Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wirtschaft im Walde

1.
Das Präsentl.

An der mondbeschienenen Wand einer Waldkapelle lehnten drei männliche Gestalten in ernst-vertraulichem Gespräch und waren zugleich beschäftigt, Geld zu zählen und sodann den Lauf ihrer Gewehre wohl zu reinigen; zu ihren Füßen lag ein frischgefälltes Reh, darauf ein blankes Waidmannsmesser und um dieses herum gewunden ein großer Zettel, der mit langen Bleistiftzügen auf beiden Seiten angeschrieben war.

Als nun bald darauf das Geld gezählt und der Gewehre Lauf gereinigt war, gingen die drei männlichen Gestalten, wie von selbst verständigt, einige Schritte tiefer ins Gebüsch, und als sie wiederkamen, waren ihre Gewehre, ihre Tirolerhüte mit »Gamsbart« und Feder und ihre grauen Jacken verschwunden; dafür erschienen sie in schönen, neuen Burschenkleidern, weißen Strümpfen, schwarzen Lederhosen, dunkelblauen Sammetjacken, rotseidenen Westen und mit Hüten, die vom Schirme bis zur Höhe von gleichem Umfange waren.

»Wann sehen wir uns wieder, Kameraden?« sagte jetzt der eine und wohl der Rüstigste von allen. »Ich bin übermorgen um diese Stunde wieder da.«

Die beiden anderen Burschen meinten auch nicht später einzutreffen.

»Eine Nacht ist das«, sagte der erste Bursche wieder, »ich kann mir diesen Mond und diese Sternlein nicht genug betrachten; aber was hilft das? Wir müssen auf den Weg, Kameraden, lasst uns unsern Spruch noch sagen, dann gehen wir sicher.«

Jeder nahm den Hut herunter, jeder sagte nun den selben Segensspruch mit Andacht vor sich hin; in diesem feierlichen Augenblicke schien die Mitternacht viel milder noch und stiller, flimmerten die Sterne und der Mond noch lieblicher und frommer. So lautete der Spruch:

»Wenn ich nachts umgeh', der einzige der auf,
Der einz'ge Mensch im dunklen Waldrevier,
Und dort ein schlummernd Vöglein weck' im Lauf,
Und ein Jägersmann begegnet mir:
Lass, o Herr, das Vöglein weiter nicken
Und den Jäger lieber seitwärts blicken;
Denn besser ist's, dass nicht gemordet sei,
So geh' ich friedlich auch an ihm vorbei…«

Die Burschen setzten ihre Hüte wieder auf und reichten sich die Hände.

»Findet eure Alten wohlauf«, sagte der eine Bursche wieder, »ich freu' mich auf die meinen; Glück auf den Weg.«

Die beiden anderen Burschen dankten und gingen ihrer Wege. Der zurückbleibende weckte nun einen Mann, der neben der Kapelle im Mondschein schlafend dalag, und sagte ihm: »Es ist höchste Zeit, Wolf, dass du gehst, die Sterne werden matt, der Mond geht langsam unter.« Der Mann stand bald gerüstet da, den Rehbock auf dem Rücken, das Waidmannsmesser mit dem Zettel in der Hand. »Hast du verschlafen, was du meinem Vater sagen sollst?« fragte ihn der Bursche. »Nein, nein; ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Mann und ging mit großen Schritten ohne Säumen weiter und erreichte nach einer halben Stunde des Waldes Ende und musste dann über flache mondbeschienene Wiesen manches gespensterstille Dorf vorbei und wieder durch Strecken Waldes, bis er Küssüben erreichte und nach unverweiltem Marsche endlich jenem Dorfe in die Nähe kam, welches wir noch wohl erkennen werden, wenn wir hören, dass darin das Hofer-Käthchen und noch viele andere Leute wohnen, welche uns aus früherer Zeit her wohl bekannt geworden sind. Wolf schritt dem Dorfe in einer Richtung zu, dass es zweifelhaft blieb, werde sein Besuch wirklich Hofers Hause oder dem Hause des Nachbarn Lobeiner gelten.

Dem Letzteren galt sein Besuch; das entschieden seine Schritte, als er unter den Linden links einlenkte.

Vor der Stalltür zog er ein langes Messer heraus, stach damit zwischen Pfosten und Türe hinein und schob so den hölzernen Riegel von innen zurück, bis die Türe leise knarrend selbst aufging; als er drinnen stand, riegelte er die Türe wieder zu und ging durch die Vorhalle nach der Stube, wo er nicht ohne Lächeln den Rehbock so vor die Kammertüre legte, dass der morgens aus dem Kammer kommende Lobeiner darüber stolpern musste; auf den Rehbock legte Wolf das Waidmannsmesser und den Brief, sammelte sich dann die Kleider auf den Wandbänken herum als Unterlage, schob sie zu einem weichen Hügel in die Ecke hinter dem großen Tisch zusammen, legte darauf sein müdes Haupt und daneben auf die Wandbank, gestiefelt und gespornt, wie er war, seine übrige Körperlänge und schlief ein.

Leise dämmerte es bald darauf im Osten, und es krähte der Hahn zum ersten und zum zweiten Male; als er zum dritten Male krähte, ging die Kammertüre auf, und Lobeiner trat im halben Morgenanzuge heraus.

»Himmel und Erden«, rief er, »was ist das schon wieder? So gibt er's denn nimmer nach und schickt doch immer wieder ein solches Sündenvieh um das andere? Ich will nichts von ihm, ich mag nichts von ihm, ich habe noch einmal den Tod vor purem Ärger!«

Umblickend, wer das Tier gebracht habe, sah er den Wolf auf der Wandbank liegen.

»Hab' ich mir's nicht gedacht«, sagte er, »wenn mir ein solches Sündenvieh vor der Kammertüre liegt, so liegt mir der Wolf auf den Bänken?«

Wolf war erwacht und sagte: »He, warum nicht gar, soll ich mich auch mit dem Vieh vor die Kammertüre legen?«

»Nun, dir werde ich bald ein eigenes Bett im meiner Stube aufschlagen müssen? Rar wär das, wenn's mir auch recht sein könnte. Sag' mir nur, Wolf, warum hast du mir denn schon wieder ein solches Tier von meinem verzweifelten Burschen ins Haus gebracht? Ich habe dich gebeten, ich habe dir gedroht, ich habe dich verwünscht, ich habe dich bestochen und dir noch mehr versprochen, wenn du mir nimmer mit einer Botschaft von meinem Sohn ins Haus kommen wolltest, besonders mit einem solchen Sündengeschenk nimmer – ich versperr' und verriegle mein Haus alle Nacht anders, und doch kommst du mir herein, und doch bringst du mir wieder ein solches Sündengeschenk, und ich finde dich wie einen notwendigen Gast alle gewisse Zeiten einmal früh morgens auf meinen Bänken? Was soll ich noch tun? Soll ich dich wirklich angeben und auffangen und einsperren lassen? Soll ich auf die Weise dich und meinen Sohn und mich und mein Weib noch unglücklich machen? Sag', sag', was soll ich tun?«

»Freund Gottes, liebreicher Lobeiner, wenn du wieder spannst, dass ich kommen könnte, so leg' mir zu deinem Gewand' noch ein Polster her, dass ich mein altes Schöpflein um einen Deut weicher niederlegen kann – das, mein lieber, guter, alter Freund, das tu' und das andere lass bleiben. Jetzt aber sei ein wenig still, ich bin noch voller Schlaf, und wenn du dich gewaschen, angezogen, gebetet und zur Morgensuppe bereit gemacht hast, so weck' auch mich, ich werde Hunger haben. Derweil kannst du dich auch mit dem Brief unterhalten, den ich dir mitgebracht habe; er ist von deinem Sohn und wie mit Heugabeln geschrieben; dort liegt er auf dem Reh – und jetzt bitt' ich mir aus, lass mich in Frieden, es ist ein Sonntag heunde, und da ruhen alle friedlichen Geschöpfe.«

»Was?« rief Lobeiner sehr erbittert, »einen Brief untersteht er sich auch noch zu schicken? Ich will nicht wissen, was er tut, ich mag nicht wissen, was er schreibt; er soll mir lieber aus den Wäldern heimkommen, soll mir in der Wirtschaft an die Hand gehen, dann braucht's so was alles nicht – ich mag den Brief nicht lesen!«

Doch bückte er sich schnell nach dem Zettel und suchte ihn zu verbergen, als er in der Kammer Schritte hörte und gleich darauf die Türe aufging und sein Weibchen heraustrat.

»Mann, mit wem schrei'st du denn in aller Frühe schon, dass man keinen Hahn und keine Glocken zum Dorfaufwecken brauchte?« sagte sie und stieß während dieser Rede an das Reh.

»Wenn du nicht achtgibst«, erwiderte ihr Mann, »so kannst du über die Antwort fallen.«

»Da liegt ja schon wieder ein Stück Wild?« rief die Lobeinerin lebhaft.

»Ein schönes Stück Reh!« erwiderte der Lobeiner.

