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Eine Erzählung aus der Zeit des Ancien régime
Der Tod des Herrn de la Tomassière hatte sogleich zur Folge, daß man ihn auf Herrn von Aiguisy schob. Die begleitenden Umstände waren freilich dazu angetan, den öffentlichen Verdacht gegen ihn zu erregen. Am 11. September des Jahres 1687 war Herr de la Tomassière in unordentlicher Kleidung und mit klaffendem Schädel unter seiner Perücke am Kreuzweg vor Les Gisquets, auf dem Grund und Boden des Herrn von Aiguisy, aufgefunden worden. Das Verhalten dieses Edelmannes gegen Herrn de la Tomassière gab allen Anlaß, ihn für den Täter zu halten, denn man wußte überall, wie er den Ermordeten haßte und ihm grollte. Herr von Aiguisy hatte seinen Haß und Groll geflissentlich zur Schau getragen und sich allerorten über die Schmach, die Herr de la Tomassière ihm angetan, öffentlich ausgesprochen. Ueberall hatte er seine Beschwerden angebracht, und nun hatte er die Folgen davon zu tragen, daß er seine Gefühle zu laut verkündet und private Zwistigkeiten, die man besser tut, bei sich zu behalten, aller Welt anvertraut hatte.
Aber wenn man Herrn von Aiguisy auch als zornmütigen, mürrischen Mann konnte, so war es doch noch ein weiter Weg von der Schroffheit und Zanksucht seines Charakters bis zu einem Verbrechen, für das es keine Entschuldigung gab, auch nicht die angebliche Beleidigung, über die sich der rachlustige Edelmann beklagte.
Allerdings hatte Herr von Aiguisy etwa sechs Monate vorher um die Hand des Fräuleins de la Tomassière angehalten. Zu diesem Zwecke war er eines schönen Tages von seinem Schlosse Les Gisquets nach der Stadt gefahren. Seine kleine, hagere und anmaßliche Person flog bei jedem Stoß der Kutsche von den schäbigen Sitzkissen auf, so leicht und wenig gewichtig war er. Beim Aussteigen vergaß er auch diesmal nicht, einen Blick auf die Pferde zu werfen. Sie waren ziemlich dick und wohlgenährt. Er hielt sie sich nur aus Stolz, obwohl er eigentlich durchaus nicht die Mittel dazu besaß, denn sein Einkommen war kärglich, wie sein baufälliges Schloß bewies. Die Kost war schmal, und man behauptete, daß die Pferde oft besser zu essen hätten als ihr Herr, ja daß dieser durchaus kein Bedenken trüge, sich den Gurt enger zu schnallen, um dem Wanst seiner Tiere eine vollere Rundung verleihen zu können.
Uebrigens war seine Kutsche der Gegenstand zahlloser Witze, zumal in einer Stadt wie Courjeu-l'Abbaye, wo viele der angesehensten Einwohner, selbst unter denen, die am meisten Anrecht darauf hatten, sich keinen Wagen hielten und sich mit einer Sänfte, einem Maultier begnügten oder in Ueberschuhen ausgingen und des abends Leute mit Laternen vor sich hergehen ließen, um auf dem Pflaster sehen zu können. Zu ihnen gehörte auch Herr de la Tomassière, desgleichen die Herren von Parfondval und Les Rantours, sowie viele andre Edelleute des Ortes. Herr von Valenglin, dessen Stadthaus auf der Grand' Place stets als sehr schön gepriesen ward, ließ seinen Wagen in der Remise stehen und hielt in seinem Stall nur Reitpferde. Um so mehr hing Herr von Aiguisy an diesem Luxus, der ihn nach seiner Meinung vor allem übrigen auszeichnete. Sein Wagen war sein Liebling. Es machte ihm Vergnügen, das Pflaster unter seinen Rädern erzittern zu lassen und die Vorübergehenden mit Kot zu bespritzen. Oft schickte er seinen Wagen auch leer herunter und ließ ihn durch die ganze Stadt kutschieren oder vor irgend einem Laden halten, nur um die Bürger und Hausfrauen daran zu erinnern, daß in der Umgegend von Courjeu ein Herr von Aiguisy lebte, der nicht zu Fuß lief wie der große Haufe. Und darum zweifelte er auch nicht, daß Herr de la Tomassière, den er auf seinen Fahrten oft genug getroffen und zum Wagenschlag heraus gegrüßt hatte, einen Schritt, der ihm einen solchen Schwiegersohn ins Haus führte, mit promptem Ja gutheißen würde.
Mit diesem Gedanken betrat Herr von Aiguisy das Haus, in dem Herr de la Tomassière wohnte. Es war ein großes Gebäude von gutem Aussehen, mit einem kiesbestreuten Hofe. Die Schritte des Eintretenden hallten auf dem schwarzweißen Schachbrett der Fliesen. Eine breite, bequeme Treppe mit schmiedeeisernem Geländer führte hinauf. Alles sprach von dem gediegenen Wohlstand, der die Folge von sparsamem Reichtum ist. Herr de la Tomassière hätte den seinen mehr zur Schau tragen können, aber er zog es vor, ihn zu vermehren, indem er an seinem Einkommen sparte. Courjeu war ganz der Ort dafür, und Herr de la Tomassière hatte sich hier zur Ruhe gesetzt, nachdem er seine Richterstelle verkauft hatte. Daß er sich vorn öffentlichen Leben zurückzog, geschah nicht etwa aus Gesundheitsrücksichten, sondern einfach, weil Frau de la Tomassières Vater starb und ihr sein Stadthaus in Courjeu, sowie die beiden Güter La Corgne und Le Birouet hinterließ, die von bedeutendem Wert waren und sich in so gutem Zustande befanden, daß Herr de la Tomassière von ihnen und dem, was er ohnehin besaß, auf großem Fuß hätte leben können. Aber er beschränkte seine Ausgaben auf seine notwendigen Bedürfnisse und einige Launen, die aber durchaus nicht der Art waren, um ihm oder der übrigen Welt zu imponieren. Herr von Aiguisy war über alle diese Einzelheiten wohl unterrichtet und sah schon mit Freuden den Tag nahen, wo alle diese schönen Güter ihm durch Fräulein de la Tomassière zufallen würden. Ueberdies sagte ihm ihr Gesicht, ihre Figur und ihr ganzes Wesen auch sonst genug zu, um ihm mit der Mitgift in Händen auf etwas Gegenständlicheres und Dauerhafteres warten zu helfen, als Liebe und Schönheit ist. Nicht daß Herr von Aiguisy das Fräulein de la Tomassière nicht um ihretwegen liebte, aber er vermochte die Vorzüge, die Geburt und Vermögen ihr ohne ihr Zutun geschenkt hatten, nicht zu verachten.
Sobald Herr von Aiguisy dem biederen La Tomassière, einem rundlichen, dicken, kurzatmigen Herrn, gegenübersaß, ging er sofort gerade auf seinen Gegenstand los. Der Vater hörte zu wie bei einem Verhör. Er schien den Beamten noch nicht vergessen zu haben. Er trug eine große mausgraue Perücke auf dem Kopf und betrachtete unablässig seine silbernen Schuhschnallen. Von Aiguisy hatte erwartet, daß La Tomassière ihn beim ersten Wort unterbrechen und in seine Arme schließen würde, und darum hielt er nach seiner Einleitung inne. Aber La Tomassière ließ ihn zu Ende reden. Ohne Zweifel legte er sich derweil die Antwort zurecht. Sie war, was die Grundfrage betraf, ein bündiges Nein. Die Ausdrücke, die den Schlag abdämpfen sollten, waren vielleicht nicht glücklich gewählt, denn der kleine Aiguisy sprang bei den letzten Worten kerzengerade auf. Die Röte in seinem Gesicht ließ auf die Entrüstung seines Geistes schließen. Am liebsten wäre er Herrn de la Tomassière an die Gurgel gesprungen, denn er wußte nicht, wie er seinem Aerger anders Luft machen sollte. Auch der Rückweg zu seiner Kutsche, zu der ihm der dicke La Tomassière das Geleit gab, lieferte ihm keinen Anlaß dazu, und es blieb ihm nichts weiter übrig, als den Wagenschlag so zuzuwerfen, daß die Scheiben zersprangen und klirrend herausfielen, während er im Innern vor Zorn fluchte und wütend mit den Füßen stampfte.
Dieser Verdruß, der sich bald allerorten Luft machte und durch die prompte Verlobung des Fräuleins de la Tomassière mit Herrn von Valenglin noch einen besondern Stachel erhielt, hatte den Verdacht erregt, daß Herr von Aiguisy mit dem schlimmen Streiche, der gerade jetzt gegen seinen Feind geführt worden, irgendwie in Verbindung stehen mochte. Viele glaubten fest daran, und keinem fiel es ein, daß Herr von Aiguisy mit seiner Figur und seinen schwachen Kräften nicht eben der Mann war, um dergleichen Dinge zu verrichten, denn es war kein Kleines, den Herrn de la Tomassière, dem es trotz seiner Jahre weder an Kraft noch an Kühnheit gebrach, so mit einem Streiche niederzustrecken. Aber Herr von Aiguisy war nun einmal unbeliebt. Trotzdem mußte man sich zu einer andern Meinung bequemen, als man einige Tage nach dem Tode und der Beisetzung des Herrn de la Tomassière dem Mörder auf die Spur kam. Es war niemand anders als ein gewisser Peter Graffard, Knecht im Meierhofe Le Petit-Clos, der zum Kloster der Filles-Dieu gehörte. Er gestand selbst, daß er ihn mit dem Eisen seiner Hacke erschlagen hätte, weil er ihn am Grabenrand mit Perrette Gilon, seiner Braut, überrascht habe – ihn, Herrn Honoré-Marc-François Farfin de la Tomassière, Gerichtsrat außer Diensten, Herr von La Corgne, Le Birouet und andern Orten. Peter Graffard war ein brutaler, eifersüchtiger, kraftstrotzender Geselle, nach dem Zustande zu schließen, in dem man sein Opfer aufgefunden hatte.
Ein wandernder Musikant benachrichtigte die Obrigkeit. Er hatte den Leichnam liegen sehen und erbot sich, jeden, der es wollte, hinzuführen. Beim Herannahen der Nacht wurde aufgebrochen. Der Mann ging voran. Er trug seine Fidel am Riemen und auf den Schultern einen kleinen, zum Tanzen abgerichteten Affen, der die Leute des Profossen durch seine Grimassen unterhielt, so daß sie in ausgelassener Laune einherschritten.
Die Nacht war herabgesunken, und man zündete Laternen an. Herr von Valenglin, der mit zwei Dienern von seinem Schloß Beaulignon zurückritt, begegnete dem Schwarm am Ausgange von Courjeu. Er erkundigte sich nach dem Anlaß des nächtlichen Auszuges, und da er aus allem, was man ihm sagte, erriet, daß es sich um eine Person von Stande handelte, so machte er kehrt und ritt mit der ganzen Gesellschaft mit, um zu sehen, was daran wahr sei.
Sein Pferd schritt weiter aus als die Menschen. Von Zeit zu Zeit mußte er anhalten und sich umdrehen. Die Laternen beleuchteten die Wagengeleise und die Straßenböschung mit huschenden Lichtern. Bisweilen rollte ein Kiesel ab, denn die Straße nach Les Gisquets ist abschüssig und holperig. Endlich erreichte man den Kreuzweg.
Die Wegegabelung bildete einen unbebauten Fleck. Die Felder ringsum lagen still in nächtlichem Dunkel. Eine kleine knorrige Eiche hob sich, gedrungen wie eine Keule, schwarz von dem tonlosen Himmel ab.
Alles machte Halt. Der Fiedelspieler mit seinem Affen auf der Schulter wies den Ort. Herr von Valenglin hielt sein Pferd am Zügel. Eine Laterne wurde gebracht. Ihr Schein fiel auf einen Schuh mit silberner Schnalle, einen Strumpf, den Zipfel eines Mannsrockes und schließlich eine mausgraue Perücke, denn der Tote lag auf der Nase.
Zwei Männer knieten nieder und wandten die leblose Masse um, in der Herr von Valenglin zu seinem Entsetzen die Leiche seines künftigen Schwiegervaters, Herrn de la Tomassière, erkannte. Die Augen standen starr geöffnet in dem dicken, fahlen Gesicht, und das Blut floß aus den Nasenlöchern. Beim Entfernen der Perücke erblickte man auf dem kahlen Schädel eine breite rote Hiebwunde.
Herr von Valenglin ließ den Körper auf das Pferd eines seiner Diener heben und mit einem Gurte festschnallen; dann saß er auf und ritt im Galopp nach Courjeu, während der Ratsschreiber auf seinem Knie ein Papier hielt und die Gänsefeder quietschend darüber hingleiten ließ.
Dank dieser nächtlichen Begegnung und dem Ritt mit verhängten Zügeln erfuhren Frau und Fräulein de la Tomassière eher von dem Unglücksfall, als sie um seine ganze Tragweite wußten. Herr von Valenglin hatte die beiden Frauen in stiller Beschäftigung angetroffen. Die Mutter las in einem Buche, und die Tochter arbeitete an einem Stickrahmen. Als er vorgelassen wurde, entschuldigte er sich über sein spätes Erscheinen, da er Herrn de la Tomassière doch so gern Gesellschaft leistete, und tat erstaunt, daß er diesen noch nicht zu Hause traf.
»Es ist nicht vorsichtig, so lange auszubleiben,« sagte er. »Die Wege sind unsicher, und ein Unglück ist schnell geschehen. Die unverhofftesten Unglücksfälle sind oft die nächsten, und wir werden täglich von den schlimmsten bedroht. Auch werden wir von ihnen nicht nur an uns selbst betroffen, sondern auch an denen, die wir lieben ...«
Je länger Herr von Valenglin so redete, desto besorgter blickte das Fräulein ihn an, und sein verstörtes Mienenspiel mehrte ihre Angst. Frau de la Tomassière hörte behaglich zu und schien nichts zu verstehen; erst die Tränen ihrer Tochter sagten ihr, daß Herr von Valenglin eine Unglücksbotschaft brächte. Er tat sein Bestes, um sie ganz allmählich vorzubringen. Aber plötzlich wußten sie alles, denn der traurige Zug langte soeben im Hofe an, und sie wurden gewahr, daß Herr de la Tomassière tot war. Das sah man schon an seinem blutüberströmten Gesicht. Es war sehr hell im Hofe, denn die Nachbarn waren mit Fackeln herbeigeeilt. Alles drängte sich neugierig herum. Die Schreckenskunde lief von Mund zu Mund und kam so auch zu den Ohren des Fräuleins de la Tomassière, dessen Tränen nun erst recht flossen.
Herr de la Tomassière ward zum letztenmal in seine Wohnung gebracht, die er am Morgen noch rüstigen Schrittes verlassen hatte. Um ihn nach seinem Bett zu tragen, mußte man durch das Speisezimmer. Das Essen war für ihn zurückgestellt worden und harrte seiner auf dem Speisetisch, denn er hatte gewöhnlich großen Hunger, wenn er des Abends erst spät zurückkam. Verschiedenes Fleisch und Backwerk stand zwischen zwei Leuchtern bereit. Silber glänzte auf dem seinen Linnen. Ein Korb mit Obst rundete sich in der Mitte. Es war immer ein Vergnügen, zuzusehen, wie Herr de la Tomassière eine reife Pfirsich, eine saftige Birne anbiß oder eine Weintraube zerpflückte, wiewohl die Weinflasche ihm über die Weintrauben ging und er ihren staubigen Bauch liebend mit der nämlichen fleischigen Hand preßte, die den Zipfel des Tischtuches beim Vorbeistreifen mit den Fingerspitzen berührte.
Als man den Toten gerade auf sein Bett legte, erschien der Pfarrer von Saint-Grégorie, Abbé Virlong. Er sah, daß er umsonst gekommen war, und begann nun Frau de la Tomassière Trost zuzusprechen, denn sie wimmerte laut und war mit ihrer ganzen Schwere in ein Fauteuil gesunken, von dem sie ihre kurzen Arme nach ihrem toten Gatten ausstreckte. Herr von Valenglin mußte die Leute mit Gewalt von der Schwelle weisen, auf der sie sich neugierig drängten. Auch der Fiedler mit seinem Affen war darunter. Das Tier knabberte gerade an einem Apfel, den es vom Tische des Herrn de la Tomassière gestohlen hatte. Herr von Valenglin hieß alle gehen. Die Mägde brachten frische Wäsche und Wasser, um den Verstorbenen für sein letztes Lager zurechtzumachen. Fräulein de la Tomassière half und gab Anordnungen. Sie weinte nicht mehr. Herr von Valenglin blickte sie an und fand sie schön in ihrer Trauer.
Ihre Schönheit hatte nichts Geziertes noch Verzärteltes. Die Gesichtszüge waren stark und die Hautfarbe blendend. Etwas Festes und Freies lag auf ihrem Antlitz. Ihr Mund war wie zum Lächeln geschaffen und ließ gesunde, perlweiße Zähne hervorschimmern. Sie schien älter als sie war, und selten sah man ein Mädchen in ihren Jahren mit so viel Verstand und Maß begabt. Sie war durch ihre kräftige Gesundheit dem Leben wohl gewachsen. In ihrem Glauben war sie gewissenhaft, ohne kleinlich zu sein. Dies alles gefiel Herrn von Valenglin ungemein. Seine Liebe hatte sie erwidert, ohne vor gewissen Kühnheiten der Sprache zurückzuschrecken. Sie nahm keinen Anstoß daran, daß sie begehrt wurde, und die Röte ihrer Wangen war keine Schminke der Verschämtheit, sondern eher ein Zeichen von heißblütiger Natur und der Fähigkeit zu Liebeswallungen; doch verbarg sie die Leidenschaftlichkeit ihres Wesens unter jener Art von Zurückhaltung, die einem jungen Mädchen verwehrt, mehr von sich zu zeigen, als es nach Brauch und Sitte angeht. Diese Zurückhaltung bezauberte Herrn von Valenglin in gleichem Maße wie gewisse feurige Blicke, in denen er künftige Wonnen las.
