Sie.«
»Habe ich recht oder unrecht gehandelt, wenn ich Ihrem Onkel verhehlte, daß mein Großvater nebst seiner jetzigen Frau, oder was sie sonst vorstellt, in einer Verkleidung unser Fuhrwerk als Hülfsmittel zur Flucht benutzte?«
»Helene! Verstehe ich recht? Sie haben deshalb die Reise dorthin unternommen?«
»Nein, nein! Es ist ein Beweis seltener Schlauheit seitens der Frau. Fragen Sie Ihren Kutscher, wie er zu den Passagieren gekommen ist. Unterwegs hörte ich die alte Frau, die im Bedientensitze Platz genommen, sich räuspern – ich erkannte meinen Großvater – aber ich schwieg – ich begünstigte sein Vorhaben zur Flucht – und jetzt zittere ich vor den möglichen Folgen meiner Verheimlichung, weil ich verantwortlich dafür bin. In Schöningen verließ der Großvater und seine Begleiterin den Wagen. Sie beeilten sich fortzukommen. Bin ich zu tadeln wegen meiner Handlungsweise?«
Edmund wagte nicht zu antworten, um nicht, angesichts der traurigen Verwüstung, in der Jetty's schönes Leben zu Grunde gegangen war, seine aufgeregten Empfindungen zu verrathen. Er zog nur leise die Hand des Mädchens, die auf seinem Arme ruhte, an sich, und durchfaltete seine Hand mit der ihrigen.
»Ich konnte mich nicht entschließen, Ihren Onkel von meiner Entdeckung zu unterrichten« fügte Helene, befriedigt durch sein beredtes Schweigen, hinzu.
»Jetzt verlange ich jedoch Ihren Rath, Edmund. Soll ich meine Muthmaßungen laut werden lassen? Soll ich die Spur dieser Flucht verrathen? Soll ich Ihrem Onkel Geständnisse machen?«
»Nein! Wir schweigen, Helene! Legen Sie getrost Ihre Zweifel in meine Brust nieder und thun Sie nichts, ohne mit mir Rücksprache genommen zu haben. Vertrauen Sie mir wie einem Bruder.«
»Ja!« antwortete sie freudig. »Aber Sie müssen mir dagegen geloben, mir wie meine Jetty, ehrlich und gütig zugleich Warnungen und Lehren zu ertheilen – wollen Sie?«
»Ich will!«
»Gute Nacht! Also wir schweigen, Edmund!«
»Gute Nacht! Wir schweigen, Helene!«
Helene trat in die niedrige Hüttenthür des Häuschens, das jetzt das Asyl der Familie geworden war, und stand darauf vor den Betten ihrer Eltern, die noch wachend ihrer harrten. Sie erzählte flüchtig von den Geschäften, die Herr von Werder in Bohlbergs Namen abgemacht hatte, und gab ihrem Vater, der sie ernst befragte, einen kurzen Abriß dessen, was rücksichtlich der Verdächtigung ihres Großvaters von ihr verlangt worden war.
Als Bohlberg vernahm, daß sie nur genau den letzten Besuch desselben geschildert habe, gab er sich zufrieden und vertagte alles bis auf die nächste Zusammenkunft mit dem Drost von Werder.
Dieser würdige Herr war vollkommen zufrieden mit Allem, was an diesem Tage geschehen war. Den Schlußstein seiner Zufriedenheit bildete Edmunds Ritterthat, wie er die Besorglichkeit des jungen Mannes, vergnügt spottend, benannte.
»Sieh! sieh! Das hätte ich dir kaum zugetraut, mein lieber Neffe,« sprach er im Weiterfahren. »Du thatest sehr verächtlich in Bezug auf Helenens Vorzüge.«
»Es ist bisweilen nur nöthig, daß man einen Charakter vom richtigen Gesichtspunkt betrachtet, lieber Onkel.«
»Oder besser gesagt, daß man die Brillen der idealen Anschauungen absetzt.«
»Auch das! Ich will nicht leugnen, daß die Selbstverklärung meines Ich mich zu Irrthümern verleitet hatte.«
»Wenn nun dein Eigensinn dir den Weg zum Glücke, das heißt zum Besitze dieses Mädchens versperrt hätte, und du zu spät inne geworden wärest –«
Edmund machte eine abwehrende Bewegung.
»Ein Funken läßt sich schwer verlöschen, lieber Onkel, wenn er sich auch zuerst nur unbewußt in unser Inneres gesenkt hat. Die Zeit wird reifen, was Sie wünschen. Ich bekenne schon heute, daß in Helenens Wesen alle die Eigenthümlichkeiten ruhen, die mich reich zu beglücken vermögen.«
Wie der alte Herr jubelte über dies offene Bekenntniß! Er schrieb seiner Einwirkung diese plötzliche Sinnesänderung zu.
Armer, alter Herr, was dich schwer gekränkt haben würde, war für den jungen exaltirten Mann eine Veranlassung zur zärtlichen Begeisterung!
Was wird der Herr Drost von Werder sagen, wenn er eines Tages die Geheimnisse zwischen Helene und Edmund erfährt?
*
»He! Freund Georgi!« rief Herr Dreifuß zum Fenster des Hotels hinaus, als der Polizei-Kommissar Georgi am nächsten Tage in Berufsgeschäften die Straße daher kam. »He! haben Sie denn keine Ohren, daß Sie mich nicht hören, und keine Augen, daß Sie mich nicht sehen?«
»Vielleicht ganz einfach nur keine Zeit,« erwiederte Georgi mit höflichem Lachen.
»Nun, ich wollte Ihnen nur mittheilen, daß wir den Major glücklich los sind, und zwar ohne Schaden. Er hat Alles auf Heller und Pfennig bezahlt, ehe er auszog.«
Herr Georgi hatte jetzt plötzlich Zeit. Ein unangenehmes Erstaunen fesselte anfangs seine Sinne etwas, er begriff nicht recht, er verstand nicht recht, weil es ihm höchst unbequem war, zu begreifen und zu verstehen.
»Wo ist denn der Major geblieben?« fragte er mechanisch. »Abgereist?«
»Bewahre! Dem blüht jetzt der Weizen! Es ist so ein Muttersöhnchen von seiner Reisetour zurückgekommen, das soll gerupft werden, was geht es mich an!«
»Wohin ist er gegangen?« forschte Georgi mit vieler Selbstbeherrschung.
»Er hat eine Privatwohnung genommen.«
»Wo? In welchem Hause? Uns ist noch nichts gemeldet.«
»Ach, erst gestern, er bezahlte seine Rechnung und ging, ohne etwas zu äußern, wieder hinauf. Als Charles am Abend Licht in's Zimmer bringt, liegt eine Karte auf dem Tische: Adolf von Thurngau p. p. c. pour prendre congé (frz.: »um Abschied zu nehmen«; auf Karten). – Anm.d.Hrsg.«
»Nun das ist seltsam!« rief Georgi heftiger als sich schickte.
