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Wir wollen ein großes, starkes, freies Land, doch eine andere Größe, Stärke und Freiheit, als die wir kannten.
Wir wissen, daß Einrichtungen nicht Gesinnungen schaffen, sondern von ihnen geschaffen werden. Die Kruste ist starr, der Kern ist bildsam, wer das Sichtbare umschaffen will, der muß den Mittelpunkt bewegen.
Von Gesinnungen und Einrichtungen, die kommen werden, habe ich oft gesprochen. Zu euch, Freunde, aber will ich von dem reden, was in der Wirkungsreihe noch tiefer liegt.
Wie entstehen und ändern sich Gesinnungen? Erlebnis wirkt auf Geist und wandelt ihn. Verschieden aber wird von gleichem Erlebnis verschiedener Geist bestimmt, und diese Verschiedenheit heißt Charakter.
Wir überschätzen maßlos die bequeme Gründlichkeitsmethode des Historizismus, weil jeder fleißige Mensch, deren es, ach, so viele gibt, sie sich aneignen kann. Im Pragmatischen versagt sie fast immer. Wir überschätzen die wirtschaftliche Methode, weil sie den Mut der Folgerichtigkeit hat, doch wird sie dem Geist nicht gerecht, weil sie ihre Voraussetzung zum Ziele macht, indem sie von der Wirtschaft kommt und zur Wirtschaft führt. Wir unterschätzen die reine Beobachtung des Geistes und Charakters, weil sie Einfühlung an Stelle von Gelehrsamkeit verlangt; hier fühlen wir uns nicht sicher und fürchten uns unbewußt vor den Ergebnissen.
Verlangt man von jemand die Charakterbeschreibung eines Menschen oder Volkes, so wird er mit dem geistigen und seelischen Besitzstand beginnen. Mit Recht. Denn dieser Besitz an Werten und Fähigkeiten entscheidet über das geistige Sein, über den Wert der geistigen Substanz. Unserer Frage jedoch ist es nicht um die Substanz, sondern um ihre Bewegung und Wandlung, um das Schaffen und Handeln zu tun, hier entscheidet nicht der intellektuale, sondern der voluntarische Charakter.
Denn auf welcher geistigen und sittlichen Stufe wir stehen, wissen wir. Wollen wir wissen, ob und wie wir die nächste Stufe erreichen, so müssen wir die bewegenden Kräfte prüfen.
Alle Form ist sichtbarer Geist. Wo immer wir Lebensäußerungen und Einrichtungen beobachten, treffen wir, sofern wir tief genug schürfen, auf die Wurzeln des intellektualen und voluntarischen Charakters, Geist und Willen. Und wenn bei einem so hochstehenden Volke wie dem unseren, Trübungen sich zeigen und nicht weichen wollen, so müssen wir die Ursachen in den Willenskräften aufdecken können. Nicht in der energetischen Größe der Willensstärke, denn die ist überschüssig, sondern in Einseitigkeiten der Richtung, in unausgeglichener Aktivität.
Die sichtbaren Mängel unserer Formen, Einrichtungen und Gesinnungen habe ich in einem Buch, das vielen von euch bekannt ist, geschildert. Bei ihnen wollen wir nur so lange verweilen, bis uns über die Einheitlichkeit ihrer Artung eine Vorstellung erwacht, die wir in der Beobachtung unseres Charakters wiederfinden.
Die Schwächen und Ungerechtigkeiten unseres wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus sind die gleichen wie in aller übrigen Welt, sie fordern keine gesonderte Betrachtung. Mit einer Ausnahme: der Aufstieg ist bei uns viel schwerer als anderswo, denn mit der plutokratischen Hemmung verbindet sich die der feudal-bureaukratisch-militärischen Atmosphäre. Auf die kommen wir zurück.
Ganz eigenartig, teilweise nur mit denen Österreichs vergleichbar, sind unsere politischen Schwächen, die wir diesmal nur flüchtig streifen wollen.
Die Regierung: ein Aufbau unglaublicher innerer Komplikation, Reibung und Hemmung. Vollkommene Unmöglichkeit einer Fernpolitik, eines Verfügens auf lange Sicht, das im Wettbewerb der Völker entscheidet; denn der Staatsmann ist eingespannt in ein neunzigfaches Veto, dem kein Jubeo entgegensteht. Er muß paktieren mit Höfen, Kirchen, Bundesstaaten, verbündeten Mächten, drei Kabinetten, zwei Reihen von unbekannten Kollegen, einem entrückten Kanzler, seinen eigenen Räten, mehreren Parlamenten und zahlreichen Kommissionen, Parteien, Einzelabgeordneten, Gewerbevertretungen, Interessenvertretungen, Einzelinteressenten. Jeder kann ihn stürzen, keiner hält ihn. Er kann froh sein, wenn er ein paar Jahre laviert, paktiert und verwaltet hat. An Weitsichtiges kann er sich zur Not auf technischen Gebieten wagen, die niemand interessieren, oder die niemand versteht. Man wendet ein, daß Bismarck mit diesem System ein Menschenalter regiert hat: er besaß neben seiner Genialität einen Talisman, den er erst am Tage seiner Absetzung verlor: die Unabsetzbarkeit.
Warum das? Weil wir ein halbkonstitutioneller Staat sind. Ein Staat, in welchem mit Hilfe einer beamteten Gelehrsamkeit alles Historische und Überlieferte nach Kräften erhalten wird, weil es historisch und überliefert ist. Ein Staat, in welchem die Worte Volk und Demokratie vor dem Kriege verpönt waren. Ein Staat, in welchem viele Sonderrechte bestehen und niemand eines aufzugeben braucht, weil niemand es verlangt. Ein Staat, in welchem seit Jahrhunderten niemand regiert, der nicht als Angehöriger oder Assimilant des militärischen Feudalismus, des feudalisierten Bureaukratismus oder des feudalisierten, militarisierten und bureaukratisierten Plutokratismus auftritt. Ein Staat, in welchem mit Hilfe der so bezeichneten Atmosphäre, verschärft durch dauernde politische, kirchliche und militärische Führungskontrolle, eine Auslese der Begabungen stattfindet, die man als Gegenauslese bezeichnen kann. Ein Staat, in welchem das Großbürgertum sich vorwiegend von der Politik fernhält, es sei denn da, wo Erwerbsinteressen berührt werden, oder wo Beziehungen zu gewinnen oder zu erhalten sind. Das mittlere Bürgertum folgt zu einem Drittel der Kirche, zu einem Drittel der kontrollierenden Autorität, zu einem Drittel ist es in Opposition.
