Fritz Reck-Malleczewen
Von Räubern, Henkern und Soldaten
Fritz Reck-Malleczewen

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Im bolschewistischen Riga

Gefangenschaft in Krefeld. Frei. Deutsche Etappenwirtschaft. Von den Bolschewisten überrascht. Flucht nach Riga. Der unbekannte Verfolger. Geschrei in der Nacht. Der Henker Stutschka. Edelleute vor Mistwagen. »Flintenweiber.« Offizier im Bataillon »Karl Liebknecht«.

Wenig habe ich zu erzählen von meiner Gefangenschaft. Ein General, jung und frisch, wie ihre Generale da drüben im Gegensatz zu unseren Großvätern schon sind, will mich ausfragen, will besonders etwas über unsere schwere Artillerie Bescheid wissen. Ich antworte nicht.

Ein Winter Gefangenschaft in der Kaserne der Krefelder Husaren, auch so eines Industrieregimentes . . . Französische Offiziere, mit denen weder wir noch die mit uns gefangenen englischen Offiziere verkehren wollen und die besonders von den Engländern wie halbe Neger behandelt werden. Ein deutscher Landwehrhauptmann, Hauptmann B., gehört zur Bewachung, er ist ein vollkommener Trottel. Wir haben da nun einen dicken Stabskapitän, der mit diesem B. eine ganz verteufelte Ähnlichkeit hat. Und unser Stabskapitän benützt diese Ähnlichkeit zu einem Fluchtversuch. Er kriegt es wahrhaftig fertig, sich durch Geld von deutschen Wachleuten eine deutsche Uniform zu besorgen, er läßt sein Haar ebenso schneiden, wie B. es trägt, er lernt es, sich ebenso zierlich und manierlich zu bewegen wie diese deutschen Offiziere. Nach zehn Tagen Übung wagt er es. Er geht über den Hof . . . die deutschen Soldaten machen ihre Ehrenbezeigungen, denn wirklich halten ihn alle für Hauptmann B. Er passiert die Wache, der Posten präsentiert das Gewehr. Er geht die Kasernentreppe hinunter: der echte Hauptmann B. kommt ihm entgegen. Es gibt zuerst eine etwas peinliche Auseinandersetzung zwischen den beiden, dann führt man unseren dicken Kapitän ab. Gutmütig wie die Deutschen sind, lacht man schon drei Tage später über diesen Streich; man nimmt ihn dem Kapitän nicht weiter übel. – 69

Im Hochsommer gelingt es meinen einflußreichen deutschen Verwandten aus Riga, meine Freilassung durchzusetzen. Ich erhalte den Auftrag, mich bei der Wirtschaftsabteilung des Rigaischen Gouvernements zu stellen, fahre hin, bekomme so einen einsamen Posten mitten in den Wäldern bei Segewold, östlich von Riga. Ich muß im Auftrage der deutschen Verwaltung mit meinem Personal darauf sehen, daß die lettischen Bauern nicht allzuviel Holz stehlen.

Ab und zu kommen deutsche Wirtschaftsoffiziere vorbei, sprechen vor bei mir. Deutlich sehe ich, wie nun die Deutschen den gleichen Prozeß des Verfalls durchmachen wie einst unser Heer. Ihre guten Offiziere sind tot, was man in die Etappe schickt, ist unbrauchbar. Alles machen sie verkehrt, diese Wirtschaftsoffiziere! Sie sind brutal und arrogant, wo man menschlich sein muß, sie sind ängstlich, wo man hart und mutig zu sein hat. Da kommen sie an, ergehen sich in langen Debatten. »In der nächsten Woche«, sagt mir so einer, »werden wir ein lettisches Wandertheater durch die Provinz schicken. Sehen Sie, alles tun wir, um die Letten zu einem fröhlichen, freien Volk zu machen. Was meinen Sie, was man tun könnte?«

Ich antworte ihm, sehe ihn scharf an: »Indem man sie mit ihrer Propaganda zufrieden läßt und sie auch nicht bestiehlt. Und indem man ihnen alle drei Tage den Hintern vollhaut, wenn sie unverschämt werden.«