»Warum? Sein Conto war gelöscht. Er hatte kurz vorher, ehe er bezahlte, zu Herrn Reimers gesagt, daß der Aufenthalt im Gasthof ihm zu theuer wäre, deshalb wolle er eine Privatwohnung beziehen. Dagegen läßt sich nichts einwenden, und wir sind froh, mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein.«
Georgi fühlte, daß er auch nichts dagegen einwenden dürfe, wollte er sich nicht in die Karten blicken lassen. Er ging. Aber ein lebhafter Argwohn beflügelte seine Schritte, als er beschloß, vor allen Dingen erst Nachfrage bei Madame Kühne in der Jakobsstraße zu halten, ob diese nichts vom Verbleib des Majors wisse.
Allein wie fing er dies am besten an? In der Eigenschaft als Polizeibeamter durfte er es nicht eher, bis die Verdachtsgründe constatirt waren.
Er vertraute auf sein gutes Glück und verfügte sich spornstreichs in die Jakobsstraße. Mit dem Bewußtsein, als Polizeibeamter mindestens eine oberflächliche Nachfrage halten zu dürfen, trat er in die Werkstätte des Meisters Kühne. Es befremdete ihn, daß bei seinem Eintreten plötzlich alle Hobel stockten und fragende Blicke ihm von allen Seiten entgegenstarrten. Der Lehrling machte sich sogar das Vergnügen, fortzustürzen und seine Meisterin herbeizuholen.
Was konnte das bedeuten? Bevor er eine vorsichtige Untersuchung dieser sonderbaren Begrüßung anstellen konnte, kam Frau Trinette von der Küche herein und fragte mit dem Ausdrucke theilnehmender Klage:
»Haben Sie sie gefunden, Herr Kommissar – lebt sie denn noch? Ach Himmel, was habe ich für eine Angst ausgestanden. Wo war sie denn? Warum hat sie sich denn nicht hierher bringen lassen?«
Herr Georgi stand vor diesen sich überstürzenden Fragen, ohne zu wissen, worauf sie schließen könnten, aber er hätte nicht der schlaue Mann sein müssen, um sie nicht sogleich zu seinem Zwecke zu benutzen. Es war im Hause augenscheinlich etwas passirt, was in sein Territorium paßte; also frisch drauf los gefragt, damit er erst dadurch Eingang erzwang.
»Meine liebe Frau Meisterin, Sie fragen zu viel auf einmal,« antwortete er leutselig, »erlauben Sie nur erst, um allen Irrungen vorzubeugen, daß ich mich von dem Sachverhalte informire, bevor wir weiter verhandeln. Zuerst also möchte ich um genaue Auskunft bitten« –
Frau Trinettchen, im Vollgefühle ihrer Klugheit, unterbrach ihn:
»Ja, sehen Sie, Herr Kommissar – gestern ging sie schon frühzeitig aus, gleich nachdem sie zu Mittag gegessen. Eine Stunde darauf war sie wieder da. Ich hörte etwas in ihrer Stube rascheln und überzeugte mich durchs Schlüsselloch, daß Madame Erlang es selber war, die in der Stube kramte. Wir hatten nämlich unter einander ausgemacht, daß ich durchs Schlüsselloch ihre Stube controliren solle,« unterbrach sie ihre Erzählung, als sie ein Lächeln um Georgi's Lippen entdeckte. »Madame Erlang war eine zu jämmerlich elende Frau – es konnte ihr etwas passiren – verstehen Sie mich ja recht, Herr Kommissar.«
»Ich begreife vollkommen,« erwiderte Georgi gelangweilt durch den Redefluß der kleinen Frau.
»Dann hörte ich Madame Erlang wieder fortgehen und auch nach geraumer Zeit wiederkommen – es war mir beinahe, als könne sie rascher gehen, als sonst und ich freute mich darüber. Späterhin, schon gegen Abend, schleppte sie sich nochmals die Treppe hinunter – und seitdem ist sie nicht wieder eingetroffen. Ich habe gewartet und gewartet – ich bin die Straße hinabgelaufen, habe den Lehrburschen nach dem Doktor Hase geschickt, weil ich dachte, der könne sie elektrisirt oder magnetisirt haben, wir sind zuletzt alle mit einander nach ihr ausgegangen und haben die ganze Stadt durchsucht – Alles vergebens, Herr Kommissar. Da schicke ich denn heute früh nach der Polizei und ließ die Sache melden.«
Woher es kommen mag, daß manche Menschen auf der Stelle Verhältnisse in Zusammenhang bringen, die himmelweit auseinander zu stehen scheinen, ist eine räthselhafte Erscheinung. Allein hier geschah es wiederum. Herr Georgi wurde plötzlich aufmerksam und fragte, auf die Sache eingehend:
»Haben Sie Forderungen an Madame Erlang?«
»Nicht einen Groschen. Sie bezahlte ungemein prompt.«
»Hatte die Frau Umgang in der Stadt?«
»Sie kannte keinen Menschen, als den Doktor, der sie kuriren sollte.«
»Was fehlte ihr?
»Das weiß Niemand. Ich denke mir, es kann nur ein Rückenmarksleiden gewesen sein, da sie ganz zusammengekrümmt ging. Sie hielt sich bloß deswegen hier in der Stadt auf.«
»Woher kannten Sie die Frau?«
»Ich habe sie nicht eher gekannt, bis sie zu mir zog,« entgegnete Madame Kühne und berichtete nun in sentimentalem Tone, auf welch seltsame Weise das Geschick sie mit ihr zusammengeführt.
Herr Georgi fand weder etwas Seltsames darin, noch war er zartfühlend genug, das Glück dieses neuen Freundschaftsbundes zu begreifen. Er sagte einfach, Madame Kühne solle ihn in das Zimmer der verschwundenen Madame Erlang führen, vielleicht fände man dort Aufschluß über ihre unerklärliche Abwesenheit.
Erst durch diese Maßregel wurde Frau Trinettchen belehrt, daß ihre liebe Freundin noch gar nicht aufgefunden sei. Sie vollführte indeß den Befehl des Herrn Kommissars und ging mit ihm durch ihr Stübchen nach dem Gemache, das Madame Erlang bewohnt hatte.
Hier, unbelästigt von den Augen und Ohren der Werkstattsarbeiter, nahm Georgi einen gemüthlichen Ton an. Er befragte Frau Trinette nach ihren Verhältnissen und leitete sie allmählig darauf hin, von Wederstedt und dem Major zu sprechen. Das Unglück dort lag ihr noch in allen Gliedern, deßhalb war es bei ihrer Redseligkeit kein Wunder, daß sie auch hierüber Sprechübungen hielt.