Die beiden großen Parlamente sind tief reformbedürftig. Die Reform dieser Parlamente, zumal des Reichstages, ist weit notwendiger und dringender als die der Regierung. Gewählt sind sie auf Grund eines verwerflichen und eines geometrisch verfälschten Wahlverfahrens. Ihre geistige Höhenlinie liegt weit tiefer, als ein geistig hochentwickeltes Volk sie von sich verlangen kann. Überwiegend bestehen sie aus Ortsgrößen und Vertretern von Interessentenvereinigungen. Schöpferische Staatsmänner finden sich kaum. Ihre Tätigkeit ist vorwiegend Abänderung, vielfach Verschlechterung von Regierungsvorlagen, und Kritik. Eigene Initiative ist selten, geschieht sie, so wird sie meist schnell bereut. Routinierte Staatsleute werden nach bestimmten Behandlungsregeln leicht mit den Parlamenten fertig, auch in erregten Sitzungen. Für die Machtlosigkeit der Parlamente entschädigen sich die Kommissionen und die gewandteren Abgeordneten durch offizielle Rücksichten, die man ihnen gewährt. Würden unsere Parlamente heute vor die Aufgabe gestellt, Koalitionsministerien zu schaffen, so wären sie ratlos; sie wissen selbst, daß ihre Minister sich nicht mit denen der Bureaukratie würden messen können. Alles in allem kann man sagen: es würde ohne unsere Parlamente ebensogut oder besser regiert werden, als mit ihnen. Dereinst sollen sie die Schule des Staatsmannes, die Quelle der Auslese, die Träger der Verantwortung werden. Heute sind sie bestenfalls das kleinere von zwei Übeln.
Woher kommt das? Die Gründe sind die gleichen, wie die, welche die Regierung lähmen. Halbkonstitutionelles System, daher parlamentarische Machtlosigkeit, daher parlamentarische Interessenlosigkeit, daher parlamentarische Unzulänglichkeit, daher Unmöglichkeit, dem Parlament größere Verantwortung zu gewähren, daher halbkonstitutionelles System. Den Zirkel könnte nur das Volk zerschneiden, doch es ist unpolitisch, parlamentsmüde, noch bevor es ein echtes Parlament kennengelernt hat, indolent, durch gelehrte Theorien, Schlagworte und Beeinflussung kopfscheu gemacht. Die größte Verwirrung aber stiftet der angebliche Gegenbegriff Autokratie und Demokratie.
Bismarck hat den bourgeoisen Liberalismus vernichtet, das war sein Recht; er hat ihn überdies derart diskreditiert, daß er fast mit dem Makel der Unehrlichkeit behaftet wurde, das war sein Unrecht. Machte Liberalismus den Menschen gewissermaßen gesellschaftsunfähig und ungeeignet, ein besseres Amt zu bekleiden, so war Demokratismus offenkundige Auflehnung gegen die gottgewollte Obrigkeit und Abhängigkeit; und so erscheint er den meisten noch heute. Man denkt an Pöbelherrschaft und Kommunismus und kommt sich klug vor, wenn man beobachtet, daß selbst in Republiken eigentlich autokratisch regiert wird.
Autokratisch soll überall regiert werden, jede andere als die autokratische Regierung ist machtlos und unfähig. Autokratie und Demokratie sind nicht Gegensätze, die sich ausschließen; im Gegenteil, nur durch Vereinigung kommen sie zur Wirkung. Nur auf demokratischer Grundlage kann und darf autokratisch regiert werden, nur mit autokratischem Überbau ist Demokratie gerechtfertigt.
In allen Zeiten haben Personen regiert, nicht Körperschaften und Massen. Regieren aber ist Kunst, sie kann nur geübt werden, wenn der schaffende Mensch ungestört, unbehelligt, vom Vertrauen getragen bleibt. Regiert er ohne Vertrauen, durch Macht, so ist er Despot, regiert er ohne Vertrauen, kontrolliert, behelligt und gehemmt, so ist er Stümper.
Vertrauen macht Autokratie möglich, Demokratie macht Vertrauen möglich. Vertrauen schenkt man dem, den man kennt und will, nicht dem, der ernannt wird. Wohl kann auch der Ernannte sich Vertrauen erwerben; bis er es hat, ist er tot, zum mindesten verbraucht. Das Vertrauen zum Erwählten muß und soll nicht ewig währen; endet es, so tritt er ab, ein anderer richtet den Weg wieder gerade, renkt die Fehler ein, und nach einer Zeit mag der erste wiederkommen. Durch den Begriff des Vertrauens, womit nicht der plumpe Kredit bürgerlicher Unbescholtenheit, sondern geistiges Vertrauen gemeint ist, verbindet sich Demokratie und Autokratie zur einzigen politischen Form, die großer Verantwortung gewachsen ist.
Dies wissen wir nicht, verhöhnen den demokratischen Autokratismus, stellen ihm die demokratische Wahlform eines machtlosen Parlaments gegenüber und machen aus unverhohlenem Mißtrauen durch stets verschärfte Kontrollen den uns auferlegten Staatsmännern das an sich unmögliche Leben noch unmöglicher.
Bevor wir nun der Frage antworten, welche unserer Charaktereigenschaften unser politisches Leben verwirrt und uns den Aufstieg zu neuer Gesinnung erschwert, sei eine Bemerkung eingeschaltet, die unser neueres Verhältnis zur Beobachtung eigener und fremder Charakterzüge betrifft.
Mag man sich zum Kriege stellen, wie man will; unvergeßlich bleiben jene Augusttage auch für den, der hinter den Jubelchören Schatten aufsteigen sah. Bald wurde auch manchem anderen der falsche Ton vernehmlich, der in der herrlichen Begeisterung der Jungen, in der brüderlichen Opferfreude der Älteren anfänglich verklungen war. Bald wurde fühlbar, es gab auch solche, die von dem großen Ereignis eigene Vorteile hofften, sei es für die alte, sei es für eine neue Laufbahn, sei es für geschäftliche, sei es für politische Sonderstrebungen; es gab auch beabsichtigten und interessierten Enthusiasmus. Während draußen die ersten und herrlichsten Taten geschahen, während die erste, heißeste Hingabe der Heimat, zumal der Frauen, die Herzen erwärmte, regten sich die ersten Heimkrieger, Kriegsspekulanten und Raffer. Während das Volk an den Fronten diszipliniert, daheim organisiert wurde, verebbte der Geist. Nie hatte es ein derartiges Absinken der geistigen Ebene Europas in so kurzer Zeit gegeben. Das Denken der Gebildeten verschmolz mit dem der Massen zu aufgeregter, unduldsamer Suggestion, die jede Prüfung und Besinnung verpönte, das Ungereimteste, Widersinnigste, Gehässigste wurde ausgesprengt, geglaubt, geurteilt, vorausgesagt, und jeder verfolgt, der nicht einzustimmen schien. Ja, eine Tendenz trat auf, die man nicht anders als die Ranküne des Ungeistes benennen kann, und die sich, unausgesprochen, folgendermaßen zu äußern schien: »Zu lange haben wir die verstiegenen Dinge, die sich geistig und künstlerisch nannten, die niemand von uns verstand, und die uns mißfielen, gegen uns gelten lassen müssen. Das hat jetzt ein Ende. Wozu seid ihr Geistigen da? Jetzt herrscht der Arm, und der wird euch zeigen, daß er die Welt bezwingt. Verkriecht euch, jetzt wollen wir lesen, sehen und hören, was wir verstehen, und was uns freut.« Und wirklich, bis in die Auslagen der Läden drang der gut bürgerliche Geschmack, der Tonzwerg- und Pfeifenkopfhumor, in den Unterhaltungsbeilagen der Blätter las man Geschichten vom treuen Spitz und klugen Elschen, und im Parlament stimmte man einem Redner zu, der die fünfhundertste Aufführung einer rührenden Operette als Wiederkehr der Unschuld und Harmlosigkeit pries.