Er starrt mich an. »Ja, mein Lieber,« sage ich, »Eure Menschen sind nicht unsere Menschen. Wenn Sie es im Notfalle nicht mit den Letten tun, so wird es so kommen, daß die Letten Ihnen all drei Tage den Hintern vollhauen.«

Etwas Stehlen ist gut, es ist eine Abwechslung im menschlichen Leben, und nicht jeder Baum im Walde muß numeriert sein und ist nicht von Gott für den Staat bestimmt. Aber da ist so ein großmauliger Kerl, ein Bauer in meinem Bezirk, der es zu toll treibt: ganze Schläge holzt er ab, verkauft das Holz auch noch an die deutschen Behörden. Ich lasse ihn in meine Försterei kommen. Er 70 kommt herein, ich stelle ihn zur Rede. Er stellt sich dicht an meinen Tisch, redet sehr viel, behandelt mich wie seinesgleichen, legt die Hand auf meinen Arm. Ich nehme ein langes Lineal, haue ihm nach Leibeskräften über die Finger. »Du weißt Bescheid, mein Lieber«, sage ich ihm. Ich werfe ihn zur Tür hinaus.

Es ist gar nicht mehr nötig, ihn zu bestrafen . . . dieser hier weiß, daß man aufpaßt. Nach ein paar Tagen kommt eine Anfrage der deutschen Behörde, weswegen ich die Leute schlage. Den Deutschen ist nicht zu helfen . . .

Sie wollen es nicht anders, sie graben sich ihr eigenes Grab. Werden sie uns lehren, mit unseren Menschen umzugehen? Ja, dies kann ich sagen: ich liebe dieses Land, ich liebe das Volk, ich liebe dieses große Rußland. Und auch ich bin kein Sklavenhalter. Ich weiß, es geht nicht an, eine halbe Million Deßjatinen Land zu besitzen, den Winter in Paris, den Frühling in Nizza, den Sommer in Biarritz zu verbringen, während ringsum die Bauern nicht so viel haben, daß sie leben können. Aber mit reisenden Theatern und Propagandareden und Propagandazeitungen schafft man keine Ordnung. Alles ist verkehrt bei ihnen . . . alles . . .

Ende Oktober 1918 komme ich von einem Ritt nach Hause, habe abscheuliche Kopfschmerzen. Ich steige ab, fühle eine plötzliche Schwäche. Ich drehe mich um, liege mit einem Male auf dem Boden. Ich bin sehr krank. Ich bin besinnungslos in den nächsten Wochen, sehe alles nur so durch einen Schleier. Ich habe keinen Arzt, der alte Buschwächter pflegt mich, so gut er es versteht. April wird es, ich versuche, ein wenig zu gehen, bin aber noch sehr schwach. In Riga sitzen nun die Bolschewiken, sie haben unzählige Menschen hingerichtet, sie haben furchtbar gewütet unter den baltischen Deutschen . . . Jetzt erst bin ich so weit, daß solche Nachrichten Eindruck auf mich machen. –

In einer Nacht hören wir Kanonendonner südwestlich von uns. Bauern melden am nächsten Tage, daß junge 71 Balten dort mit den Bolschewiken gekämpft haben. Sie sind von den Roten vernichtet worden . . . die Straßengräben sollen voll sein von ihren Leichen. Mein alter Waldhüter kommt gegen Abend, als ich mich wieder zu Bett gelegt habe, in mein Zimmer: »Man sucht Sie . . . die Roten sollen Sie verhaften . . . sie sind schon beim Pfarrer.«

Die Pfarrerwohnung ist fünfhundert Meter von meiner Försterei. Der Alte bringt mich zu meinem Pferd in den Stall, notdürftig wird gesattelt . . . so gut ich kann, reite ich ins ungewisse hinaus.

Unterwegs wird es mir klar, daß es das Beste sein mag, nach Riga zu reiten. Ich drehe um, nehme nach den Sternen die Richtung. Ganz langsam nur kann ich reiten. Einmal muß ich mich mitten im Walde hinlegen, schlafe ein, die Zügel in der Hand. Mein Pferdchen hält aus bei mir. Ich wache auf, bin ganz beschneit . . .

