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Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen geboren, wo sein Vater protestantischer Pfarrer war. Die Familie Nietzsche stammt von polnischen Edelleuten, die ursprünglich Niecki hiessen und angeblich wegen eines politischen Verbrechens oder religiöser Verfolgung um das Jahr 1715 Polen verlassen mussten.
Der junge Fritz wurde von seiner Mutter und Schwester erzogen, da sein Vater frühzeitig an Gehirnerweichung starb. Im Jahre 1855 kam Nietzsche auf die altberühmte Lehranstalt in Schulpforta. Den Mitschülern galt er damals als eine bescheidene und etwas stolze Natur, die sich nicht so leicht an jemanden anschloss, und er stand schon zu jener Zeit im Rufe ein guter Grieche zu sein, ebenso fanden seine gelegentlichen musikalischen Produktionen grossen Beifall. Aus dieser Zeit stammt auch seine Bewunderung für Richard Wagner, dessen Ruhm ihn zu einigen selbständigen Kompositionen verleitete.
Nietzsche hat sich auf der Schule mehr um seine selbständige Ausbildung, als um die Schularbeiten gekümmert, er gründete einen litterarischen Verein »Germania«, las fleissig Emerson, und auf diesen Schriftsteller ist zweifellos seine Geringschätzung der Geschichte zurückzuführen. Neben Emerson studierte er Shakespeare und die lateinischen Klassiker, von denen Sallust ihm am meisten gefiel.
Im Herbst 1864 bestand er seine Abiturientenprüfung; im Deutschen und Lateinischen war ihm das Prädikat »vorzüglich« erteilt, während seine Leistungen in der Mathematik »nicht mehr befriedigend« ausgefallen waren.
Im gleichen Jahre bezog er die Universität Bonn, wo er bis Ostern 1865 Theologie und Philologie studierte. Einen Einblick in seine damalige Thätigkeit gewährt folgende, aus dem Jahre 1869 stammende Stelle eines Briefes: »Meine Studien, zu denen ich oft mit Sehnsucht flüchtete, waren mit Energie auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung gerichtet: ich bildete mir nämlich damals noch ein, dass die Geschichte und ihre Erforschung im stande sei, auf gewisse religiöse und philosophische Fragen eine direkte Antwort geben zu können.«
Oktober 1865 finden wir Nietzsche in Leipzig unter Professor Ritschl Philologie studieren. Seine Arbeiten lenkten schon damals die Aufmerksamkeit seines Lehrers auf ihn, der ihn bald lieb gewann. Einigemal wöchentlich pflegte der junge Philologe seinen Meister zu besuchen und er fand auf diese Weise in ernsten und heiteren Gesprächen viel Anregung. In Leipzig verblieb Nietzsche bis zum 10. August 1867. Darauf genügte er seiner Militärpflicht. Mitte Oktober 1868 kehrte er wieder nach Leipzig zurück, um sich zur Doktorpromotion vorzubereiten.
Um diese Zeit lernte er auch Richard Wagner kennen. Wir entnehmen über dieses, für Nietzsche wichtige Ereignis einem seiner Briefe folgende Stelle Citiert bei: Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches, B. I, S. 210. – Die Citate aus Nietzsches Werken sind entnommen der klein 8° Gesamt-Ausgabe (C. G. Naumann-Leipzig 1899).: »Wir kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus an: es ist niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard und wir beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte der Verehrung; er erkundigt sich genau, wie ich mit seiner Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Aufführungen seiner Opern, mit Ausnahme der berühmten Münchener, und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester im gemütlichen Tone zurufen: »meine Herren, jetzt wird's leidenschaftlich.« »Meine Gutsten, noch ein bischen leidenschaftlicher!« Wagner imitiert sehr gern den Leipziger Dialekt. –
… Vor und nach Tisch spielte Wagner und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft feuriger und lebhafter Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer: ach, und Du begreifst es, welcher Genuss es für mich war, ihn mit unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe: dann erkundigte er sich, wie sich jetzt die Professoren zu ihm verhalten, … Am Schluss, als wir beide uns zum Fortgehen anschickten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philosophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine Anverwandten mit seiner Musik bekannt zu machen: was ich denn feierlich übernommen habe.«
Im Februar 1869 wurde Nietzsche als ausserordentlicher Professor der klassischen Philologie an die Universität Basel berufen, obwohl er noch nicht zum Doktor promoviert war. Professor Vischer in Basel, der einige Arbeiten des jungen Gelehrten aus dem Rheinischen Museum kannte, wurde auf ihn aufmerksam gemacht und veranlasste diese Berufung.