Er erhoffte sich viel von dieser Verbindung, in der alles nach Wunsch zu gedeihen schien. Und darum war er nachsichtig gegen die Einfalt der Mutter und die schlimmen Streiche des Vaters, der seinen Jahren zum Hohne noch immer den Don Juan spielte. Er war es im Hermelin des Gerichtsrates gewesen, und er blieb es, als er das Barett abgelegt hatte. Eine Flasche aus seinem Keller, eine Rückerinnerung an seine Jugendzeit genügte, um galante Launen in ihm wachzurufen. Sein Leben lang war die Liebe seine Hauptneigung gewesen, und so blieb sie es auch in seinen alten Tagen, trotz seines Vorsatzes, ein Ende zu machen. Häufige Rückfälle bewiesen, daß ihm dies nicht gelang. Wenn seine Sinnlichkeit aufwallte, konnte ihn nichts zu Hause halten. Der Anblick der guten Frau de la Tomassière, die in einem Buche las oder in ihren Schränken kramte, bereitete ihm nicht das geringste Vergnügen; seine Bibliothek fesselte ihn ebensowenig wie seine behagliche Wohnung, aus deren Fenstern man auf einen terrassenförmig bis zum Fluß abfallenden Garten sah. Jede Gesellschaft war ihm dann verleidet. Selbst die Anwesenheit seiner Tochter, die in ihrer gesunden Schönheit kam und ging, hielt ihn nicht zurück, sondern bestärkte vielmehr seine Begierde. Sie war so heftig und rasch, daß er, um sie möglichst bald und ungebunden zu befriedigen, mit der ersten besten fürlieb nahm. Die Kunstgriffe der Galanterie, durch die man bei Damen oder Bürgermädchen mit Geduld alles erreichen kann, erschienen ihm dermaßen unerträglich, daß derselbe La Tomassière, der in seiner Jugend Damen geliebt hatte, in seinem Alter jedem Frauenzimmer nachlief. Keine seiner Mägde entging ihm. Selbst die Häßlichen verschmähte seine Begierde nicht. In La Corgne und Le Birouet, deren Herr und Besitzer er war, mußten die Mägde von den Meierhöfen ihm gehören. Es gab keinen Pachthof aus mehrere Meilen in der Runde, den er nicht unsicher gemacht hätte. Er war nicht wählerisch. Kehrte er von diesen Streifzügen zurück, so schlief er am Abend vor den Augen seiner Gattin auf seinem Lehnstuhl ein, kaum, daß er seine Mahlzeit beendet hatte.
Die Geschichten von Herrn de la Tomassière waren in Courjeu stadtbekannt, doch taten sie dem Ansehen, das er genoß, keinen Abbruch. Herr von Valenglin wußte hierüber ebensogut Bescheid wie jeder andre. Oft, wenn er von der Jagd oder einem Spazierritt zurückkam, begegnete er Herrn de la Tomassière, der auf seine besondere Weise das Land durchstreifte und auf Hirtinnen und Gänsemädchen fahndete. Er grüßte ihn lachend und verschwand schnell. Gerade diese Verschwiegenheit hatte ihm eine besondre Meinung von Herrn von Valenglin beigebracht, und wenn er seine Werbung wohl aufgenommen hatte, so lag der Grund zum guten Teil hierin. So empfand denn Herr von Valenglin auch wirklich etwas wie Kummer, als er Herrn de la Tomassière zwischen zwei Totenkerzen aufgebahrt daliegen sah, die Hände über einem kleinen Buchsbaumzweige gefaltet und die klaffende Wunde am Kopfe.
Es begann schon zu dämmern, als Herr von Valenglin sich verabschiedete. Er grüßte die Witwe, die auf ihrem Lehnstuhl schlief, und Fräulein de la Tomassière führte ihn stillschweigend bis zur Haustür, wo er ihr Lebewohl sagte und seine Schritte nach Hause lenkte. Sein Weg führte ihn an der Einfriedigungsmauer des Klosters der Filles-Dieu entlang, in dem eine kleine Morgenglocke halblaut zu läuten anhub, als ob sie jemand riefe; dann bog er ab und hörte nur noch seinen Schritt auf dem Pflaster hallen.
*
Am Tage nach der Beisetzung sprach Herr von Valenglin bei Frau de la Tomassière vor. Die gute Frau zerfloß bei seinem Bericht von den Leichenfeierlichkeiten in Tränen. Sie hatte nichts gesehen und nichts gehört, als das Glockenläuten den ganzen Vormittag über, und war darum begierig, näheres zu erfahren. Was sie hörte, schmeichelte jener Eitelkeit, die wir alle selbst da verspüren, wo die Ereignisse unserm Stolz eine heilsame Lehre geben sollten. Es ist anscheinend eine Ehre, wenn man unsrer Asche das Geleit gibt, und Frau de la Tomassière war durchaus nicht unempfindlich dagegen, daß ihr Gatte von Leuten aller Stände, die sich auf der Straße drängten und die Kirche bis zum letzten Pfeiler erfüllten, zu seiner ewigen Ruhestätte geleitet worden war. Unter einem Grabstein in einer Seitenkapelle ward Herr de la Tomassière beigesetzt. Keiner seiner Freunde unterließ es, ihm die letzte Ehre zu erweisen, ebensowenig wie er sie ihnen versagt hätte. Die Herren von Parsondval und Les Rantours wurden unter den Leidtragenden gesehen, auch Herr von Aiguisys Gegenwart wurde bemerkt. Es entstand sogar um seine Person ein Getuschel, das sich bis zum Murren gesteigert hätte, wenn Herr von Valenglin, der den gegen ihn rege gewordenen Verdacht mißbilligte, es nicht für seine Pflicht gehalten hätte, Herrn von Aiguisy in sichtbarer Weise zu begrüßen. Der kleine Mann nahm diese Aufmerksamkeit mit unbegreiflicher Unnahbarkeit und verletzendem Stolz entgegen; so sehr hatte ihn der Anblick des Herrn von Valenglin, der tiefe Trauer trug, an seinen Mißerfolg erinnert, der jenem so schnell zum Siege verhalfen hatte.
Fräulein de la Tomassière schien das Interesse, das ihre Mutter an Herrn von Valenglins Bericht nahm, nicht zu teilen. Sie blieb verschlossen und niedergeschlagen. Herr von Valenglin bemerkte ihre Schweigsamkeit und Traurigkeit. Auch als Frau de la Tomassière fortging, um einige Haushaltungsgeschäfte zu erledigen, und sie nun beide allein saßen, bereitete diese Lage, die sonst den angenehmsten Teil seiner Besuche bildete, ihm wahre Verlegenheit. Meist unterhielt er sich mit Fräulein de la Tomassière ganz unumwunden und gestand ihr die Gefühle, die er für sie hegte, aber diesmal mußte er, um die Unterhaltung in Fluß zu bringen, zu einem allgemeineren Gegenstand greifen, der ihm besser geeignet schien. Er verbreitete sich über die kurze Frist unsers Erdenwandels und die Zufälligkeiten, denen das Leben unterworfen ist. Er nannte es eine Torheit, das Glück selbst für eine Gewähr seiner Dauer zu nehmen. Dann ging er zu den Verlusten, die uns treffen können, über. »Gewiß ist der Verlust eines Vaters der grausamsten einer, wiewohl die göttliche Vorsehung ihn mit Fleiß zu mildern sucht, indem sie uns lehrt, es wie ein notwendiges Naturgesetz hinzunehmen, daß die, welche uns im Leben vorausgingen, auch vor uns sterben müssen. Wir verdanken ihnen unser Leben, wie wir ihnen einst unsern Tod verdanken werden; so will es die allgemeine Notwendigkeit und das unabwendliche Schicksal ...«
Herr von Valenglin führte diesen Gedanken noch weiter aus und flocht alles hinein, was sein Verstand ihm eingab; trotzdem unterbrach ihn Fräulein de la Tomassière nicht im Sprechen und schien auch, als er aufgehört hatte, wenig geneigt, ihm zu antworten. Regungslos blieb sie in ihren Trauerkleidern sitzen. Die Luft drang durch die offenen Fenster ins Zimmer. Es war Mitte September. Die Obstbäume im Garten standen längs der schnurgeraden Wege in sauber geschnittenen Pyramiden wohlgerichtet da, und an den Kanalborden zitterte das unregelmäßige, wildwachsende Blattwerk der Espen bei jedem Windhauche. Herr von Valenglin suchte verlegen nach einem neuen Wege, auf den er die Unterhaltung lenken könnte. Das Fräulein fühlte ohne Zweifel, wo er hinauswollte, und schnitt seine Bemühungen kurz ab.
»Suchen Sie nicht nach andern Trostgründen, mein Herr,« sagte sie zu ihm, »und verzeihen Sie mir, daß ich so schlecht auf die antworte, für die ich Ihnen zu danken habe. Sie haben mir das, was ich am allermeisten befürchtete, zartfühlend erspart. Es gibt Umstände, wo die Erörterung unsrer besonderen Gefühle nicht im mindesten angebracht ist, und ich weiß Ihnen Dank dafür, daß Sie Ihre Rede nur mit solchen Gedanken schmückten, die ein jeder angesichts des Todes hegt, und nichts von dem einflochten, von dem ich Sie hätte bitten müssen, für den Augenblick zu schweigen. Sie selbst sind meinem Wunsche so entgegengekommen, daß dieser Einklang unsrer Seelen mich wagen läßt, ihn Ihnen bis zum Ende darzulegen.«
Herr von Valenglin verbeugte sich.
»Ich würde Ihnen, mein Herr, mein Anliegen unumwundener aussprechen, wenn Sie mich nicht daran gewöhnt hätten, zu glauben, daß es Ihnen einigen Kummer bereiten könnte. Die Schuld daran trägt Ihre mir erwiesene Güte, und ich zögere nicht, Sie um einen neuen Beweis derselben zu bitten. Sie werden ohne Zweifel einwilligen, mein Herr: suchen Sie mich einige Zeitlang nicht auf. Solches Verlangen möge Sie nicht kränken; es entspringt einer Seele, die nach Einsamkeit und Nachsinnen dürstet. Ich möchte sagen, es ist eine Pflicht, die mir die Umstände aufzwingen, und Sie werden mir durch Ihre volle Zustimmung helfen, mich ihrer zu entledigen. Es gibt plötzliche Ereignisse, die den Geist verwirren, und man muß ihre Bedeutung erkennen lernen, um die Lehre, die sie geben, zu verstehen. Das Unglück, das mich niederbeugt, gehört zu ihnen. Ich bin noch ganz in seinem Banne, und die Zurückgezogenheit soll mich seinen Sinn und seine Bedeutung lehren. Sie werden diesen aufrichtigen Wunsch zu achten wissen. Ihr Fernsein wird mir helfen, mich durch nichts abzulenken.«
Fräulein de la Tomassière schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort:
»Unsre Pflicht gegen die, welche mir verlieren, ist mit ihrem Tode nicht zu Ende; sie dauert fort und nimmt unerhoffte Formen an. Die kindliche Liebe insbesondere hat ihre besonderen Ansprüche. Sie spricht in gewissen Fällen sogar mit einer Stimme, die man vordem nicht kannte. Diese leise Stimme zu vernehmen, habe ich mir vorgesetzt. Das Gebet wird mir helfen, ihren Befehl zu erlauschen. Ihre ernste Zuneigung zu mir ermächtigt mich, diesen eigentümlichen Beweis von ihr zu fordern. Ich würde daraus erkennen, daß mein würdiger Vater sich in der Achtung, die er Ihnen erwies, und in der Wahl, zu der er mir riet, nicht getäuscht hat.«
Beim Namen ihres Vaters ließ Fräulein de la Tomassière ihre Tränen rinnen.
»Ueberdies,« fuhr sie fort, »war sein Urteil gut und sein Herz noch besser, und ich wundere mich, daß Gott ihm dies nicht zugute gehalten und ihn eines so schrecklichen Todes hat sterben lassen, denn schrecklich war er durch seine Schnelligkeit und Plötzlichkeit; aber es geziemt sich nicht, an göttlichen Ratschlüssen zu deuteln; sie sind höher als unsre Vernunft und fragen nichts nach uns.«
Diese ungewöhnliche Sprache setzte Herrn von Valenglin sehr in Erstaunen. Fräulein de la Tomassière enthüllte hier Züge, die er nicht kannte. Aber schließlich war dies alles nur die Folge eines berechtigten Harms. Es handelte sich ja auch nur um eine Frist, durch die ihrem jungen Geiste Zeit gegeben wurde, sich von dem harten Schlag, der sie unversehens betroffen, zu erholen. Außerdem war Herr von Valenglin wohl auch selbstsüchtig genug, um die Tröstung der schönen Leidtragenden dem lieben Gott zu überlassen, statt sich selbst damit zu befassen. Er fühlte sich wenig geeignet dazu, denn der Verlust eines La Tomassière schien ihm leicht zu verschmerzen. Auch dessen Tochter würde das merken, wenn sie das Maß des angemessenen Schmerzes erschöpft hätte. Ihre Frömmigkeit würde ihr dabei zu statten kommen. Er selbst entsann sich gewisser Fälle, wo er sich plötzlich in Gott versenkt und die besten Erfolge davon verspürt hatte, obschon er für gewöhnlich mehr Festigkeit im Glauben als Eifer im frommen Wandel zeigte. So erklärte er sich auch diese plötzliche Laune des Fräuleins, dieses Bedürfnis nach Einsamkeit und Religion. Er konnte freilich nicht umhin, sich etwas darüber zu verwundern, aber er sagte sich zur Erklärung seiner Verwunderung, daß er bisher mehr auf die angenehme Gestalt seiner Braut, als auf die Einzelheiten ihres Charakters geachtet hätte. In Wahrheit empfand er ein kleines Unbehagen darüber; denn er war der Ansicht, daß es in der Ehe zu viele gemeinsame Interessen gibt, als daß man die notwendige Uebereinstimmung vermissen könnte, die einen Ehebund erst ersprießlich und dauerhaft macht. Das Bißchen, was sonst noch dazu kommt, um ihn zu verschönern, glaubte er in der Schönheit des Fräuleins de la Tomassière hinreichend zu finden.
So ließ er sich denn auch bestimmen, dem Wunsche des Fräuleins zu willfahren, und versprach sie nicht eher aufzusuchen, als bis ein Monat verflossen wäre. Nach dieser Frist hoffte er sie so wiederzufinden wie vorher, und der Hochzeitstag sollte alsdann festgesetzt werden. Herr von Valenglin sprach in der Viertelstunde seines Besuches allerdings kein Wort hiervon. Das Fräulein war zu sehr in andre Gedanken versunken, als daß sie ihn gerade an diesen erinnert hätte. Herr von Valenglin enthielt sich also jeder Anspielung auf diesen Gegenstand; desgleichen hütete er sich, ein Gesicht zu machen, als Fräulein de la Tomassière von den geistlichen Tröstungen anhub, die sie von Fräulein von Larnot erwartete. Es war dies die Oberin der Filles-Dieu, eine entfernte Verwandte Valenglins, die ihn für das schlimmste Getier auf Gottes Erdboden hielt. Bei jedem andern Anlaß hätte er aus den Gefühlen, die er gegen sie hegte, dem Fräulein La Tomassière kein Hehl gemacht, aber er war der Meinung, daß die Reden und Ratschläge der alten harten und ausgetrockneten Betschwester ihr nichts als Langeweile bereiten und den Wunsch, zu weltlicheren Gedanken zurückzukehren, desto eher zur Reife bringen würden.
Nachdem alles derart geregelt war, verabschiedete das Fräulein sich von Herrn von Valenglin, nicht ohne noch eine letzte Bitte an ihn zu richten. Ihre Mutter hatte den lebhaften Wunsch, daß an der Mordstelle zur Erinnerung an dieses erbärmliche und verhängnisvolle Ereignis ein Kruzifix errichtet werden sollte. Herr von Valenglin wurde mit Ueberwachung dieses frommen Werkes betraut. Er versprach, sich baldigst damit zu befassen und das Bildnis dessen, der für die Sünden aller gestorben ist, an der Stelle zu errichten, wo La Tomassière infolge der seinen den Tod gefunden hatte.
*
Als der Pfarrer von St. Grégoire und das Kapitel durch Herrn von Valenglin von dem Gelübde der Frau de la Tomassière und ihrer Tochter unterrichtet wurden, zeigten sie sich ihm so geneigt, daß sie diesen Akt der Frömmigkeit zu einer öffentlichen Zeremonie erheben wollten, zu der die ganze Stadt geladen werden sollte. Ueberdies kann man das heilige Bild des Heilands ja den sterblichen Menschen nicht oft genug vor Augen stellen; es soll nicht nur die Gotteshäuser zu heiligen Stätten machen und jedes Haus schmücken, sondern auch die Kreuzwege bevölkern und sich allerorten zeigen.
»Sehen Sie, mein Herr,« sagte der Abbé Virlong zu Herrn von Valenglin, »in unsern Zeiten verbirgt Gott sich zu sehr, und er tut nicht genug, um den Glauben zu ermuntern und die Frömmigkeit anzufeuern. Er gibt sich gar keine Mühe mehr und überläßt uns alle dem Bösen. Zu andern Zeiten war das nicht so. Da war sein Eingreifen wirksamer und häufiger. Er hielt es nicht für eine Entwürdigung, sich in leiblicher Gestalt zu zeigen. Seine sichtbare Gegenwart entzündete den Eifer der Frommen und bestärkte sie im Glauben. Heutigen Tages trägt er keinerlei Sorge mehr, sich den Augen der Gläubigen zu zeigen, und das, mein Herr, unter uns gesagt, tut ihm sehr viel Schaden. Ich sage es ihm Tag für Tag in meinen Gebeten; aber ach, man hört höheren Orts nicht auf den Pfarrer von Saint-Grégoire.«
Der Geistliche ließ die Mundwinkel sinken; er trug einen großen Mund in seinem mageren Antlitz.