Jedenfalls lag es in einer unerklärlichen Zerstreutheit, daß die kluge Meisterin auch jetzt noch nicht daran dachte, die Persönlichkeit Georgi's schärfer in's Auge zu fassen, wo sie auf ein Kapitel gekommen sein würde, das sie an die hochblonden Haare des damaligen Botschafters erinnern mußte.
»Sie waren längere Zeit in Wederstedt?« fragte Georgi gleichgültig, während sein Blick das Zimmer der Madame Erlang durchforschte.
»Fünf Jahr, Herr Kommissar.«
»Ein sicheres Zeichen, daß Sie mit Ihrer Herrschaft und Ihre Herrschaft mit Ihnen zufrieden war. Wem gehörte das Gut?«
»Der Frau von Thurngau, geborenen von Wederstedt.«
»Thurngau?« sagte Georgi sinnend. »Es hat ein Major von Thurngau eine Zeit lang in der Stadt London gewohnt.«
»Das ist der Gemahl jener Dame. Er wohnt noch in der Stadt London,« fiel Madame mit verächtlichem Ausdrucke ein.
Georgi spitzte seine Ohren. Madame wußte also nichts.
»Nein! Er ist weggegangen dort, er hat eine Privatwohnung genommen.«
»Genommen? Er hat wohl eine andere Wohnung erhalten?« warf sie spöttisch ein.
»Sie kennen den Herrn?«
»O freilich! Er darf mir aber nicht wieder in's Haus kommen!« sagte sie stolz und schob einen Kommodenkasten auf, der nicht ganz zugeschoben schien. »Mein Gott, der Kasten ist ja leer!« rief sie erschrocken.
»Lassen Sie 'mal weiter sehen,« befahl der Beamte und schloß den Kleidersecretär auf.
»Leer, wo ist denn Madame Erlang's Garderobe geblieben?« rief Frau Trinette noch erschrockener.
»Erlauben Sie 'mal, hier steht ein Kistchen,« sprach der Beamte, dem die Sache interessant wurde. Er nahm das Kistchen aus dem Kleiderschranke. »Es ist zugenagelt. Holen Sie eine Zange.«
Wie der Wind war Frau Trinette fort und wieder da
Georgi zog den Nagel heraus, schob den Deckel zurück und nahm mit spitzen Fingern zuerst ein sauberes Hütchen, mit einer langen weißen Straußfeder verziert, heraus, das er der erstaunten Meisterin sehr gleichgültig übergab. Weniger gleichmüthig war er schon, als ihm danach ein schmaler türkischer Shawl in die Hände fiel, den er mit einem Ausrufe von Erstaunen ebenfalls Frau Trinetten übergab, um nun hastig ein schwarzseidenes, in blau schillerndes Kleid herauszureißen und zu entfalten.
»Gehört dieser Anzug der Madame Erlang?« fragte er, scharf die ganz verwirrt dastehende Meisterin fixirend.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich weiß es nicht!« war ihre Antwort. »Fast möchte ich behaupten, er gehöre ihr nicht, ihre ganze Erscheinung widerspricht diesem eleganten Anzug.«
»Haben Sie keine Vermuthung, wie dieser Anzug hierher gekommen sein könne?« fragte der Polizeibeamte sehr ernst und in der vollen Würde seines Standes.
»Bei Gott nicht!« betheuerte Frau Kühne.
»Hat Madame Erlang ein hübsches, frisches Gesicht, große blaue Augen, eine hochgewölbte, sehr weiße Stirn und reiches dunkelblondes Haar? Ist sie schön, voll und üppig von Wuchs, rasch in ihren Bewegungen, graziös und fest im Gange?«
Frau Trinettchen schlug ein lautes Gelächter auf.
»Ach, bester Herr, es ist gerade, als machten Sie ein Spottgedicht auf meine arme Freundin! Haben Sie denn niemals eine krummgezogene, vornübergebogene Frau bemerkt, mit einer grauen Zeugkapuze, die dicht ums Gesicht schloß, mit einem grauen Kleide und einem großen verblichenen Umschlagetuch? Nun ja, wenn Sie diese Frau gesehen haben, so kennen Sie Madame Erlang.«
»Wie kommt sie aber zu diesem Anzuge, den ich ganz bestimmt als denjenigen erkenne, worin ich eines Tages eine Dame, wie ich sie eben beschrieb, gesehen habe?«
»Das kann ich durchaus nicht sagen, ich weiß nichts von diesem Anzuge, nichts von jener Dame. Ich habe nie Jemand bei Madame Erlang bemerkt, sie ging zu Niemand als zu ihrem Doctor und war so schüchtern, daß sie, wenn Jemand zu mir kam, am liebsten in ein Mauseloch gekrochen wäre.«
»Nun, die Sache wird sich aufklären, wenn Madame Erlang wiederkommt.«
»Glauben Sie denn, daß sie noch lebt? Ich denke mir, sie ist aus Verzweiflung über ihre beiden in die Elbe gegangen.«
»Dazu würde sie schwerlich ihre ganze Garderobe mitgenommen haben. Legen Sie Alles hübsch glatt zusammen in den Kasten und verwahren Sie es einstweilen. Adieu, Frau Meisterin.«
Er ging. Wohin ging er? Direct in das Hotel zur Stadt London.
Frau Trinette packte mit verschiedenartigen Gefühlen den Staatsanzug ihrer lieben Freundin Erlang wieder ein. Die Vorstellungen, welche ihre Seele stark in Aufruhr brachten, wechselten. Aus dem mitleidigen Kummer über das Schicksal derselben wurde durch eine Zusammensetzung von Neid und Verdruß ein regelrechtes Mißtrauen, das die Frage aufwarf, ob Madame Erlang wohl ganz aufrichtig gegen sie gehandelt und ob sie ihr Mitleid verdient habe.
Dies schöne Kleid! Der kostbare Shawl! Das reizende Strohhütchen mit der theuren echten Straußfeder! Die Erinnerung an kleine verrätherische Momente wachte in ihr auf. Bisweilen war es ihr vorgekommen, als sei ihre liebe Freundin Erlang hübscher, als sie erscheinen wollte und nur die Lächerlichkeit einer solchen Idee hatte diesen Gedanken im Keime erstickt. Sie erinnerte sich ihres schneeweißen Nackens, der runden vollen Arme. Aber von schönen Augen, von einer weißen, hochgewölbten Stirn war keine Rede, ebensowenig von einem frischen, hübschen Gesichte. Im Gegentheil, häßliche, von wulstigen Falten umgebene Augen, eine niedrige Stirn von struppigen Haaren bedeckt, allerdings waren diese dunkelblond.