In dieser Atmosphäre begannen die Massenurteile über fremden und eigenen Volkscharakter. Einem leidenden und erbitterten Volke ist es nicht zu verübeln, wenn es von feindlichen Ränken und Greueln hört, die in Millionenheeren nicht ausbleiben können, daß es sich in leidenschaftlicher Verallgemeinerung dem entrüsteten Hasse hingibt; und dieser Haß wütet in der Heimat noch rückhaltloser als im Felde, wo ritterliche Anerkennung feindlicher Tapferkeit ihm entgegenwirkt. In solchen Zeiten sollte der Gebildete sich dreierlei vor Augen halten, wenn er nach allgemeinem Urteil strebt.
Erstens. Ein Volk ist ein kollektiver Geist, der von außen betrachtet, anders wirkt als die Summe der Einzelgeister. Solange die Völker nahezu anarchisch, nach Raubtierart leben, muß jedes Volk, das gut geleitet und zielbewußt seine Interessen vertritt, nach außen raubtierhaft erscheinen, ohne daß seine Glieder Raubtiere zu sein brauchen. Erscheint es nach außen gutmütig, freundlich, dankbar, gefühlvoll, so ist das kein Beweis für derartige Eigenschaften seiner Glieder, sondern ein Beweis von politischer Schwäche und schlechter Leitung. Der anarchische Zustand soll und wird aufhören; dann werden die Völker als kollektive Gebilde das Recht und die Pflicht haben, nach außen menschenähnlich und sittlich zu erscheinen. Solange man den anarchischen Zustand, die gerüstete Feindschaft aufrechterhält, somit will, soll man sich nicht damit brüsten, wenn man nicht den Willen, die Kraft oder den Erfolg der vereinbarten Brutalität besitzt, und soll nicht den verurteilen, der die Folgen zieht. Ein guter Schachspieler wird seinem Partner nicht das Brett um den Kopf schlagen, mit der Begründung, der andere habe ihm in hinterlistiger Weise seine Dame genommen oder seinen König eingekreist. Leider sind beim anarchischen Zustande der Staaten fast alle Mittel im Frieden und Kriege erlaubt. Das darüber hinausgehende Unrecht fällt jedoch meistens einzelnen, selten der Gesamtheit zur Last. Schlimm ist es freilich, daß die Gemeinschaft sich fast immer bestimmen läßt, das Einzelunrecht zu entschuldigen; das liegt in der Regel an der Einseitigkeit der Berichterstattung und der Schwierigkeit der Nachprüfung.
Zweitens. Die Charaktere der Kulturvölker sind ähnlicher als man glaubt. In jedem Volke gibt es Heilige und Sünder, Seelenhafte und Seelenlose, Helden und Feiglinge, Idealisten und Krämer, Märtyrer und Mörder, in allen fast in der gleichen Mischung. Weit verschiedener als die Völker untereinander sind die Schichten innerhalb ein und desselben Volkes. Die meisten Vergleiche populärer Psychologie haben den Fehler, daß man ungleichartige Schichten verglichen hat; unwillkürlich wählt man bei sich selbst die höhere, beim anderen die tiefere Schicht zum Vergleich. So entstehen jene grauenhaft trivialen, grundfalschen Populärurteile, die mehr als alles andere dazu beigetragen haben, die Völker zu entzweien.
Drittens. Psychologisches Urteil läßt sich nicht erlernen. Es ist nicht Sache der Wissenschaft, noch weniger der bürgerlichen Beobachtung, sondern der Einfühlung. Ein Gelehrter, der Literatur, Kultur oder Verfassung eines Volkes studiert, kann wertvolle Einzelzüge vereinigen, dasselbe kann ein gereifter Bürger, der irgendwo gelebt und gute oder schlechte Geschäfte gemacht hat; das Einfühlen in die Natur eines einzelnen, das viel schwierigere Einfühlen in die Natur eines Volkes fordert intuitive, ja dichterische Begabung.
Von solcher Vorsicht des Urteils waren unsere Gebildeten weit entfernt, und viele der Gebildeten unter unseren Gegnern sind es noch heute. Von Geschäftsreisenden, Berichterstattern und Stubengelehrten ließen wir uns mehr erzählen als nötig war, selten wurde ein berufener Beurteiler gehört, viele wollten oder mußten schweigen.
So war die Stimmung vorbereitet für das beschämendste und undeutscheste, was in diesem Kriege geschah, die maßlose, schamlose Ausschüttung des Selbstlobes. Nichts hat so sehr zur Entsittlichung des Landes, zur Mißachtung des Gesetzes, zur Überempfindlichkeit der Stimmung beigetragen als die langandauernde tägliche Selbstverherrlichung. Denn was brauchte ein Volk von sich zu verlangen, was sich zu versagen, dem Gott allein, vor allen anderen, sämtliche Tugenden und Begabungen verliehen hatte? Nur wir waren treu und bescheiden, nur wir waren tapfer und hingebend, nur wir waren tief und genial, sittlich und heldenhaft, gläubig und seherisch. Alle anderen waren vor Gott und Menschen verworfen. Warum Gott die übrigen so unzulänglich geschaffen hatte? Offenbar nur, um uns zu verherrlichen. Wir waren das auserwählte Volk, gesandt, um allen Völkern das Licht zu bringen, und alle zu beherrschen.
Es hat ein Volk gegeben, das sich das auserwählte genannt hat. Es war kein schlechtes Volk, es hat der Welt die Offenbarung, viele Propheten und ein herrliches Buch gebracht. Wegen seines verruchten Stolzes auf Auserwähltheit aber ist es in die vier Winde zerstreut worden, seine Kinder haben zweitausend Jahre in Blut und Tränen gebüßt, und ihrer Buße und Tränen ist noch heute kein Ende.
Gott verhüte, daß auf unser deutsches Volk dieser Frevel falle.
Wir sind kein auserwähltes Volk und wollen es nicht sein. Wir sind ein junges Volk und haben dennoch eine alte, herrliche Vergangenheit. Auf unserem Boden sind große Helden erwachsen, die höchsten Dichter und Philosophen der neuen Zeit haben ihn betreten. Die Musik der Welt ist auf deutschem Boden erstanden.