»Ich weiß wohl,« fuhr er fort, »daß dies nicht notwendig ist, aber Sie werden mir zum mindesten zugeben, daß es nützlich war und daß die Wunder ihr Gutes hatten. Die Menschen sind vergeßlich, und man muß ihrem Gedächtnis aufhelfen. Sind wir in Ermangelung eines Besseren nicht darauf angewiesen, zu Holz- und Wachsfiguren zu greifen, um Gott der Menge gegenwärtig zu halten? So ist auch der Plan der Frau de la Tomassière das Zeichen einer echt christlichen Seele und kann nur unsern Beifall finden.«
Und Herr Virlong empfahl dem Herrn von Valenglin sofort einen Bildschneider, der ihm einen Gekreuzigten von edler Gestalt und guter Aehnlichkeit schnitzen würde. Es war ein kleiner rothaariger Kauz, der in der großen Vorstadt auf dem andern Ufer gleich hinter der Brücke eine kleine Werkstatt hatte. Herr von Valenglin fand ihn in einem Wust von Hobelspänen; er war gerade dabei, ein Brett zu hobeln. Meister Luchoux – so hieß er – rühmte ihm seine Talente. Aus Mangel an Kundschaft müßte er sich mit schäbigen Tischlerarbeiten begnügen. Er erbot sich alles liegen zu lassen und sich sofort ans Werk zu machen, auch versicherte er Herrn von Valenglin, daß seine Arbeit in weniger als einem Monat fertig und zufriedenstellend sein würde.
Meister Luchoux hielt Wort und Herr Virlong desgleichen. Acht Tage vor dem in Aussicht genommenen Tag verkündigte er bei der Predigt, daß das Kruzifix der Frau de la Tomassière am nächsten Sonntag nach der Vesper mit großem Pomp am Kreuzweg vor Les Gisquets errichtet werden sollte. Die Frommen sollten es auf ihren Schultern in Prozession durch die Straßen tragen, bis sie nach dem bezeichneten Orte kämen. Zum Schluß ermahnte er die ganze Gemeinde, sich dem Festzug anzuschließen, und verriet auch, daß er und das ganze Kapitel in corpore folgen würden, sowohl um Gott in seinem Bild zu ehren, wie zum Andenken an den würdigen Herrn La Tomassière.
Frau de la Tomassière erfuhr von diesem schönen Vorhaben durch Herrn von Valenglin, der gerade von seinem Schloß Beaulignon zurückkehrte, wo er die Zeit seiner Verbannung verbracht hatte. Er hatte seinen Besuch vorher angezeigt, damit Fräulein de la Tomassière ihm ausweichen könnte, wenn sie wollte. In der Tat erschien sie nicht, und die Witwe sprach darum nach Herzenslust. Sie ließ es übrigens nie daran fehlen, denn sie war von Natur geschwätzig. Sie machte Valenglin Komplimente über die Pünktlichkeit, mit der er seine Versprechen hielt, und tadelte ihre Tochter, daß sie ihm ein solches abgenommen hätte. Der Schmerz, in den der Tod ihres Vaters diese junge Seele versetzt hatte, möchte ihre seltsame Laune entschuldigen. Herr von Valenglin mußte noch einige Tränen und Schmerzensausbrüche, sowie viele unnötige und unangebrachte Reden mit anhören, die verschiedenen Sorgen und Gebrechen der alten Dame sich von ihr erzählen lassen und schließlich ihre geschwollenen Handgelenke befühlen.
Wahrlich, die Tochter hätte besser getan, ihrer Mutter Umschläge und Einreibungen zu machen, als ihre Tage im Sprechzimmer des Klosters zu verbringen. Trotzdem sang Frau de la Tomassière dem Fräulein von Larnot ein Loblied. »Meine Tochter verdankt dieser heiligen Frau große Tröstungen. Was ist natürlicher, da sie ja jenen geborenen Tröster, einen guten Gatten, nicht an ihrer Seite hat?« Und Frau de la Tomassière gab durch einen Seufzer kund, daß ihr Mann ihr für manches Uebel ein Heilmittel gewesen sei.
Herr von Valenglin war zwar ein gläubiger Christ, aber ehrlich gestanden: die Klöster liebte er nicht. Die Ordensregel, so meinte er, beugt die Seele unter das Joch einer mechanischen Disziplin oder setzt sie durch gefährliche Praktiken in Verzückung. Und er fragte sich im stillen, welchen Gewinn die Gesellschaft der Larnot dem Fräulein de la Tomassière bringen könnte. Zwei- oder dreimal im Jahr besuchte er seine fromme Verwandte am Klostergitter, hinter dessen Eisenstangen er ihr gelbes Gesicht mit den herben Zügen erblickte. Welch ein Gegensatz zu dem gesunden und frischen Antlitz seiner Braut! Er mußte besonders daran denken, als er an der Umfriedung der Filles-Dieu entlang ging. Zum ersten Male bemerkte er ihre Höhe. Die Klosterfassade mißfiel ihm und peinlich berührte ihn der Gedanke, daß Fräulein de la Tomassière jeden Tag durch dieses Portal schritt, um sich stundenlang dort einzuschließen, statt die schönen Herbsttage zu benutzen und in ihrer Schwermut durch die Alleen ihres Gartens zu lustwandeln. In frischer Luft, beim Anblick des fließenden Wassers und der vergilbenden Pappeln am Rand des Kanales wäre sie ihr bald von selbst verflogen.
Meister Luchoux, der ihm begegnete, brachte ihn schließlich auf andre Gedanken. Der Zwerg streifte an der Mauer entlang wie eine Katze, die sich den Rücken scheuert. Beim Sprechen schlug er seine unförmig großen Hände gegeneinander. Mit ihnen hatte er das Bild des Heilands aus dem Holzblock herausgehauen, gemeißelt und bemalt. Es blieben nur noch die Wundmale herzustellen. Meister Luchoux versprach, daß sie frisch und blutig werden sollten.
Am Sonntag nach der Vesper trat vor dem Portal von Saint-Grégoire die Prozession an, um Meister Luchoux' Meisterwerk nach dem Kreuzweg vor Les Gisquets zu tragen. Die Straßen waren geflaggt und mit grünen Laubguirlanden geschmückt. Aus den Fenstern hingen Teppiche. Es war ein heller, schöner Tag. Ganz Courjeu war auf den Beinen, und von den Nachbardörfern war viel Volk zusammengeströmt.
Das Kruzifix verließ die Kirchenpforte auf den Schultern von zwölf Edelleuten, darunter die Herren von Parfondval und Les Rantours, sowie Herr von Aiguisy, dessen schmächtige Gestalt unter der Last zusammensank. Seine schwachen Arme mußten bald durch stärkere abgelöst werden, denn man hatte mehr als eine Stunde zu gehen, teils auf dem Pflaster von Courjeu, teils auf der steinigen Landstraße, und Herr von Valenglin überließ seinen Platz mit Vergnügen dem dicken Hufschmied Vignon, dessen Muskeln dieser Last besser gewachsen waren. Langsam trat der Zug an. Die Bewegung verlieh der Gestalt des Gekreuzigten etwas Tragisches, Lebendiges. Die auseinandergespannten Arme schienen sich an die Schultern der Träger anklammern zu wollen. Es war eine ziemlich grob geschnitzte und grell angemalte Figur; Meister Luchoux hatte sein Bestes gegeben. Die Rippen traten aus den mageren Seiten hervor, und das Haupt wurde von einer riesigen Dornenkrone schier erdrückt. Die fünf Wunden bildeten fünf rote Flecken. Für die Fernwirkung berechnet, sah diese Figur aus der Nähe ungeheuerlich aus, und die Stöße beim Tragen verliehen ihr durch die jeweilige Verkürzung ein geradezu fürchterliches Aussehen.
Die Stadt war bereits passiert und die Prozession zog sich an den Hecken des Weges entlang. Herr von Valenglin drehte sich um und blickte auf den Zug zurück. Er schritt langsam und in guter Ordnung einher, ein Klappern von Schuhen und Hufen verursachend. Die Kirchenbanner flatterten über den gesenkten Häuptern. Hinterher kamen die Frauen, viele mit brennenden Kerzen in der Hand, und wenn die Psalmen einmal verstummten, so hallte der Schrittlärm allein in die Landschaft. Vorweg schritt die Geistlichkeit und der gesamte Stadtrat.
Am Kreuzweg vor Les Gisquets stand der Wagen der Frau de la Tomassière und erwartete den Zug. Sie stieg mit ihrer Tochter aus. Herr von Valenglin grüßte beide und nahm nicht weit von der Kutsche des Herrn von Aiguisy Aufstellung. Diese harrte ihres Herrn, um ihn nach Hause zu fahren, denn wenn Herr von Aiguisy geruht hatte, das Gottesbild zu Fuß hinauszugeleiten, so war es ebendarum doppelt vonnöten, den Leuten zu zeigen, daß diese Art der Fortbewegung nicht seine gewöhnliche war. Das hatte er schon gezeigt, als er vergangene Woche in seiner Kutsche nach der Richtstätte gefahren war, wo Pierre Graffard, der Mörder des Herrn de la Tomassière, aufgeknüpft wurde, was ihm ein ganz besonderes Vergnügen zu bereiten schien.
An der Mordstelle selbst hatte man einen Steinsockel gesetzt, in den das Holzkreuz eingelassen werden sollte. Die Menge drängte sich, um diesen Vorgang mitanzusehen. Er war schwierig zu bewerkstelligen und dauerte lange, obgleich alles vorbereitet worden war. Endlich richtete sich der schwere Pfahl langsam über den aufmerksamen Gesichtern auf, zitterte einen Augenblick an den Seilen, an denen er in die Höhe gewunden wurde, sank dann in seine Fuge und blieb starr stehen, so daß jeder das Gottesbild ragen sehen konnte. Es breitete seine blutigen Arme gen Himmel aus und reckte seinen bemalten Leib und seine straff gezogenen Beine an dem Holze, während der Kopf sich unter der Dornenlast beugte und die Menschen, die der Heiland von ihrer Sünde erlösen will, von unten herauf ansah.
Alle Anwesenden sanken aufs Knie. Man hörte die Frauen schluchzen; ein kleiner Hund bellte und der Pfarrer von Saint-Grégoire stimmte ein Tedeum an.
Es war spät geworden und der Tag begann sich zu neigen, als die Menschen sich zerstreuten. Allmählich verschwanden die letzten Gruppen am Kreuzwege. Herrn von Aiguisys Kutsche war auch fort, und es blieb nichts als die Sänfte der Frau de la Tomassière, die mit ihrer Tochter noch immer im Grase kniete. Herr von Valenglin wartete das Ende ihres Gebets ab, um sie anzureden. Frau de la Tomassière hatte das ihre zuerst beendet. Die dicke Dame stand mühsam auf und wäre auch nur mit Mühe in ihren Tragstuhl gekommen, hätte Herr von Valenglin nicht zugegriffen. Sie stieß fortwährend tiefe Seufzer aus.
Es war gerade ein Monat verflossen, seit Herr von Valenglin, seinem Versprechen getreu, Fräulein de la Tomassière nicht gesehen hatte. Um so berechtigter war seine Hoffnung, daß sie ihm für die Treue, mit der er ihrem Wunsche gewillfahrt hatte, Dank wissen würde. Der Ort eignete sich allerdings recht wenig zur Unterhaltung, aber er rechnete doch auf ein paar Worte, aus denen er entnehmen konnte, daß die Zeit seiner Abwesenheit nun lange genug gewährt habe. In dieser Hoffnung trat er, den Hut in der Hand, vor das Fräulein und gewahrte dabei eine Verwirrung in ihren Mienen, die fast eben so seltsam war wie ihr Schweigen, das sie nur durch ein trockenes »Danke, mein Herr!« unterbrach. Dann nahm sie neben ihrer Mutter Platz. Die Träger ergriffen die Tragstöcke, und die Sänfte setzte sich in Bewegung, während Herr von Valenglin Zeit hatte, über diesen sonderbaren Empfang nachzusinnen. Er wäre lange so stehen geblieben, denn er war ganz in seine Gedanken versunken, als plötzlich der kleine Hund, der vorher gebellt hatte, an ihn herangelaufen kam und sich an seinem Beine scheuerte. Herr von Valenglin wollte ihm eben einen Fußtritt versetzen, als er bemerkte, daß der Köter ein Stück weißes Papier in seinem Maule trug. Es war ohne Zweifel ein Brief, den einer der Anwesenden beim Niederknieen aus der Tasche verloren hatte. Herr von Valenglin nahm sich vor, ihn dem Eigentümer wieder zuzustellen, sobald er die Adresse würde lesen können, denn es war schon zu dunkel, um sie zu entziffern. Fast war es schon Nacht, und Herr von Valenglin trat den Heimweg nach Courjeu an, während das Botenhündchen fortfuhr, mit scharfer, immer schwächerer Stimme in den Wind und das Dunkel hinein zu kläffen.
*
Als Herr von Valenglin heimgekehrt war und der Diener die Kerzen angezündet hatte, wurde er gewahr, daß der Brief an ihn selbst gerichtet war. Sein Name stand in großen und festen Schriftzügen auf dem Umschlag, und als er diesen erbrochen hatte, las er am Rande des Papiers die Unterschrift des Fräuleins de la Tomassière.
Herr von Valenglin war nicht mehr so jung, daß er mit Frauen noch keine traurigen Erfahrungen gemacht hätte. Es gibt kaum einen Menschen, der nicht in einem Winkel seines Gedächtnisses einen Vorwurf gegen sie bewahrt. Ein jeder weiß, in welcher Weise selbst die Besten unter ihnen oft gegen den zu handeln wagen, den sie am meisten lieben. Jeder, wenn er daran zurückdenkt, erinnert sich beklagenswerter Unbilligkeiten, die sie ihm erwiesen. Die einen können von ihrer Härte reden, die andern hatten sich über ihre Huld nicht zu freuen, und alle haben eine Erinnerung an die Unbeständigkeit, die die Zuverlässigste so gefährlich macht wie die Wankelmütigste. Herr von Valenglin war so gut wie jeder andre in die Lage gekommen, Proben von dem zu sammeln, was man zu befürchten hat, wenn man liebt. Er wußte wohl, was man wagt, wenn man sein Glück auf die Liebe setzt, und daß es alsdann nicht sowohl vom Zufall abhängt, der es auch begünstigen kann, als vielmehr von den Weiberlaunen, die ihm beständig drohen. Diese Wahrheit war ihm zu verschiedenen Zeiten seines Lebens klar geworden, aber er hatte gehofft, daß er die Ungewißheiten jetzt überwunden und in Fräulein de la Tomassière das gefunden hätte, was ein Mann von vierzig Jahren am meisten sucht, nämlich etwas, worauf er seine Ruhe bauen und wodurch er seine Zukunft befestigen kann. Und darum verriet sein Gesicht beim Lesen des Briefes eine zunehmende Ueberraschung und eine bald an Wut grenzende Erregung.
Er sprang schließlich auf und zerknitterte das Papier in den Händen. Sein Hut flog in eine Saalecke, und er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der kupferne Leuchter hochsprang. Sein Gesicht verriet einen Menschen, der von Sinnen ist, denn er war gewalttätig bis zur Roheit und Beleidigung. Sein erster Zorn entlud sich in einem Gewitter von Flüchen. Nachdem seine Wut verraucht war, und sie hielt wohl eine Viertelstunde lang an, griff er wieder nach dem Briefe. Er war nicht der Mann, um der ersten Heftigkeit zu folgen; er wußte die seine abzukühlen und das, was ihn am meisten vorletzte, kühl zu überlegen. Er las also noch einmal, was Fräulein de la Tomassière ihm schrieb:
»Bevor ich, mein Herr, auf den eigentlichen Grund dieses Briefes zu sprechen komme, kann ich Sie nicht genugsam bitten, das Geständnis, das ich Ihnen abzulegen habe, freundlich aufzunehmen. Es wird mir gewiß schwer, aber ich muß sagen, es würde mir noch schwerer fallen, wenn es irgend ein irdisches Gefühl wäre, das mir mein Verhalten gegen Sie vorschriebe, zu dem mich ein höherer und mächtigerer Grund zwingt. Ich würde mich schämen, mein Herr, hätte ich Ihnen eine jener Herzenslaunen zu gestehen, die manche Mädchen unbedenklich zur Grundlage ihrer Entscheidungen und zum Angelpunkt ihrer Handlungen machen. Zu ihnen gehöre ich nicht und werde von Ihnen hoffentlich auch nicht mit ihnen verwechselt. Ich lege Wert auf Ihre Achtung und ich schmeichle mir, daß Sie mir dieselbe erhalten werden, sobald Sie mich gehört haben.
»Diese Achtung, mein Herr, ist das einzige, was ich fortan von Ihnen erwarten darf; sie wäre mir nicht genug gewesen, ehe jenes Ereignis eintrat, das die unvermeidliche Folge des heute Geschehenden ist. Früher war mir Ihre Freundschaft kostbar, und ich hätte selbst gewünscht, daß sie in der Folge zu etwas anderm geworden wäre, wenn Gott es zugelassen hätte, daß wir einen Bund eingingen, den er zu billigen schien und dessen Fesseln mir erspart zu haben ich ihm heute Dank weiß. Er hat mich insgeheim zu einer andern Aufgabe erkoren. Er hat es so bestimmt. Seinem Befehl gehorche ich. Er hat mir, mein Herr, eine neue furchtbare Pflicht auferlegt, und um mich seinen Ratschlüssen unterzuordnen, möchte ich Sie hierdurch bitten, unser Verlöbnis zu lösen, das ich nicht zu halten vermag und an das ich mich nicht mehr gebunden fühle. Ich bin innegeworden, mein Herr, daß ich mir nicht mehr selbst angehöre. Und allmählich habe ich einsehen gelernt, welchem Berufe ich mich zu widmen habe. Die Zeit dieser Zurückgezogenheit und Einsamkeit, die Sie mir großmütig zugestanden haben, hat meine Absicht gereift und geklärt. Ich zögere nicht, sie Ihnen jetzt mitzuteilen, und Sie werden nicht umhin können, sie zu billigen.