Am Abend des nächsten Tages bin ich in Riga. Nichts habe ich gegessen seit 24 Stunden, in einer Kneipe der moskauischen Vorstadt stelle ich mein Pferdchen ein. Wie ich auf den Hof reite, bemerke ich schon, daß das gut gehaltene Tier und der gute Sattel den Leuten auffallen. Ich schlinge etwas herunter, was ich da gerade finde, mache, daß ich fortkomme, nehme den Weg auf die innere Stadt zu. Ein pockennarbiger Mensch geht dicht hinter mir, überholt mich, sagt »Guten Abend, Genosse« im Vorbeigehen. Ich grüße, gehe weiter. Werst um Werst gehe ich durch diese endlosen Straßen, komme in die Nähe der Eisenbahn, drehe mich um: der Pockennarbige ist wieder hinter mir. Ich weiß nun, daß ich verfolgt werde.

Ich gehe in eine Pension auf dem Thronfolgerboulevard . . . endlich will ich Ruhe haben, ein Zimmer nehmen. Der Pockennarbige kommt über die Straße. Er nähert sich dem Hause. Ich weiß, was das zu bedeuten hat. Ohne ein Zimmer zu nehmen, verlasse ich das Haus wieder durch den hinteren Eingang, überklettere ein paar Zäune, lande in der Petersburger Vorstadt. 72

Vier Tage habe ich Ruhe. Die ständige Gefahr läßt mich nicht mehr an meine Schwäche denken. Ich gehe nicht aus in diesen Tagen. In der fünften Nacht höre ich Geschrei aus dem eleganten Vorderhause . . . man hat dort mit Ausnahme der Frauen alle Einwohner verhaftet. Ich höre die Stimme eines flehenden Weibes, die für den Mann bittet. Die Roten, die eingedrungen sind, antworten mit Lachsalven . . . die Frauenstimme verstummt.

Nun weiß ich, daß ich auch hier nicht mehr sicher bin. Am nächsten Morgen verschaffe ich mir Arbeiterkleider von dem Portier, gehe in die Stadt. Eine rote Sotnie reitet die Nicolaistraße entlang, vor ihr, an der Stelle, wo bei uns früher der Vorsänger zu finden war, reitet ein von Kopf bis zu Fuß in zinnoberrote Kleider gehüllter Kerl . . . Dann sehe ich eine auffallend elegante Equipage mit einem aufgedonnerten Frauenzimmer darin. Es ist die Geliebte des Hauptkommissars und Haupthenkers Stutschka. Herr St. lebt im Ritterhaus, es geht ihm gut dort, ganze Delikatessenwarengeschäfte müssen ihren Kaviar und ihren Champagner an seinen Haushalt abliefern. Er ist ein deklassierter Rechtsanwalt, der auf einem Revalenser Gymnasium zusammen mit jungen baltischen Edelleuten erzogen wurde. Er ist, wie man mir sagt, in seiner Jugend schlecht von ihnen behandelt worden, er hat es ihnen nicht vergessen. Nun taucht er seine Arme bis an die Ellenbogen in BlutHerr St., der das Leben von Tausenden auf dem Gewissen hat, weilte im Jahre 1923 in Wildungen zur Kur..

Voller zerlumpter Menschen sind die Straßen, manchmal stecken Leute mit aristokratischen Gesichtern in zerrissenem, beschmutztem Zeug: Keiner wagt mehr, sich in anständiger Kleidung zu zeigen. Auf der Esplanade, wo Tante Katinka wohnt, die mich in meiner Jugend so gequält hat, werden, es sind die Vorbereitungen für den 1. Mai, riesige Leinwandbilder ausgespannt: Ein dickgefressener Reicher würgt 73 einen ausgehungerten Armen und dergleichen. Alles ist in kindlicher Manier, auf die plumpeste und roheste Art ausgeführt . . . Es sind die Kinder der guten Gesellschaft, die diese Plakate malen, sie erhalten, wie ich höre, zehn Rubel am Tag für diese Arbeit. Dann marschiert ein Trupp junger, mit Flinten bewaffneter Frauenzimmer singend durch die Straßen. Es sind Gymnasiastinnen, junge Arbeiterinnen . . . sie haben rote Schleifen im Haar, es sind die Henkerinnen der Zentralgefängnisse, wo man die deutsche Gesellschaft eingesperrt hat und langsam hinmordet. Diese Weiber verstehen ihr Handwerk, das muß man sagen: sie schießen prinzipiell nur in den Bauch oder in die Kniekehlen, sie lassen ihre Opfer liegen und überlassen sie tagelangen Todesqualen. Sie vergehen sich auf das schändlichste an den Verwundeten, besonders an den Männern . . .