Wir sind ein junges Volk. Vielleicht keiner von uns stammt unvermischt von taciteischen Germanen, wenige entstammen der Oberschicht, die den deutschen Geist und die deutsche Geschichte geschaffen hat; die meisten sind Kinder der namenlosen, unhistorischen unfreien Unterschicht, von der die Wissenschaft nichts weiß; viele sind zugewandert. Wir sind jung und wissen wenig von uns. Wir wissen, daß sich unsere Jungen gut schlagen. Wir wissen, daß wir organisierbar und disziplinierbar sind, daß wir uns in die mechanisierte Welt vollkommen eingefügt und sie vorwärts gebracht haben. Wir haben eine gewaltige Wissenschaft und eine bedeutende Technik. Seit dem Ende jener großen Umschichtung, seit hundert Jahren, sind uns höchste Geister nur spärlich erstanden. Doch fühlen wir uns als die Erben und geistigen Nachkommen jener Großen, weil wir sie begreifen, in uns tragen und verehren. Wir dürfen hoffen, daß etwas Verwandtes in uns lebt und sich immer wieder verkörpern wird. Wir ringen um die Form unseres Lebens, unseres Geistes und unseres Staates. Vor allem: wir blicken uns in die Augen und fühlen das herzliche Vertrauen vom einen zum anderen, zum guten Willen und zur reinen Kraft; wir blicken in die lieben Augen unserer Frauen und fühlen die blühende Wärme des Lebens und die gesegnete Verheißung der Zukunft.
Eines freilich haben wir vor allen anderen Völkern voraus, eines, das keine Ruhmredigkeit gestattet und keinen Neid herausfordert: die Härte und Schwere der metaphysischen Pflicht.
Deshalb ist uns der Blick nach innen und nach oben gegeben, das Streben zur Sache, zu den Dingen und zur Wahrheit: damit wir das Nahe und das Ferne erfassen und begreifen, damit wir die Dinge in ihrer Beziehung zum Kosmos erfühlen, damit wir höchste Gerechtigkeit üben, uns selbst härter prüfen als alle anderen, und das schwerste von uns verlangen. Und deshalb ist uns harter Boden, harter Himmel und hartes Leben gesetzt, damit wir nie erlahmen, im schwersten Dienst den göttlichen Geist zu verherrlichen.
Leichtes Leben, leichte Freude und leichtes Urteil, das anderen freisteht, ziemt uns nicht. Wenn wir die Gnade der bitteren Verantwortung, die auf uns gelegt ist, voll erfassen, so werden wir die dankbarsten aller Menschen und im Stolze des höchsten Dienstes die demütigsten sein.
So sind wir zur Selbstprüfung unseres Charakters zurückgekehrt und haben die Härte der Unerbittlichkeit gewonnen. Mit ihr die äußere Furchtlosigkeit des Bekenntnisses. Wehe dem, der die innerlichen Momente des leiblichen oder geistigen Lebens eines Menschen belauert und belauscht, um seiner zu spotten oder gegen ihn zu zeugen. Er hat das Recht des Zeugens und des Zeugnisses verwirkt, sein eigener Hohn schleudert ihn und die seinen herab von der Stufe, auf der nach hohem Maße sittlich gewertet wird.
Was wir zu bekennen haben, ist nichts Neues und nichts übermäßig Schweres. Unsere Besten haben es uns oft gesagt, bald spottend, bald schmähend; was sie uns nicht gesagt haben, und was wir selbst uns sagen müssen, das sind die unabsehbaren Folgen und Gefahren einer einzigen wesentlichen Schwäche unseres voluntarischen Charakters.
Uns Deutschen fehlt das persönliche Unabhängigkeitsgefühl, wir neigen zur gewollten Abhängigkeit.
Verwechseln wir nicht Unabhängigkeit mit Zuchtlosigkeit, vermengen wir nicht Abhängigkeit und Treue.
Ein Mann soll Zucht halten und Zucht üben, denn der Kosmos ist eine Ordnung, nach seiner Idee hat jedes Glied zu tragen und zu lasten, zu leisten und zu leiten. Die Zucht huldigt der Idee, nicht ihrem Organ, der Gewalt; als Freie sollen wir nicht Machthabern gehören und gehorchen, sondern uns geordneter, gewollter Führung anvertrauen und hingeben. Von trauen kommt Treue, sie ist das freiwillige, überzeugte, unverbrüchliche Geschenk des Vertrauens. Erzwungene Treue ist ein begrifflicher Widerspruch; erzwungen werden kann Unterwerfung; Treue, die höchste irdische Pflicht, ruht auf Freiheit und Wahrhaftigkeit.
Das bedeutet nun freilich nicht, daß ein jeder sich nach Willkür die Bindungen auserwählen kann, welche er auf sich nehmen will, und welche nicht. Ein bestehender Staat, eine geordnete Gesellschaft, vor allem eine wirkende Heeresmacht, legt Bindungen auf, die nach der Ordnung der Gesetze so unverbrüchlich sind, wie höchste irdische Pflicht es nur sein kann. Somit ist jede Frage der Unterwerfung unter rechtskräftiges Gesetz und seine Ausübung der Erörterung entzogen.
Etwas anderes aber ist es, welche Bindung und Bindungsform man will und welche man nicht will, ob man dazu neigt, sich in auferlegte Bindung zu stürzen oder sich zu selbstgewollter Bindung zu fügen, ob man neigt, sich an Macht, Gewalt und ihre Besitzer hinzugeben, oder der Idee, ihrer Verkörperung und ihren Trägern zu folgen, ob man der Person oder der Sache gehört, ob man pariert oder dient, ob man ein Diener oder ein Dienender ist. Vor allem, ob man unter vorsorglicher Hütung und Hegung zu leben wünscht, oder ob man gewillt ist, Verantwortung zu tragen und zu fordern.
Sicherlich hat unser schönes Erbe der Sachlichkeit dazu beigetragen, daß wir uns niemals lange fragten, ob, mit welchem Recht, in welcher Form, und zu welchem Zweck eine Sache uns auferlegt wurde, wenn sie nur ordentlich erfüllt wurde; daß wir jedes ererbte Abhängigkeitsverhältnis mit alleiniger Ausnahme allzu ausgesprochener Fremdherrschaft willig hinnahmen. Doch täuschen wir uns nicht: der Zug zur Abhängigkeit ist ein Erbteil nicht des alten Germanentums, das bei höchster Treue von höchstem Unabhängigkeitsdrang, Trotz und Eigenwillen war, sondern der unfreien, dienstgewohnten und verängsteten Unterschichten, die allzulange, vor allem im mittleren und östlichen Teile des Landes, die Masse der Bevölkerung bildete. Noch im 18. Jahrhundert galten hier die Sinnbilder der Untertänigkeit: Saumkuß und Peitsche, und der Adel nannte seine Hintersassen die Kanaille. Der Vergleich des deutschen Halbslawen mit dem stammesreineren Friesen, Westfalen, Franken und Schwaben weist die Abstufung des Abhängigkeitssinnes in Charakter und Lebensform. Nicht nur der einzelne, auch ein Volk bedarf der Kinderstube. Die heroische und geistige Vergangenheit einer Oberschicht hat nicht immer die Wirkung eines Vorbildes; sie kann bei hinreichender Entfremdung umgekehrt, nämlich distanzierend wirken, indem die Herren alle Ehren für sich verlangen.