»Durch Gebet, mein Herr, wurde ich dieser Prüfung enthoben. Ich habe Gottesgelehrte und fromme Seelen um Rat und Hilfe gebeten. Sie haben mich in meiner Absicht bestärkt, und wenn sie Ihnen einigen Schmerz bereiten sollte, so betrachten Sie denselben bitte als Ihren Anteil an dem heiligen und barmherzigen Werke, dem ich fortan meine Kräfte und mein Leben widmen will.
»Dem Dienst und der Erlösung einer Seele will ich mich weihen. Sie wissen, daß mein Vater gestorben ist, auch wo und wie. Er war ein sündiger Mensch. Ich weiß, wenn Gottes Gericht streng ist, so ist sein Erbarmen doch unendlich; aber man muß dem einen desto mehr Genüge leisten, je mehr man von dem andern verlangt. Und wer weiß, welche Schuld mein armer Vater dem ewigen Richter hat zahlen müssen, selbst wenn er das Erbarmen des göttlichen Erlösers erlangt hat? Und wie kann er dieser Schuld ledig werden? Durch grausige Qualen und furchtbare Leiden. O, mein Herr, wenn ich nur daran denke, so rinnt es mir eiskalt durchs Gebein. Kann ich ihn in diesem beklagenswerten Zustande im Stich lassen, ohne an seine Rettung zu denken? Er hat mir das irdische Leben gegeben: kann ich nicht versuchen, ihm zu seinem ewigen Leben zu verhelfen? Das Fegefeuer ist nicht unabwendbar. Durch Gebet werden seine Flammen besänftigt und seine Tore geöffnet. Und darum bete ich zu Gott alle Tage, indem ich ihm die meinen in Tausch gebe. Möge er sie doch nehmen, sie gehören ihm. Die Welt hätte mich von diesem großen Werke abgelenkt. Die Erlösung einer Seele ist ein mühsames Beginnen, das nicht weniger als alle unsre Kräfte erfordert. Gott wird die meinen annehmen. Ich biete sie ihm dar, damit er sie nach seinem Gutdünken verwende, und eben um mich ihm ganz hinzugeben, bitte ich Sie, mich freizulassen.
»Wenn Sie diesen Brief empfangen haben, werde ich ins Kloster der Filles-Dieu eingetreten sein. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie von diesem unwiderruflichen Entschlusse jetzt erst in Kenntnis setze. Ich wollte Ihnen einen Wortwechsel ersparen, der für uns beide peinlich gewesen wäre. Bedauern Sie dies nicht, mein Herr: alles, was Sie mir hätten sagen können, wäre zwecklos gewesen. Man ist stark, wenn es sich um die Rettung einer Seele handelt, zumal wenn es sie Seele eines Vaters ist. O, könnte ich sie eines Tages würdig machen, sie Seligkeit zu teilen, für sie sie geschaffen war uns sie ich auch zu verdienen hoffe, nicht durch meine Tugenden, aber durch die Gnade Gottes, die ich in besonderem und ausgezeichnetem Maße auf Sie herabflehe, mein Herr.«
Einen andern, fast in demselben Sinne abgefaßten Brief hatte Fräulein de la Tomassière am Morgen der Kreuzstiftungsfeier an ihre Mutter geschrieben. Am nächsten Tage gedachte sie wie gewöhnlich nachmittags auszugehen und sich zu den Filles-Dieu zu begeben, und von hier aus sollte Fräulein von Larnot die beiden Schriftstücke an ihre Adresse befördern lassen. Mit dieser Absicht hatte sie die Briefe geschrieben und zu sich gesteckt, und der im Herrn von Valenglin gerichtete war ihr ohne ihr Wissen aus der Tasche gefallen. Auf diese Weise erhielt der Edelmann durch einen Zufall schon am Abend vorher Kenntnis von der Absicht seiner Braut, die er erst am Tage darauf hätte erfahren sollen. Er hatte also die ganze Nacht zum Ueberlegen, was zu tun das beste wäre. Der nächstliegende Gedanke war der, Fräulein de la Tomassière zu sprechen, und gerade das hatte das junge Mädchen zu vermeiden gesucht. Aber vergebens, denn um zehn Uhr früh sah sie Herrn von Valenglin in das Zimmer treten, in dem sie sich mit ihrer Mutter befand. Er war durch den Garten gekommen, um nicht von den Dienstboten aufgehalten zu werden.
Bei seinem Anblick sprang Fräulein de la Tomassière heftig vom Stuhle auf und bekreuzigte sich sichtbarlich. Herr von Valenglin schritt gerade auf das junge Mädchen zu, ohne die Mutter, die auf ihrem Lehnstuhl saß und den unerwarteten Besuch erschreckt anblickte, zu begrüßen. Fräulein de la Tomassière empfing ihn mit ruhiger Festigkeit, obschon ein ungewöhnliches Feuer in ihren Augen flammte, und ihr Brief, der ihr zerrissen vor die Füße flog, ihr sagen mußte, daß der Angriff hitzig sein würde. Aber eben die Brutalität des Angriffs ermutigte sie zum Standhalten.
Nachdem Herr von Valenglin sich durch dieses In-Stücke-Reißen erleichtert hatte, sagte er etwas ruhiger:
»Verzeihen Sie mir diese Heftigkeit, mein Fräulein. Sehen Sie, der Wind will das Seine dazu tun: er trägt das Zeugnis Ihres Unrechts und des meinen von dannen!«
Ein starker Luftzug drang durch die Tür, die Herr von Valenglin hinter sich offen gelassen hatte, und schlug sie zu, während die Papierfetzen davonwirbelten.
»Was den Inhalt des Briefes betrifft, so kann ich ihn als nichts weiter ansehen, denn als eine eitle Träumerei. Lassen wir diese Torheiten und sprechen wir von ernsten Dingen. Wir haben solche, die uns betreffen, zu regeln.«
Das Fräulein blickte Herrn von Valenglin fest an. Sie konnte sich nicht erklären, wie der Brief schon in seine Hände gekommen war, aber es war jetzt nicht die Zeit, um sich mit solchen Nebensachen aufzuhalten.
»Uebrigens,« fuhr er fort, »wenn ich Ihren inständigen Bitten nachgäbe, so würde ich es ewig bereuen, und Sie hätten ein Recht, mir eines Tages vorzuwerfen, daß ich Sie sich selbst überlassen habe, anstatt Sie gegen die zweifellos hochherzigen Ideen zu verteidigen, die ich indes nicht billigen kann. Das zwischen uns bestehende Band berechtigt mich, Sie an der Erfüllung einer derartigen Absicht zu hindern; die Erfüllung würde zum mindesten die Verzweiflung eines Ehrenmannes, der Ihr Wort hat und es auch behält, zur Folge haben!«
Herr von Valenglin hatte die letzten Worte in festem und stolzem Tone vorgebracht. Frau de la Tomassière glaubte, es handle sich um irgendwelche Liebeshändel zwischen den Brautleuten, und wollte sich ins Mittel legen. Ein kurzes »Lassen Sie mich, Mutter« unterbrach sie unwirsch und ließ die gute Dame in ihr Fauteuil zurücksinken.
»Und Sie, mein Herr,« entgegnete Fräulein de la Tomassière, »was verlangen Sie von mir? Ich habe Ihnen nichts zu sagen, was Sie nicht schon wissen. Es war meine Absicht, nur diese Aussprache zu ersparen. Der Zufall hat mir vorgegriffen. Dennoch: Es bedarf keiner Auseinandersetzung. Bleiben wir dabei, mein Herr, wenn anders Sie nicht wollen, daß ich diesen Platz mit einem andern vertausche, an dem ich jetzt schon sein müßte, denn dann bliebe mir diese Prüfung erspart, die Sie mir wider Willen auferlegen.«
Herr von Valenglin hatte im Grunde geglaubt, daß er sich dem Fräulein de la Tomassière nur zu zeigen hätte, um sie in ihrem Vorhaben schwankend zu machen. Er baute auf die Ueberraschung, die sein Kommen verursachen und das junge Mädchen in Verwirrung setzen würde. Der Kunstgriff mit dem Briefe schien ihm ein sicheres Anzeichen dafür, daß Fräulein de la Tomassière vor seiner Gegenwart Angst hatte und auf diese Weise zugestand, daß sie sich dadurch erschüttert fühlen würde. Ueberdies kam ihm der Ton des Schreibens selbst so neu vor, daß er Fräulein von Larnot dahinter witterte. Er wähnte, es werde genügen, mit Fräulein de la Tomassière vernünftig zu reden, um sie zu andern Gefühlen zurückzubekehren. Er war der Meinung, daß sie von gesundem Geiste und maßvollem Charakter sei. Aber der feste und hochmütige Ton, in dem sie auf seine Vorhaltungen geantwortet hatte, bewies einen geradezu gefährlichen Eigensinn, und er begann zu ahnen, daß das, was ihm als fromme Laune ohne Bedeutung erschienen war, vielleicht etwas viel Ernsteres sein könnte. Er witterte die Gefahr und rüstete sich zur Verteidigung seiner Rechte; denn wenn es ihm auch als höchst wünschenswert erschien, daß La Tomassière baldmöglichst aus dem Fegefeuer kam, so fand er es doch hart, daß dies auf seine Kosten geschehen sollte. Seine Verlegenheit war so groß, daß er daran dachte, sich mit Frau de la Tomassière zu verbünden. Er hatte der guten Dame nie viel zugetraut. Nun sah er, daß ihre Tochter ihr ihre Absicht sorgfältig verheimlicht hatte, und er rechnete darauf, daß sie bei plötzlicher Offenbarung derselben in lautes Geschrei ausbrechen und ihre Bemühungen mit den seinen vereinigen würde, um ein Wesen, das ihr durch Gewohnheit unentbehrlich geworden war, in der Welt zurückzuhalten.
So geschah es denn, daß sie durch Valenglins Mund von der ihr drohenden Vereinsamung erfuhr. Herr von Valenglin hatte sich nicht getäuscht; die Wirkung seiner Worte überstieg alle Erwartungen. Frau de la Tomassière brach in laute, pathetische Klagen aus. Die Selbstsucht einer alten Frau, die sich verlassen sieht, mischte sich naiv in den Kummer, eine geliebte Tochter zu verlieren. Ihre Verzweiflung hätte, obgleich sie aufrichtig war, alle andern Menschen außer ihrer Tochter und Valenglin zum Lachen gebracht. Sie seufzte und lamentierte, daß ihre dicken Hängebacken in dem aufgeschwemmten Gesicht hin und her wackelten, und ihre fetten Hände zuckten an den kurzen Armstümpfen. Sie verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß weiland La Tomassière im Fegefeuer sehr wohl aufgehoben wäre, und daß er selbst am besten wüßte, wie er sich daraus zu befreien hätte. Der alte Fuchs hätte sich in seinem Leben aus weit schlimmeren Dingen herausgezogen. Dann fing sie wieder an zu schluchzen und stellte ihrer Tochter vor, was sie alles seit ihrer Kindheit für sie getan hätte, zählte die Tränke und Arzneien auf, mit der sie ihre kleinen Gebrechen geheilt hatte, nicht zu vergessen der Klystiere, die sie zum Besten ihrer Gesundheit und zur Reinerhaltung ihrer Haut hatte nehmen müssen. Dabei wischte sie sich ihre dicken, tränenden Augen, aus denen ein reicher Zährenstrom über die nassen Wangen rann.
Fräulein de la Tomassière schien fühllos gegen diesen Auftritt. Als er zu Ende war und ihre Mutter sich wieder in den Lehnstuhl fallen ließ, sagte sie zu Herrn von Valenglin:
»Da sehen Sie Ihr Werk, mein Herr ... Ja, glauben Sie denn, daß Sie mich durch eitle Worte von meinem Vorhaben abbringen, wenn solch ein Anblick es nicht vermag?«
Herrn von Valenglins Verlegenheit wuchs, als er nicht mehr Tränen auf ihrem Antlitz, auch keine Verwirrung in ihrer Stimme bemerkte; denn im ruhigsten und entschlossensten Tone fuhr sie fort:
»Ich habe geschworen, nicht mehr unter diesem Dach zu schlafen, und ich habe keine andre Wohnung als das Haus des Herrn. Leben Sie wohl, Mutter!«
Sie machte einen Schritt, um fortzugehen.
Frau de la Tomassière war von ihrem Lehnstuhl aufgesprungen. Ihr Schmerz war in Wut umgeschlagen, ihr Gesicht ward purpurrot. Sie ging mit erhobener Hand stracks auf ihre Tochter zu, und eine Ohrfeige schallte auf ihre dargehaltene Wange.
»Und nun, Mutter,« sagte das Fräulein kalt, »wollen Sie mich nun gehen lassen?«
Das war zu viel; Frau de la Tomassière erstickte fast vor Wut. Plötzlich sank sie zusammen wie eine tote Masse, und ihr hingestreckter Körper versperrte die Tür.
»Du gehst nicht hinaus, schlechte Dirne, oder du trittst deine Mutter mit Füßen!«
Fräulein de la Tomassière zögerte kaum einen Augenblick, dann bekreuzigte sie sich und schritt leicht über das lebende Hindernis fort. Valenglin sah ihre Knöchel und das Futter ihres Rockes. Auf der Schwelle drehte sie sich mit triumphierender, selbstzufriedener Miene noch ein Mal um, so daß Herrn von Valenglin, der ihr nachstürzen und einen letzten Versuch machen wollte, stehen blieb, so unnütz schien es ihm. Die Tür schloß sich, und man hörte nur noch die leisen Seufzer der Frau de la Tomassière, die immer noch am Boden lag. Herr von Valenglin hob sie auf und rief die Mägde. Die eine sagte, Fräulein de la Tomassière hätte soeben das Haus verlassen. Er ging auch, und zwar, wie er gekommen war, durch den Garten. Es war ein heller, schöner Tag, und von den Pappeln am Kanal fiel das vergilbte Laub Blatt für Blatt im Sonnenschein.
Fräulein de la Tomassières Uebertritt zum geistlichen Stande wurde überall lebhaft besprochen, und wer es wollte, konnte den Vorfall auch aus dem Munde der eignen Mutter erfahren. Alles, was in der Stadt mitzählte, besuchte die Verlassene und vernahm die Einzelheiten über diesen erstaunlichen Vorfall. Der guten Dame schmeichelte das Interesse, das sie zum erstenmal in ihrem Leben erweckte, und sie wiederholte die ganze Geschichte mit Behagen stets von neuem. Sie ließ bei gewissen Personen sogar eine Nachahmung dessen eintreten, was sich bei dem letzten Wortwechsel ereignet hatte, und ließ sich an derselben Stelle hingleiten, wo sie sich an jenem denkwürdigen Tage hatte fallen lassen.
Inzwischen waren auch die bösen Zungen am Werke. Die einen schalten die unnatürliche Tochter, die ihre alte Mutter wegen eines Hirngespinstes verlassen hatte. Andre bemerkten, daß Frau de la Tomassière sich über diesen Verlust, der sie in Verbindung mit dem ihres Gatten an den Rand der Verzweiflung hätte treiben müssen, ziemlich leicht hinwegzusetzen schien.
In Wahrheit fand Frau de la Tomassière für ihren doppelten Harm eine Linderung, die, wenn auch nur einseitig, ihr darum doch nicht minder von Wert war. Sie besaß nämlich einen sehr guten Appetit und war darum von ihrem Gatten stets im Schach gehalten worden. Er wollte nicht, daß sie der Neigung, viel zu essen, die Zügel schießen ließe, denn er fürchtete, daß die Fettleibigkeit, zu der seine Frau alle Anlage hatte, dadurch bis zur Lächerlichkeit gesteigert würde. Auch Fräulein de la Tomassière hatte es mit der Mutter ebenso gehalten, so daß sie sich jetzt zum erstenmal nach Herzenslust sattaß. Es war niemand mehr da, der sie zur Vernunft ermahnte, und diese Freiheit wog bei ihr schon eine Menge Uebel auf.
Ueber ihre Tochter gingen die Meinungen also auseinander. Manche rühmten ihr zartes Gewissen, bewunderten den seinen Takt dieses Opfers kindlicher Liebe und sagten ganz laut, daß das Kloster der Filles-Dieu unter seinem Dach jetzt eine wirkliche Heilige beherbergte und daß sie eines Tages gewiß heilig gesprochen werden würde. Die Geistlichkeit, die in dieser Angelegenheit das erste Wort zu reden hatte, zeigte sich sehr zurückhaltend. Die Domherren waren untereinander der Ansicht, daß Fräulein von Larnot über ihre Pflicht als Oberin hinausgegangen sei. Die Priester allein wüßten, ob eine Seele zu etwas berufen wäre; sie allein hätten zu bestimmen, was den Seelen frommt. Wer sich ihres Rates entschlüge, setze sich bedauerlichen Mißgriffen aus. Weder Fräulein von Larnot, noch Fräulein de la Tomassière hätten ihren Rat eingeholt, und darum waren sie auch verstimmt über beide und schüttelten den Kopf über die ganze Angelegenheit. Einige waren weniger zurückhaltend, sie ließen durchblicken, daß eine richtige Verteilung von Almosen oder irgend eine fromme Stiftung denselben Zweck erfüllt und zudem den Vorteil besessen hätte, dem Fräulein den einmal gefaßten Entschluß zu ersparen, der sie um die Welt, die Freiheit und ihre Jugend brachte.
Einer von ihnen meinte sogar, daß, da La Tomassière so geendigt hätte, wenig Aussicht vorhanden sei, daß dies alles überhaupt Erfolg hätte, und anderseits wäre das Fegefeuer – wenn eine plötzliche Reue ihn vor der Hölle bewahrt hätte – im ganzen nicht etwas so Schlimmes, daß die Kirche ihn nicht daraus erretten könnte; denn sie verfügt über ganz besondere Heilsmittel und macht diese den Frommen gern zugänglich. Aber Fräulein de la Tomassière schien das Ganze als eine Familienpflicht aufzufassen, in die sich niemand einzumischen hätte und deren sie sich auf ihre eigne Weise zu entledigen gedächte.