Die ausserordentliche gute Erziehung und die hohe Bildung, gewannen ihm in kurzer Zeit viele Freunde und Verehrer in Basel. Das neue Amt nahm Nietzsche sehr in Anspruch, und die Erfolge, die er als Lehrer erzielte, müssen bedeutend gewesen sein, da er kaum ein Jahr nach seiner Berufung zum ordentlichen Professor ernannt wurde.
Nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges meldete er sich als freiwilliger Krankenpfleger. Bei einem Krankentransport, den er von Metz nach Karlsruhe geleitete, erkrankte er an Diphteritis, was ihn zum Aufgeben seiner Dienste zwang.
Nietzsche widmete sich weiter seiner akademischen Thätigkeit, und im Winter 1871/72 hielt er im Auftrage der akademischen Gesellschaft in Basel einige Vorträge » Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, in welchen er die bestehende Unterrichtsmethode einer scharfen und zersetzenden Kritik unterwarf und eine Reform des ganzen Schulwesens verlangte. Diese Vorträge fanden grossen Beifall, aber die hingeworfene Idee fiel auf keinen fruchtbaren Boden. Es blieb Nietzsche demnach nichts übrig, als selbst in seiner Lehrthätigkeit die von ihm vertretene Richtung geltend zu machen.
Als Professor der klassischen Philologie hatte Nietzsche in seinen Vorträgen einen modernen Charakter hineinzutragen verstanden. Auch seine Persönlichkeit und sein Aeusseres hatten einen durchaus modernen Anflug, was schon auf den ersten Blick seine Kleidung, die immer äusserst sorgfältig und elegant war, verriet. Sein Vortrag war interessant, packend, von geistreichen Einfällen und witzigen Bemerkungen begleitet, wodurch er sogar die Aufmerksamkeit der minder fleissigen Zuhörer zu fesseln wusste.
Als Frucht seiner klassischen Studien und seiner Vorliebe für die Wagnersche Musik ist das in den letzten Tagen des Jahres 1871 erschienene Buch » die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« anzusehen. Es erregte grosses Aufsehen und hatte einen Sturm der Entrüstung bei den Fachleuten hervorgerufen, weil Nietzsche moderne Kunstanschauungen in die Deutung antiker Erscheinungen hineintrug. In einer Streitschrift verhöhnte der damals 23jährige Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf diese Zukunftsphilologie Nietzsches, die statt Belegstellen aus dem klassischen Altertum, die Ansichten Schopenhauers als Beweise anführte. Dagegen war Wagner, dem das Buch auf den Leib zugeschnitten war, ganz begeistert und schrieb an den Verfasser: »Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!« Frau Cosima Wagner schrieb: »O wie schön ist Ihr Buch! Wie schön und tief, wie tief und wie kühn! … Sie haben in diesem Buche Geister gebannt, von denen ich glaubte, dass sie einzig unserem Meister dienstpflichtig seien … Ich kann Ihnen nicht sagen, wie erhebend Ihr Buch mich dünkt …, wie eine Dichtung habe ich diese Schrift gelesen, die doch die tiefsten Probleme uns darthut.«
Es entspann sich eine lebhafte Polemik über dieses Buch und die Folgen derselben Hessen nicht lange auf sich warten. Nietzsche wurde mit einem heimlichen Bann belegt, kein Hörer besuchte seine Vorlesungen, was ihm neben dem materiellen Schaden auch grossen Kummer bereitete. Er schreibt darüber im März 1873 an seinen Freund Rohde: »Wenn wir nur noch eine andere Kunst gelernt hätten, teuerster Freund, um zusammen durch die Welt zu ziehen! Denn als Konjekturendachshund hat man wahrlich kein ehrliches Gewerbe. Orgeldrehen ist besser. In diesem Semester hatte ich es zu zwei Zuhörern gebracht.« Nietzsche trug sich schon damals mit dem Gedanken, seine Professur niederzulegen, umsomehr als auch seine Gesundheit schon viel zu wünschen übrig liess.