Frau Trinette dachte lächelnd zum ersten Male an die hochblonden Locken des Herrn Polizeikommissar Georgi und ein Blitz der Erinnerung berührte ihr Gehirn. Sie dachte schärfer daran. War sie denn mit Blindheit geschlagen gewesen? Der Mann welcher damals die Nachricht vom Brande in Wederstedt brachte: nun, ganz gewiß war es kein anderer gewesen, als Herr Georgi; ihre Denkkraft entwickelte sich jetzt rasend schnell und sie erkannte, daß sie nicht ohne Grund mit den Besuchen des Herrn Polizeibeamten beehrt worden war.
Wie Mühlräder ging es in ihrem kleinen Kopfe rundum. Wie? Sie war verflochten in Verdacht mit dem Mordbrenner? Von Verdacht verfolgt, wo sie sich rein und unschuldig fühlte? Ja damals, wo ihre gnädige Frau sie entlassen hatte, damals! Aber jetzt bäumte sich ihr Ehrgefühl auf und sie beschloß durch eine offenherzige Darlegung aller Verhältnisse sich von dem Verdachte zu reinigen, als stände sie noch in Verbindung mit dem Major. Sie redete sich ein, ihre Ehre verlange dies, während doch nur ihre verletzte Eigenliebe sie herausforderte.
Mittlerweile war Herr Georgi beinahe athemlos im Hotel angelangt und hatte Herrn Charles durch die einfache Frage, ob er zwischen dem Major von Thurngau und einer kranken, stark zusammen gekrümmten Frau einen Verkehr bemerkt habe, zu der lachend gegebenen Erklärung veranlaßt, diese Person sei Tags zuvor zwei Mal bei dem Major gewesen.
»Das erste Mal habe ich die arme Person hinaufgeleitet, das zweite Mal hat sie den Weg allein gefunden,« referirte er weiter. »Ich denke mir, es wird eine sogenannte Tante gewesen sein, die hübsche Mädchen bei sich hat.«
»Woraus schließen Sie das, Charles?« fragte Georgi frappirt.
Dazu stimmte allerdings der hübsche, noble Anzug in ihrer Wohnung. Derselbe konnte benutzt worden sein, ein solches Mädchen herauszustaffiren.
Charles lächelte pfiffig.
»Ich sah ein hübsches Frauenzimmer über den Treppensaal schlüpfen,« flüsterte er.
»Können Sie mir dies Frauenzimmer beschreiben?«
»Jawohl. Sie war nicht mehr ganz jung, vielleicht dreißig Jahre, hatte wunderschönes, dunkelblondes Haar, große, blaue Augen und ein recht freundliches, frisches Wesen.«
»Einen graziösen Gang und eine recht anmuthliche Beweglichkeit?« fiel Georgi ein.
»Richtig! Sie gefiel mir ungemein.«
»Und diese junge Dame kam mit der alten, kranken Frau?«
Charles machte ein bedenkliches Gesicht.
»Herr Kommissar, daß wir uns nur recht verstehen, eine Dame war das nicht und die kranke Frau ist keinesweges alt.«
»Keine Dame? woraus schließen Sie das?« meinte der Beamte getäuscht.
»Sie trug ein Häubchen, wie eine Bürgerfrau, gezwirnte Handschuhe und ein Kattunkleid: sie sah eher einem Kammerkätzchen, als einer Dame gleich. Uebrigens zusammen habe ich die beiden Frauen nicht gesehen. Erst ging die Krumme fort, einige Minuten später die Hübsche.«
»Um welche Zeit?«
»Um sieben Uhr. Der Dom schlug gleich darauf sieben Uhr.«
»Gingen sie dem Sudenburger Thore zu?«
»Nein, nach dem Krökenthore. Aber nicht zusammen.«
»Wann trugen Sie Acht in des Majors Zimmer?«
»Um halb acht Uhr. Da war er fort.«
»Sie haben ihn nicht fortgehen sehen?«
»Nein, trotzdem ich auf derselben Stelle geblieben war. Ich erzählte Herrn Reimers die Geschichte mit den beiden Frauen, und er meinte, es würden solche Frauen gewesen sein, die Chambres garnis vermiethen, denn der Major wolle billiger wohnen.«
»Möglich!« sagte Georgi freundlich. »Sollten Sie den Major sehen, so fragen Sie ihn, wo er wohnt.«
Ging Georgi eben so klug fort wie er gekommen war? Nein! Er that zwar so; allein in ihm bildete sich schon unvermerkt der Zusammenhang dieser Geschichte. Um einige Punkte besser erklären zu können, mußte er nochmals Frau Kühne sprechen, deshalb ließ er es sich nicht verdrießen, den Weg zu ihr nochmals anzutreten.
Daß Madame Erlang beim Major gewesen war, daß sie ihm wahrscheinlich eine Warnung hatte zukommen lassen, stand fest. Doch blieb es ungewiß, ob Madame Kühne sie als verschwiegene Botin benutzt oder – ein listiges Lächeln überflog des Polizeibeamten Gesicht – ob Madame Erlang auf eigene Faust gehandelt hätte.
Wenn der Mensch recht tiefsinnig denkt, so sieht er nicht viel. Georgi sah die kleine Meisterin Kühne, die gerade bei der Katharinenkirche zwischen den großen Haufen Sandsteinen, welche damals die Passage des Breitenwegs hier arg beschränkten, ihm entgegentrippelte, nicht. Er wäre an ihr vorüber geschritten, wenn sie ihm nicht den Weg vertreten und ziemlich aufgeregt gesagt hätte:
»Eben wollt' ich zu Ihnen, Herr Kommissar, um Ihnen zu sagen, daß ich erst nach Ihrer Entfernung erkannt habe, was Sie eigentlich bei mir wollten.«
»So?« sagte der Beamte noch etwas zerstreut. »Was denn?«
»Sie sind in dem Irrthum, ich hielte Gemeinschaft mit dem Major und wüßte um seine Streiche.«
»Woraus schließen Sie das?
»Sie sind derselbe Mann, der mir die Nachricht vom Brande in Wederstedt gebracht hat.«
»Wirklich?« fragte Georgi lachend.
»Sie sind heute zu mir gekommen, um zu erfahren, wo der Major geblieben ist.«
»Wie schlau Sie sind!«
»Aber ich habe zu viel Ehrgefühl, um mir diesen Verdacht gefallen zu lassen, ich wiederhole Ihnen, daß ich nichts mit dem Major zu thun haben mag und ich verspreche Ihnen, Alles, was ich von diesem barbarischen Sünder weiß, von Anfang bis zu Ende haarklein zu erzählen, wenn Sie es wissen wollen.«
»Das käme mir ganz gelegen. Fangen wir unser Vertrauensbündniß mal gleich hier unter Gottes freiem Himmel an. Sagen Sie mir ehrlich, ob der Major Ihre Busenfreundin, die Madame Erlang, gekannt hat.«
»Nein! Er hat sie niemals gesehen. Sie fürchtete sich vor ihm.«
»So? Und doch hat sie ihn gestern besucht?«
»Madame Erlang? Den Major?«
»Und doch ist sie, gleich ihm, seit gestern Abend verschwunden und zwar mit ihm.«
Gelähmt vor Erstaunen stand die kleine Meisterin da. Bald kam indeß neues Leben in sie zurück.