Es scheint unbegreiflich und ist es nicht, daß wir uns der Eigenart unseres Abhängigkeitsdranges so gar nicht bewußt sind, und daß wir seine sichtbarsten Folgen, die Unselbständigkeit unseres staatlichen Lebens, die militärisch-feudale, die bureaukratische, die plutokratische Bindung, das Vorgesetzten- und Subordinationswesen des bürgerlichen Lebens, den schroffen und zurechtweisenden Verkehrston, das umspannende Netz der Verordnungen und Verbote, die Bevorzugung der Stände, die zopfigen Ungleichheiten und Unfreundlichkeiten amtlicher Behandlung, die Ansprüche der Besitzer und Interessenten so gar nicht empfinden. Es fehlen uns die Vergleiche. Vorhaltungen Fremder, die überdies in gehässiger Form und falscher Formulierung gemacht zu werden pflegen, lehnen wir mit Recht ab. Doch unsere Auswanderer der letzten Menschenalter sind nicht heimgekehrt, sicher nicht aus Mangel an Heimatsliebe, oder aus Liebe zur Fremde, oder aus Geldgier. Sie konnten sich in die Atmosphäre nicht mehr finden, nachdem sie ihnen durch Vergleich bewußt geworden war.
Auf höherer Geistesebene kann der Abhängigkeitsdrang, wie jede menschliche Schwäche, an gewisse Tugenden grenzen. Man rühmt unsere Organisation, besser gesagt, unsere Organisierbarkeit, Pünktlichkeit und Disziplin. Man kann sich bei uns auf alles verlassen. Was befohlen ist, geschieht. Was eingeübt ist, klappt. Was geordnet ist, stimmt. Das ist gut und soll so bleiben. Doch es ist nicht gleichgültig, um welchen Preis das letzte Prozent der Genauigkeit erkauft ist. Eine einzige schöpferische Idee kann um das tausendfache jede disziplinierte Gewöhnung übertreffen. Unfreiheit auf allen Lebensgebieten rechtfertigt kein Höhepunkt der Präzision. Selbst wenn nationale Monopolstellungen, etwa auf dem Gebiet des Militarismus, durch hundertjährige Überdisziplinierung eines Volkes erlangt werden könnten, wäre es bedenklich, sie zu erstreben; doch gerade der Krieg hat gezeigt, daß solche Sondervorteile nicht bestehen.
Schon auf dieser höheren Ebene beginnen jedoch offenkundige Gefahren. Abhängigkeitsgefühl, auf Geistiges übertragen, bedeutet Autoritätsglauben, Autoritätsüberschätzung, Haften an Überlieferung, an herkömmlichen Denkreihen und Methoden.
In der Wissenschaft hetzen wir den Entwicklungsbegriff und den Historismus zu Tode. Wir wagen keinem Gegenstand unbefangen ins Auge zu sehen, ihn zu werten und auszuschöpfen; wir wollen alles hinten herum über ihn, seine Vergangenheit, Sippschaft, Umstände und Analogien erfahren, verlieren alle Naivität, und müssen ihn jedesmal, nachdem wir ihn gutwillig oder mit Gewalt logisch gemacht haben, am Ende schlechterdings billigen. Wir wissen alles, um alles beim alten zu lassen. Die amtliche Wissenschaft ist, nächst dem Interessenten, unsere konservative Kraft. Die Verfolgung jeder Originalität, sofern sie jünger ist als ein Menschenalter, scheint ihr geboten.
In der Verwaltung haften wir an der Tradition. Eingestanden oder nicht: Man sehnt das Vorbild des alten Preußen zurück, eines landwirtschaftlichen, unmechanisierten Mittelstaats, der nach Art einer großen Gutsherrschaft vom Eigentümer mit Hilfe einiger Kabinette verwaltet werden konnte. Die Bewegungsfreiheit der Ressorts in jeder Frage weittragender Politik habe ich geschildert; noch nie hat meines Wissens einer der Beteiligten, mit Ausnahme Bismarcks, sie offen gerügt; man betrachtet diese Abhängigkeit als ebenso gottgewollt, wie die der Führung, der Anschauung, der Atmosphäre.
In der Politik wird größere Unabhängigkeit von einzelnen Parteien programmatisch erstrebt. In der Praxis würde man erschrecken, wenn sie gewährt würde. Ob ein parlamentarisches Ministerium überhaupt von den bestimmenden Personen zustande gebracht werden könnte, ist fraglich. Man würde vorziehen, die Verantwortung in gewohnter Weise übernommen zu sehen, und allenfalls es nicht übel vermerken, den eigenen Namen auf der Liste zu finden.
Über die Abhängigkeit von zwei Herrenkasten, der militarisch-feudalen und der bureaukratischen sowie von der emporgedrungenen plutokratischen Schicht, die sich gegenwärtig durch den Zutritt der Kriegsgewinner verstärkt, ist nichts weiter zu sagen.
Das seltsamste Abhängigkeitsbedürfnis auf höherer Ebene ist das gesellschaftliche, das sich im Großbürgertum auswirkt.
Militär und Beamtenschaft unterstehen einer Führungs- und Herkunftskontrolle. Das gehobene Bürgertum will sie nicht entbehren. Der innere Grund ist vermutlich der: Da das gesellschaftliche Vorbild einer Aristokratie für allgemeine Haltung und Lebensform fehlte und der junge Reichtum zu massenhaft aufschoß, um ein Patriziat zu bilden, verlangte man nach Legitimation. Diesem Bedürfnis kam der Staat, halb unbewußt, halb humorvoll berechnend entgegen. Es gibt in Deutschland der Schätzung nach mehrere tausend Titulaturen, Rangstufen und Auszeichnungen. Viele wurden dem Bürgertum zugänglich, und man konnte es dem Staat nicht verübeln, ja man sah vielfach eine erwünschte Verbriefung darin, daß eine milde Kontrolle der Herkunft und der Führung, eine entschiedenere der politischen Gesinnung an die Verleihung geknüpft wurde. Der Vorteil war offenkundig: Hatte ein mittlerer Industrieller dreißigtausend Mark für Kirchenbauten gestiftet und kurz darauf die Würde eines Königlichen Kommerzienrates erhalten, so war es ihm und den Seinen eine Befriedigung, daß eine Prüfung seiner persönlichen und geschäftlichen Verhältnisse vorausgegangen, und somit auch nach außen der Beweis erbracht war, daß die nackte materielle Leistung allenfalls den Anlaß, keinesfalls den Grund seiner bürgerlichen Erhöhung ausmachte.