»Ach, das schickt uns gewiss wieder unser Sohn; er kann uns halt doch nicht vergessen!«

»Ich wollt', er hätt' uns vergessen, als dass er so an Unsereinen denkt.«

»Du, mit deinem ewigen Zorn und Schimpfen, du musst gerade glauben, damit wirst du unsern Sohn bekehren. Wenn es mir nicht gelungen ist, als ich ihm vorgeweint und vorgejammert habe, wie soll's denn dir gelingen, du ewiges, ewiges Brummeisen, Mann? Einer Mutter muss so was möglich sein mit schönen, guten Worten, sonst ist alles den Mäusen gepfiffen. Jetzt aber ist er einmal nicht mehr zu bekehren, und so müssen wir uns gutwillig drein ergeben. Geh', hilf lieber das wunderschöne Stück Tier aufheben und in'n Keller hinunterschaffen, eh' noch jemand kommt und das verbotene Geschäft sieht.«

»Hinunterschaffen will ich's helfen«, sagte der Lobeiner, »aber weiß Gott, ich habe den letzten Bissen von seinen Sündengeschenken schon verkostet.«

»Jetzt hör' auf und zieh etwa einen rohen Mehlbrocken einem geschmachen Bissen Fleisch vor, du wunderlicher Mann«, erwiderte die Lobeinerin, während sie mit größter Anstrengung ihrem Manne behilflich war, das schwere Tier nach der Kammer zu schleppen.

»Ich hab's gesagt und will einmal Wort halten«, fuhr Lobeiner fort, »die Sündenkost muss einmal aufhören.«

»Ich esse noch lange so fort«, erwiderte die Lobeinerin, »jetzt ist es einmal so. Willst du etwa das Tier verkaufen? So treibst du mit der Sünde noch Handel auch. Willst du's verschenken? So kannst du morgen alles verraten haben. Was willst du also mit dem unglücklichen Tier anfangen? Am besten, wir sind still und verkosten das Geschenk alle Tage und verbieten aber unserm Sohn aufs Neue ein solches Schicken.«

Als das Reh im Keller langgestreckt so vor ihnen an der Wand hing, sagte die Lobeinerin mit wehmütiger Miene: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was in manchem Menschen schon von Natur aus stecken muss, dass er gar so eine Freude haben kann, und kann so ein ganzes Jahr Winter und Sommer in den Wäldern herumsteigen, immer das leidige Gewehr in der Hand und immer auf so liebe Tiere erpicht, und sie haben doch gar nichts verbrochen. Hab' ich oder hast du eine solche Manier im Herzen? Wie ist unser Sohn dazu gekommen?«

»Von uns hat er ein solches Erbteil nicht«, erwiderte der Lobeiner, »ich bin grimmig wie ein Wolf auf jede Wilderei, sie ist eine Sünde, sie ist eine Schande und kann über kurz oder lang das Leben kosten.«

»Ich möchte einmal wieder mit unserem Kinde reden können«, sagte die Lobeinerin noch wehmütiger als zuvor, »vielleicht hat er uns eine freundliche Botschaft sagen lassen, vielleicht will er uns selbst einmal wieder heimsuchen. Das wäre mir einmal wieder ein rechter Herzenstrost; ich mein', wenn ich ihn sehe, frisch und gesund, so habe es doch keine so große Sünde und Gefahr mit seinem Leben – hat er uns keine freundliche Botschaft sagen lassen?«

»Draußen auf der Wandbank liegt der Wolf, der hat uns das Reh gebracht, und wenn er ausgeschlafen hat, wird er uns das Weitere erzählen.«

Die Lobeinerin verrichtete nun in aller Stille die Vorbereitungen zur Morgensuppe, damit sie den Boten ihres Sohnes nicht im Schlummer störe, und der Lobeiner schlich aus dem Hause, um doch den Brief zu lesen, bevor sein Weib noch darum wusste.

Im Briefe stand:

»Lieber Vater und liebe Mutter zugleich; ich schicke euch da einen Brief und einen Gruß dazu und einen frischen Rehbock auch daneben und bitt' euch nur, nehmt alles von Herzen gern auf. Ihr macht euch immer einen unnützen Kummer über mich und mein Leben, das hat mir schon manches Mal hart nachgesetzt, aber breche ich durch finstere Wälder oder steh' auf einer Felsenspitze oder knallt meine Büchse, dann ist es schon wieder ruhig in mir, und ich denk', jeder Mensch muss doch seine Lust und sein Handwerk haben. Nichts für ungut, liebe Mutter und lieber Vater, und wenn ihr noch etwas von euerm Sohne wissen wollt, ich bin in St.-Katharina, es ist Musik da heunde. Gott zum Gruß, lieber Vater und liebe Mutter, wenn ihr nach St.-Katharina kommt, so macht im Anfang nichts dergleichen, als ob ihr mich kennet, setzt euch nur so bei Seite unterdessen, ich muss den Leuten nicht bekannt vorkommen, dann auf einmal machen wir uns heimlich auf den Weg, und ich will vielleicht bei euch zu Hause übernachten. So, das habe ich zu schreiben; was euch der Wolf noch mehr verzählen will, das mag er tun, ich habe ihm nur noch einen Gruß befohlen. Kommt, ich bitt' euch recht schön, lieber Vater und liebe Mutter, kommt gewiss, im Wirtshaus werdet ihr mich tanzender finden.«

Lobeiner ging eine Weile unschlüssig im Garten auf und nieder, ob er sich zu dieser Zusammenkunft mit seinem Sohne verstehen solle und ob es überhaupt ratsam sei, sein Weibchen von dem Inhalte des Briefes zu unterrichten. Nach St.-Katharina gehen und den Unverbesserlichen wie so oft durch ernsthafte Ermahnungen bekehren wollen, schien wie immer fruchtlos zu bleiben; seinem Weibchen aber den Inhalt des Briefes mitteilen, hieß dagegen eine Zusammenkunft unvermeidlich machen, denn sie scheine ihre Liebe zu dem Burschen in dem Maße zu verstärken, als die Lebensweise desselben an Gefahren reicher wurde.

Endlich siegte doch der Vorsatz, mit dem Inhalte des Briefes kein Geheimnis zu machen, und Lobeiner kehrte in die Stube zurück.

Hier traf er sein Weibchen bereits in lebhaftem Gespräche mit Wolf, der, etwas aufgerichtet und den Kopf in die hohle Hand gelegt, der neugierigen Mutter erzählen musste, was ihm von dem Leben und Treiben ihres Sohnes bekannt war; mit freudestrahlendem Gesichte hörte sie nun das Gute an und weinte bitterlich, wenn sie dann und wann einer großen Lebensgefahr erwähnen hörte. Auf ihre Klage, warum sich ihr Sohn so lange nicht mehr blicken lasse und von Zeit zu Zeit nur einen Boten schicke, erwiderte Wolf verdrießlich: »Ich habe ja einen Brief gebracht, vielleicht steht darin, dass er Euch bald heimsuchen werde; gewiss hat Euer Mann den Brief geschwinde wieder verschleppt, und ihr vernehmt kein Wort daraus.«

Lobeiner hatte sich wohl beraten, seinem Weibchen den Brief nicht vorzuenthalten; denn jetzt, nachdem sie davon wusste, wäre alles Weigern und Verbergen auch umsonst gewesen.

Als er eintrat, kam ihm Vronl schon mit dem neugierigen Freudenrufe entgegen: »Wo ist der Brief? Wir haben einen Brief von ihm.«

Lobeiner sagte: »Ja, wir haben einen«, und wollte den Brief zögernd in der Hand behalten; bevor er sich's indes versah, war er ihm entrissen und, so groß er war, entfaltet. Aber da gab es jetzt einen neuen Jammer: Vronl konnte selbst die Schrift nicht lesen, also musste der Brief notgedrungen in Lobeiners Hände zurückwandern.

Mit einem tiefen Seufzer ihren geringen Fleiß in der Schule betrauernd, gab sie den Brief zurück und sagte: »Mann, Mann, wenn du mir nur ein »s« nicht ordentlich herunter buchstabierst, so kriegst du mein Leben keinen frohen Blick mehr von mir.«

»Wenn ich schon lese, so will ich ordentlich lesen«, erwiderte Lobeiner und teilte den Brief auch ungeschmälert mit.