In den Jahren 1873-76 erschienen die » Unzeitgemässe Betrachtungen,« eine aus folgenden Schriften bestehende Arbeit:
1. » David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller.«
2. » Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.«
3. » Schopenhauer als Erzieher.«
4. » Richard Wagner in Bayreuth.«
Schon die Ueberschrift » Unzeitgemässe Betrachtungen« kennzeichnet Nietzsches Standpunkt, den er in diesen Schriften vertritt. In David Strauss, dessen Buch: » Der alte und der neue Glaube« 1872 erschienen ist, sieht er das typische Erzeugnis der Barbarei der Zeit, die im Behagen am Mittelmässigen und in der Anbetung der flachen Vernünftigkeit aufgeht. Gegen diesen »Bildungsphilister« – ein von Nietzsche geprägtes Wort – will er nun ankämpfen. Er hebt an Strauss den Widerspruch hervor, dass er Darwin, der den unerbittlichen Kampf um das Dasein nachgewiesen hat, als einen der grössten Wohlthäter der Menschheit preist, ohne aber die Konsequenzen, die sich aus dieser Lehre für die Ethik ergeben, zu ziehen.
Die zweite unzeitgemässe Betrachtung wendet sich gegen die Ueberschätzung der Geschichte. Nietzsche klagt die Geschichte an, dass sie anstatt das Leben zu fördern, dasselbe hemmt und freudlos gestaltet. Den geschichtlichen Gesetzen, welche die Historie als die leitenden Kräfte des Geschehens herausgefunden haben will, hält er das Paradoxon entgegen: »Soweit es Gesetze in der Geschichte giebt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert.« Die Geschichte mit ihrem ganzen Ballast hindert die schrankenlose Entfaltung des Lebens, sie macht die Menschen dekadent, denn sie hält sie mit unzähligen Fäden umsponnen und verbindet sie unzertrennlich mit einer greisenhaften Vergangenheit. Nietzsche erhebt deshalb Protest gegen die Erziehung der Jugend in der Geschichte. An die Stelle derselben stellt er das Unhistorische, d. h. die Kunst und die Kraft, das Vergangene vergessen zu können. In dieser zweiten unzeitgemässen Betrachtung hat Nietzsche die Gedanken, die er in seinen Vorträgen » Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« niederlegte, weiter ausgeführt. Sie ist von allen seinen Schriften eine der gedankenreichsten.
Die dritte unzeitgemässe Betrachtung ist die grundlegendste, weil sie Nietzsches ursprüngliches Verhältnis zu Schopenhauer kennzeichnet. Als Denker ist Nietzsche von Schopenhauer ausgegangen, der ihn ganz in seinen Bann gezogen hat. Er nennt ihn: »seinen Befreier auf dem Wege zu seinem Selbst.« Aber nicht die Philosophie Schopenhauers hat er sich zu eigen gemacht, sondern seine pessimistische Grundstimmung, nicht das System, sondern der Mensch, oder besser gesagt der Menschenverächter zog ihn an. Die ernsten Gesundheitsstörungen, die im Jahre 1874 schon auftraten, werden nicht wenig dazu beigetragen haben, Nietzsches Verehrung für den Pessimisten Schopenhauer zu steigern.