»Dann weiß ich Bescheid! dann weiß ich Bescheid!« rief sie fast zu laut.
»Nun,« fragte Georgi begierig.
»Dann ist diese Madame Erlang des Majors Lutka, die er selber eine durchtriebene Schauspielerin genannt hat.«
Georgi horchte mit ganzer Seele, als sie ihm mit sprudelnder Beredtsamkeit mittheilte, was uns im Laufe dieser hier erzählten Novelle bekannt geworden ist.
»Nun? Hab ich recht? Paßt denn nicht auch der Anzug, worin Sie die Dame gesehen haben? Nun?« schloß sie triumphirend ihren merkwürdig klug abgefaßten Bericht.
»Es stimmt Alles, meine beste Frau Meisterin,« entgegnete der Kommissar mit herbem Spott, »wir wissen jetzt, woran wir sind, können uns aus dem ganzen Verlauf der Sache einen Vers machen, aber es hilft uns zu nichts, sie sind uns entflohen!«
»Um so besser, wenn sie alle Beide fort sind, dann wird doch die Polizeiaufsicht über mich aufhören,« sprach Frau Trinette empfindlich, machte ihren Knix und ließ den Herrn Polizei-Kommissar stehen.
Dieser lachte, war im Grunde aber höchst verdrießlich über den Ausgang seiner Kriminalgeschichte. Was wird der alte Herr von Werder, was wird unser Herr Kriminalrichter Imann sagen! Nur rasch ans unangenehme Werk, ich muß es Beiden unverzüglich melden, dem Einen mündlich, dem Andern schriftlich.
Frau Trinette ging stolz nach Hause. Sie wurde durch das Bewußtsein gehoben, den gordischen Knoten durchgehauen und das unergründliche Räthsel gelöst zu haben.
Um sich nicht zu blamiren, mußte sie leider von diesem Beweise ihrer Klugheit schweigen. Als Madame Erlang lange genug fort war, und die Möglichkeit ihres Wiederkommens verschwand, betrachtete sie sich als die Eigenthümerin des dagebliebenen Staatsanzuges und ließ mysteriöse Andeutungen fallen, die Madame Erlang zu einer bedeutenden Persönlichkeit erhoben. Es störte sie Niemand in diesem Vergnügen, ob man ihr aber glaubte, ist jedoch fraglich.
*
Zwei Jahre später war das Gutshaus in Wederstedt vollkommen wieder hergestellt, und die Familie Bohlberg bewohnte es in stillem Frieden. Helene war seit Kurzem die Braut Edmunds, die Erinnerung an die traurige Episode in ihrem sonst glücklichen Leben erlosch nach und nach, der Groll gegen den Urheber der schweren Leidenstage machte einer verachtungsvollen Gleichgültigkeit Platz. Nur den Verlust Jetty's konnte man noch nicht ohne schmerzliche Aufregung erwähnen.
Die Freunde des Hauses hatten redlich Wort gehalten und das Ihrige gethan, um das Schicksal Bohlbergs zu mildern. Der Oberamtmann Hedemann hatte durch Vorschüsse den Geldverlust gedeckt und Herr von Werder war beflissen gewesen den ruchlosen Quälgeist Bohlbergs unschädlich zu machen.
Einen kleinen Zwiespalt gab freilich die Meinungsverschiedenheit dieser beiden Männer, als der Polizeikommissar Georgi die Flucht des Majors meldete und Werder im heiligen Amtseifer ihn steckbrieflich verfolgen zu lassen beschwor. Dem widersetzte sich Bohlberg auf's Bestimmteste, und Herr von Werder zürnte darüber so, daß er mehrere Monate seinen Freund Bohlberg nicht besuchte.
Jetzt war auch dieser Verdruß vom alten Herrn überwunden. Er fühlte sich glücklich, die Enkelin der Dame, die er feurig verehrt hatte, als eine liebe Tochter betrachten zu dürfen.
Auf Edmunds Rath hatte Helene bis dahin wohlweislich gegen Jedermann verschwiegen, daß es ihr sehr gut bekannt sei, auf welche Weise ihr Großvater seine Flucht aus Magdeburg sicher bewerkstelligt hatte. Der Gedanke daran war auch allmälig so in den Hintergrund ihres Erinnerungsvermögens getreten, daß ihr das nächtliche Erlebniß auf der Reise nur traumhaft noch an der Seele vorüberschwebte, wenn eine Veranlassung sie darauf zurück brachte.
Helene war ein liebes schönes Mädchen geworden. Ihr Verstand durch Güte gemildert, ihr Gemüth gesänftigt, aber fest, treu und rein, ihr Herz nur von dem Bilde Edmunds erfüllt. Helene war die Stütze und der Abgott ihrer Mutter, der Stolz ihres Vaters. In der ganzen Umgegend erkannte man Helenens Vorzüge an und weihte ihr eine unbedingte Verehrung.
Edmund von Werder hatte längst eingesehen, welch ein edler Kern in der schönen Hülle steckte, und wenn er erst jetzt, nach vollen zwei Jahren, seiner tiefen, zärtlichen Neigung Worte gab, wenn er erst setzt das Herz Helenens durch das Gelöbniß ewiger Treue band, so leiteten ihn dabei edle Gründe.
Seit er das schöne Mädchen nun als Braut sein eigen nannte, trug ihn täglich sein rasches Pferd hinüber nach Wederstedt und er wünschte in stiller, zärtlicher Gluth der Zeit Flügel, damit der Tag erscheine, wo ihn nichts mehr von der Geliebten trenne.
Aber die offiziellen Besuche täglich wurden auch bisweilen vermehrt. Der junge Mann kam in der Nähe vorüber, natürlich saß dann Helene in der Lindenbaumlaube und blickte sehnsüchtig so lange nach Werderswarthe hin, bis sich aus dem Wäldchen eine Reitergestalt hervorthat und der edle Ritter in tollem Jagen bis zur Umzäunung des Wederstedter Gutsgartens ritt. Dann versteckte sich die schöne, junge Braut, dann schwang sich der edle Ritter vom Gaule über den Zaun und suchte sie, dann jagten sie einander und küßten sich. Er war übermüthig, wie ein Knabe, sie schelmisch, wie ein Kind, und dabei waren sie so glücklich, so unschuldig glücklich in ihrer jugendlichen Heiterkeit!