Als der Brief noch kaum zu Ende gelesen war, rief die Lobeinerin lebhaft aus: »O, das versteht sich, dass wir nach St.-Katharina gehen, wir wären ja erschreckliche Eltern, wenn wir unser eigenes Kind nicht einmal aufsuchen wollten! Jetzt ist es beinahe schon ein Jahr, dass wir unsern Sohn nimmer gesehen haben, es ist auch die höchste Zeit, dass wir ihm wieder einmal ans Herz reden, wer weiß, was heute geschieht, wenn er mich klagen hört und seinen Vater ernsthaft reden. Und über Nacht muss er zu uns kommen; ich will ihm dann gleich sein Bett herrichten – Gott, wenn ich denk', dass er oft Nächt' und Nächte in kein weiches, warmes Bett kommt, mir will's das Herz zersprengen!«

Lobeiner legte den Zettel langsam zusammen und schärfte die Kanten des Papiers, indem er sie nachdenklich zwischen seinen Fingern durchzog: »So will ich dir nichts weiter einreden«, sagte er, »ich mag wohl mitgehen, und wenn's nicht anders ist, mein Ehrliches mitreden, aber ich glaub' an keine Frucht bei unserem Burschen, wir werden ihn gesehen und verlassen haben, er wird der Alte sein.«

»Ja, du bist von jeher so gewesen und bist ihm immer widerstanden«, fiel ihm sein Weibchen lebhaft ein. »Jetzt weißt du auch das alles schon voraus. So habe doch auch einmal Geduld und Vertrauen auf deinen Sohn wie ein anderer Vater. Kann es denn sein, dass ein Mensch gleich beim ersten und zweiten Anlauf ein ganz anderer wird? Lass ihm Zeit, beim zehnten Anlauf kann es ihm am Ende doch erscheinen, dass wir recht haben, wenn wir ihm sein Leben verwehren wollen.«

»Ah, ah, mit euch Leuten übereinander«, sagte Wolf, sich düster lächelnd auf sein Banklager zurückstreckend, »ihr verkauft auch das Bärenfell, ehvor ihr noch den Bären habt. Mir ist alles recht, bringt nur die Morgensuppe.«

»Du bist auch so einer«, erwiderte die Lobeinerin hitzig, »du kannst auch nur immer von meinem Kind wie von einem verlorenen Schaf herumreden, dir wär' ein solches Zigeunerleben freilich lieber, es ist auf deinem Nest gebrütet; aber ich will euch doch beweisen, dass die Mutter noch mehr vermag als ihr alle zusammen, und heute will ich's dahin bringen, dass mein Sohn sein Wetterleben aufgibt, euch allen zum Trotz und mir zu Liebe!«

»Schamster (Gehorsamster), mir ist's recht«, sagte Wolf ruhig lächelnd; der Lobeiner setzte begütigend hinzu:

»Nun, nun, liebes Weib, das ist ja alles nicht so gemeint, wie du es nimmst, wir möchten so gerne als du ein Bessern und Heimkehren von unserem Burschen; aber wir meinen halt, es wird so leicht nicht gehen, wie du meinst, und das betrübt uns herzlich.«

Die Lobeinerin erwiderte nichts mehr und ging hinaus; als sie mit der Morgensuppe hereinkam, war sie sehr abgeweint und abgehärmt. Sie setzte sich trotz aller Aufforderungen der Männer nicht zum Tische, sondern aß erst einige Löffel Suppe in der Küche allein, nachdem die Männer abgegessen hatten; Vronl blieb auch stille und nachdenkend, als sie hierauf neben ihrem Manne in die Frühmesse ging.

In der Kirche weinte sie wieder bitterlich und bat nur unsern lieben Heiland, dass ihr heute recht was Eindringliches einfallen möchte, um ihren Sohn auf einen besseren Weg zu bringen. Heiterer verließ sie die Kirche und war auch wieder gesprächiger, als sie mit ihrem Manne nach Hause eilte, um nach kurzer Rast und Stärkung den Weg nach St.-Katharina anzutreten. Wolf war nicht mehr zu sehen; er hatte sich zwar auch den Schein gegeben, als suche er die Wege nach der Kirche, allein nach wunderlichen Wendungen durch die Felder machte er auf einmal rechtsum und verschwand im nahen Waldesdunkel. »So wird's unser Gregor auch alle Sonntag machen«, hatte sich dabei die Lobeinerin im Stillen gedacht – jetzt auf dem Wege nach St.-Katharina machte ihr ein anderer Gedanke Sorge, und den verschwieg sie ihrem Manne nicht.

Gerade am Wetterbühel vorübergehend, bemerkte sie: »Du, lieber Mann, es lässt mir keine Ruhe, dass uns der Wolf heute eher davon ist, ehvor wir mit unserem Sohne noch geredet haben; jetzt wird er wie ein losgelassenes Reitross auf unseren Sohn lossprengen und ihm etwa die Hölle so heiß machen, dass er uns ganz und gar im Stiche lässt und gar nicht nach St.-Katharina kommt.«

»Für das halt' ich den Wolf nicht, liebes Weib«, beruhigte sie ihr Mann. »Der Wolf wird alt und mag schon auch in aller Stille an ruhige Lebenstage denken, er wird unserem Sohne nicht rechts, nicht links mutwillig zeigen, ich glaube sogar, er sucht ihn gar nicht mehr auf, legt sich wo in einem Waldeck auf das Gras und verschläft den Tag; höchstens dass er gegen Abend wo in eine Schänke sitzt und sein Glas Bier verkostet.«

Gerne ließ sich Vronl diese Antwort auch gefallen; sie ging getröstet weiter, obwohl sich ihre Spannung auf das Wiedersehen fast mit jedem Schritte mehrte.

»Ah, dort seh' ich schon St.-Katharina«, rief sie, als sie einen Turm aus weiter Ferne schimmern sah, »es schaut über alle Hügel und Bäume herüber, ich weiß nicht, wie mir ist. Was meinst: Wird jetzt die Musik bald angefangen haben?«

»So viel ich aus dem Stand der Sonne kenne, noch nicht; auch haben wir ja noch nirgends zu Mittag läuten gehört.«

»Ist wahr«, sagte Vronl und setzte hinzu, als sie eine Schar Kirchgänger nicht weit von ihnen aus dem Walde treten sah: »Schau, da kommen erst die Leute aus dem letzten Gottesdienst – was glaubst, sind etwa gar Bekannte darunter? Die werden allerlei fragen und wissen wollen – ich meine, wir gehen lieber ganz bei Seite.«

Sie traten in das Waldesdunkel und erschienen erst wieder auf den freien Waldwegen nach St.-Katharina, als die Kirchengänger bereits eine gute Strecke vorüber waren.

In der Nähe von St.-Katharina hielt die Lobeinerin plötzlich an.

»Mann«, sagte sie, »hör' einmal das wunderliche Brummen, es ist wie unterirdisch und dann wieder gerade, als käm' es aus der Luft herunter, und dann wieder wie aus dem Walde: Was meinst du, ist das wohl?«

»Ich hör' das Ding auch schon eine gute Weile«, erwiderte Lobeiner und setzte nach einigen Augenblicken hinzu: »Auch saust und säuselt es mir dann und wann um die Ohren, dass ich gar nicht errate, was denn das sein könnte? Wart', wir gehen noch eine Strecke weiter, vielleicht dass es sich dann eher erraten lässt.«

Plötzlich drang ein schmetternder Trompetenstoß an ihre Ohren, und wie aus einem Munde riefen beide: »Jetzt weiß ich auch, was das andere bedeuten soll; das ist der Bass, der so brummt, und das Säuseln kommt von den Geigen, die Musik ist schon vollauf, und es muss im Wirtshaus schon mit aller Hitze hergehen; nun ist auch unser Sohn schon da, der lässt bei so was nicht lange auf sich warten.«

2.
Das Wiedersehen.

Jauchzen, Drehen, Stampfen, Lachen, Schreien, Jubeln, Musizieren in der Wirtsstube; eine vollständige Freudenschlacht wurde hier bereits geschlagen. Lobeiner blieb von außen an einem Fenster stehen, und seine Blicke suchten seinen Sohn. Da wollte es der Zufall, dass ein Bursche mit gewaltigen Armen seine Tänzerin mitten aus dem tollsten Rundgedränge über die Köpfe aller Tänzer weg nach einem freieren Winkel der Stube hinaushob und da ein lustiges Drehen auf einem Flecke begann. Eine unwillkürliche Freudenröte überflog Lobeiners Gesicht, denn er erkannte in diesem prachtvollen Burschen trotz dem dichten Bart um Kinn und Lippen seinen Sohn. Dieser erblickte seinen Vater nicht sogleich und war nur Leben und Freude, alle Augen waren auf ihn gerichtet, ohne dass ihn jemand erkannte. Jetzt eilte die Musik dem Schlusse zu, ein rascheres Spielen und ein lauteres Jubeln bezeichnet diesen immer; Lobeiners Gregor wollte seine Tänzerin am Fenster vorüber zu einem Tische führen, um sie trinken zu lassen, da entdeckte er seinen Vater draußen. Nur ein paar freudige Blicke warf er ihm zu und nickte im Vorübergehen leise mit dem Kopfe, worauf Lobeiner, den Wink verstehend, mit einem Glase Bier zu den Linden zurückkehrte, wo sein Weibchen bereits in Gedanken dasaß und auf eine Anrede an ihren Sohn studierte; wenn sie aber mitten in ihren Gedanken ihn im Geiste nahen sah, da war ihr ganzes Angesicht ein freudiges Lächeln, und sie streckte unwillkürlich ihre Hand aus und sagte: »Grüß dich Gott, mein lieber Gregor.« Ihr Herz pochte fast hörbar, als ihn Mann zurückkam und die Nachricht brachte: »Er ist da, gleich wird er kommen.« Nun hatten beide ihre Augen immer auf das Wirtshaus gerichtet, um ihn jetzt und jetzt unter vielen anderen Menschen aus der Türe treten zu sehen; sie hatten bereits das Glas Bier getrunken und hätten sich gerne wieder auf die Heimwanderung begeben, aber Gregor kam immer noch nicht. Lobeiner legte das Geld für das Bier ins Glas, um jeden Augenblick zum Aufbruche bereit zu sein, wenn der Erwartete käme; dem Wirte sagte er, sein Durst sei vorüber, er habe Eile nach Hause, und gab ihm das Glas mit dem Gelde – aber Gregor kam noch nicht.