Nur Herr Virlong hielt Fräulein de la Tomassières Partei und sah ihren Fall als das Werk der Vorsehung an. Daß eine so glühende und entschlossene Seele den Schleier nahm, mußte für das Kloster der Filles-Dieu ein großer Segen sein. Gewiß zeichneten sich die dortigen Nonnen durch strenge Pflichterfüllung und Tugend aus, aber es fehlte ihnen an Inbrunst. Fräulein de la Tomassière würde diese heilige Ansteckung ins Kloster tragen, denn Inbrunst teilt sich mit, wie das Feuer, das ihr Abbild ist. Und Herr Virlong verglich das Fräulein schon mit einem Feuerbrande, der in trockenes Holz fällt. »Ein Kloster,« pflegte er zu sagen, »ist nicht dazu da, um frommen Seelen den letzten Schliff zu geben, sondern um Heilige zu bilden.«
Wenn man aber in Courjeu viel von Fräulein de la Tomassière sprach, so war auch von Herrn von Valenglin viel die Rede. Alle, die ihn besuchen wollten, fanden seine Tür verschlossen. Man benutzte diesen Vorwand zu der Behauptung, daß er halb rasend und trostlos bis zur Verzweiflung wäre, seit dieses grausam unverhoffte Geschick ihn betroffen. Manche dichteten ihm Schmerz über den Verlust des Fräuleins, andre über den ihres Heiratsguts an, nicht als ob sein eigner Besitz gering gewesen wäre, aber jedermann meinte, daß er die berechtigte Absicht gehabt habe, ihn durch jene Heirat zu mehren, und diese Schlußfolgerung schien um so wahrscheinlicher, als fast ein jeder es im gleichen Falle ebenso gemacht hätte.
In Wahrheit bereitete das Geschehene ihm tiefen Kummer, den auch die Zeit nicht linderte. Im Gegenteil. Es liegt in der Tat in der menschlichen Natur, das, was nicht mehr ist oder was hätte sein können, in rosigeren Farben zu sehen. So vergegenwärtigte sich auch Herr von Valenglin lebhaft, was er alles verloren hätte, und nie liebte er Fräulein de la Tomassière mehr, als seit der Zeit, da er die Vergeblichkeit dieser Liebe voll empfand. Die dicke Klostermauer entzog ihm die Aussicht, die er einst gehabt hatte, nicht; sie zeigte sie ihm wie durch ein Kristall, das ihren Wert verdoppelte und ihren Anblick stets von neuem belebte.
Man muß wohl glauben, daß er ernstlich litt, denn nach einigen Wochen erschien er mit einer so veränderten, vergrämten Miene, daß niemand ihn anzureden wagte. Man hatte dies auch vorher nur ungern getan, denn er war stets recht unwirsch und ungefällig gewesen, obwohl er zu Zeiten höflich und selbst dienstfertig sein konnte. Uebrigens verließ er sein Haus auch nur zur Dämmerstunde und machte stets denselben kurzen Weg: er ging langsamen Schrittes an der Klostermauer der Filles-Dieu entlang. Fast eine Stunde ging er so spazieren, tief in seinen Mantel gehüllt, denn es war Winter geworden. Seine Schritte hallten auf dem gefrorenen Boden. Wenn der Mond schien, blieb er länger draußen, um zu sehen, wie der silberne Halbmond über der Mauer erschien oder der Vollmond sich schweigend zum Himmel erhob wie eine runde, bleiche Hostie.
Im übrigen hütete er das Haus. Die Diener hörten ihn spät in der Nacht in seinem Zimmer auf und abgehen, bald schweigsam, bald aus vollem Halse fluchend, und am Morgen fanden sie das Licht bis auf den Rand des Leuchters abgebrannt. Bisweilen kam er in den Stall herunter. Es war gefährlich, hinter den Kruppen der Pferde vorbeizugehen, denn sie waren durch die lange, ungewohnte Rast recht übermütig geworden. Herr von Valenglin war ein tüchtiger Reiter und hielt sich sehr schöne Pferde zum Gebrauch. Er ritt elegant und kühn, denn er war früher Offizier bei der königlichen Reiterei gewesen. Und von seiner Dienstzeit her hatte er eine Vorliebe für Pferde und Waffen bewahrt. Die mannigfachsten Waffen hingen an seinen Wänden: Degen, Pistolen und Musketen, und er blickte sie wehmütig an in dem Gedanken, daß, wenn er noch wie einst an der Spitze seiner Schwadron stünde, das Klostertor sich ihm gar bald geöffnet hätte. Er sah sich im Geiste auf bäumendem Roß auf den Steinfliesen des Klosters mitten unter den entsetzten Nonnen; er ergriff Fräulein de la Tomassière mit vollem Arm, hob sie hinter sich aufs Pferd und entführte sie im Galopp trotz ihres Busenschleiers, ihrer Haube und ihrer Bekreuzigungen.
Aber diese Zeiten waren vorüber. Das Kloster beschützte die Flüchtige mit festen Riegeln und starken Mauern. Und Valenglin machte sich bittere Vorwürfe, daß er gegen Fräulein de la Tomassière nichts andres ausgespielt hatte als Worte und Vernunftgründe, auch daß er es nicht verstanden hatte, sich eine jener Freiheiten herauszunehmen, die das Heiraten zur Notwendigkeit machen und infolge deren seine Braut sich nicht aus einem einfachen Versprechen hätte herausziehen können. Er bedauerte sehr, daß er dieses unangebrachte Zartgefühl hatte walten lassen, das er jetzt zu bereuen allen Grund hatte.
Man begann bereits, Herrn von Valenglin in Courjeu zu vergessen, als eines Tages zur Mittagszeit das Portal seines Stadthauses heftig aufgestoßen ward und er mit seinen beiden Dienern herausgesprengt kam. Sofort erschienen an den Fenstern, die auf den Platz gingen, neugierige Köpfe. Das Schauspiel, das sich bot, war sehenswert. Kaum war Herr von Valenglin draußen, so begann das feurige Tier wütend auszuschlagen und sich zu bäumen, das Pflaster mit seinen Hufen zu schlagen und gefährliche Kunststücke zu machen. Man sah Herrn von Valenglin schon herunterfallen und sich die Knochen zerbrechen, aber er meisterte sein Pferd und entschwand an der Straßenbiegung den Blicken, während Frau Lucile, die Krämerin, ihrer Nachbarin, der Frau Babou, zutuschelte, daß Herr von Valenglin doch einen vornehmen Eindruck mache, und daß Fräulein de la Tomassière recht töricht gewesen war, einen solchen Gatten auszuschlagen.
Aber Herr von Valenglin hatte durchaus nicht seine Reitkunst beweisen wollen, als er so sein Haus verließ, sondern er wollte nach seinem Schloß Beaulignon reiten, um das Ende des Winters dort in noch größerer Einsamkeit zu verbringen. Am Abend wußte es bereits ganz Courjeu, und man war der Ansicht, daß Herr von Valenglin den Ort seiner Trübsal gut gewählt hätte. Fürwahr, sie konnte sich dort von sich selbst nähren in jener einsamen Behausung inmitten des Waldes und mehr als vier Meilen jenseits Les Gisquets, wo Herr von Aiguisy wohnte. Man bemerkte auch, daß Herr von Valenglin fortgeritten war, ohne sich von einer Seele zu verabschieden, nicht einmal von Frau de la Tomassière, deren Gesundheit infolge der allzureichlichen Mahlzeiten, denen sie in zu rascher Folge und zu zügellos frönte, ernstlich zu leiden begann.
Dieser Zug wurde Herrn von Valenglin sehr streng angerechnet. Im Grunde grollte ihm ein jeder, daß er sich so über alle hinwegsetzte und seinen Schmerz für sich allein trug, ohne sich einem andern anzuvertrauen; denn im Mitleid und Mitgefühl, das wir mit einem Unglücklichen haben, liegt allemal ein gutes Teil Neugierde darüber, wie der Getroffene sein Unglück erträgt, und im geheimen sagen wir uns, daß wir es an seiner Stelle besser ertrügen. Denn alles im Menschen ist Eitelkeit. Auch scheint es, daß wir ein Recht über unsre Nächsten haben, und daß es eine Art von Dünkel ist, seinen Schmerz allein und auf seine besondere Weise zu tragen. Diese selbstgewählte Vereinsamung ward Herrn von Valenglin also in ganz Courjeu nachgetragen. Erst hatte er sich eingeschlossen und nun entwich er in der unzweideutigen Absicht, jedem Trostversuch zu entgehen. Man gelobte sich darum auch, ihn in seiner Einsamkeit zu belassen, solange er wollte, und die schlechten Wege nicht in Kauf zu nehmen, um einen Menschen zu besuchen, der sich aus freien Stücken aus dem Kreise seiner Standesgenossen zurückgezogen hatte, als ob ihre Gesellschaft nicht nur unnütz, sondern selbst lästig und widerwärtig wäre. Man verfolgte ihn also nicht bis in den Schoß seiner Wälder, die in dieser Jahreszeit ganz entlaubt und trostlos sein mußten, denn es war mitten im Januar. Mochte Herr von Valenglin selbst zusehen, was in Beaulignon seiner harrte, von wo ihm ein scharfer Wind unablässig entgegenblies, solange er unterwegs war; aber er achtete wenig darauf und schien nur darauf bedacht, die Seitensprünge seines Pferdes zu verbessern, als wollte er durch dieses Kunststück bildlich andeuten, daß er die jähen Launen seines Geistes und Herzens in Zukunft zu zügeln gesonnen sei.
*
Tag für Tag ließ Herr von Valenglin sich eines seiner Pferde satteln und ritt stundenlang über Land. Erst am Abend kehrte er müden Hauptes heim, denn es war nur die eigne Ermüdung, die er in der seines Reittieres suchte. Sie unterstützte ihn in der Ablenkung von seinen Gedanken, die man nur im Freien findet, und Herr von Valenglin suchte in seiner Bewegung ein Heilmittel gegen die Melancholie. Der Anblick des Schlosses zerstreute ihn nicht im geringsten. Die Einsamkeit ist in einem geräumigen Bauwerk vollkommener als in einem kleinen. Sie wächst mit der Leere, die um uns ist, und nährt sich von dem Raum, der uns umgibt. Beaulignon war gerade der rechte Ort dafür. Das einzig Warme und Belebte waren die Ställe. Herr von Valenglin bereicherte sie durch zahlreiche Pferdekäufe, und zwar schaffte er mit Vorliebe wilde und störrische Tiere an. Es machte ihm Freude, sie zu zähmen, auf die Gefahr hin, sich den Hals zu brechen, so daß die Reitknechte stets daraus gefaßt waren, daß er einmal von einem Ausritt nicht wiederkommen würde.
Herr von Valenglin ging eine Zeitlang ganz in dieser einsamen Unterhaltung auf. Eines Tages, als er vom Ritt heimkehrte, wurde ihm gemeldet, daß Herr von Aiguisy ihn besucht habe. Die Radspuren seiner Kutsche waren noch in den Sand des Hofes eingedrückt. Herr von Valenglin verwunderte sich über diesen Besuch und dachte ein oder zwei Tage lang darüber nach, dann vergaß er ihn und setzte seine einsamen Ritte fort. Sie waren durchaus nicht harmlos, denn er kam gewöhnlich mit geröteten Sporen heim. Er ritt verschiedene Pferde zu Schanden, denn er verlangte alles Mögliche und Unmögliche von ihnen. Er jagte mit ihnen querfeldein, über die höchsten Hecken und die tiefsten Gräben weg, als ob er etwas abwechselnd erreichen oder fliehen wollte, ohne doch näher heranzukommen oder endgültig Abstand zu gewinnen, etwas, das der Beine und Lunge seines Pferdes spottete. Bisweilen ritt er sogar in voller Fahrt mit geschlossenen Augen, wie um die Gefahr mutwillig zu vergrößern. Eines Tages, als er sich wieder blind dem galoppierenden Pferde anvertraut hatte, sah er sich plötzlich im Hofe des Schlosses Les Gisquets und zwei Schritte vor Herrn von Aiguisy, der ihn höflich begrüßte und dieses ungewollte Erscheinen für einen Gegenbesuch hielt. Er bat ihn, doch ins Schloß zu kommen und sich einen Augenblick auszuruhen. Herr von Valenglin ging darauf ein und sprang von seinem keuchenden Tier ab.
Gewiß hatte Herr von Aiguisy jetzt eine jener Gelegenheiten, wo auch der Einsamste und Verbittertste das Bedürfnis empfindet, aus sich herauszugehen. Herr von Valenglin folgte ihm also in das niedrige Gemach, in dem ein mächtiges Feuer brannte. Aiguisy rief als wahre Komödiantenfigur, die er war, lauter imaginäre Diener bei Namen. Trotzdem hatte er nur einen Diener für alles, und mehr als einmal wusch der kleine Mann eigenhändig seine Wagenräder oder putzte die Kutschpferde, die den Gegenstand seiner Eitelkeit bildeten. Heute war der Diener fort. Herr von Aiguisy wußte sehr wohl, daß er gegangen war, um Hafer zu kaufen, und darum entschloß er sich auch, nachdem er sich die Lunge nach ihm ausgeschrien hatte, eigenhändig ein Tablett, eine Flasche Wein und zwei Gläser aus dem Wandschrank zu nehmen. Er füllte sie mit rötlichem Wein, schnalzte mit der Zunge, und nach einigem Schweigen, währenddem Herr von Valenglin sich die Füße am Feuer wärmte, begann er plötzlich:
»Fürwahr, mein Herr, es freut mich, Sie zu sehen, denn ich bin Ihnen Dank schuldig, und es drängt mich schon lange, Ihnen denselben abzustatten. Ich bin in einer gewissen, Ihnen bekannten Angelegenheit zu erfreut über Sie gewesen, als daß es mich duldete, in Ihren Augen länger als undankbar dazustehen. Die ganze Rotte von Courjeu nahm mit Behagen an, daß ich jene Tat hätte begehen können, die mir das Gerede des blöden Volkes zuschrieb. Nur Sie haben mich gegen die Lästerzungen in Schutz genommen und bezweifelt, daß ich im stande wäre, einen Menschen anders zu töten als im offenen Zweikampf und nach allen Regeln der Ehre, als ein Edelmann, der seine Genugtuung nimmt, und nicht als ein Bauernflegel, der am Weggraben mordet, ohne Forderung und Sekundanten. Das, mein Herr, vergißt sich nicht und läßt vieles andre vergessen, denn,« setzte er, durch Valenglins Schweigen ermutigt, hinzu, »ich hatte allen Grund, Sie zu hassen, und ich haßte Sie wie einen, der die Ursache einer nicht wieder gut zu machenden Beeinträchtigung und eines grenzenlosen Unrechtes ist.«
»Sie sehen, mein Herr,« entgegnete Herr von Valenglin kühl, »daß der Himmel sich Ihres Verdrusses angenommen und das Ihnen zugefügte Unrecht gerächt hat. Er hat das sogar mit besonderer Härte getan. Er hat mir Fräulein de la Tomassière in dem Augenblick genommen, wo ich glaubte, daß sie die meine sei. Er hat sie mit unwiderstehlicher Gewalt an sich gerissen, so daß wir sie nun alle beide verloren haben, Sie, ohne sie besessen zu haben, und ich, ohne sie zurückhalten zu können. Das macht etlichen Unterschied zwischen uns, mein Herr, und zwar nicht zu meinem Vorteil, denn wären Sie auch mein ärgster Feind, ich würde Ihnen niemals wünschen, an meiner Stelle zu sein und meine Qual zu erdulden.«
Herr von Valenglin wunderte sich selbst, daß er sich so ausgesprochen hatte. Er blickte um sich, als ob er nicht recht wüßte, wo er sich befände. Das Feuer knisterte und der Wein rötete die Gläser. Der kleine Herr von Aiguisy zappelte auf dem Stuhle herum. Sein Gesicht verschwand unter der Lockenfülle seiner Perücke. Herr von Valenglin blickte ihn aufmerksam an und fragte sich, ob er es wirklich selbst war, der da ein zusammenhängendes Gespräch mit einem Menschen führte, den er eigentlich nur von seiner komischen Seite und jedenfalls nicht genug kannte, um einen so heimlichen und so schmerzlichen Gegenstand mit ihm zu bereden. Hatte er sich nicht in die Wüste Beaulignon zurückgezogen, damit ihn niemand zur unrechten Zeit auf etwas anreden konnte, das er allen zu verschweigen gedachte? Ja, er war in die Einsamkeit geflohen, um jeder unzeitigen Neugier aus dem Wege zu gehen; er hatte das Verlangen in sich unterdrückt, einen Trost für seinen Kummer in dessen Mitteilung zu suchen; er hatte sich jeden andern Austausch seiner Gedanken als mit sich selber versagt, und nun überraschte er sich plötzlich dabei, daß er die heimlichsten Dinge einem Aiguisy anvertraute, der, hätte er ihn in Courjeu auf der Straße angeredet, nur einen trockenen Gruß und ein schneidendes »Guten Abend« erhalten hätte.
Ein seltsamer Mangel an Folgerichtigkeit! Aber gibt es nicht Augenblicke im Leben, wo unsre Zunge stärker ist als unser Schweigen, und das Mitteilungsbedürfnis den lange angehäuften Schmerz in unfreiwilligen Worten gleichsam durchschwitzen läßt? Ein solcher Zwang ist oft so mächtig, daß er uns dem ersten besten preisgibt, und selbst unsre Verwunderung kann uns nicht verhindern, dies zu tun.
»Gewiß,« hub Herr von Aiguisy wieder an, »ich sehe auch einen Unterschied zwischen uns beiden, »aber dieser Unterschied ist in meinen Augen ein ganz andrer und gereicht mir jedenfalls nicht zum Vorteil. Lassen Sie ihn mich Ihnen auf meine Weise erklären, mein Herr, und erweisen Sie mir die Ehre, sich etwas zu gedulden.«
Herr von Valenglin hielt seine Hände an das Feuer, um sie abwechselnd zu wärmen.