Ja, Jetty wäre zu alt für diesen jungen, lebensfrischen Mann gewesen, der, durch eine pedantische Erziehung geschult, erst jetzt zur wirklichen Lebenslust und Lebensfreudigkeit erwacht war. Vor diesem Sonnenglanze glücklicher Liebe erbleichte nun auch die letzte Erinnerung an den Irrthum seiner Seele, die in Henriettens Sanftmuth eine Garantie für häusliches Glück gefunden hatte.
Es war eben eine jener seligen Minuten, die in lieblichem Schäkern, Tändeln und Necken verbracht wurden, verflossen, der edle Ritter hatte sich auf sein Roß geschwungen und war davon geeilt, als vom Dorfe her eine Dame auf den Gutshof schritt und das Fräulein Helene von Bohlberg zu sprechen verlangte, »wo möglich allein und ungestört!« fügte die Dame freundlich aber bestimmt hinzu.
Das Mädchen, welches sie mit dieser Meldung betraut, kam aus dem Zimmer zurück und bat einzutreten, sie werde das Fräulein aus dem Garten holen.
»Bitte!« sagte die Dame schnell. »Mir wäre es lieb, wenn ich Fräulein Helene im Garten aufsuchen dürfte, dies Haus mit seinen Erinnerungen erdrückt mich,« setzte sie mehr zu sich selber sprechend hinzu.
Das Zöfchen war bereit, sie in den Garten zu geleiten, sie folgte also.
Helene, in der Nachfeier ihrer heitern Glückseligkeit, kam flink vom Baumhüttchen hinabgesprungen, als sie die Dienerin mit einer Fremden m Bogengang erblickte.
Stumm begrüßten sie sich lind sahen sich forschend gegenseitig in's Auge, die Dienerin entfernte sich alsbald.
»Sie kennen mich nicht?« fragte die Fremde mit einer angenehmen Freundlichkeit.
Helene verneinte die Frage mit einiger Verlegenheit. Sie wußte aus der äußern Erscheinung der Dame nicht zu entziffern, ob sie eine Frau vom Stande vor sich sah. Die noble Einfachheit des Anzuges sprach dafür.
»Auch ich würde Sie, ungeachtet meines treuen Gedächtnisses, schwerlich bei einem gelegentlichen Begegnen wiedererkannt haben,« meinte die Fremde. »Die Thautropfen des Glückes haben die Rosen schöner entfaltet, als meine Erwartungen verhießen.«
Helene warf einen Blick der Mißbilligung zu.
»Wünschen Sie etwas von mir?« fragte sie kühl aber sehr sanft.
»Nein! mein Fräulein! Ich bin nur die Ueberbringerin einer beruhigenden Nachricht.«
Helene sah gleichmüthig zu ihr auf.
»Einer beruhigenden Nachricht?« wiederholte sie.
»Ich konnte mir nicht versagen, diese Gelegenheit zu benutzen, um mündlich eine Rechtfertigung zu versuchen und meine Handlungsweise in's richtige Licht zu stellen. Mein Name ist Ludowike Wonsky oder besser noch Lutka Wonsky.«
Helene trat einen Schritt zurück. Ihre Hände erhoben sich abwehrend gegen diese Frau. Diese ignorirte die Geberde des Abscheues und fuhr gelassen fort:
»Ich bin hergekommen, um ihnen den Tod des Majors, des Herrn von Thurngau,« verbesserte sie sich, »zu melden.«
»Er ist todt? Der unglückselige Mann ist gestorben? Ist es auch wahr? Kein Trugbild, um uns sicher zu machen, um den Arm der Gerechtigkeit zu lähmen?« fragte Helene lebhaft.
»Fürchten Sie nichts dergleichen von mir, mein Fräulein! Ich huldige der Lüge, diesem Blendwerk der Hölle, nicht mehr! Meine Lebenserfahrungen, die Schreckbilder des Lasters, des Verbrechens, haben meine totale Wandlung bewirkt! Wäre ich sonst im Stande gewesen, jetzt vor Ihren reinen Augen zu erscheinen? Es drängt mich, Ihnen den Tod Ihres Großvaters selbst zu melden und Ihnen über die Ereignisse Aufklärung zu geben, die mich in Ihre Nähe geführt hatten.«
»Sagen Sie mir, hat mein Großvater seine Thaten bereut?« fragte Helene dazwischen.
»Ich wünschte, daß ich diese Frage bejahen könnte,« erwiderte Lutka traurig. »Aber der Wahrheit gemäß kann ich Ihnen nur sagen, er glaubte weder an Gott noch an Gottes Gebote. Er liebte nur sich selbst und hielt jedes Mittel für erlaubt, sich zu helfen. Was er verschuldet hatte, schrieb er denen zu, die ihm entgegen getreten waren. Gott sei seiner Seele gnädig, denn er ist ohne Buße, ohne Reue, ohne Selbsterkenntniß dahin gestorben.«
»Gott sei gelobt, daß wir nichts gethan, was wir jetzt zu beklagen uns gedrungen fühlen würden!« rief Helene.
Lutka neigte verständnißvoll ihr Haupt
»Sie haben Ihren Großvater in jener Nacht erkannt?« fragte sie mit ruhigem Lächeln.
»Ja. An seinem Räuspern.«
»Ich dachte mir's. Sie haben aber nichts verrathen?«
»Keine Silbe. Ich konnte es nicht über mich gewinnen. Noch jetzt weiß Niemand um dies Geheimniß, als mein Verlobter.«
»Ich spielte bei dieser Flucht eine Rolle und dieser Umstand hat mich jetzt zu Ihnen geführt. Ihr Geständniß, daß Sie es nicht über sich gewinnen konnten, als Verrätherin aufzutreten, giebt mir Hoffnung, daß Sie mein Gefühl richtig beurtheilen werden, wenn ich mich Ihnen eröffne; ich konnte mich nicht entschließen, den bedauernswerthen Mann in seinem Unglücke zu verlassen, obgleich ich ihn wegen seiner Vergehungen gründlich verachtete.«
Helenens Auge mochte einigen Zweifel ausdrücken denn die Dame erröthete lebhaft und sprach:
»Sie haben Recht zu zweifeln, ich räume ein, daß ich in der Hoffnung, als Herrin in Wederstedt leben zu können, mein Schicksal mit dem des Sünders verknüpft haben würde, trotz aller Verachtung, aber eben deshalb, weil ich diese Absicht gehabt hatte, trieb es mich, ihn vor einer schimpflichen Haft und vor einer schmachvollen Strafe zu bewahren.«
»Wir können Ihnen nur dankbar sein, Madame,« erwiederte Helene gütig. »Wollen Sie mir etwas über die letzten Lebenstage meines Großvaters mittheilen, so werden Sie mich verpflichten. Wie sind Sie zu der Idee gekommen, mit Herrn von Werders Wagen die Stadt zu verlassen?«
»Durch die Voraussetzung, daß der Polizei-Kommissar Georgi, der spioniren ließ, am allerwenigsten den Angeklagten auf der Equipage des Klägers suchen lassen würde.«
Helene lachte. Dame Lutka gewann dadurch Muth, ihr ganzes Komödienspiel als Madame Erlang kurz und bestimmt, bis zu dem Moment, wo sie den Major in ihre Maske gesteckt und als die Tochter der Madame Erlang aus den Mauern der Stadt Magdeburg geflohen war, zu erzählen.