Da hörten sie auf einmal hinter sich im nahen Gehölze pfeifen, und Gregor stand lächelnd zwischen den Bäumen, den Hut lustig gegen ein Ohr gerückt und die Sammetjacke über der Schulter.

»Ich muss euch ja zeigen, wie geschickt ich in Wendungen bin, wenn mich jemand gradaus erwartet«, rief er seinen Eltern sehr heiter entgegen. »Mutter, Mutter«, fuhr er fort, als diese ihm nahe kam, »nur kein trauriges heute und keine nassen Augen: Könnt' ich gesünder sein, könnt' es mir besser gehen?«

Zu seinem Vater gewendet, sagte er: »Vater, auch wir wollen heute was anderes reden als sonst immer, drum nur nicht verdrießlich sein!«

Beide Eltern reichten ihm ernsthaft die Hände.

»Ich weiß«, fuhr er fort, »ihr habt euch allerlei Vermahnungen umgehangen, als ihr von Hause fortgegangen seid; Ihr, Mutter, werdet Euch gedacht haben, heute soll er meinem Zureden nicht mehr widerstehen, ich will ihm zusetzen, dass er mir gar nicht aus kann und weinen dabei, dass es Steine rühren muss: Hab' ich dich deswegen so lange genährt, gewartet, auf den Händen getragen, werdet Ihr Euch vorgesagt haben, dass du mir jetzt in die Wildnis entläufst, als hättest du kein Dach und Fach mehr und keine Mutter und keinen Vater mehr zu Hause? Kehr' wieder um, geh' heim mit uns, sei wieder unser ruhiges, gutes Kind zu Hause; das und noch manches werdet Ihr Euch noch viel schöner einstudiert haben, Mutter, und ich sag' es Euch voraus, damit Ihr es nicht selber müsset und die Klage gleich so ein Ende hat ... Ihr, lieber Vater, werdet Euch noch viel ernsthafter ausgerüstet haben, wie z.B.: Heute, ungeratener Bursche, siehst du mich und deine Mutter zum letzten Mal, wenn heute unser Reden nicht helfen wird; du gehst mit uns, bleibst bei uns, gibst dein Vagabundenleben auf, oder sei verstoßen und verbannt von uns fürs ganze Leben, wir wissen nichts mehr von dir. Wie oft habe ich dir untersagt, du sollst mir kein solches Sündentier mehr als Geschenk unter mein Dach senden? – Und heute liegt ein solches wieder vor der Kammertüre; wie oft hab' ich dir verboten, du sollst dir gar keine Mühe mehr geben und mir einen Brief oder anders Schriftliches senden? – Und beim Rehbock liegt doch heute wieder ein Zettel mit deiner Schrift. Ich will, dass du selbst in mein Haus kommst und in meinem Hause bleibst und schaffst, was wir, deine Eltern schaffen, und verspeisest, was wir, deine zufriedenen Eltern verspeisen – alles, was anders und darüber ist, das gilt uns nichts, du ärgerst damit nur mich und deine Mutter! ... Das, Vater, wird wohl die Hauptsache sein von dem, was Ihr im Herzen traget; ich sag' es auch Euch voraus, damit ich selbst das Gewehr losdrücke, bevor Ihr's auf mich anlegt. Wenn ihr nun seht und wisst, liebe Eltern, dass ich das alles mit mir selber schon verredet und verhandelt habe, so, denk' ich, lassen wir die ganze Sache jetzt beiseit' und reden von was anderem und freuen uns viel lieber, dass wir jetzt wieder gesund beisammen sind, ich geh mit euch nach Hause.«

Diese Rede hatte sowohl dem Vater als der Mutter die Ermahnungen von den Lippen weggenommen und in heitere Selbstanklage verwandelt, sodass es jetzt nicht leicht war, sie in ihrer ursprünglichen Fassung wieder zurückzufinden und aufs Neue als strengen Ausfall loszulassen; Lobeiner schien indessen sich dazu bereit zu machen, seine Stirne lag in strengen Falten, und er begann nach einer Weile:

»Was du vorbringst, Sohn, das kommt geraden Wegs aus deinem eigenen Gewissen, und dein Gewissen und deine Eltern, scheint's, reden einen Sinn. Du bist schuld, wenn ich gleich bei unserm ersten Gruß ...«

Die Mutter fiel ihm in das Wort:

»Mann«, sagte sie, »er geht mit uns; wenn du was gar so dringend sagen willst, so sag' es später, es ist nicht recht, beim ersten Gruß wie du gleich eine Stirn zu machen und wie ein Aschermittwochsprediger zu reden. Hätt' ich nicht auch gar vieles zu sagen und vielleicht mehr als du? Geht der Mutter das Leben von einem so einzigen Kind nicht mehr zu Herzen als dem rauen Vater? Lass gut sein, was du auf dem Herzen hast; du hast ihm auch nichts anderes zu sagen, als er sich selber jetzt ins Gesicht geworfen hat, ob du es mit deiner eigenen Stimme vorbringst oder nicht, das ist jetzt schon alles eins; gesagt ist gesagt.«

»Wenn ich nicht reden soll, wozu dann bin ich mitgekommen?« sagte Lobeiner verdrießlich.

»Doch nicht, dass du auf deinen Sohn wie eine geladene Kanon gleich losfährst und ihn mitten auseinander reißest?« erwiderte die Mutter heftig und setzte unter Weinen hinzu: »Lieber Mann, denk' nur zurück, wie wohl es dir getan hat, wenn du vor Zeiten ein strenges Wort von deinem Vater verdient hast und du bist dahergeschlichen mit Herzklopfen und zugemachten Augen, einen Seufzer um den andern in der Brust – und auf einmal sagt dein Vater gutmütig, diesmal will ich dir's verzeihen, versprich mir nur, nicht wieder so zu werden, und streichelt dir das Haar und streichelt dir die Wange und sagt, jetzt geh und mach' mir ein anderes Mal mehr Freude? Bist du nicht auf und davon mit Sätzen so hoch wie das Gebirge dort, mit einem Freudengeschrei, dass dir alle Leute wehren mussten, mit dem allerinnigsten Vornehmen zu werden wie ein Engel Gottes? Mit Schlägen wärst du traurig, verschmitzt, böse davon geschlichen, und nichts wär' es geworden mit deinem Besserwerden! Das bedenk', Lobeiner, das ist jetzt gerade ein rechter Augenblick, wo wir mit guten Worten mehr ausrichten als mit bösen. Nicht wahr, mein Sohn?«

»Ja, ich bin schon für gute Worte«, erwiderte Gregor lächelnd. »Ich glaube auch, der Vater hat's so arg nicht auf der Zunge gehabt; etwas anderes ist's, wie man sich's im Herzen vornimmt, da sieht es oft schwarz und verwirrt und giftig genug aus – wie man's aber einem ins offene Gesicht sagen soll, da beutelt sich doch bald das Schlimmste davon ab, und das Mildere wird erst nur halb gesagt.«

»Du bist schnell über den Zaun hinweg«, erwiderte der Vater. »Es ist gar nicht übel, wie du dir einbildest, dass ich deinetwegen meine Worte erst durch das Sieb fallen lasse, dass dich ja kein unrechtes Steinchen treffe! Verdank's deiner Mutter, wenn ich's für jetzt nicht länger spinnen will ... Sonst bist du mir als mein Kind willkommen.«

»Nun, das ist einmal ein Wort von dir«, sagte Vronl freudig. »Lass nur die Sonne noch weiter scheinen so, es wird dir auch nicht schaden.«

Lobeiner sah jetzt zum ersten Mal ordentlich auf, und wie es schon geht, wenn sich die Menschen gutmütig in die Augen sehen, so war auch sogleich der Friede bis auf Weiteres wiederhergestellt, und man ging vergnügt der Heimat zu.

»Sag' mir nur«, bemerkte Lobeiner nach einer Weile mit Lächeln, »wie kommst du nur in so kurzer Zeit zu so viel Bart? Wenn das so fortgeht, so gibt das ja Schatten für ein paar Joch Felder!«

»Solche Wälder wachsen nur im Freien, Vater; Wald zügelt Wald heran«, erwiderte Gregor.