Die vierte unzeitgemässe Betrachtung ist Richard Wagner gewidmet. Sie erschien aus Anlass der bevorstehenden Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 und ist eine Verherrlichung Wagners und seiner Kunst. Sie bildet den Höhepunkt seiner Verehrung für Wagner, die von nun an allmählich sich aufzulösen und in das Gegenteil umzuschlagen begann. In dieser Schrift wird dem deutschen Volke Wagner als Befreier geschildert, der wie ein zur Erde niedersteigender Gott alles Schwache und Menschliche mit seiner gewaltigen Kunst zum Himmel emporhebt. »Die Kunst Wagners beweist, dass die Natur nach innen viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer ist, als der blöde Menschensinn ahnt.« Das Auftreten Wagners vergleicht Nietzsche einem vulkanischen Ausbruch des gesamten Kunstvermögens, der Natur selber. Die Mängel der Bildung, die Nietzsche überall nachzuweisen suchte, findet er durch die Musik Wagners ergänzt und die Gegensätze des Lebens durch dieselbe aufgehoben. In dieser Musik findet er auch die Rechtfertigung des gesamten Daseins.
Jedoch nicht allzulange sollte diese Lobpreisung bestehen. Die Begeisterung für Wagner verwandelte sich nur allzubald in eine ebenso starke Verachtung. Schon im Jahre 1884 heisst es in einem Gedichte an Richard Wagner:
»Der du an jeder Fessel krankst,
Friedloser, unbefreiter Geist,
Siegreicher stets und doch Gebundener,
Verekelt mehr und mehr, Zerschundener,
Bis du aus jedem Balsam Gift dir trankst,
Weh! Dass auch du am Kreuze niedersankst,
Auch du! Auch du – ein Ueberwundener!«
Vier Jahre später trat Nietzsche mit seinen zwei Schriften: » Der Fall Wagner« und » Nietzsche contra Wagner« noch viel schärfer gegen seinen Freund auf. Die frühere Verherrlichung des Meisters ist in Verachtung und Verhöhnung übergegangen. Wagner ist ihm »ein menschgewordener verzweifelter Dekadent, der plötzlich hilflos und zerbrochen vor dem christlichen Kreuze niedersank.« Dieses plötzliche Umschlagen der Gefühle ist für Nietzsche charakteristisch und wir begegnen dieser Erscheinung öfter in seinem Leben. Seine Liebe schlägt nur allzuschnell in Hass und seine Bewunderung in Verachtung um.
Im Jahre 1878 erschien das Werk: » Menschliches Allzumenschliches,« welches dem Andenken Voltaires zur hundertjährigen Gedächtnisfeier seines Todestages gewidmet war. Das Buch rief eine grosse Verstimmung unter den Freunden Nietzsches hervor und viele derselben sagten sich von ihm los, um nicht in den Verdacht zu geraten, dass sie die in demselben vertretenen Ansichten billigen.
Die eigentliche Entstehungsgeschichte dieses Buches ist auf den freundschaftlichen Verkehr Nietzsches mit Dr. Paul Rée, dem Verfasser des: » Ursprung der moralischen Empfindungen,« erschienen 1877, zurückzuführen. Nietzsche wurde durch das letztgenannte Werk und durch mündliche Auseinandersetzungen mit dem Verfasser desselben, auf die Entstehungsgeschichte der moralischen Werte aufmerksam gemacht. Gleich Rée versuchte er, die Moral nicht auf metaphysischer, sondern auf psychologischer Grundlage aufzubauen und sie historisch zu erklären. Trotz aller Selbständigkeit ist der Einfluss Rées unverkennbar und ursprünglich wurde sogar: » Menschliches Allzumenschliches« für das Werk Rées gehalten. Nietzsche schrieb bei der Uebersendung dieser Arbeit an seinen Freund Rée: »Ihnen gehört's, – den andern wird's geschenkt! … Alle meine Freunde sind jetzt einmütig, dass mein Buch von Ihnen geschrieben sei und herstamme: weshalb ich zu dieser neuen Vaterschaft gratuliere!«