»Wir wendeten uns auf unserer Weilern Flucht nach Hannover, durchwanderten zu Fuß das Land, natürlich ohne Maske, so wie wir Ihren Wagen verlassen hatten, und hielten nicht eher an, bis wir die kleine Stadt Jever erreichten, deren Lage dicht an der Nordsee uns eine Flucht über's Meer erleichterte, wenn wir steckbrieflich verfolgt wären. Dies geschah nicht. Ich wußte wem ich dies zu danken hatte.«
»Sie irren!« unterbrach Helene sie lebhaft. »Mein Vater widersetzte sich bestimmt dieser Maßregel, der unser Freund, der Drost von Werder, stark das Wort redete.«
»Dann ist der Vater so edelsinnig, wie die Tochter,« antwortete Lutka einfach. »Es wäre ein thörichter Edelmuth von mir, wollte ich Ihnen nun jetzt den kleinen Rest des Geldes, das Thurngau in jener Nacht geraubt hatte, überantworten, mein Fräulein. Ich bin genöthigt gewesen, die Verpflegung des Majors davon zu bestreiten, und so billig wir auch in Jever zu leben vermochten, so ist das Kapital, das er glücklicherweise geschont hatte, bis auf achtzig Thaler verzehrt worden.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen, der Schmerz, den uns Jetty's Tod verursacht hatte, ließ alles Andere in den Hintergrund treten und es ist kaum von diesem geraubten Gelde die Rede gewesen. Mag nun Alles in Frieden ruhen, was uns so furchtbares Leid gebracht hat. Kann ich Ihnen in irgend einer Art dienen, Madame, so sprechen Sie offen zu mir.«
»Ich danke Ihnen! Ich gehe als Gattin eines braven Mannes, der meine ganze Vergangenheit kennt, nach Rußland, tief in's Land hinein, und ich hoffe, daß ich in der Thätigkeit und in der unwandelbaren Treue meines Herzens für diesen braven Lebensgefährten eine Entsühnung für das finden werde, was mir zur Last fallen könnte. Um Ihnen ein richtiges Bild meines Wesens zurückzulassen, bin ich eigens Tage lang gereist, es peinigte mich der Gedanke, daß Sie mich für die Mitschuldige des Herrn von Thurngau halten würden.«
»Nehmen Sie meine Versicherung, daß ich niemals einen solchen Verdacht gehegt habe. Ein Mann, wie mein Großvater, bedurfte keiner Hülfe. Lieb ist mir Ihre Aufklärung, denn sie stellt Sie in ein anderes Licht und macht es mir möglich, endlich das Geheimniß Ihrer Flucht vom Herzen zu werfen. Leben Sie wohl! Möge Gott Sie segnen für die Freundlichkeit, womit Sie meines Großvaters Wege übernommen haben.«
Helene reichte der bewegten Frau die Hand zum Abschiede. Von einer unbezwinglichen Wallung beherrscht, warf sich Lutka, nach der unterwürfigen Manier ihrer Heimath, auf's Knie vor dem jungen Mädchen und drückte die Hand desselben fest an ihre Lippen. Ehe sich Helene besinnen konnte, war sie wieder aufgesprungen und ihren Blicken entschwunden.
»Fahr' wohl, du armes Weib!« flüsterte sie und ging sinnend in's Haus.
Ihr Vater kam ihr heiter entgegen.
»Was hast du denn für Besuche im Garten angenommen?« fragte er scherzend. »Erst sehe ich Junker Edmunds Pferd am Zaune festgebunden und jetzt reißt mich beinahe ein fremdes Frauenzimmer um. Beichte mein Töchterchen!«
Helene schmiegte sich an seine Brust.
»Ich habe eben Absolution ertheilt, Papa, wie kann ich da beichten! Weißt du, wer das Frauenzimmer war, das dich beinahe umgerannt hat? Großvater Thurngau's Lutka.«
Bohlberg entfärbte sich.
»Spukt es wieder?« fragte er bitter.
»Nein, nein! Sie hat mir gemeldet, daß der Großvater todt ist.«
»Gott sei gedankt!« rief Bohlberg inbrünstig. »Sagen wir's sogleich deiner Mutter, sie hat Visionen von neuem Unglück, aber dies ist ein Glück für uns.«
»Höre erst weiter,« bat Helene.
»Noch mehr? Was will die Frau? Warum wendet sie sich an dich?«
»Weil ich die einzige Person aus unserer Familie bin, die sie kennt.«
»Sie kennt dich?«
»Ja. Mit dieser Bekanntschaft verknüpft sich ein Geheimniß, Papa.«
»Ein Geheimniß mit der Bekanntschaft solcher Person läßt mich nicht viel Freudiges hoffen, Helene.«
»Es ist möglich, daß es mich mit meinem lieben Papa Werder etwas entzweit; von dir aber habe ich keinen Tadel zu fürchten.«
»Wenn du dessen so sicher bist, warum die Vorreden? Frisch heraus, mein tapferes Töchterchen, was steckt zwischen dir und der Freundin unseres alten Feindes?«
»Erinnerst du dich meiner Reise nach Magdeburg mit dem Papa Werder?«
»Wie sollt' ich nicht! Ihr wolltet die Rächer spielen?«
»Dieser Rolle wurde ich ungetreu.« –
Ein heranrollender Wagen unterbrach die Unterredung zwischen Vater und Tochter. Beide eilten zum Fenster. Es war die Equipage Werders. Der alte Herr stieg jugendlich schnell aus dem Wagen. Helenens Mienenspiel zeigte einen komischen Schrecken.
»Ach, du mein Himmel, jetzt wird Gericht über mich gehalten werden, Papa! Steh mir nur tapfer bei!«
Mit diesen Worten eilte sie dem Drost entgegen und führte ihn dann liebevoll in's Zimmer, wo sich unterdessen auch ihre Mutter eingefunden hatte.
»Wo ist er denn nun?« schalt Werder mit lustigem Aerger. »Wo habt ihr ihn denn? das ist ja gar nicht mehr zum Aushalten mit dem Herrn Neffen. Sein Kompaß führt ihn stets nach Wederstedt, mag er von Werderswarthe nach Westen, Osten, Süden oder Norden wollen. Er soll ja schon wieder hier sein, nur heraus mit dem Sünder, damit ich ihm sein Strafedikt verkünden kann!