»Ja«, sagte die Mutter, mit Freude und Wehmut aufblickend, »jetzt ist gar keine Gottesmöglichkeit zu sehen, was um den Mund herum geschieht, sonst ist jedes Schmunzeln doch gleich sichtbar gewesen. Das muss schon ein ordentliches Gelächter sein, wenn es durch diese Bartwildnis durchdringen soll.«

Gregor ließ gerne solche gutmütigen Scherze gelten, da sie Folgen eines jungen Friedens waren, an dem ihm doch am Ende viel gelegen war; er stimmte aus voller Seele selbst mit ein. So ging man gemütlich heimwärts weiter und stärkte sich dann und wann im Vorübergehen an einem frischen Wirtshaustrunke.

Das heimatliche Dorf erblickend, sagte die Mutter: »Ja, dass ich dir auch sage – du weißt ja gar nicht, dass du heuer schon Rekrut gewesen bist, und wir haben schon sagen müssen, dass wir von dir nichts wissen; du wärst uns nimmermehr vom Maßstab heimgekommen.«

»Wenn ich nicht schon Wilderer wär', ich wär's von da an geworden. Lieber, ich schieße Tiere im Wald als Menschen im freien Feld.«

»Ja, aber was ich für Plag' und Verhöre deswegen überstanden habe, das bedenkst du nicht. Ich bin noch immer aus der Kanzleistube wie aus einem Backofen heraus, Schweiß von oben bis unten, wenn sie dich mir aus der Haut hätten schneiden können, sie hätten's getan.«

»Jetzt aber habt ihr Ruhe?«

»Seitdem haben wir nichts mehr gehört«, erwiderte der Vater.

Unter solchen und vielen anderen Gesprächen erreichten sie ihr Haus, welches zuerst die beiden Alten betraten und nach kurzem Zwischenraume und auf kleinen Umwegen erst der Sohn. Es lag ihnen sehr daran, dass sie niemand sehe.

3.
Der Abschied

Bald rauchte der Kamin, und Vronl war in der Küche um ein ausgiebiges Abendesen bemüht, während Gregor im Keller bei schwachem Kerzenscheine frisch am Werke war, den Rehbock mit seinem blanken Messer auszuweiden; Vater Lobeiner stand auf der untersten Stufe der Kellertreppe und sah von Weitem nachdenklich zu. Es freute ihn die leichte, appetitliche Fertigkeit des Sohnes, doch konnte er von Zeit zu Zeit einem leichten Schauern nicht wehren, welches unwillkürlich durch seine versöhnliche Stimmung zog.

Eine solche unheimliche Empfindung beschlich ihn eben wieder, als sein Weib wie eine Leiche bleich in die Kammer schwankte und mit der Stimme des Entsetzens sagte:

»Jesus, Jesus, mein Sohn mach', dass du aus dem Hause kommst!«

Mit zwei Sprüngen war Lobeiner bei diesem Rufe die Kellertreppe herauf und sagte:

»Was machst du so peinlich, Weib, was gibt's?«

Vronl konnte nur mehr durch die halb offene Kammertüre nach der Stube zeigen; ein Soldat trat eben herein, er musste sich durch die niedere Türe bücken und stieß den Kolben seines Gewehres mächtig dröhnend vor sich auf den Boden.

»Es ist geschehen«, wollte Lobeiner mit Entsetzen sagen, aber er brachte diese Worte nur mehr halb heraus; so viel Geistesgegenwart indessen behielt er noch, zu tun, als käme er ganz arglos aus dem Keller, und ließ die Tür langsam nieder.

Den Sohn hörte er unten ein fröhliches Lied singen, als er mit der Pein des Todes in allen Gliedern dem Soldaten entgegenging und hinter sich die Kammertüre schloss.

»Der Jakob Lobeiner da zu Haus?« sagte der Soldat.

»Ja, der Jakob Lobeiner, der bin ich«, erwiderte dieser.

»Dann gut, gut«, sagte der Soldat und lehnte das Gewehr in die nächste Fensterecke. »Ich bleibe da.« Er machte sich's ohne Weiteres bequem, legte Tschako und Säbel ab und zog einen Exekutionszettel aus der Brust.

»Ich bin einquartiert bis auf weiteren Befehl«, sagte er und reichte den Zettel dem Lobeiner hin.

»Herr Soldat«, erwiderte er mit aller möglichen Fassung, »wenn's sein muss, ich kann auch nichts dagegen.« Er las und ersah, dass es eine Exekutions-Einquartierung sei, und die ihm hier zuteilwurde, weil er seinen Sohn nicht zur Rekrutenstellung geliefert und vorgegeben hatte, er wisse überhaupt nichts Näheres von ihm, ob er lebe oder in der Fremde gestorben sei.

Der Exekutionsbefehl besagte, dass die Einquartierung so lange dauern und von Zeit zu Zeit durch einen Mann Verstärkung erschwert werden würde, bis der Jakob Lobeiner seinen landesflüchtigen Sohn ausliefern oder dessen Aufenthalt nach bestem Wissen eingestehen werde. Die Kost sei gesund und kräftig, verfügte der Befehl noch ferner, und jedem Manne werde allwöchentlich auch drei Mal frisches Fleisch verabreicht. Der Soldat habe Ordre, mit Strenge das Angewiesene zu fordern, aber auch mit Genügsamkeit das Dargereichte zu empfangen. Zwei Groschen waren extra jedem Manne täglich zu bezahlen.

»Herr Soldat«, sagte Lobeiner, als er den Befehl gelesen hatte, »es ist mir leid um Eure Mühe, aber Ihr sollt bei mir zufrieden sein.«

»Durst hab' ich«, sagte der Soldat, indem er sich am großen Ecktische niederließ, »Essen möcht' ich.«

Lobeiner sagte: »Für Euern Marsch müsst Ihr heute schon eine Halbe Bier von mir zu Gunsten nehmen, essen sollt Ihr auch sogleich, ich ruf' nur da mein Weib.«

»Gut, gut«, entgegnete der Soldat und trocknete mit dem Schnupftuch aus dem Tschako sein glattgeschorenes Haupt.

Lobeiner fand sein Weib bei seinem Eintritt mitten in der Kammer stehen und ängstlich horchen, was draußen geredet wurde.

»Er ist fort ...« sagte sie mit halber Stimme.

»Exekution ...«, erwiderte ihr Mann mit düsterm Lächeln.

Eine Weile standen beide stumm einander gegenüber, ihr Herz war in schmerzlich stürmischer Bewegung.

»O Weib, Weib, Weib!« sagte Lobeiner endlich mit gepresster Stimme und fuhr sich mit flacher Hand verzweiflungsvoll über die Stirne, »dieser Sohn wird uns noch um die letzten ruhigen Tage bringen – ich hab's vorausgewusst, ich hab's vorausgesagt.«

»Er ist fort!« erwiderte Vronl mit einem Seufzer halber Erleichterung: »Jetzt wird doch alles wieder werden.«

»Ja, ja, schon recht, alles wieder werden; und wir werden nebenbei Bettler werden, das schreibe dir gleich daneben ... Jetzt geh' 'naus und koch' der ‚Muschketen' etwas, ich will ihm mit einem Schluck Bier schön tun bis auf Weiteres.«

Beide traten wieder in die Stube heraus und machten vor dem Soldaten so freundliche Mienen, als sie nur zusammenbringen konnten.

4.
Ein großer Schritt.

Müde von den Anstrengungen der Wanderung und erschöpft durch den Andrang erneuerten Kummers gingen Lobeiner und Vronl heute früher als sonst zu Bette und schliefen unter Sorgen ein.

Gegen Mitternacht klopfte jemand leise an ihr Kammerfenster, und als Lobeiner aufstand und bangen, verwunderten Herzens hinzutrat, fragend, wer draußen sei und was man wolle, antwortete die Stimme seines Sohnes Gregor:

»Ich bin's, Vater, ich komme nur zurück, weil ich wissen möchte, was die ganze Geschichte mit dem Soldaten bedeuten soll.«

»Dein Unglück und unser Unglück, wenn du nicht gleich wieder fortmachst!« sagte Lobeiner mit Erschütterung. »Du machst uns Sorgen, wenn du gehst, und bist unser Unglück, wenn du kommst; geh' und denk' auf deine Sicherheit und bessere dein Leben, wir wollen nichts mehr von dir wissen, bis du anders bist. Oder willst du den Säbel tragen? So komm herein, weck' den Soldaten auf, sag', du bist hier und willst ein Leben in Reih und Glied anheben – Exekution liegt mir im Haus, das will die Geschichte mit dem Soldaten bedeuten!«

Vronl war inzwischen auch aufgestanden und trat ans Kammerfenster.