»Stellen Sie sich vor, mein Herr,« fuhr Herr von Aiguisy fort, »in welchem Zustande ich mich befand, als der alte Lump La Tomassière mir die Hand seiner Tochter so hartherzig ausschlug. Ich liebte sie, mein Herr, wie Sie sie nur lieben konnten. Es kommt hinzu, daß diese Verweigerung die höflichste auf der Welt war. Der schlaue Fuchs sagte mir nichts, was mich verletzen konnte, aber die Verachtung, die er gegen mich hegte, war darum nicht minder schmerzhaft.
»Sie werden mir sagen, mein Herr, und ich werde Sie sprechen lassen, daß ich die Ehre nicht verdiente und daß Fräulein de la Tomassière mehr wert war als ich. Sie würden damit recht haben, mein Herr, und die Folge hat es bewiesen, da Sie dort, wo ich gescheitert bin, durchdrangen und von ihrem Vater wie von ihr selbst gutgeheißen wurden, so daß sie ohne jenen unverhofften Zwischenfall jetzt Ihre Frau wäre.«
»Allerdings, mein Herr,« unterbrach ihn Herr von Valenglin, »aber macht dies nicht gerade mein Schicksal so bitter und lächerlich? Sehen Sie nicht, daß hier der Grund meiner Verzweiflung liegt, und daß ich den Tod herbeigewünscht habe, um ihr ein Ende zu machen? Denn meine Schuld ist's nicht, wenn mein Pferd mir nicht zwanzigmal die Knochen gebrochen hat! Ich sage Ihnen das jetzt in aller Ruhe, aber täuschen Sie sich nicht: bald wird mich wieder die Wut packen, die mich quält und mir keine Ruhe läßt. Verliert man solche schönen Hoffnungen ohne Verzweiflung? Welch ein Umschwung, mein Herr, wenn man sich an der Schwelle einer ersehnten Ehe sieht, und plötzlich schlägt eine schandbare Klostertür vor Ihrem Glücke zu! Dazu kommt noch, daß Fräulein de la Tomassière sich von selbst zu dem entschlossen hat, was geschehen ist, in der unumschränkten Unabhängigkeit ihrer Grausamkeit, mein Herr, und unter einem Vorwand, über dessen eigensinniges Festhalten ich noch für sie erröten muß!«
»Auch hierin muß ich Ihnen widersprechen,« entgegnete Herr von Aiguisy, und sein kleines Gesicht nahm eine wichtige triumphierende Miene an. »Darf ich wagen, von mir zu reden und einen Vergleich zwischen uns zu ziehen? Gewiß hat mich die Verweigerung dieses kostbaren Besitzes durch den alten La Tomassière bitter gekränkt, aber glauben Sie etwa, der Erfolg, den Sie bei ihm hatten, wäre mir nicht noch empfindlicher gewesen? Ich habe vor Wut geweint, als ich sie in Ihren Händen sah, nachdem sie den meinen entgangen war. Die Eifersucht, mein Herr, hat seine und arglistige Qualen. Ich habe sie alle ausgekostet. Ich habe Sie gehaßt, mein Herr; vergeben Sie mir diese seltsame Aufrichtigkeit, daß ich es Ihnen nicht verhehle. Wenn ich einem Menschen leidenschaftlich den Tod gewünscht habe, so war dies nicht der dicke, gemeine La Tomassière, sondern Sie, mein Herr, Sie, der reiche und glückliche Mann, der mir ein Gut entrissen hatte, das mir der stumpfsinnige Wille eines alten Grimmbarts und die Ohnmacht, es zu erzwingen, vorenthielt.
»Sie werden mir sagen, daß es ein Leichtes war, Ihnen meinen Haß zu zeigen und Händel zu suchen. Ich war nahe daran, als Sie am Tage der Beisetzung in der Kirche auf mich zukamen, um mich zu begrüßen. Aber Sie wissen nicht, mein Herr, was es heißt, klein und schwach zu sein. Ein Duell mit Ihnen! Ein Däumling, wie ich, lief Gefahr, sich lächerlich zu machen und entwaffnet oder aufgespießt zu werden wie ein Frosch, und ich hatte nach allem, was vorangegangen war, nicht Lust, auf den Kissen meiner Kutsche blutbedeckt zurückzukehren. Also entschloß ich mich, den furchtbaren Anblick eines glücklichen Rivalen zu ertragen. O, mein Herr, welche Qual ist das, und wie wenig muß der Tod eines geliebten Wesens neben dem Anblick eines andern sein, der von ihm geliebt wird! Ich verlor Fräulein de la Tomassière, und dies wegen eines Mannes wie ich, besser als ich, aber doch schließlich von Fleisch und Bein wie ich!
»Ein Mann nahm sie mir, um zu ihr zu sprechen, wie ich es getan hätte, um sie zu liebkosen, wie ich sie auch geliebkost hätte! Das war der Zustand, mein Herr, mit dem ich endigte, und finden Sie es seltsam, daß er Haßgefühle und Rachegelüste in mir erweckte? Ich habe sie gespürt, und ich habe unter den ersteren um so mehr gelitten, als ich mich nicht kühn genug fühlte, um die andern zu stillen. Ich hätte Sie unter den Rädern meiner Kutsche zermalmen mögen. Ich bin zur Hinrichtung des Pierre Graffard gegangen; ich hätte ihn aus ein Haar beglückwünscht, nicht weil er den dicken La Tomassière erschlagen hat, der doch bald am Schlage gestorben wäre, als vielmehr, weil er die ihm zugefügte Unbill gerächt hat, und darum wollte ich einem Bauern, der getötet hat, auch die Ehre erweisen, seinem Tode beizuwohnen.«
Der kleine Aiguisy zappelte auf seinem Lehnstuhl vor altem Verdruß und erneuerter Wut herum; trotzdem erschien er Herrn von Valenglin jetzt gar nicht mehr lächerlich.
»Alles geht vorüber, mein Herr,« fuhr Herr von Aiguisy fort, »und ich schwöre Ihnen, ich habe von dem Gift meiner damaligen Rache nichts mehr bewahrt. Ersehen Sie hieraus wieder einmal die Hinfälligkeit des Menschen, der in seinem Haß nicht andauernder ist als in der Liebe, und sehen Sie darin auch ein Vorzeichen, daß Sie genesen werden, wie ich genesen bin. Haben Sie nicht Trostgründe, die ich nicht hatte? Sie, mein Herr, sind von Fräulein de la Tomassière wenigstens nicht wegen eines Menschen verlassen worden, der Ihnen glich. Sie waren nicht der Schmach ausgesetzt, sie am Arm eines Kavaliers vorbeischreiten zu sehen, der Sie von Ihrem Platz verdrängt und Ihre Rolle aufgenommen hat. Die heilsamen Klostermauern der Filles-Dieu ersparten uns diesen verhaßten Anblick. Das Kloster sichert sie Ihnen für immerdar. Was sage ich, mein Herr, sie ist kein Weib mehr, und darum entgeht sie Ihrer Sehnsucht, denn das, was Sie in ihr suchten, ist nicht mehr. Sie hat sich Gott zu eigen gegeben. Ein schöner Rivale, den man nur dem Namen nach kennt, der weder Antlitz noch Gestalt besitzt! Ist das nicht etwas Beruhigendes? Und ist ein Grund da, sich dermaßen zu betrüben, wenn das, was man verloren hat, niemand gehört? Ich würde im Gegenteil stolz darauf sein, denn um Ihnen dieses Herz abspenstig zu machen, bedurfte es keines Geringeren als des Ewigen selbst. Glauben Sie mir, mein Herr, nicht der eitlen Sorge, die Seele des armen Tomassière aus dem Fegefeuer zu erlösen, sind Sie zum Opfer gefallen; das war nur der Vorwand und der äußere Anlaß. Klagen Sie Fräulein de la Tomassière lieber an, daß sie nach einem geheimen Berufe gehandelt hat, den sie selbst nicht kannte, und der selbst in der Ehe, bei Liebe und Kindern, durchgebrochen wäre. Dann hätten Sie statt einer Frau eine bissige, fanatische Betschwester gehabt, denn das ist die schlimmste und unangenehmste Art, und sie hätte Ihnen mit ihren frommen Launen und Einfällen das ganze Leben verbittert.
»Preisen Sie sich im Gegenteil glücklich, daß das Fräulein de la Tomassière sich zur rechten Zeit entdeckt und erkannt hat, und danken Sie Gott, daß er es so gewendet hat. Er hat sich wieder genommen, was ihm gehörte und was Ihnen immer nur zur Hälfte gehört hätte. Danken Sie ihm für diesen guten Dienst und zeigen Sie sich als verständig, wie ich es geworden bin, denn ich lernte das, was Sie als ein Unglück ansehen, als eine große Erleichterung betrachten; und so sollte es für Sie auch sein!«
Herr von Aiguisy sprach noch mancherlei über den nämlichen Gegenstand, und zwar mit einer Folgerichtigkeit und Gewandtheit, deren Valenglin ihn nicht für fähig gehalten hätte; denn wir sind alle daran gewöhnt, die Menschen nach ihrem Aeußern, ihren angenehmen oder komischen Eigenschaften zu beurteilen, und wir fragen nicht danach, was sie im Grunde und über das hinaus sind, was sie scheinen. Dieser so allgemeine Irrtum ließ Herrn von Aiguisy in Valenglins Augen als Narren erscheinen, während er Fräulein de la Tomassière nach ihrem Aussehen für eine tugendhafte Hausfrau und Gattin gehalten hatte, was sich nun grimmig Lügen gestraft hatte.
Als Valenglin sich von Herrn von Aiguisy verabschiedet hatte und wieder im Sattel saß, gab er zum ersten Male seit langer Zeit dem Pferde nicht die Sporen, sondern ließ es seines Weges schreiten. In diesem bescheidenen und ungewohnten Aufzuge ritt er wieder in Beaulignon ein, das er für die nächsten Tage nicht verließ. Dichter Schnee bedeckte die Erde, und Herr von Valenglin drückte das Antlitz gegen die Scheiben und blickte ins Land hinaus. Alle Unebenheiten waren durch den weißen Flaum zugedeckt; und nichts ist geeigneter als diese Eintönigkeit, um aufgerührte Seelen durch ihre Stille zur Besänftigung zu führen; man könnte sagen, sie begräbt die Vergangenheit unter ihrem Leichentuche, indem sie ihre Farben abdämpft und ihre Formen ebnet.
War es nun also dieser Anblick oder die Vernunftgründe des Herrn von Aiguisy, die auf seinen Geist einwirkten und seinem Schmerz ein Ende machten, jedenfalls entstand eine große Veränderung in Herrn von Valenglins Wesen. Auch der größte Schmerz verblutet sich, und es kommt vor, daß wir ihn sozusagen aus Gewohnheit weiterempfinden, ja, daß wir nur ungern von ihm lassen möchten, und wir lassen uns von ihm fort und fort bedrücken, weil es uns an Mut fehlt, seine nur mehr eingebildete Last abzuschütteln. In diesem Falle genügt der geringste Anlaß, um uns merken zu lassen, daß er fast ganz aufgehört hat, uns Bürde zu sein, und daß wir uns seiner mit geringer Anstrengung entledigen können. Irgend ein Zufall zeigt uns dann, was unsre Trägheit uns angetan hat, und bringt uns gegen sie in Harnisch. Dem einen verhelfen die unbedeutendsten Ereignisse dazu, und es gibt andre, die macht die Frühlingsluft oder der Anblick eines Gesichtes gesund; diese müssen reisen, jene im Lande bleiben. Auch die, bei denen sich das Uebel noch so sehr eingewurzelt hat, warten nur auf etwas Neues, das sie davon ablenkt. Auf Valenglin hatten die Reden des Herrn von Aiguisy derart eingewirkt. Das Bild des Fräuleins de la Tomassière entschwand allmählich seinen Blicken, es ward undeutlich und machte ihm keinen Eindruck mehr. Die Gewißheit, daß sie im ganzen genommen nur Gott gehörte, gab ihm eine eigentümliche Beruhigung und sogar eine Art selbstsüchtiger Befriedigung.
Bald suchte er noch andre in seiner Umgebung. Zunächst bereitete ihm der Lenz die Freude, die Wälder rings um Beaulignon wieder ergrünen zu sehen. Das Schloß wurde ihm wieder lieb, doch schien es ihm an verschiedenen Dingen zu fehlen, und er setzte sich in den Kopf, sie so bald als möglich zu beschaffen. Er ließ Handwerker aus Courjeu kommen. Sie führten mehrere Arbeiten aus, die ihn angenehm beschäftigten. Vor dem Schloß wurde ein viereckiges Wasserbecken gegraben und mit Figuren geschmückt. Sie spieen zwar kein Wasser, aber spiegelten sich anmutig in dem Wasser, das sie umgab und ihr verdoppeltes Bronzebild prächtig zurückwarf. Mehrere Wege wurden durch die Wälder geschlagen, und einer davon, der besonders breit war, führte zu einer Reitbahn im Grünen, in der Herr von Valenglin sein Pferd nach Herzenslust tummelte. Er war nicht mehr der Valenglin vom letzten Winter, der mit verhängtem Zügel über Land jagte.
Diese Veränderung und die Kunde von den neuen ländlichen Reizen von Beaulignon wurde durch Herrn von Aiguisy in Courjeu verbreitet; er fuhr an allen Türen vor, um davon zu reden, und die Folge davon war, daß die Herren von Parfondval und Les Rantours einen Besuch in Beaulignon abstatteten. Sie fanden Herrn von Valenglin in aufgeräumter Laune und etwas stark geworden. Er führte sie überall umher und sie verabschiedeten sich sehr zufriedengestellt, auch erwiderte er ihren Besuch. Er kam im Laufe des Sommers mehrfach nach Courjeu; ein Jahr nach dem Tode des dicken La Tomassière, der, wie bekannt, Mitte September ermordet worden, machte er der Witwe die gebührende Aufwartung.
Frau de la Tomassière war sehr stark geworden. Sie empfing ihn in der liebenswürdigsten und ausgelassensten Weise, und Herr von Valenglin fragte sich im stillen, als er ging, ob es wirklich dieselbe Frau war, die er quer vor der Tür am Boden hatte liegen sehen, als die Tochter über den zusammengesunkenen Körper der Mutter so schön hinweggeschritten war. Sie schien all ihren Kummer vergessen zu haben. Er erkundigte sich nach der Nonne. Sie war stolz darauf, denn die Tochter stand bereits im Geruche der Heiligkeit. Ja, sie segnete die Stunde jener glücklichen Berufung und schien ganz vergessen zu haben, daß sie die Folge eines noch kaum verjährten Todes gewesen war. In der Tat dachte sie gar nicht mehr daran. Gab sich nicht schon jemand alle Mühe, den La Tomassière aus dem Fegefeuer zu erretten, wo er ohne Zweifel sein unmäßiges Verlangen nach Mägden und Schäferinnen abbüßte? Denn Frau de la Tomassière verhehlte es niemand, daß sie sich hinsichtlich der ehelichen Treue ihres Gatten ernstlich zu beklagen hatte, denn er war ihr solche schuldig und hatte sie seinerseits nicht eben sehr gehalten, obschon sie gern bereit gewesen wäre, ihn an sich zu fesseln. Und die dicke Frau kokettierte, als ob ihr aufgegangener und weichlicher Leib noch eine leckere Weide für jeden sei, den es danach gelüstete.
Herr von Valenglin erzählte alles, was er gehört hatte, am nächsten Tage dem kleinen Aiguisy wieder, und sie mußten beide lachen. Die zwei Edelleute besuchten sich jetzt häufig und schienen ohne einander nicht mehr auszukommen. Herr von Aiguisy belustigte Herrn von Valenglin durch sein komisches Wesen und seine Lebendigkeit, und außerdem bewahrte er ihm ein dankbares Empfinden. Daraus entstanden beständige Beziehungen zwischen Les Gisquets und Beaulignon, wo die mageren Kutschpferde des Herrn von Aiguisy sich an Valenglins Hafer vollfraßen, daß ihr Wanst und ihre Geschirre schier platzten.
*
Das Kloster der Filles-Dieu in Courjeu war Anno 1620 durch Frau de la Colarderie gegründet und von der frommen Dame dreißig Jahre lang mit bewundernswerter Festigkeit geleitet worden. Diese anfängliche Strenge ließ in der Folgezeit etwas nach und wurde erst unter Fräulein von Larnot wiederhergestellt, die die Leitung des Gemeinwesens im Jahre 1673 übernahm.
Fräulein von Larnot war eine knochige Person von gelber Gesichtsfarbe. Sie hielt strenge Zucht und duldete keine Versäumnis. Man betete und arbeitete bei den Gottestöchtern mit vollkommenster Pünktlichkeit. Alles bis auf die kleinste Einzelheit war genau geregelt. Fräulein von Larnot überzeugte sich von allem selbst. So konnte die gute Ordnung, die sie geschaffen, in ihrer Makellosigkeit fortbestehen, und doch erstaunte sie bisweilen, daß diese trefflichen Grundsätze, diese Vollkommenheit, keine besseren Früchte zeitigten. Gott mußte seine Freude daran haben, wenn ihm so gedient wurde, aber er bezeigte seine Zufriedenheit durch keine besondere Gnade. Das sah Fräulein von Larnot mit Bitterkeit ein. Gott schenkte seinen Mägden nur ganz gewöhnliche Beweise seiner Huld, solche, die er keinem versagt und um die er nicht mit sich handeln läßt. Aber er hatte sich aus dieser Herde kein bevorzugtes Lamm erkoren, das er zu sich heraufgezogen hätte, um es, wie er bisweilen tut, auf den Höhen seiner besonderen Gnade wandeln zu lassen.