Es ist fraglich, ob die herrschenden Staatsmächte sich bewußt sind, welch ungemessenen Gesinnungseinfluß die selbstgewählte Führungsabhängigkeit des höheren Bürgertums ihnen gewährt. Unter Hunderttausenden von bürgerlich oder militärisch Begünstigten findet sich kaum ein Sozialdemokrat; im militärischen Verhältnis wurde vor dem Kriege ausgesprochener Liberalismus nicht geduldet, im bürgerlichen Verhältnis war er selten. Zieht man die Wirkung auf Anhang und Gefolgschaft in Betracht, so ergibt sich, daß die als läßliche und gutartige Schwäche verspottete Titelsucht der Deutschen eine der ernstesten politischen Realitäten bedeutet: nämlich den Verzicht eines bedeutenden Teils der bürgerlichen Intelligenz auf politische Unabhängigkeit.
Um Unabhängigkeitsdrang zu suchen, wenden wir uns von den bürgerlichen Schichten zu den Organisationen des Proletariats, und finden die Abhängigkeitssucht in ihren vier schroffsten Formen: Abhängigkeit vom wissenschaftlichen Dogma, Abhängigkeit der Massen von den Führern, Abhängigkeit der Massen von der selbstgeschaffenen Atmosphäre, Abhängigkeit der Führer von den Massen. Käme Christus wieder und verstieße wider das Programm der Schriftgelehrten, so wäre er in der Parteiversammlung nicht sicherer als anderswo.
Alle Selbständigkeit und Unabhängigkeit hat sich ins Wirtschaftsleben geflüchtet. Dort herrscht sie jedoch nicht aus starkem Charakter und unbeugsamer Überzeugung, sondern im Dienste des Kampfes um mein und dein. Schlimm genug: Unabhängig und mannstolz können wir sein, wenn es sich lohnt. Um einer Million willen lohnt es, um lumpiger Ideale willen lohnt es nicht.
Der Unabhängigkeitsdrang der Gewerbe, der einzige, den wir haben, und der einzige, der gezügelt sein sollte, verbunden mit einer unerhörten Schulung im geschäftspolitischen und dialektischen Gebaren entwickelt sich zu unserer schwersten inneren Gefahr. Wenn der Generalsekretär des »Allgemeinen Deutschen Verbandes zur Wahrung der Interessen sämtlicher Zweige der ausgestopften Vogel-Industrie« (Abgekürzt: A D. V. z. W. d. I. s. Z. d. a. V. I.), blendende Erscheinung, sonor und formgewandt, von der Tribüne die Bedeutung der ihm anvertrauten Interessen erläutert und mit historischen, geographischen, ethnographischen, handelspolitischen, finanziellen, sozialen, kulturellen, ethischen und allgemein menschlichen Beweisen bekräftigt, wenn er dann auf unsere Ostpolitik übergeht und darlegt, daß sie unter Umständen nicht weit entfernt sei, einen gewissen unendlich wichtigen Zweig seines Gewerbes zu schädigen, so wird jedes Herz mit Sorge erfüllt. Wenn alsdann Hunderttausende von Flugschriften, zahlreiche Versammlungsbeschlüsse, Handelskammereingaben und Abgeordneteneinsprüche die Warnung wiederholen, so werden manche seiner Freunde dem Staatsmann empfehlen, seine Gesamtpolitik zu ändern. Da es schließlich keine Politik gibt, die nicht irgendwelche Interessen verletzt, so muß es am Ende dahin kommen, daß nur noch solche Dinge unternommen werden können, deren Gegeninteressenten schwach, mißliebig oder spärlich sind; das bedeutet die letzte Einschränkung unserer ohnehin so geringen Bewegungsfreiheit. Wir gehen am Interessenten zugrunde.
Wir steigen von der höheren geistigen Ebene zur mittleren herab und finden weniger freundliche Züge unseres Dranges zur Abhängigkeit.
Die menschliche Verflechtung von Autorität und Folge erstarrt zu einer lückenlosen Kette Vorgesetzter und Untergebener, verbunden durch die eiserne Klammer der Subordination. Der Mensch ist nicht ein Glied organischer Gemeinschaft, sondern er ist festgelegt, seinem Werte, seinem Selbstbewußtsein, seinem Ansehen nach, durch die Bestimmung: wen er kommandiert und wer ihm etwas zu sagen hat. Unbewußt wandelt sich jede Beziehung in ein Subordinationsverhältnis: Der Vater ist der Vorgesetzte des Kindes, der Lehrer ist der Vorgesetzte der Schüler, der Schutzmann ist der Vorgesetzte des Publikums, der Schalterbeamte ist der Vorgesetzte der Briefmarkenkäufer, das Militär ist der Vorgesetzte des Zivils, und in den Kolonien fühlt sich, sehr zum Schaden des zivilisatorischen Gedankens, der Weiße vielfach als Vorgesetzter des Eingeborenen.
Subordination! Dies harte Wort spät-lateinischen Ursprungs wird in anderen Sprachen als der deutschen fast nie gebraucht; wir haben es jeden Tag nötig. Es durch Gefolgschaft, Unterordnung, Treue zu ersetzen, fällt niemand ein, denn es bedeutet etwas anderes und soll etwas anderes bedeuten. Selbst Gehorsam und Folgsamkeit, Worte, die auf erwachsene Menschen keine Anwendung haben, würden nicht ausreichen. Der Sinn, den Subordination in uns erweckt, ist schrankenlose Unterwerfung eines Menschen unter das Gebot eines anderen Menschen, und die Symbolik der Ehrenbezeigungen, die dieses Verhältnis bekräftigen, verlangt rückhaltloses Hinstrecken des ganzen Leibes. Es ist folgerichtig, daß in zwei ganz verschiedenen Sprachen gesprochen wird, je nachdem man von unten nach oben oder von oben nach unten sich äußert. Hier wird untertänigst erinnert, gehorsamst anheimgestellt, ganz ergebenst gebeten, bemerken zu dürfen, man beehrt sich, erstirbt, legt sich zu Füßen, dort wird geruht, befohlen, verordnet und im besten Falle ersucht. Hier wird in der dritten Person Pluralis gesprochen, in Ermangelung einer vierten, dort beliebt man vielfach, auch vom jüngeren zum älteren, ein väterliches Du. In höheren Erlassen erscheint unter Umständen das ganze Volk als ein kollektiver Untergebener oder Untertan, es wird zur Treue, zur Pflichterfüllung und zum Gehorsam ermahnt.
Das fortlaufende Kettenverhältnis: Vorgesetzter – Untergebener findet ein gewisses Gleichgewicht in sich selbst: Schärfe gegen den Untergebenen findet ihre Grenze in der Vorsicht gegenüber dem eigenen Vorgesetzten; bedenklichere Folgen können entstehen, wenn die Wirkung nur nach unten stattfindet, weil der eigene Vorgesetzte unerreichbar oder nicht vorhanden ist. Solche Folgen sind vorzeiten gelegentlich im Auslande und in Kolonien entstanden.