»Mann«, sagte sie, bist du auch ein Vater? Schon wieder fährst du ihn an wie einen Landstreicher, der sich nächtlicher Weile zu dir ans Fenster wagt? Ist es denn nicht gut, dass er fort ist und doch wieder da ist? Soll er lieber in der stockfinstern Waldung herumlaufen als bei uns am Fenster stehen und ein Wort mit seinen Eltern reden? Der Soldat draußen, der ist zufrieden und schläft und sorgt sich keinen Tritt um unser Wispeln da, der denkt sich lieber, ihr Sohn mag nur so bald nicht unters Maß treten, ich lebe hier von Fleisch und Weizenbrot und kann den Jüngsten Tag erwarten. Sag, o du unseliges Kind, hast du denn deine Todesangst schon verwunden und ein wenig ausgeruht? Komm und steig' herein zu uns und leg' dich da auf das Bett, was schon für dich bereit worden ist, bis die Sonn' aufgeht kannst du doch wieder fort sein, wie weit du willst.«

»Weib, was hast du für ein Herz voll Leichtsinn, dass du ihn zu so was bereden willst? Herein soll er steigen und im Hause übernachten, wo man ihn sucht, wo man uns straft, dass man ihn nicht finden kann? Ich erleb' es schon noch, dass du selber dein Haus noch meidest und deinem Waldläufer nachsetzest und mit ihm zigeunerst Land aus und ein, über Berg und Tal; deine Wohnung wird noch unter Falltüren in Verhauen und Felsen sein.«

»Eh' ich einen grausamen Vater von früh bis zum Mitternacht seinen Sohn verdammen anhör', ja, da geh ich lieber, wie ich bin, meinem Kinde nach und folg' ihm bis in die tiefste Wildnis und iss Wurzeln und Kräuter und wein' meine heißen Tränen dabei. Du bist kein Vater, wie sich's gehört, du hast nur Messer für deinen Sohn und keine guten Worte.«

»Hört auf und lasst das sein«, sagte Gregor vermittelnd, »ich will gleich wieder gehen und euch nicht länger erbittern und kränken. Weil ich nur weiß, dass ich eigentlich nicht verfolgt worden bin; die Einquartierung wollen wir schon noch verschmerzen. Gute Nacht, lieber Vater und liebe Mutter, und wenn sie euch zu heiß machen sollten, so kommt zu mir, ich habe noch allerlei Aufenthalt in schönen, grünen Wäldern, dort seid ihr gut aufgehoben, bis es besser wird. Lebt gesund, in vierzehn Tagen um diese Stunde frage ich hier wieder nach.«

»Komm mir nicht!« sagte Lobeiner.

»Komm ja gewiss!« sagte die Mutter.

Gregor ging, und die bewegten Eltern legten sich seufzend wieder zu Bette.

Sie setzten ihren Streit nicht weiter fort, sondern jedes überließ sich seinen eigenen Gedanken und Empfindungen. Vronl weinte in den Kopfpolster hinein, Lobeiner kehrte sich gegen die Wand, und nur dann und wann ein kummervoller Seufzer ließ seinen schweren Herzenszustand erraten. Auch folgenden Tages kam die Spannung zwischen beiden Eltern nicht mehr zur Sprache, sie legten sich nichts Feindseliges gegenseitig in den Weg, aber auch nichts Liebes wollten sie sich erweisen. So war durch acht Tage ein fortwährender schwüler Waffenstillstand in Lobeiners Hause und der Verlauf der acht Tage abermals durch eine Woche. Da brachte ein Gerichtsdiener eines Nachmittags eine Vorladung, von der Herrschaftskanzlei ausgefertigt, gemäß welcher sich Lobeiner folgenden Tages dahin zu verfügen und längstens bis 10 Uhr morgens zu erscheinen hatte. Der Grund dieser Vorladung war leicht zu erraten. Lobeiner sollte wahrscheinlich erklären, ob er nun seinen Sohn stellen oder dessen Aufenthalt angeben wolle, widrigenfalls die Exekution einen Mann Verstärkung erhalten würde. Sehr gebeugt machte sich Lobeiner andern Morgens auf den Marsch nach der Kanzlei, und Vronl, ohne dazu aufgefordert zu sein, begleitete ihn eine gute Strecke. Beide sprachen aber auf dem ganzen Wege kein Wort, erst beim Abschiede reichte Vronl ihrem Manne die Hand und sagte: »Denk', dass es unser Kind ist, Vater, und verrate nicht, was du von ihm weißt. Was sind die paar Gulden für die Exequierer und die Kost, die wir ihnen geben, gegen ein Kind, das unser einziges ist und das wir von Herzen lieben?«

»Ja, ja«, erwiderte Lobeiner und drückte seinem Weibchen auch die Hand, »unser Kind werden wir wohl behalten, aber unser Haus wird darüber zu Grunde gehen.«

Vronl stand noch lange und sah schluchzend ihren Mann weiterschreiten; Lobeiner ging gesenkten Hauptes seinen Weg und setzte sich in seinem Herzen die entschiedene Aussage zusammen, dass er von seinem Sohne nichts wisse, seit er sein väterliches Haus verlassen habe.

Die Folge war, dass zwei Tage später abermals ein betschakotes Haupt sich durch Lobeiners Türe bückte, ein Gewehrkolben dröhnend zu Boden stieß und der erste Soldat sich laut freute, Kameradschaft im Haus zu bekommen.

Lobeiner und Vronl empfingen auch diesen zweiten »Exequierer« freundlich und trugen ihm gleich zu essen und zu trinken auf, fühlten aber bald darauf das unabweisbare Bedürfnis, sich in dem Hinterstübchen zusammenzusetzen und ihren sehr erschwerten Kummer auszusprechen.

Sonderbar genug hatte der Gedanke und Anblick der Gewalt, welche sich auf Lobeiners Haus immer drückender zu werfen begann, den Eindruck des höchsten Unmutes in Lobeiners Seele selbst erzeugt, sodass sein erstes Wort der Erleichterung dieses war: »Ich könnte jetzt mein eigen Haus anzünden und selbst wie ein Zigeuner in einer Wildnis herumziehen.«

In dieser Stimmung vernahm Vronl nur ihre eigene und ließ es auch nicht fehlen, sie zu bestärken und zu nähren; aber sie täuschte sich doch gleich wieder, denn Lobeiner erschrak in dem Grade heftiger vor solchen Gedanken, als sein Weibchen sie freudiger aufnahm und mit kindlicher Phantasie ausschmückte.

»Nein, nein, nein, liebes Weib«, sagte Lobeiner, »was reden wir, wie versündigen wir uns! Sonst danken und beten die Menschen für ein Dach gegen Regen und Wetter, für einen Rauchfang und eine trockene Bank im eigenen Haus, und bei uns käme es heraus, als möchten wir lieber ein wildes Leben führen draußen im Regen und Sturm, ohne Dach und Fach, ohne Rast und Ruhe! O Weibchen, lass uns lieber geschwinde Gott bitten, dass er uns die Sünde vergebe, wir haben undankbar gewünscht und gefordert!«

Um Mitternacht desselben Tages klopfte es wieder leise an Lobeiners Kammerfenster, und Gregor stand draußen.

»Vater und Mutter«, sagte er, »kommt her und lasst euch vertrauen, was ich getan habe und was gewiss auch euch recht ist – ich habe ein paar Burschen mitgebracht, die arbeiten schon gute zwei Stunden und haben euer Getreide zum Nachbarn hinübergetragen, und euer Vieh treiben sie jetzt gerade nach. Ich weiß schon, ihr habt zwei Mann Exequierer im Haus, die fressen euer Häuschen bis auf den Putzen blank, wenn wir nicht zur guten Stunde noch retten, was zu retten ist. Die zwei ‚Muschketen' müssen zwischen vier leeren Wänden ausgehungert werden. Erschreckt also nicht und glaubt etwa, wenn ihr aufsteht, ihr sein ausgeraubt; den Soldaten aber sagt, dass es so ist, dass ihr sie nicht mehr zahlen und nähren könnt und dass ihr selbst von heut' an einer Base über dem Gebirg' zur Last fallen müsst; dann macht ihr euch heute gegen Abend auf den Weg und zieht aus, ich erwarte euch im Birkenwäldchen, und alles ist bereit, ich will euch unterbringen wie ein guter Sohn, der für seine armen Eltern gesorgt hat. Macht mir keinen Einwand, um Gotteswillen nicht, und kommt ja verlässlich unter die Birken, jetzt habe ich keine Zeit weiter und muss wieder fort. Wo habt ihr eure Hand, Vater und Mutter? So, lebt gesund derweil, gute Nacht, Vater und Mutter.«

Vronl war voll freudiger Zustimmung; die Energie des Sohnes, welche der Gewalt einen solchen Schabernack zu spielen im Zuge war, gab ihr ihren vollen Humor wieder zurück, und dieser vermochte über Lobeiner am Ende mehr als beschwörende Worte und Tränen.