Die Nonnen von Courjeu waren gute Nonnen; sie liebten ihre Pflicht und suchten sie zu erfüllen, so gut sie nur konnten. Trotzdem erreichte keine einen höheren Grad von Frömmigkeit, der den ihrer Gefährtinnen überragte. Fräulein von Larnot litt unter dieser Nichtachtung Gottes gegen ihr Haus, in dem sie alles so wohl eingerichtet hatte, damit es zu einem der Schafställe würde, aus denen der Herr sich die Lämmer seiner Weide auswählt. Und oft warf sie ihm die Gleichgültigkeit vor, mit der er ihr heißes Bemühen, die Seelen auf sein Kommen vorzubereiten, lohnte.
Vergebens suchte sie die Lauheit ihrer Töchter zu bekämpfen, denn in ihr sah sie den Grund zu der wohlwollenden Nichtachtung, die ihr erwiesen ward. Sie berief Prediger zu ihrer Unterstützung, und es kamen die mannigfachsten, die sie aus ihrer Starre aufzurütteln suchten und ihnen den Nerv und Schwung geben sollten, der ihrem Fluge mangelte. Aber ihre Anstrengungen waren vergeblich. Weder schöndurchdachte Reden noch ein Aufwand von Stimmmitteln wollte wirken, trotzdem Fräulein von Larnot durch strenges Fasten und wohlangebrachte Härte nachzuhelfen suchte. Alles blieb ohne Wirkung, und sie begann ihrer Herde zu fluchen, deren träges Verharren auf der Stelle ihre Geduld brach. Nicht eine war unter diesen Seelen, die sich durch einen brünstigeren und leidenschaftlicheren geistlichen Durst hervortat.
Sie wunderte sich über ihr Ungemach und geriet in einen Zustand frommer Wut. Eines Tages freilich glaubte sie, daß die große Stunde geschlagen hätte. Der Pfarrer von Saint-Grégoire führte ihr eine Art Bettelmönch zu, den er platt auf dem Bauche liegend in der Küche betroffen hatte, wie er seine Nahrung in einem Haufen von Abfällen suchte. Es war ein baumlanger, rothaariger Geselle mit starker Stimme, der an den Kreuzwegen predigte und vom Geist erfüllt schien. Herr Virlong bot ihn Fräulein von Larnot an. Eine Woche hindurch beschwor der heilige Rüpel die ob seiner tollwütigen Gebärden und seines trivialen Wortschwalls entsetzten Nonnen, während er mit seinem langen, behaarten Arme, der aus einem fettigen Aermel hervorsah, ein hartes Holzkruzifix schwenkte. Infolge seiner Predigt fiel eine der Nonnen in Verzückung und hatte angeblich Visionen. Die ganze Klostergemeinde erschien und bewunderte sie in ihrer Zelle, wo sie auf ihrem Strohsack mit verdrehten Augen und bebenden Lippen lag. Man brachte sie auch zum Reden, aber es waren nur wirre und törichte Worte, die man aus ihr herausbekam. Fräulein von Larnot sah sich grausam enttäuscht, aber ihr Zorn wuchs noch mehr, als man gewahr wurde, daß der gute Bruder das Holzkruzifix vor seinem Fortgehen mit einem reichen Silberkreuz vertauscht hatte. Er hatte es aus der Sakristei entnommen, zu der die Visionärin die Schlüssel führte.
Fräulein von Larnot schwieg sich über den doppelten Mißerfolg aus, als sie einige Monate danach Fräulein de la Tomassière zu sich kommen sah. Diese erbat ihren Rat betreffs ihrer Gewissensskrupel und Bedenken in Hinsicht auf die ewige Seligkeit ihres weiland Herrn Vaters. Schon bei dieser ersten Zwiesprache eröffnete ihr das junge Mädchen aus freien Stücken den von ihr gefaßten Plan. Fräulein von Larnot fragte nun zwar herzlich wenig danach, was aus dem armen La Tomassière in der andern Welt werden könnte, aber worauf es ihr ankam, das war, daß sie in seiner Tochter das gefunden hatte, was sie so oft gesucht, nämlich eine starke und glühende Seele, die solcher Empfindungen fähig war. Denn der Plan des Fräuleins ließ auf ein seltenes Zartgefühl und einen wagemutigen Charakter schließen; zögerte sie doch nicht, Hals über Kopf eine Laufbahn einzuschlagen, deren erste Unannehmlichkeit darin bestand, der Welt und sich selbst zu entsagen, ohne daß der Erfolg darum sicher war.
Aus alledem schloß Fräulein von Larnot, daß, wenn sie erst einmal von dem kindlichen Vorsatz befreit wäre, ihrem Nächsten unter solchen Umständen zu helfen, wo auch die Nächststehenden gern jede Hilfe versagen, eine großartige Nonne aus ihr werden würde. Sie besaß den Schwung, die Kühnheit, die zum Höchsten führende Verzückung und jene handfeste Tatlust, die die Heiligen ausmacht. Und Fräulein von Larnot fühlte die Kraft in sich, aus einer Seele solchen Schlages eine Heilige zu machen. O, was würde sie in ihren Händen werden!
Die Gelegenheit war zu günstig, als daß Fräulein von Larnot hätte widerstehen können, und so nahm sie die Absicht des Fräuleins, den Schleier zu nehmen und der Welt Valet zu sagen, als kluge, erfahrene Frau anfänglich recht kühl auf und machte allerhand Einwendungen, um den Eigensinn des jungen Mädchens zu bestärken. Geschickt, wie sie war, tat sie zuerst erschreckt über die Eigentümlichkeit und Größe eines solchen Opfers, und dadurch schmeichelte sie der Eitelkeit des Fräuleins, etwas zu tun, das sie von den andern unterschied und über den Durchschnitt hinaushob. Allmählich aber, und anscheinend nur mit innerem Widerstreben, trat sie ihren Ansichten bei und machte ihr bestimmte Hoffnung auf die Erlösung ihres Vaters. Warum sollte Gott ihr nicht eines Tages selbst die Gewißheit geben, daß ihr Opfer angenommen und ausreichend befunden war? Vielleicht würde sie eines Tages von ihm selbst die frohe Botschaft erhalten, und wenn die Rechnung, deren Lösegeld sie war, damit erledigt und beglichen war, so würde Gott sie gewiß nicht mehr freigeben. Und Fräulein von Larnot machte dem jungen Mädchen große Hoffnung auf eine jener mystischen Vereinigungen, wo der Herr zum Gemahl wird, eine Vereinigung, die so fortdauernd, innig und fest wäre, daß sie darin vollen Ersatz für die irdische Liebe finden würde, der sie entsagt hatte. Was ist alle irdische Liebe neben der himmlischen, und gibt es zwischen beiden überhaupt eine Wahl, da die eine von Natur unvollkommen und ungewiß ist, die andre aber unerschütterlich und unbedingt?
Fräulein von Larnot machte ihre Sache so gut, daß sie, wie wir wissen, bald siegte und sich in Besitz einer ganz auf sie hörenden Seele sah, die sie nur noch den Gipfeln der Mystik und der frommen Betrachtung entgegenzuführen hatte. Fräulein von Larnot hatte alle Anlagen zur Gelegenheitsmacherin, und wahrscheinlich würde diese gefällige Rolle im weltlichen Leben die ihre gewesen sein. Sie kannte keine Freude als die, Seelen zu leiten, hatte keinen Sinn als für die Regel, und war im Grund auch nicht imstande, über die harte, anerworbene, gewollte Frömmigkeit hinauszugehen. Ehrgeizig war sie nur für andre, sie freute sich scheelen Blicks ihrer Führerdienste, ohne ihnen in ihrem Ausstieg folgen zu können.
In Fräulein de la Tomassière hatte sie also eine Glut und einen Schwung entdeckt, die sie freudetrunken machten, und so entschloß sie sich unverzüglich, die Gelegenheit wahrzunehmen, um endlich jenes aufs innigste erwünschte Ziel zu erreichen und einen jener besonderen Beweise göttlicher Gnade zu erhaschen, deren Abglanz nicht nur auf die fällt, die ihr Gegenstand sind, sondern auch auf den Ort, an dem sie sich kundgeben. Um alles zu sagen, erträumte sich Fräulein von Larnot nichts geringeres als ein Wunder, an dem sie einen nahen Anteil haben, das dem Kloster und namentlich seiner Oberin einen unvergleichlichen Glanz verleihen würde. Es gelang ihr auch, Fräulein de la Tomassière zu überzeugen. Wenigstens nahm das junge Mädchen die Möglichkeit mit seltsamer Leichtigkeit hin. Sie war entschlossen, zu Gott emporzusteigen und sich durch nichts hemmen zu lassen, nur um Verzeihung für ihren armen Vater zu erlangen; und dieser ungewöhnliche Weg erschien den beiden Frauen der kürzeste zur Erreichung ihrer Absichten, nach der sie, wenn auch aus verschiedenen Gründen, mit gleicher Inbrunst trachteten.
Der Fortschritt des Fräuleins de la Tomassière auf dem Wege des Lichtes war wunderbar und unaufhörlich. Fräulein von Larnot ließ einiges darüber verlauten. Seit ihr Kloster eine Persönlichkeit besaß, die so große Dinge versprach, umgab sie sich mit einem Nimbus von mystischer Wichtigkeit. Ihre Befriedigung wuchs von Tag zu Tag, und sie wußte sich vor Freude kaum noch zu halten. Das währte so den ganzen Sommer hindurch. Auch der Herbst wäre in gleicher Weise verflossen, wenn ihre Befriedigung gegen Mitte Oktober, in der Zeit, wo Fräulein de la Tomassière vor einem Jahre zu den Gottestöchtern gekommen war, nicht noch mehr gewachsen wäre, denn das Fräulein gestand ihr gewisse bedeutungsvolle Vorzeichen der Gunst, die sie vom Höchsten erflehte.
Es war kein Zweifel darüber: Gott kam ihr von Tag zu Tag näher, und die Finsternis, welche das Unsichtbare von der Kreatur trennt, begann sich mehr und mehr zu lichten. Die Nähe der göttlichen Gegenwart war gewiß und unvermeidlich. Gott kam ihr entgegen, der Abstand zwischen ihm und ihr nahm immer mehr ab, und sie empfand bereits jenes mystische Erschauern, ohne daß sie sich im geringsten gefürchtet hätte.
Fräulein von Larnot nahm diese Mitteilung mit geheimer Freude auf, denn es lag nicht in ihrem Wesen, ihre Gefühle offen zur Schau zu tragen. Sie begnügte sich damit, Fräulein de la Tomassière zu verdoppeltem Eifer und unermüdlicher Beharrlichkeit anzuhalten. Das Gebet hat die Kraft, Gott zu seiner Erhörung zu zwingen, ja, es tut ihm Gewalt an, und Fräulein von Larnot brannte vor Ungeduld, daß die Dinge sich so weiterentwickelten. Fräulein de la Tomassière war und blieb ganz Ohr für den himmlischen Ruf. Aber erst im Anfang des Frühjahrs sagte ihr die innere Stimme, wo und an welchem Orte die wunderbare Begegnung stattfinden sollte.
Am Ende des Gartens, nahe am Gemüsegarten, stand ein kleines Gebüsch von Hagebuchen. Hier, sagte ihr die Ahnung, würde sich das Wunder vollziehen. Jeden Tag ging sie dorthin, um zu beten. Mehrmals war es ihr, als sollte der letzte Schleier sich lüften, und diese Empfindung gab ihr eine Mäßigung und Ruhe, eine Geduld, wie sie ein ersehntes Ereignis gibt, wenn sein Eintreten nahe und sicher bevorsteht.
Fräulein von Larnot verzehrte sich derweil in Ungeduld. Diese Langsamkeit brachte sie um. Die Heiterkeit des Fräuleins setzte sie schier in Verzweiflung. Ihr wäre es lieber gewesen, sie hätte die göttliche Stunde durch Buße und Kasteiungen schneller herbeigerufen. Aber Fräulein de la Tomassière setzte diesem Verlangen sanften Widerstand entgegen. Hätte Fräulein von Larnot es wagen dürfen, sie hätte diese stolze Törin in ihre Zelle oder in die Kapelle eingesperrt; dies sind in der Tat angemessenere Orte für göttliche Dinge, als ein kleines Versteck von geschnittenen Baumhecken, zwei Schritt weit von Lattich und Kürbissen.
Wenn Fräulein de la Tomassière nach ihrem Gebüsch ging, so schweifte die Oberin rings herum und beobachtete sie durch das Blattwerk hindurch, während sie fieberhaft auf und abging. Eines Donnerstags im Anfang Mai sah sie das Fräulein früher als sonst aus ihrem Versteck auftauchen und auf sie zukommen. Sie wollte ihr wie stets ein »Nun, meine Tochter ...?« entgegenrufen, als Fräulein de la Tomassière schon von weitem rief:
»O, fromme Mutter, er ist um drei Uhr erschienen. Ich sah ihn, wie ich Sie sehe!«
Fräulein von Larnot wäre fast auf den Rücken gefallen; sie erholte sich von ihrem Erstaunen erst, als das, was Fräulein de la Tomassière sagte, ihren lebhaften Verdruß wachrief. Er war also gekommen, hatte sie getröstet und nahm ihr Opfer an, ja, erwählte sie zu einer seiner geistlichen Bräute. Fräulein von Larnot kniff ihre trockenen Lippen zusammen. Wahrlich, ihr Kloster hatte Besseres verdient, als dieses kleine Wunder ohne jedes Aufsehen. Sie hatte eine Vision voller Donner und Blitz, voller Schrecken und Verzückung, mit Erdbeben und geöffnetem Himmel erwartet, und nun sollte sie sich mit einem mageren Buchengebüsch, einer Vision am Gemüsegarten begnügen!
Und als sie fragte, in welcher Gestalt denn der Seelenbräutigam erschienen sei, erfuhr sie, daß er die Gestalt eines großen, etwas bäuerischen Jünglings mit herzensguter Miene gehabt hätte ...
Wie dem aber auch sein mochte, das Wunder stand doch fest, und es galt, möglichsten Vorteil daraus zu ziehen. Herr Virlong wurde zuerst in Kenntnis gesetzt und fragte das Fräulein lang und breit aus. Ihre Antworten waren überzeugend. Der himmlische Bräutigam besuchte sie des öfteren, und ihre Gespräche waren innig und gemessen.
»Er ruht bei mir von allen denen aus, die ihn belästigen und quälen. Ich frage ihn nicht, er schweigt bisweilen auch und lauscht dem Lied der Vögel oder hebt Strohhalme auf und dreht sie zwischen den Fingern.«
Herr Virlong riet der Oberin, dem Bischof von diesem Ereignis Mitteilung zu machen. Herr de la Bigourgère nahm lebhaften Anteil daran und versprach, persönlich nach Courjeu zu kommen, sobald er seine Trinkkur in Aiguesdoues, die er im Augenblick gebrauchte, beendigt hätte. Man kam also überein, die Sache geheim zu halten, bis sie der Diözese und dem ganzen Königreich verkündigt werden konnte, und Fräulein de la Tomassière fuhr einstweilen fort, sich nach dem Gebüsch zu begeben, von Fräulein von Larnots mißgünstigen Blicken gefolgt.
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Herr von Valenglin wäre am liebsten nicht zu dem Festmahle gegangen, zu dem er von den Domherren geladen war, aber er sollte Herrn de la Bigourgère daselbst treffen, seinen alten Bekannten von Aiguesdoues, wo er dem Spiel und der Galanterie gefrönt hatte, als er noch nicht daran dachte, zu heiraten; und Herr von Aiguisy bestand darauf, daß er ohne ihn dieser Einladung entspräche; denn er selbst lag zu dieser Zeit krank danieder. Er war mit seiner berühmten Kutsche beim Einfahren eines Gespannes von Füchsen, das ihm Herr von Valenglin geschenkt hatte, verunglückt und hatte ein Bein gebrochen. Die beiden Edelleute sahen sich sehr oft. Herr von Valenglin hatte diese Gelegenheit wahrgenommen, um das Schloß Les Gisquets, das dem Einsturz nahe war, auf seine Kosten wieder in stand setzen zu lassen, und Herr von Aiguisy hatte diese Liebenswürdigkeit gern angenommen. Als Gegenleistung bot er seinem Freunde alle seine komischen Züge und Eigenheiten, und Herr von Valenglin hieß diesen seltsamen Tausch gut, denn er gewährte ihm etwas Zerstreuung. Er gab also den dringenden Bitten des Herrn von Aiguisy nach und folgte der Einladung des Herrn de la Bigourgère nach Courjeu.
Das Mahl fand im großen Kapitelsaal statt; gegen Mittag setzte man sich zu Tisch. Es war eine große Gesellschaft. Außer der Geistlichkeit waren etwa fünfzehn Gäste geladen, und keiner hatte die Einladung abgelehnt, sowohl wegen der guten Mahlzeit, als wegen der Ehre, mit Herrn de la Bigourgère zusammen zu speisen, denn er erschien selten in Courjeu und beschränkte seine Rundreisen auf die nächste Umgebung seines Bischofssitzes. Der Prälat war ein seiner und gescheiter Herr, und deshalb hatte er den in den Visionen des Fräuleins de la Tomassière liegenden Vorteil auch gleich erkannt. Schon sah er die Menge der Neugierigen nach Courjeu pilgern, zumal die Stadt auf der Straße nach Aiguesdoues lag, wo die beste Provinzial- und Hofgesellschaft alljährlich zur Badezeit erschien und in den Bädern und Trinkquellen die erforderlichen Kräfte suchte, um sich den Rest des Jahres hindurch der Gesundheit erfreuen zu können. Herr de la Bigourgère war fortan also in der Lage, zwei Schritt weit von den Heilmitteln für den Leib solche für die Seele bieten zu können, so daß erfolglosen Brunnentrinkern und solchen, denen das Baden schlecht bekam, die weder von den Quellen noch von den Teichen geheilt wurden, noch die Pilgerfahrt nach Courjeu offen stand, wo sie, wenn nicht völlige Erleichterung, so doch die Gottesgabe der Geduld finden konnten, die sie ihre Gebresten dann leichter ertragen lehrte.