Es ist begreiflich, daß unsere Herrenkaste den deutschen Subordinationszustand will und verteidigt, denn er dient ihr dazu, die bestehende Schichtung zu erhalten. Da sie sich gern patriotischer und theologischer Argumente bedient, so hat sie den wirksamem Ausdruck der gottgewollten Abhängigkeit erfunden. Innerhalb der Herrenkaste, die überhaupt in Deutschland die einzige Klasse bildet, welche die inneren Verhältnisse klar überblickt und über auswärtige Vergleiche verfügt, wird denn auch häufig und vorurteilslos über das einheimische Subordinationswesen gesprochen, der Mangel an Würde und Herrentum vermerkt, und insbesondere in seiner Wirkung auf das Ausland gewürdigt. Man hält jedoch das Volk für nicht hinreichend mündig, die feudale Schichtung für zu unentbehrlich, um eine Änderung zuzulassen.
In unseren mittleren Kreisen fehlen die Vergleiche. Man kann sich keinen anderen Zustand vorstellen als den, daß jeder, der es sich leisten kann, kommandiert, und jeder, der es sich gefallen lassen muß, kommandiert wird. Was man von oben empfängt, gibt man nach unten weiter, und noch etwas Eigenes dazu. Wie sollte man dazu kommen, diese Dinge als Sittenfragen zu behandeln? Sie sind nun einmal so und mögen so bleiben.
Es schmerzt mich, wenn ich daran denke, daß unser Land auf den schroffen Begriff der Subordination gestellt ist, während Länder weit geringerer Zivilisationsstufe sich von ihm befreit haben. Führende und Folgende gibt es freilich überall; doch es genügt, das Abhängigkeitsverhältnis im Sachlichen sich auswirken zu lassen, auf menschliche Beziehung soll es nicht übergreifen. Vollends beschämt es mich, wenn ich gestehen muß, daß ich kein anderes zivilisiertes Land gefunden habe, in dem es Menschen gab, die andere grob behandelten, und solche, die sich grob behandeln ließen. Unsere Gutmütigkeit, die für den Begriff des Anschnauzens mindestens ein Dutzend humorvolle Bezeichnungen erfunden hat, entschuldigt uns ein wenig, ein wenig auch unsere Formlosigkeit, doch es bleibt genug übrig, was zu denken gibt.
Freunde, nehmt diese Dinge nicht leicht! Unsere Abhängigkeit schädigt den Menschenwert. Wir brauchen Herrentum und Würde. Hat es nicht manchen unter euch gegeben, den selbst die Äußerungen des Patriotismus vor dem Kriege einen unlieben Beiklang vernehmen ließen? In den frohesten Ruf mischte sich ein aggressiver Schnarrton von Subordination. Bismarck sagte in theoretischer Einkleidung: wir hätten Untertänigkeit an Stelle des Nationalgefühls im Leibe. Wissen wir heute, daß das Vaterland unser Land, der Staat unser Staat, und unsere Treue zum König die freie Zustimmung und Gefolgschaft freier Männer ist?
Sollen wir zu den tiefsten Geistesformen des Abhängigkeitsgefühls niedersteigen? Wenige allgemeine Andeutungen mögen genügen. Wenn das männliche Selbstgefühl erlischt, so entsteht nicht Empörung und Auflehnung, sondern Passivität. Man muß sich manches gefallen lassen und tröstet sich damit, daß es dem Nächsten nicht besser geht, und daß man sich vor ihm nicht zu schämen braucht. Die Oberen haben auch ihre Schwächen, man klatscht darüber, und ist man nicht größer, so sind sie kleiner geworden. Wo geklatscht und denunziert wird, ist man nicht aufsässig. Nur soll der Nächste nicht aufsteigen, da wäre das Spiel verdorben. Beim Unglück des Nächsten ist man nicht ohne Mitleid, beim ersten Strahl des Glücks bricht Neid aus. Sitzen Klatsch und Neid am Tisch, so steht die Pöbelhaftigkeit vor der Tür. Ist jedoch ein plötzlicher Aufstieg geglückt, so zeigen sich alle Untugenden des Emanzipierten, denn der innerlich Unfreie wird durch Befreiung nicht zum Herren.
Genug. Von diesen niederen Formen haben wir nicht viel zu befürchten. Nur eines: Laßt uns den Neid bekämpfen, er ist nicht weit davon, ein nationales Laster zu sein.
Überblicken wir die Erscheinungsformen des unentwickelten Unabhängigkeitsgefühls und des ausgesprochenen Abhängigkeitsdranges, so dürfen wir sagen: Eine Todsünde belastet uns nicht. Wir sind nicht Sklaven, wie einst Friedrich im Zorn uns genannt hat, wir sind nicht Domestiken, wie jener verbitterte Philosoph behauptete. Es ist nicht unsere Sache, von unseren Tugenden zu reden; dies wissen wir, und das mag genug sein: Die Nachwelt wird Mühe haben zu begreifen, was unser Volk im Kriege pflichtgetreu geleistet und heldenhaft geduldet hat.
Doch eines verschweigen wir uns nicht: Das Abhängigkeitsbedürfnis ist eines der schwersten Hemmnisse des inneren und äußeren Aufstieges, es ist der politische Kardinalfehler eines Volkes.
Denn aller Aufstieg setzt die Würde des innerlichsten Entschlusses, den Adel rückhaltloser Entäußerung und das Herrentum des Wollens zur eigenen Verantwortung voraus. Würde, Adel und Herrentum aber können in gewollter und geduldeter Abhängigkeit nicht erstehen.
Gewiß wird Gesinnung den vom Geiste vorgeschriebenen Weg schreiten, und Einrichtungen werden ihr folgen. Doch beiden voran muß der Aufschwung des Willens geschehen, und der, leider, ist gehemmt durch eine einzige Schwäche unseres voluntarischen Charakters.
Würden uns noch heute, als ein himmlisches Geschenk die vollkommensten Einrichtungen des staatlichen und kulturellen Lebens beschieden, es wäre umsonst. Sie würden niedersinken auf den Stand unserer Gesinnung und unkenntlich werden. Denn ein Volk kann seine Güter und Institutionen nur auf derjenigen Höhe halten, auf der es sie aus eigener Kraft zu schaffen fähig ist.
Früher habe ich die Gesinnungen und Ziele beschrieben, denen wir entgegenstreben, heute weise ich euch den friedlichen Kampf, dessen Beginn vielleicht, dessen Ende ich nicht erleben werde. Es ist der Kampf um die Seele unseres Volkes, sein erstes Ziel ist Würde, Adel und Herrentum. Es gibt eine deutsche Sendung auf Erden. Sie ist nicht die Sendung des Militarismus, sie ist auch nicht die Sendung der Mechanisierung und der Technik, obwohl sie diese Nützlichkeiten nicht verschmäht, sie ist am wenigsten die Sendung der Weltherrschaft. Sie ist die Sendung, die sie immer war und immer sein wird: die Sendung des reinen, unbestechlichen, unbeirrbaren und unerbittlichen Geistes. Diese Sendung fordert nicht Emanzipierte und Untergebene, sondern adlige Männer. Es ist nicht unsere Sache, die Kellner, Barbiere und Schneider für London und Newyork zu liefern, sondern als freie Männer auf freiem Boden brüderlich mit den Völkern zu reden und zu wirken, nicht um des billigen Nutzens, sondern um des Geistes und der Menschheit willen; ihnen zu bieten, was wir haben und von ihnen zu empfangen, was wir brauchen.