Kaum graute der Morgen, so stand auch Vronl wie gewöhnlich auf, ging leise durch die Stube, wo die Einquartierung lag und schlummerte, überzeugte sich im Stalle und auf dem Boden erst, ob alles in Richtigkeit sei, wie es Gregor vorausgesagt hatte, und da sie wirklich im Stalle kein Stücklein Vieh und auf dem Boden kein Körnlein Getreide fand, so erhob sie einen großen Lärm und ging jammernd durch des Hauses Räume und kam in die Stube:

»Auch die Herren Einquartierer haben einen Schlaf, wie man uns das Vieh aus dem Stall forttreibt und das Getreid vom Boden schaufelt; wir haben alle Ohren vermauert gehabt, das ist nicht christlich möglich gewesen, wir sind alle behext und verzaubert, verzaubert und behext.«

Bleich und bange, dass er sich so sehr verstellen sollte und ob die Spiegelfechterei auch Glauben finden werde, ging Lobeiner Schritt für Schritt hinter seinem Weibchen her und zog nur dann und wann verdrießlich Luft durch die Zähne und sagte bisweilen: »Teuxel, Teuxel, Teuxel, hm, alle Teuxel.« Mitten drunter dachte er sich aber: »O Weiberleut, o Weiberleut, wie seid ihr im Verstellen ausgelernte Meister! Kein Mann reicht euch das Wasser!«

Die Spiegelfechterei fand Glauben, die Soldaten waren ärgerlich, dass sie die Diebe nicht vernommen hatten, sie besorgten fast, man möchte ihnen nächstens Tornister und Gewehre aus der Stube schleppen, ohne dass sie erwachen würden. Jetzt brachte Vronl ihre Meinung an:

»Herrn Exequierer«, sagte sie, »was ich Mehl und Brot und was ich Milch und Butter noch im Vorrat habe, ich glaub', es reicht für heute Mittag aus für alle, aber ich weiß mir weiter nicht zu raten, ich weiß mir nicht zu helfen, ich weiß nichts anzufangen. Wer soll mir borgen, unser Häuschen ist nicht groß, und wer mir heute etwas gibt, wird der mir morgen auch noch borgen? Ich muss auf und davon, ich habe eine alte Base drüben über dem Gebirg', was mich betrifft, ich geh' zu ihr, ich bleib' bei ihr, sie hat genug unser drei zu nähren – was in meiner Hütten da weiter geschieht, wer kann es wissen? Ich nicht, ich nicht.«

Teilnehmend sagte einer der Soldaten: »Ich habe einen Marsch, ich will's vermelden; wenn's Euch so geht, bleib' ich selbst nicht gerne länger.«

Vronchen packte ohne Weiteres ein, was sie fürs Erste nötig hatte, Lobeiner auch desgleichen. Dann wurden Schränke, Kasten, Kisten, Truhen wohlverschlossen und ein alter Mann zur Aufsicht in das Haus genommen. Für den zurückbleibenden Soldaten sollte das Hofer-Käthchen kochen; man hoffte gewiss, der vermeldende Soldat werde Erlösung von dem Übel bringen.

Man hofft recht; bis 1 Uhr mittags war ein Gerichtsdiener da, der auch dem zweiten Soldaten bis auf Weiteres Befehl zum Abmarsch brachte.

»Nun, Gott sei Dank«, sagte Lobeiner, mit freudiger Erleichterung Atem holend, »das Nest ist rein, wir können jetzt wieder auspacken und Kasten und Kisten öffnen, ich möcht' um meine ganze Hütte das nicht zwei Mal hintereinander erleben.« Er wollte wirklich in die Kammer gehen und alles in die vorige Ordnung bringen, aber Vronl hielt ihn zitternd vor Erregung und mit glühenden Wangen zurück und sagte:

»So, so, das Nest ist freilich rein, kein Mensch kann's leugnen, es hat seine Richtigkeit – o du undankbarer Mann, du vergessener, ungetreuer Vater! Wer hat aber unser Nestlein rein gemacht, wer ist schuld, dass die zwei Tornister und Muschketen aus dem Hause sind? Wer hat uns das Vieh aus dem Stall getrieben und das Getreid' vom Boden geschaufelt? Jetzt möchtest du freilich das Maul wischen und vergelt's Gott sagen, aber unser Kind, unser Wohltäter, unser einziger Sohn darf zum Dank für seinen Einfall und für seine lästerliche Müh' im Birkenwäldchen auf uns warten wie die Juden auf den Heiland, nicht wahr und, wenn's spät in der Nacht genug ist, denken: Seht, kommen meine lieben Alten doch nicht, ich seh' schon, ich tu' alles umsonst, von mir scheint ihnen nichts zu Liebe getan, auch meine Mutter hält nichts in Ehren, was von mir kommt; so geh' ich und will auch weiter nichts mehr von ihnen wissen. Gelt, gelt, auf so etwas hast du keinen Sinn nicht eingerichtet? So etwas kommt dir aus Chinesien herunter, von der türkischen Gränitz? Aber ich sag', lass deinen Bündel nur beisammen und die Kasten und Kisten zu, mit dem Daderbleiben wird nichts daraus, wir machen unserm Kind einen ehrbaren Besuch auf vierzehn Tag, wir müssen ihm wie andere Eltern auch einmal die Freude machen und seine Wirtschaft sehen, er wird sich allerhand Auslagen gemacht haben, wer weiß, was er alles angestellt und hergerichtet hat – wenn wir auch Eltern zu ihm sind und wenn er sich auch bei uns soll wieder einmal sehen lassen, so muss das heute sein, du magst ja sagen oder nein sagen, verschwören oder fluchen, dableiben oder mitgehen, es muss heute sein, wir müssen unser Kind heimsuchen.«

»O Weib, o liebes, gutes Weib!« sagte Lobeiner mit einem tiefen Seufzer, »überlegst du denn auch? Weißt du, was du willst? Verlangst du etwas Gutes? ...«

»Ich weiß, mein liebes, einziges Kind erwartet seine Mutter; ich überleg', mein Kind darf ich nicht warten lassen; ich verlang', dass sich ein wahrer Vater mehr bekümmert, was ein Kind ist, ein liebes, einziges Kind, als du es tust, du steinerner Herrgott, du Marmelvater! Und jetzt – es ist gesagt, tu', was du willst und überleg's, ich geh' derweil zur Mulderin hinüber.«

Sie schlug die Türe zu und ging zum Hofer-Käthchen auf dringenden Besuch.

»Käthchen«, sagte sie vom Streit mit ihrem Manne noch lebhaft atmend, »ich habe jetzt mit dir gruslich viel zu reden, komm ins Stübchen, dass uns niemand hört.«

Im Stübchen fuhr sie fort: »Jetzt hör' mich an. O liebes Käthchen, du wirst mich jetzt lange nicht mehr sehen, kann sein vierzehn Tage nicht mehr oder drei Wochen, das seh' ich aber schon voraus, so lange kann ich's nicht ertragen, wir müssen noch früher wo zusammenkommen, ich weiß auch wo, ich will es nur nicht sagen, du musst mein Gast sein diese Zeit einmal. Hör' nur, was ich dir jetzt sage: Auf den nächsten Sonntag nimmst du deinen Mann und deinen Vater und den alten Mulderer und seinen Anton und die Anne-Marie und den Pahlsen und die Pahlsin mit dir, sag' ihnen nur, ich habe dir's auf das Herz gebunden, und kommst mit ihnen, wie als wolltest du mit ihnen um die Felder gehen bis zum Birkenwäldchen hin und wartest da eine Weile, oder ich warte schon auf dich. Ich werde dir schon winken, und du wirst mich schon verstehen, und jetzt gehst du weiter in den Wald und folgst mir nach, und ich werde euch alle wo hinführen, wo noch keines unter euch gewesen ist, ihr werdet zum Essen und zum Trinken finden, ihr werdet mich und meinen Mann dort finden, mich und meinen Mann und meinen Sohn und seine guten Kameraden. Hör' auf und rede dich nicht auf das Wetter aus, das Wetter wird so schön sein, als es nur vom Himmel fallen kann; rede dich nicht auf den weiten Weg aus, die Gasterei wird nicht so weit davon gehalten werden. Frage nicht, woher ich Milch und Butter, Schmalz und Eier, Mehl und Wasser, Brot und Feuer nehmen werde. Frage mich überhaupt um nichts, es wird Fleisch und Bier genug da sein, und was ihr alle gern esst und trinkt und gern verkostet. Jetzt verschwör' mir's auf dein Seelenheil, verschwör' mir's, dass du kommen willst mit deinem Mann und allen nach der Frühmess' gleich, ihr werdet auf mich warten, oder ich erwarte euch.«

»Du mein Gott, Vronl, was soll das sein?« fragte Käthchen erschrocken und erstaunt. »Wie kommst du mitten in den Wäldern zu einer Gasterei? Ich horch' und hör' mein blaues Wunder!«

»Ich hab' dich schon gebeten, Käthchen, frag' mich nicht, frag' mich um nichts. Willst du mir bezeugen, dass du mich lieb hast, so komm und zeig's; wollen die andern bezeugen, dass sie auf dein und mein Wort etwas geben, so werden sie auch keinen Anstand nehmen und kommen. Wirst du kommen? Kannst du mir's verschwören, so verschwör' mir's gleicht.«

»Vronl… Vronl ...«

»Wirst du kommen?«

»Liebe Vronl ...«

»Ich bitte dich, ich bitte dich, plag' mich sonst mit nichts – wirst du kommen?«

»Nun ja, in Gottes Namen ja«, sagte Käthchen bekümmert. »Aber in Gottes Namen bitt' ich dich auch, begeh' nichts Leichtsinniges mit solchen Sachen, ist dein Sohn einmal nicht anders, so vermehr' für ihn und dich doch nicht die Leiden und Gefahren.«

»Ich geh', ich geh', sonst kommst du mir noch hitziger mit solchen Dingen. Leb' gesund derweil, Sonntag nach der Frühmess', hörst du, Käthchen? Komm, o komm, o komm ...«

Nach diesen Worten schlug sie wieder beim Hofer die Türe heftig zu und kam zu ihrem Manne nach Hause zurück.