In » Menschliches Allzumenschliches« zieht Nietzsche die praktischen Konsequenzen der Theorie Rées. Es ist ein kühner, wenn auch nicht neuer Versuch, die gesamte Philosophie zu prüfen und dieselbe als eine Geschichte menschlicher Vorurteile und Irrtümer hinzustellen. An die Stelle der Metaphysik tritt die Psychologie und die Geschichte, die alles Geschehen als notwendig erklären. Der Verfasser schloss sich mit dieser Untersuchung aufs engste an die Schule der englischen Positivisten und französischen Sensualisten an. Wir erfahren deshalb von ihm nichts neues, denn alle diese Gedanken findet man schon bei den englischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, so z. B. bei Hobbes und Mandeville, bei Hutcheson und Hume einerseits, und bei den französischen Aufklärungsphilosophen der Revolution anderseits. Die Abhängigkeit von den Franzosen lässt sich noch weiter hinaufverfolgen, da wir bei Nietzsche eine direkte Bezugnahme auf Larochefoucauld an mehreren Stellen finden. So heisst es z. B. im » Menschliches Allzumenschliches« I, Nr. 50: »Larochefoucauld trifft … das Rechte, wenn er alle die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er rät, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen, um so weit gebracht zu werden, den Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen.« Diese Uebereinstimmung, die man auch als Abhängigkeit ansehen kann, ersieht man noch aus vielen anderen Stellen.
Nietzsches Verdienst könnte man höchstens darin finden, dass er die Ansichten dieser Engländer und Franzosen aus der Vergangenheit hervorgezogen und den breiteren Kreisen durch seine leichtverständlichen und eleganten Aphorismen zugänglich gemacht hat. Anderseits lag in dieser Popularisierung der Moral eine grosse Gefahr, denn was auf dem Wege der Forschung nur als rein wissenschaftlicher Gewinn angesehen wurde, hat die Folgezeit in die Praxis hineingetragen.
Den ersten Band des Werkes schliesst folgendes Gedicht:
Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen!
Gönnt ihr frohen, Herzens-Freien
Diesem unvernünft'gen Buche
Ohr und Herz und Unterkunft!
Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche
Ward mir meine Unvernunft!
Was
ich finde, was
ich suche –,
Stand das je in einem Buche?
Ehrt in mir die Narren-Zunft!
Lernt aus diesem Narrenbuche,
Wie Vernunft kommt – »zur Vernunft«!
Also, Freunde, soll's geschehn? –
Amen! Und auf Wiedersehn!
Die immer häufiger auftretenden Krankheitsanfälle nötigten Nietzsche im Frühjahre 1879 seine Pensionierung zu beantragen, die ihm auch gewährt wurde. Er war 10 Jahre lang Professor in Basel und gab nun seinen Lehrberuf auf, um ganz seiner Gesundheit leben zu können. Seine Stimmung aus jener Zeit kennzeichnet am besten ein Brief, dem wir folgende Stelle entnehmen: »Im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit von mir zu sehen. Damals – es war 1879 – legte ich meine Baseler Professur nieder, lebte im Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: ›Der Wanderer und sein Schatten‹ entstanden währenddem.«
Von dieser Zeit an ist in Nietzsches Krankheit kein Stillstand mehr. Starkes Augenleiden, heftiger Kopfschmerz quälten ihn Wochen und Monate lang. Nur ab und zu trat eine Ruhepause ein. Aber er trug sein Leiden mit einer staunenswerten Geduld. Ausserordentlich wohlthuend wirkte auf ihn sonniges Wetter, er wählte deshalb Nizza und Sils-Maria zu seinem Aufenthaltsorte.
Im Jahre 1881 erschien » Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.« Das Buch ist aus einer Aphorismen-Sammlung hervorgegangen, die in den Jahren 1880/81 niedergeschrieben wurde.
Es folgen dann:
»
Die fröhliche Wissenschaft.« 1882.
»
Also sprach Zarathustra.« I. und II. Teil. 1883.
»
Also sprach Zarathustra.« III. Teil. 1884.
Der vierte Teil erschien 1885, aber nur in 40 Abzügen, er war nur für die näheren Freunde des Verfassers bestimmt. Erst im Jahre 1891 erschien die gesamte erste Auflage dieses Werkes.