Helene versicherte mit verstelltem Ernste, daß Edmund nicht in Wederstedt sei.
»Still, Kleine, lüge nicht! Man hat sein Pferd am Gartenzaun gesehen und deshalb habe ich mich aufgemacht, um den jungen Herrn auf der That zu ertappen! Ist er entflohen bei meinem Anblick?«
»Schon viel früher, als du kamst,« gestand das junge Mädchen lachend.
»Also ist's doch richtig, daß er sich Schleichwege erlaubt?« fragte der alte Herr mit schlauen Blicken. »Dein Geständniß bestätigt seine Schuld und giebt mir das Recht, ihn zu verdammen.«
»Machen Sie es gnädig,« sprach Frau von Bohlberg ergötzt.
»Bitten Sie nicht für die Sünder,« erwiderte der alte Herr barsch. »Helene ist Mitschuldige, also muß sie seine Strafe theilen! Ich verordne deshalb, daß heute über vier Wochen Hochzeit ist, damit die gesetz- und anstandswidrigen Visiten am Gartenzaun, die ein allgemeines Aergerniß geben, aufhören, verstanden, Fräulein Braut? Geben Sie Ihr Votum. Frau Bertha, und der wackere Papa Bohlberg mag Ja und Amen sagen.«
Eine heitere Scene folgte dieser scherzhaften Verurtheilung. Helene erklärte, nur mit Zustimmung Edmunds diese Strafe über sich verhängen lassen zu dürfen und Frau von Bohlberg meinte, nach diesem Richterspruche würde nicht Helene, sondern sie bestraft, weil die Entbehrung ihrer Tochter eine unausbleibliche Folge desselben wäre.
»Mag sein! Helene hat aber sich zu fügen, da mir das Recht zusteht, sie zu strafen!« rief Werder launig.
Das junge Mädchen wurde plötzlich ernst und ein leichter Farbenwechsel verrieth ihre innere Bewegung.
»Ja, du hast das Recht, mich zu strafen, Papa Werder, du hast auch die Macht mir zu verzeihen,« sprach sie mit schnellem Entschlusse. »Ich habe mich allerdings einer Sünde gegen dich schuldig gemacht, die ich dir jetzt aufrichtig bekennen will.«
»Was? Und so ernsthaft? Sogar ein kleines Zittern? Fürchtest du dich wirklich vor mir. Helene? Das sollte mir leid thun,« sprach der alte Herr gefühlvoll.
»Warten wir ab, ob ich nicht Recht hatte, mich vor deinem Zorn zu fürchten,« entgegnete Helene mit tiefem Athemzuge. »Würdest du mir verzeihen, wenn ich dir gestände, daß ich, durch Zufall dahin gebracht, meines Großvaters Flucht aus Magdeburg damals begünstigt habe?«
Herr von Werder schaute sichtlich überrascht in Helenens Gesicht. Ihre Eltern drängten sich näher und horchten gespannt der weitern Entwicklung.
»Ja,« entschied Herr von Werder nach kurzem Sinnen. »Ja, ich würde dir verzeihen, jedoch nur bedingungsweise.«
»Würdest du mir vergeben, daß ich nach der Entdeckung, meinen Großvater und seine Freundin al Reisegefährten angenommen zu haben, schwieg und Beide ruhig entfliehen ließ?«
Das Antlitz des alten Herrn veränderte sich.
»Als Reisegefährten?« wiederholte er mit drohendem Ernst.
»Ja. Die alte und junge Frau, welche wir bis Schöningen mitgenommen haben.«
»Nein,« entschied er sehr schnell, »nein, Helene, das werde ich dir nicht vergeben und noch weniger werde ich meinem Kutscher vergeben.«
»Der Kutscher ist sehr unschuldig, er weiß noch heute kein Wort von seiner Sünde.«
»Helene,« bat Frau von Bohlberg, »erkläre doch die Sache.«
Helene erklärte Alles. Sie schuf ein Ganzes aus den Einzelheiten, die durch Lutka's Erzählung ergänzt waren.
Eine tiefe, etwas unheimliche Stille folgte ihren Erklärungen. Herr von Werder kämpfte sichtlich mit seinem Unmuthe. Die Eltern Helenens waren zufrieden mit dem Verfahren ihrer Tochter. Man sah es an ihren Mienen.
Endlich brach der alte Herr los:
»Mit meinem Wagen, unter meinem Schutze? Nein, Helene, nein, das übersteigt Alles, was ich jemals an Spitzfindigkeit und Schlauheit erlebt habe. Wie mag der alte Sünder innerlich gejubelt haben, daß es ihm gelungen, mich zu überlisten. Nein, Helene, diese Demüthigung kann ich dir nie vergeben und ich sage mich hiermit feierlich von jeder Verantwortung los, wenn es Herrn von Thurngau eines Tages gelüsten sollte, Vergeltung für deine unverantwortliche Güte zu geben.«
»Es wird ihm nie gelüsten, Papa Werder – denn –«
»Baue nicht auf seine Dankbarkeit,« unterbrach er sie.
»Großvater Thurngau ist todt,« schloß Helene.
»Glaub' doch das nicht, es ist eine List!« ruf Werder im vollen Spott.
»Es steht dir frei, die Wahrheit seines Sterbens zu erforschen. Frage in Jever nach.«
Frau von Bohlberg hatte ihre Stirn gesenkt und eine Thräne schlich langsam über ihre Wange.
»Er möge in Frieden schlafen,« sagte sie leise. »Danken wir dem Himmel, daß er nicht im Gefängniß gestorben ist.«
Der alte Herr stutzte, seine umwölkte Stirn lichtete sich.
»Helene,« sprach er, »Helene, wenn es wahr ist, daß Thurngau die Erde verlassen hat, so will ich dir vergeben! Aber zur Strafe muß in vier Wochen Hochzeit sein, darauf werde ich ohne Gnade und Barmherzigkeit bestehen. Weiß Edmund schon von dieser Geschichte?«
»Edmund war mein Vertrauter, mein Rathgeber!« erklärte Helene mit leuchtenden Augen.
»Jetzt begreife ich! Dies Geheimniß ward die Brücke zur Liebe! Eure Sünden häufen sich, Helene. Dieser Tod hilft den Spott meiner Freunde entkräften.«
»Dieser Tod giebt uns Allen die Ruhe wieder,« fiel Bohlberg, mit einem gütigen Blick auf seine Gattin ein.
»Was wir an unersetzlichem Verlust zu beklagen haben, das überlassen wir der ausgleichenden Hand der Zeit, die in solchen Fällen der beste und sicherste Tröster ist.«
Halle.
Druck von Otto Hendel.