Mehr noch: Herr de la Bigourgère schien ein so schlichtes und einfaches Wunder nicht nur nicht zu verachten, wie Fräulein von Larnot, er hielt vielmehr die größten Stücke darauf. Sein Vertrauen war ohne Grenzen. Trotzdem wollte er sich nach den näheren Umständen der Erscheinung selbst erkundigen. Was Fräulein de la Tomassière sagte, hätte auch den Ungläubigsten entwaffnet. Herr de la Bigourgère aber war so befriedigt darüber, daß er sich entschloß, das Wunder noch an diesem Tage bekanntzugeben und die Bevölkerung von Courjeu zu berufen, um den Herrn zu preisen, der der Stadt einen solchen Beweis seiner Gnade geschenkt hatte, indem er sie unter allen im Bistum zum Schauplatz seiner sichtbaren Gegenwart auserkor.
Aber Herr de la Bigourgère hatte es als feiner Kopf für angezeigt gehalten, die Personen, deren Geist von Natur zweifelsüchtig ist, zuerst von dieser heiligen Neuigkeit zu überzeugen, und leider war es gerade der vornehmste Adel von Courjeu, unter dem sich solche Individuen befanden, allen voran Herr des Rantours, der es stets darauf absah, die Kirche in Verlegenheit zu bringen. Ebensowenig sicher war man seines Freundes, des Herrn von Parfondval, sowie einiger andrer Edelleute, und Herr de la Bigourgère hatte darum den Plan gefaßt, sie an der Tafel zu vereinigen und ihnen das Ereignis höchstselbst zu verkünden; dann würden sie nicht wagen, ihm ins Gesicht zu trotzen, und er würde ihre Stimme desto eher gewinnen. War matt erst einmal so weit, so würde die große Mehrheit sich aus Nachahmungstrieb ihrem Urteil anschließen, und was schließlich den Rest und die geschwätzige Schar der Weiber betraf, so sind diese ja stets bereit, wunderbare Beweise dessen, was sie glauben, gutzuheißen, so daß Herr de la Bigourgère es für unnötig hielt, sich hiermit besonders zu befassen, und seine Aufmerksamkeit vielmehr auf das erlesene Publikum beschränkte, das er zu allererst bereden wollte.
Er wartete sehr klug das Ende des Mahles ab, das übrigens reichhaltig und kräftig war, denn es ist erwiesen, daß Weine und gute Küche die Geister günstig vorbereiten und sie zu einer wenigstens vorübergehenden Wohlgeneigtheit stimmen. Erst als er die Gäste in den Zustand versetzt glaubte, in dem er sie wünschte, hieß er die Türen schließen und die Diener hinausgehen. Dieser mit lauter Stimme gegebene Befehl rief allgemeines Erstaunen wach, und aller Augen richteten sich auf den Prälaten. Unwillkürlich trat Schweigen ein, und Herr de la Bigourgère hüstelte dreimal leicht.
Er war ein guter Redner, und an diesem Tage sprach er so schön wie keiner. Den Anfang mochte ein Loblied auf Courjeu, insbesondere auf seinen zahlreichen und vornehmen Adel, dessen Frömmigkeit er besonders betonte. Das alles erheischte seinen Sohn. Er komme zwar spät, aber desto glänzender wäre er. Die Stunde der Vergeltung habe geschlagen.
Alle hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Herr des Rantours hielt sich die Hand ans Ohr, um besser zu hören. Herr Virlong lächelte glückselig, soweit dies sein mageres Gesicht zuließ. Jeder hörte schon im voraus, was Herr de la Bigourgère sagen würde.
»Gott ist nicht undankbar, meine Herren, und der Beweis seiner Fürsorge konnte nicht länger ausbleiben. Er gibt ihn uns heute und gewährt Ihrem Bischof die Freude, ihn Ihnen kundzutun. Gott ist unter uns, meine Herren, und ohne daß Sie ahnten, wo. ›Ich werde kommen wie ein Dieb in der Nacht‹, heißt es im Evangelium, sicut fur ... Und er ist gekommen, er ist gekommen und hat unter uns eine weltliche Seele erwählt, auf daß sie zur frommen Erkorenen seiner Gnade würde, und er hat ihr die gewöhnlichen Beweise seiner Huld versagt, um sie seiner doppelt würdig zu machen. Er hat sie sich zum Eigentum erkoren. Er hat sie erwählt und uns in ihr. Er ist ihr erschienen, und die, die er so begünstigt hat, ist Ihnen, meine Herren, wohlbekannt ...«
Und Herr de la Bigourgère nannte Fräulein de la Tomassières Namen. Ein überraschtes beifälliges Murmeln war die Antwort. Alles warf Herrn von Valenglin Blicke zu. Herr de la Bigourgère fuhr fort:
»O, meine Herren, welche Gnade und welche Huld! Er hätte ihr einen Heiligen oder einen seiner Engel senden können, die seine gewöhnlichen Boten sind. Er hat mehr getan. Er ist selbst gekommen, in eigner Person, und er hat, um sich dieser Seele zu offenbaren, die Gestalt seiner göttlichen Dreieinigkeit gewählt, die die rührendste und schönste ist, die, an der unser Hoffen hängt, da er sich in ihr für uns geopfert hat. Nicht als schrecklicher Gott vom Sinai hat er sich ihr gezeigt; in Sanftmut und Frieden ist er zu ihr gekommen, er, Jesus selbst, als göttlicher Bräutigam, und zwar nicht, meine Herren, wie er am Kreuze gestorben ist, sondern so, wie er sich am Herd der Martha und Maria niedergelassen und mit ihnen gesprochen hat. O, meine Herren, welche Freude war es für unsre Schwester, das Antlitz des Erlösers zu sehen, kein Haupt mit einer Dornenkrone, sondern in blendender Jugend, Güte und Liebe!«
Herr de la Bigourgère blickte um sich. Er las auf aller Mienen, daß sein Spiel gewonnen war. Wein- und Speisenduft vermischten sich angenehm in der Luft. Vor den halboffenen Türen standen lauschend die Diener und bekreuzigten sich.
»Das, meine Herren,« fuhr Herr de la Bigourgère fort, »hatte ich Ihnen zu eröffnen. Ihnen wollte ich es zuerst anvertrauen; bald werden Sie in den Ruf derer einstimmen, die dieses Wunder laut verkünden. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen seine Wahrheit zu bezeugen, und ich hoffe, wie ich hinzufügen möchte, daß es keine ungläubigen Ohren finden und daß unsre La Tomassière keinen Thomas haben wird.«
Dieses Wortspiel hatte einen wunderbaren Erfolg. Die ganze Tischgesellschaft erhob sich in lärmender Fröhlichkeit. Gruppen bildeten sich. Herr Virlong ging von der einen zur andern, um die Begeisterung zu schüren. Alle umdrängten den Bischof mit Komplimenten, als wäre das Geschehene sein persönliches Werk und ein Beweis mehr für die gute Verwaltung seines Bistums. Es war fast drei Uhr geworden, als der Bischof die Absicht kundtat, nach dem Kloster aufzubrechen. Es war ein geräuschvoller Aufbruch. Herr des Rantours machte am Arm seines Freundes Parfondval höhnische Bemerkungen, und Valenglin folgte dem Schwärm in Gedanken versunken.
Die Straßen waren belebt wie am Sonntag. Fräulein von Larnot hatte fünfzehn der eifrigsten Frommen an das Klostergitter gerufen, um ihnen die frohe Botschaft zu verkünden, und dank ihren flinken Zungen lief sie jetzt durch die ganze Stadt; man fragte sich darüber aus und sprach sich an. Eine große Menge Volkes hatte sich auf dem Platz vor dem Kloster versammelt. Einige Tunichtgute waren auf die Bäume geklettert und schrieen aus vollem Halse: »Es lebe Jesus!« Es war ein dichtes Gedränge und dazu heißer Sonnenschein, denn es war Mitte August.
Als Herr von Bigourgère nahte, öffnete sich eine Gasse durch das Volk. Er segnete mit seinem Ringe zur Rechten und zur Linken mit zufriedener Miene und erhitztem Gesicht, und während er die drei Stufen der Klosterschwelle erstieg, drehte er sich um. Auf dem Platze herrschte großes Gedränge. Herr von Valenglin kam mitten hinein. Plötzlich lief ein Flüstern von Mund zu Mund. Es schlug vier Uhr: der Augenblick, wo Fräulein de la Tomassière gewöhnlich ihre Vision bekam. Tiefes Schweigen trat ein und währte zwei gute Viertelstunden lang. Herr von Bigourgère erschien abermals auf der Schwelle des Klosters und erhob die Hand zum Zeichen, daß er sprechen wolle. » Jesus war da!« sagte er. Ein ungeheurer Beifallssturm scholl ihm entgegen. Viele Männer warfen ihre Hüte in die Luft und schwenkten die Arme. Die Weiber waren auf die Kniee gesunken und weinten. Die Klosterglocke begann zu läuten. Auch die von Saint-Grégoire fielen ein. Große und kleine wetteiferten miteinander. Die Bewegung erreichte ihren Siedepunkt. Die Sonne brannte sengend herab, und Schweiß rann von den Gesichtern. Eine alte Bettlerin, die an einem Prellstein hockte, warf plötzlich ihre Krücken fort und schrie: »Jesus, Jesus, ich bin geheilt!«, während die Glocken tiefdröhnend herabklangen, als wären sie ganz nahe, und Herr v. Valenglin hörte sie, als wären sie in seinen Ohren, so brummte ihm der Kopf.
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Herr von Valenglin hatte dem ganzen Auftritt mit seltsamem Unbehagen beigewohnt. Wirre Gedanken jagten durch sein Hirn, und er war mehr darauf bedacht, ihren Sinn zu entwirren, als auf das zu achten, was um ihn her geschah. Unter allen andern Verhältnissen hätte dies Wunder bei ihm keinen Glauben gefunden, wenigstens wäre es ihm gleichgültig gewesen und hätte nicht jenen seltsamen Anteil in ihm erweckt, den er jetzt daran nahm. Schon bei den ersten Worten des Bischofs hatte er aufgelauscht, und jetzt empfand er eine Verwirrung, die ihm unerklärlich dünkte. War es der Anblick der Volksbegeisterung? – Die Eilfertigkeit, mit der diese guten Leute die ihnen erwiesene Gnade des Himmels feierten, hatte vielmehr etwas Erheiterndes. Die Vivats, das Geschrei, die Gesänge zeigten, wie wenig der Mensch im stande ist, das auszudrücken, was er empfindet, und wie seltsam es ist, daß man seine Zufriedenheit durch einen Luftsprung, einen Ausruf oder Hutschwenken bekundet.
Valenglins unerklärliche Beklommenheit nahm noch zu, als er den Platz verließ, auf dem der Tumult fortdauerte. Er ging nach seinem Stadthause und gab Befehl, ihm schleunigst ein Pferd zu satteln. Keine Seele war im Stalle. Die beiden Reitknechte saßen gewiß in einem Wirtshause und feierten das Ereignis des Tages mit der Flasche in der Hand. Trotzdem drängte es Herrn von Valenglin, nach seinem Schloß zurückzukehren, weshalb, wußte er selbst nicht, und so entschloß er sich, zumal die Sonne schon im Sinken war, das Satteln selbst zu besorgen. Auch wollte er ja vor seiner Rückkehr nach Beaulignon noch in Les Gisquets vorsprechen, um Herrn von Aiguisy von den Vorgängen des Tages zu unterrichten.
Als er durch die Stadt ritt, begann die Bevölkerung die Straßen zu beflaggen und Papierlaternen herauszuhängen. Die Burschen und Mädchen tanzten bereits auf dem Mailspielplatz und herzten einander, während die Füße im Takte den Boden stampften. Meister Luchoux hatte noch einmal die Bildhauerei mit dem Tischlerhandwerk vertauscht und zimmerte gerade an einer hastig errichteten Balustrade. Leute zogen singend vorüber, und Herr von Valenglin mußte mehrmals ausbiegen, um nicht einen Betrunkenen umzureiten.
Ihm fiel das nicht eben leicht, denn er war ganz in seinen Gedanken versunken. Sie kreisten wild durch seinen Kopf, und er versuchte, sie in ihrer Bewegung zu erhaschen, und das gelang ihm auch insofern, als er im Augenblick, wo er Courjeu den Rücken kehrte, mit tiefster Gewißheit inne ward, daß ihr Hauptgegenstand das Fräulein de la Tomassière war. Sie war es, die seinen Geist unausgesetzt beschäftigte, ihre Gestalt stand ihm vor Augen. Solche Rückschläge der Vergangenheit sind nicht selten, aber auf diesen war Herr von Valenglin doch nicht gefaßt, so sehr hatte er aus seinem Gedächtnis alles ausgetilgt, was auf diese Erinnerung Bezug hatte.
Der Weg stieg über Steingeröll an, sobald er die Stadt hinter sich hatte. Sein Pferd fiel in Schritt. Schweigend lagen die Felder ringsum. An einem Wegeknick hielt Valenglin an. Man konnte Courjeu von hier aus ziemlich vollständig überschauen.
Die Stadt lag im milden Abendschein des schönen Tages auf beiden Seiten des Flusses hingebreitet, mit ihren winkligen Straßen, ihren Plätzen, Brücken, Häusern und Gärten. Jede Einzelheit war sichtbar. Dohlenschwärme umkreisten den steinernen Kirchturm von Saint-Grégoire; sie waren durch den Glockenklang aufgescheucht, der deutlich bis zu ihm hinaufdrang. Herr von Valenglin seufzte tief. Er sah die düsteren Klostergebäude mit dem langen Viereck des Gartens. Das Haus der Frau de la Tomassière stand dicht daneben, er erkannte es an seinen Wetterfahnen. Aus dem Schornstein stieg Rauch empor; wahrscheinlich feierte Frau de la Tomassière durch ein fettes Mahl die Heiligkeit ihrer Tochter und ihre mystische Hochzeit mit dem Seelenbräutigam. Potztausend! Die war wohl die irdische Hochzeit mit einem Valenglin wert! Es war noch hell, und Herr von Valenglin erkannte das Buchengesträuch, wo sich das himmlische Stelldichein vollzog. Das kleine Buschwerk bildete einen grünen Fleck. Kein wunderbarer Schimmer lenkte den Blick auf sich, und doch war es dort unten, wo Fräulein de la Tomassière mit des Menschen Sohn Zwiesprache hielt.
Ein tiefer, tückischer, giftiger Schmerz durchdrang Herrn von Valenglin mehr und mehr. Es hatte ihm wehgetan, als Fräulein de la Tomassière ihm sein Wort zurückgab, aber was er heute empfand, war eine dumpfe, nagende Bitterkeit. Ihm kam nicht mehr wie damals der Gedanke, das Kloster in Brand zu stecken, noch irgend eine jener Zornesanwandlungen, die ihn damals befallen hatten. Er dachte nicht mehr daran, querfeldein durch die Fluren zu jagen, um seinen Zorn und seine Erbitterung auszutoben. Unbeweglich blieb er stehen, während etwas Furchtbares, Aetzendes in ihm aufstieg und emporquoll, etwas, das ihm das Herz zerriß, aber den Kopf kalt und klar ließ.
Gewiß, Fräulein de la Tomassière hatte ihn verlassen, um sich Gott hinzugeben, und diese Hingabe, die zuerst seine Verzweiflung gewesen war, hatte in der Folge seinen Trost gebildet. Die Worte des Herrn von Aiguisy hallten in seiner Erinnerung wider. Was würde er nun sagen? Gott! ... war er für Fräulein de la Tomassière und für ihn, Valenglin, noch etwas Fernes, Unbekanntes, Gestaltloses und Unsichtbares? Für sie war er ein Gatte, für ihn ein Nebenbuhler. Und dieser Rivale war da unten gegenwärtig, in eigner Person! Er war aus den ewigen Räumen herabgestiegen, er hatte Gestalt angenommen, und welche Gestalt! Durchaus keine wunderbare und erschreckliche, sondern die einfachste und gefährlichste, die menschliche! Und Herrn von Valenglin trat in der kühlen Abendluft der Schweiß auf die Stirn, so bang und voll Eifersucht war ihm das Herz.
Ja, er war eifersüchtig – auf Gott! Und unter welcher Ausflucht, durch welchen Kunstgriff hatte dieser Mensch gewordene Gott diese Seele zu sich gezogen, unter welchem Vorwand von Pflicht, durch welche sinnreiche Kriegslist! Herr von Valenglin zermarterte sich Kopf und Seele. Nicht aus Wut oder Zorn, aber aus nagendem Grimm, Haß und Rache, und plötzlich trieb er sein Pferd an, als wollte er ihn fliehen, den Anblick von Courjeu mit seinen Häusern und seinem Kloster, und mit ihm den Gedanken, der ihm das Herz durchstach und die bittere Galle seines Kummers durch alle Adern trieb.
Sein Pferd galoppierte schwer, denn es war ein starkes Tier. Plötzlich blieb es stehen. Herr von Valenglin blickte auf. Der Feind war vor ihm. Es war das Kruzifix, das Frau de la Tomassière am Kreuzweg vor Les Gisquets hatte setzen lassen. Das letzte Tageslicht schien dem Bild ein natürliches Leben zu verleihen. Farben und Einzelheiten waren nicht mehr zu erkennen; man sah nichts mehr als die geöffneten, wie zur Umarmung ausgebreiteten Arme ...
Herr von Valenglin war wie geblendet und wäre fast vom Pferde gefallen. Der Haß nagte mit scharfem Zahn an seinem Herzen. Er sah nicht die Dornenkrone, noch die Wunden und Nägel. Er sah von Gott nur den menschlichen Leib. Er war es, der Feind, der Rivale. Und Herr von Valenglin drückte den Fuß fest in den Steigbügel, richtete sich im Sattel hoch auf und preßte mit seinem bestickten Lederhandschuh den Hut tief auf seine Perücke. Dann ritt er hochmütig, hart und verächtlich vorbei, ohne zu grüßen.