» Also sprach Zarathustra« ist eine symbolische Dichtung. Die blinden Anhänger Nietzsches sprechen von diesem Buche als von einer neuen Bibel und Offenbarung und der Verfasser selbst sagt: »Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste.« Das Werk ist auf den einsamen Wanderungen, die Nietzsche im Winter 1882/83 in der Nähe von Genua unternommen hat, entstanden. Der einsame Wanderer hat die Ideen, die ihm auf der romantischen Strasse nach Portofino einfielen, in sein Notizbuch eingetragen und erst dann weiter ausgearbeitet. Das Werk verdankt seine Entstehung einer Inspiration. Nietzsche beschreibt diesen Vorgang mit folgenden Worten: »Man hört – man sucht nicht; man nimmt – man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird, ein vollkommenes Aussersichsein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Anzahl feiner Schauder und Ueberrieselungen bis in die Fusszehen: … Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste: man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, … Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehen muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf, es ist auch die meine.«
Aus dieser Beichte spricht schon ein Ton und die Stimmung einer überreizten, stark angespannten, ja überspannten Phantasie. » Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig« bekennt ja Nietzsche selbst, und es ist geradezu lächerlich, wie jedes dunkele Wort im Zarathustra von den gedankenlosen Anhängern Nietzsches als eine tiefe und verborgene Weisheit und Offenbarung gepriesen wird. Als Nietzsche den Zarathustra schrieb, war sein Zustand schon ein recht bedenklicher. Im Winter 1882/83 hat er Chloralhydrat in grossen Dosen eingenommen, um sich nur einige Stunden Schlaf verschaffen zu können. Er selbst behauptete, dass er unter der Wirkung dieses Mittels Briefe geschrieben, die er hinterher als vollkommen falsch verabscheut habe; das Chloral habe, wenn er es vor dem Schlafengehen genommen, am anderen Morgen nach dem Erwachen einen eigentümlich erregten Zustand hinterlassen, der ihm Menschen und Dinge in einem ganz falschen Lichte zeigte. In einem Briefe an seine Schwester, der leider ohne Datum von derselben in der Zukunft 1900, S. 24 citiert wird, schreibt er: »Ich nehme Schlafmittel über Schlafmittel, um den Schmerz zu betäuben, und kann doch nicht schlafen. Heute will ich soviel nehmen, dass ich den Verstand verliere …«
Nietzsche fühlte sich in der Fremde sehr vereinsamt und unglücklich. Verschiedene Sorgen traten noch hinzu, um seine Gesundheit zu untergraben. Für seine Schriften fand er keinen Verleger, wenn er für die Druckkosten nicht selbst aufkam. Sein bescheidenes Vermögen schmolz immer mehr zusammen, und die Angst, dass die Baseler Universität die Pension ihm entziehen könnte, zwang ihn, seine Lebensweise recht dürftig einzurichten. In Genua wohnte er bei kleinen Leuten und nährte sich zumeist von frischen Feigen und einigen Scheiben Schinken, wodurch seine Gesundheit noch mehr untergraben wurde.
Zu der Krankheit gesellte sich noch das Verlangen nach Ruhm, Anerkennung und Verständnis, das ihn manchmal noch mehr plagte, als sein Leiden. In einem Briefe vom 28. Mai 1887 schreibt er an seine Schwester: »Auch mir wird Jahr für Jahr schwerer; und die schlimmsten und schmerzhaftesten Zeiten meiner Gesundheit erscheinen mir nicht so drückend und hoffnungsarm wie meine jetzige Gegenwart. Was ist denn geschehen? Nichts als notwendig war – meine Differenz mit allen Menschen, von denen ich bis dahin Vertrauen empfangen hatte, ist ans Licht gekommen: man merkt gegenseitig, dass man sich eigentlich verrechnet hat. Der Eine schwenkt hierhin ab, der Andere dorthin, jeder findet seine kleine Herde und Gemeinschaft, nur gerade der Unabhängigste nicht, der allein übrig bleibt und vielleicht, wie in meinem Falle, gerade schlecht zu dieser radikalen Vereinsamung taugt« (Die Zukunft 1900, S. 19).