In eurem Kampfe zählen die Jahre nicht. Es wird euch bekämpfen die Herrenkaste, und das ist schade, denn es sind tüchtige Menschen, klug, mutig und eigenwillig. Doch sie sind kurz von Gesicht und arm an Phantasie; sie wissen nicht, daß im Sturm das fahrende Schiff sicherer ist als das verankerte, sie wagen nicht zu glauben, daß in einem freien Volke ihre Eigenart mehr wert ist als in einem, mit dem sie kämpfen. An ihnen haften zwei Sünden: Sie haben das Volk unmündig gehalten, um es leichter zu beherrschen, und sie haben mit ihrer Herrschaft die Verantwortung zu tragen für jenes Menschenalter schlechter Führung, das die Gewitteratmosphäre schuf. Diese doppelte Schuld wird schwer auf ihnen lasten.
Bekämpfen werden euch die Interessenten, und das ist gut, für euch wie für sie. Sie wissen nicht, daß mit der geistigen und wirtschaftlichen Anarchie, die sie im Lande erregen, sie den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Sie müssen lernen, daß mit den Geschäften von heute auf morgen, die sie erstreben und um die sie sich würgen, das Korn vor der Ernte zertreten wird. Das Futter wird nicht mehr, sondern besudelt und verstreut, wenn man aus Gier mit beiden Füßen in den Napf springt; die Welt ist eng geworden, sie ernährt uns nur dann, wenn die Arbeit sorgsam geordnet und geteilt wird.
Bekämpfen werden euch die Indolenten und mehr noch die Originalsüchtigen. Ihnen ist es nicht um die Sache zu tun, sondern um ein apartes, literarisch verwertbares Gerede von der Sache. Sie glauben die Welt zu ändern, wenn sie Artikel weglassen, Satzglieder umstellen und im Kaffeehaus neue Zeitwörter ausdenken. Mit beiden werdet ihr fertig, denn sie haben einen kurzen Atem.
Beginnt ihr zu zweifeln und fühlt ihr euch im Kampf ermatten, so erfüllt euch mit dem Bilde des ragenden inneren Deutschlands, das wir im Herzen tragen, des Landes der Wahrheit, der Treue, der Geistigkeit, der Innigkeit, des reinen Glaubens; tränkt und sättigt euch mit diesem Bilde, und blickt um euch. Seht ihr dann noch das kreischende, gierige Werben, die vergifteten Genüsse, die zynischen Gestalten der frechen List und der brutalen Schaustellung, die unwürdigen Gebäude und barbarischen Schaustücke: dann hat das neue Reich das alte noch nicht überwunden und der Kampf geht weiter.
Glaubt nicht, es werde das Geringste euch geschenkt. Kein Ereignis von außen, nicht das Glückbringende, nicht das Bedrückende spricht euch los. Bei euch, in euch beginnt der Kampf. Nur wenn ihr frei seid, könnt ihr befreien, nur wenn ihr edel seid, könnt ihr adeln, nur wenn ihr gerecht seid, könnt ihr richten, wenn ihr gütig seid, begüten, wenn ihr gläubig seid, erwecken.
Glaubt nicht den Lobpreisern des Bestehenden; sie preisen was sie besitzen, und festhalten, und dazu erwerben wollen. Oder um der Macht zu schmeicheln, oder, weil man es sie gelehrt hat.
Glaubt nicht den Trägen und Selbstgerechten, die sagen, es sei anderwärts nicht besser. Die Tugenden der anderen sind nicht unser Vorbild, deshalb sind ihre Laster uns keine Entschuldigung. Es ist niedrig, das eigene Ideal an fremder Wirklichkeit zu messen.
Glaubt nicht den Schulweisen, den ohnmächtigen Schriftgelehrten, die verkünden: »Alles bleibt beim alten, es gibt keine Entwicklung.« Alle Eigenschaften, die wir haben, sind erworben, es gab eine Zeit, da keine unserer Tugenden war, und jede unserer Sünden ist eine veraltete Tugend. Die unterworfene Menschheit hat den Weg von der Sklaverei zur Hörigkeit, von der persönlichen Hörigkeit zur anonymen Unfreiheit des Standes durchlaufen, sie wird vor der Freiheit und Solidarität nicht Halt machen. Mit der Erscheinung reift das Erlebnis, im Parallelismus der Gestaltung und Entfaltung liegt die Synthese des Rationalen und Irrationalen.
Freilich fehlt es am führenden Geist, am menschlichen Vorbild, denn wir leben in der Zeit geistiger Anarchie, die nicht die Wahrheit, sondern sich selbst hören will. Kämen die Propheten wieder, man wiese ihnen Unwissenschaftlichkeit und mangelnde Logik nach, und geigte ihnen heim von Kanzeln und Kathedern. Doch je mehr wir uns sträuben, desto härter werden wir geführt, und müssen, wie der Krieg es zeigt, aus unseren Torheiten die Geißeln flechten, mit denen der Dämon uns lenkt.
Ein tiefes Gefühl sagt mir: Ihr schreitet freiwillig den Weg, den wir gezwungen schreiten. Denn wozu wären euch die seltenen, köstlichen Dinge gegeben: das schwere Erlebnis der Jugend, das Suchen nach der Verheißung, die erwachende Liebe zum Menschen? An Macht aber wird es euch nicht fehlen, denn Macht wird dem Volke geschenkt, das die Idee trägt, in dem Idee und Dasein verschmelzen. Ein Volk, das für sich selbst Geschäfte, Ausdehnung, Lebensgüter will, kann Erfolge haben. Dauernde Macht kann nur der schenkende Geist, die adlige Verantwortung, die Autorität der Idee erwerben, erhalten und ertragen.
Lebt wohl, wir scheiden. Die Fackel ruht in euren Händen, die leuchtende und zündende, die verheerende und verklärende.
Seid gesegnet und seid ein Segen unserem Volke. Seid gesegnet mit Härte und Unerbittlichkeit. Die soll euch fest machen gegen euch selbst und gegen den Versucher. Sie soll euch Not und Sorge machen, damit ihr den göttlichen Anspruch nicht leicht gewinnt.
Seid gesegnet mit stolzer Demut, adliger Entsagung und dienendem Herrentum. Die sollen euch niederdrücken und euch erheben, euch zu Dienenden und Schenkenden machen, damit die Welt von euch empfängt und sich euch hingibt.
Seid gesegnet mit suchendem Geist und ruhelosem Herzen, damit ihr durch alle Zweifel und Finsternisse stürmt und den Frieden der glaubenden Seele erringt.
Seid gesegnet mit verzehrender Liebe, die soll als ein Feuer aus euch schlagen, soll euch und das Land läutern von den Schlacken der Zeit und Vorzeit, und auffahren als eine Opferflamme zum Thron des Segnenden.
Zieht in den Kampf um die Seele unseres Volkes.
Geschrieben im Juli 1918.