Lange Wagenkolonnen mit geraubten Möbeln werden durch die Straßen gefahren, und ab und zu begleitet ein zu den Roten übergelaufener, zerlumpter deutscher Soldat den Transport. An einer Ecke sehe ich ein bekanntes Gesicht. Wer ist es nur, wer denn? Es ist Fürst K. von den Gardekürassieren der Kaiserin. Er ist zerlumpt wie die übrigen, hat sich einen langen, von Läusen wimmelnden Bart wachsen lassen. »Was treiben Sie, K.?« Es ergibt sich, daß er mit SamagonkaSelbstgetriebener Schnaps., mit Kissen und Stroh für die Gefangenen in den Gefängnissen handelt. Er lacht: »Man muß sehen, daß man durch diesen Kawardak hindurchkommt.«

Am Alexanderboulevard fährt ein Düngerwagen; vier Mann ziehen, zwei schieben. Oh, ich erkenne die Gesichter sehr genau! Vorne Graf M. und Baron X., hinten Fürst Z. und Graf P. . . . alte baltische Edelleute, die von den Roten zur Latrinenreinigung verwendet werden. Der Wächter treibt sie an. Ich muß mich schütteln vor Lachen . . . Ja, sehr herzlich muß ich lachen.

Immer wechsle ich in den nächsten Tagen das Quartier, 74 schlafe in Räuberhöhlen, langsam fressen mich die Läuse auf. Es ist der 15. Mai! Im Westen ist Kanonendonner zu hören, man sagt, daß die Deutschen vor Riga sind. In dieser Nacht werden alle Insassen der Herberge, in der ich schlafe, verhaftet. Flintenweiber . . . Junge Gymnasiastinnen mit verkehrt umgehängten Gewehren . . . dringen ein, unten im Hof hört man einen Schuß und Todesschrei. Sie stürzen die Treppen zu uns herauf, eine bleibt vor mir stehen, schreit mich an: »Jetzt kommst du an die Reihe!« Ich antworte, indem ich mit frecher Gebärde sie angreife. Es ist die beste Antwort, die man geben kann, sie lacht. In jedem Falle werde ich abgeführt. Man bringt mich in das Hauptquartier des Kriegsministers Lawa, ins Hotel »Imperial«, in dessen Kellerräumen auch die Tscheka ist. Noch in dieser Nacht . . . es muß den Roten wohl sehr eilig sein . . . werde ich vor Lawa geführt. Er fährt mich an, sagt mir auf den Kopf zu, daß ich kaiserlicher Offizier sei, schreit mich an, kriegt Schaum vor den Mund. Ich weiß, dies ist ein schlechtes Zeichen, wenn sie Schaum vor den Mund kriegen. Dann verlieren sie den Kopf; die Wut, die geheime Angst, die Blutwelle geht mit ihnen durch, sie machen Dummheiten . . .

Das Gespräch nimmt eine unerwartete Wendung: »Wollen Sie sich morgen melden?«

»Wo?«

»Fragen Sie nicht dumm. Bei der Roten Armee. Sie werden in Dwinsk gebraucht. Sie werden morgen früh neun Uhr im Zentralgefängnis sein, wenn Sie sich nicht melden.« Er hält mir einen Wisch hin, ich unterschreibe. Ich bin Offizier im Roten Bataillon »Karl Liebknecht«. – 75

 


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