Im Jahre 1885/86 entstand » Jenseits von Gut und Böse.« Nietzsche hat in diesem Werke allen Glauben an sittliche Ideale aufgegeben und betrachtet die menschlichen Handlungen von einem Standpunkte, wo gut und böse nur rein individuelle Werte sind.
Im Jahre 1887 entstand im Oberengadin das Werk: » Zur Genealogie der Moral.« Es ist eine Streitschrift und zur Ergänzung und Verteidigung von » Jenseits von Gut und Böse« beigegeben. Die » Genealogie der Moral« lehrt, dass die Menschheit mit einer aristokratischen Moral begonnen habe, und dass erst später als Gegensatz zu derselben die Mitleidsmoral entstanden ist. Wir werden in einem späteren Kapitel auf diese Auffassung in einem anderen Zusammenhange noch zurückkommen.
Es folgt dann im Jahre 1888 » Der Fall Wagner«; » Götzen-Dämmerung«, » Der Wille zur Macht« und » Nietzsche contra Wagner.«
Im November 1888 ging Nietzsche daran, seine Selbstbiographie niederzuschreiben, von welcher aber nur Bruchstücke bekannt sind. Er schreibt darüber unter dem 20. November 1888 an Georg Brandes: »Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heisst »Ecce homo« und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen alles, was christlich oder christlich infekt ist, bei denen einem Sehen und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christentums, und kann als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christentums auch nur die Existenz vermutet hat. – Das Ganze ist das Vorspiel der ›Umwertung aller Werte,‹ des Werks, das fertig vor mir liegt! Ich schwöre Ihnen zu, dass wir in zwei Jahren die ganze Erde in Konvulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängnis.«
Nietzsche war sich selber ein Verhängnis, wie es die Folgezeit bewies. Die näheren Einzelheiten aus dieser Periode fehlen vorläufig, da die Lebensbeschreibung, die von seiner Schwester herausgegeben wird, noch nicht so weit gediehen ist. An welchem Tage die vollständige Störung des Geistes ausgebrochen sein mag, lässt sich nur annähernd feststellen. Es war in den letzten Tagen des Jahres 1888. Einige Briefe, die aus jener Zeit stammen, zeichnet Nietzsche mit »Dionysos« oder »der Gekreuzigte.« Er befand sich damals in Turin und wurde von seinem Freunde Professor Overbeck in eine Heilanstalt nach Basel gebracht. Nietzsche litt an starken Wahnvorstellungen. Mehrere Schlaganfälle haben ausserdem seinen Körper gelähmt, so dass jede Hoffnung auf eine Genesung ausgeschlossen war. Als ein körperlich und geistig ganz gebrochener und zerstörter Mensch kehrte der Mann, der eine neue Welt der Ideen hatte schaffen wollen, in das Haus seiner Mutter nach Naumburg zurück. Auch die zärtliche Sorgfalt der Mutter und Schwester konnten keine Besserung seines Zustandes bewirken. Nach dem Tode seiner Mutter ging die Schwester mit Nietzsche nach Weimar, wo sie ihn bis zu seinem am 25. August 1900 erfolgten Tode, mit Aufopferung pflegte.
So bietet Nietzsche ein fürchterliches Bild. Seine »fruchtbarsten Augenblicke und seine Flüge aufwärts« gingen über seine Kraft und hatten eine »Fehlerhaftigkeit der Maschine« zur Folge. Er selbst ahnte mit hellseherischem Blicke sein Ende kommen, als er folgende Worte niederschrieb:
»Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der »Sittlichkeit der Sitte,« unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im Ganzen und Grossen fort bis auf den heutigen Tag … – wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Wertschätzungen, Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah dies unter einer schauderhaften Geleitschaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht … allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen« (Morgenröte Nr. 14).