Den fand sie nun in das Unvermeidliche ergeben.

Jetzt wurde das Haus noch einmal gemeinschaftlich durchsucht und beraten, was zu machen sei. Dann wurde hervorgesucht, was von einigem Werte war, und hierauf in verschließbare Räume zusammengeschleppt; der Abend kam unter solchen Beschäftigungen heran. Als sich die reisefertigen Eheleute schon mit Weihbrunnen besprengten und gehen wollten, erschien ganz unerwartet der alte Wolf zwischen der Türe und sagte:

»Grade recht; legt eure Bündel nieder und geht frei davon, ich werde eure Sachen schon hinbringen, wohin sie gehören; geht nur, geht nur, euer Sohn wartet schon auf seine lieben Alten.«

»Jesus, Gott!« rief Vronl fortbewegt, »so ist er früher im Birkenwäldchen als wir, und wir hätten schon lange dort sein können! Lieber Alter, so leg deinen Pack nur hin, weil es der gute Wolf so will; wir gehen halt fürs Erste leer voran, wie man spazieren geht, was ist's? Es hat kein Mensch was drein zu sagen.«

»Alter Bursche, was verlangst du diese Plage?« meinte Lobeiner. »Ich bin jünger als du, ich kann mein Gepäck schon selber tragen.«

»Widerstreit' mir nicht«, sagte Wolf verdrießlich, »es ist meine Pflicht so, dein Sohn hat mir's befohlen, und ich tu' es gern. Geht, ich muss warten, bis es finster ist, auch geh' ich andere Wege; das Haus wird Euch wohl verschlossen werden.«

So machten sich Lobeiner und sein Weibchen denn mit wunderlichen Gefühlen auf den Weg. Sie gingen durch die Gärten; aber so stille und behutsam sie dahin eilten, rauschte doch jeden Augenblick ein Ast, den Lobeiners Hut streifte oder der aus Vronls wegbahnender Hand losschnellte. Als sie schon auf freiem Felde waren, blickte Vronl noch einmal nach Hofers Haus um und sah Käthchen an ihrem Gartenzaun lehnen und mit der Hand über den Augen nachschauen. Vronl winkte zurück, aber erst nach einer Weile, wie aus ernsthaften Gedanken erwachend, erwiderte Käthchen das Zeichen.

Auf das Birkenwäldchen fiel eben der letzte duftige Abendschimmer; die Wanderer konnten genau angeben, wie ihnen die Abendkühlung, die sachte aus den feuchten Wiesengründen aufstieg, immer höher, immer merklicher heraufstieg, bis an die Brust, bis an die Wangen. Als sie dem Birkenwäldchen ziemlich nahe kamen, erschien am westlichen Saum desselben, rasch aus den Zweigen schreitend, eine kräftige Burschengestalt, und Vronl rief mit lauter Freude:

»Dort ist er, dort schaut er nach uns aus!« – »Grüß Gott, grüß Gott, mein liebes Kind!« fuhr sie fort, obwohl sie der Sohn unmöglich so weit hören konnte. »Haben wir dir Wort gehalten, sind wir da?«

Mit einer Eile flog sie jetzt den Weg voran, dass Lobeiner nur mit wahrer Mühe ihren Schritten folgen konnte; sie lag dem Burschen schon eine gute Weile lachend und weinend an der Brust, und die Abendsonne beschien die Szene, als Lobeiner erst gemessenen Schrittes näher kam, denkend: »Ist's nicht mit einem Sohn und einer Mutter wie mit Eisen und Magnet? Kaum ist die rechte Nähe da, so fliegt auch eins zum anderen gar nicht mehr zu halten.«

Doch hätte jemand ihn selbst in diesem Augenblick beachtet, er hätte sich wohl überzeugt, dass es dem guten Lobeiner selber nicht viel besser gehe; er flog zwar nicht wie die Mutter dem Sohn entgegen, aber viel schneller ging er doch und hatte die Hand zum Gruß schon ausgestreckt, als er noch dreißig Schritte vom Ziele war.

Geht, geht, ein Vater von Gemüt ist nicht viel anders!

5.
Die erste Nacht im Walde, und was zunächst drauf folgte.

»Hab' ich dich? Sind wir einmal recht nach Herzenslust beisammen?«, rief die Mutter nach dem ersten Jubel der Begrüßung glühend von freudiger Erschütterung. »Mir ist, ich weiß nicht wie, ich kann's nicht sagen! O lieber Sohn, die Exequierer sind aus dem Hause, das Unglück ist überwunden, wegen dir ist es gekommen, wegen dir ist es wieder verkommen; jetzt mach' dir nur keine Sorgen mehr, weil wir etwas ausgestanden haben, wer ein liebes Kind haben will, muss sich so etwas nicht beschwerlich werden lassen. Jetzt wollen wir dafür ein lustiges Leben anfangen, Gott vergib mir meine Sünden, ein Leben, mein liebes Kind, auch kein Engel soll ein anderes führen, Gott verzeih mir meine Sünden! Ich bin, ich weiß nicht wie; aber die ganz Luft ist voller Instrumente, wo ich mich hinwende, hör' ich's lachen, singen, jubeln, spielen; es ist, dass ich mich selber nimmer kenne. Wie schön ist deine Wohnung da, alles ein grüner Garten und überall ein so mordsschöner, lieblicher Geruch, du brauchst das ganze Jahr kein Fenster aufmachen, sie sind immer offen, und die gesunde Luft geht aus und ein, und alles voller himmelhoher Bäume vor den Fenstern und Blumenstöcklein: wie schön und gesund ist so ein Wald! Wart', lass mich nur erst recht warm werden und an alles das gewöhnen, ich will dir schon in die Wirtschaft greifen, dass du deine Freude haben sollst; ich meine so, wir denken lieber an gar kein Heimkehren mehr, wie bleiben lieber alle da beisammen!«

»Mutter, Mutter«, sagte Gregor hocherfreut und gerührt, »wollt Ihr bei mir sein und bleiben, ich schwör's, Ihr sollt sicher sein wie hinter zehntausend Mauern, und sollt es haben wie im hellen Paradies. Bleibt bei mir und verändert Euch nicht sobald in Euern Gedanken, ich habe ja gewusst, meiner Mutter geh' ich über alles.« Zu seinem Vater gewendet, fuhr er fort: »Und Ihr, mein lieber Vater, da es nun so weit ist, gebt Euch auch einmal mit ganzem Herzen drein. Ich weiß, Euch wär' es lieber, ich wäre alles nur nicht das, aber ich bin einmal dazu geboren, unglücklich würde mich alles machen, glücklich macht mich nur das. Gebt her, gebt her noch einmal die liebe Hand, und machen wir Amen mit dem langen Streit, wir machen Frieden. Nur acht Tage bleibt bei mir und haltet mit gutem Willen aus, dann verlasst Ihr mich wohl nimmer. Woher hätt' ich meine Lust am freien Wald und am Jagen, wenn nicht etwas dafür zum Wenigsten auch in Euerm Blut vorhanden wäre? Zwischen Vater und Mutter bekommt das Kind die Sinne, so denk' ich immer.«

Nur halb gutwillig reichte Lobeiner dem Sohne seine Hand hin; Gregor drückte sie mit solcher Liebe und Gewalt, dass durch des Vaters Herz ein unwillkürlicher Respekt ging. Er konnte nun keinen Widerstand mehr in seiner Brust entdecken, des Sohnes überwiegende Natur nahm ihn ohne Widerstand gefangen.

Jetzt kam's zum Aufbruch, man hatte einen weiten Weg die Nacht zurückzulegen.

Durch das Birkenwäldchen und über eine Heidestrecke hatte man noch immer ziemlich helles Abendlicht; aber als man bald darauf in die schwarzen Schatten eines dichten Tannenwaldes eintrat, da war es der Mutter und dem Vater plötzlich, als würden ihnen mit einem Mal die Augen dicht verbunden, es war kein Baum und kein Weg mehr zu sehen, und geheimnisvolle, kalte Waldesschauer stiegen ihnen an das Herz.

Vater Lobeiner, obwohl nicht froh gestimmt, musste lächeln; wie befangen stille ging die Mutter jetzt auf einmal zwischen ihm und Gregor weiter, und wie jubelvoll gesprächig war sie noch vor Kurzem zwischen ihnen hergeschritten, als noch der fromme Abendschimmer durch die Zweige brach; da war jeder Gegenstand so freundlich helle, klang der Vogelsang so herzerquicklich, rauschten die Bäume so majestätisch wie fernes Orgelspiel; nun aber in der schwarzen Finsternis der Nacht verkehrte sich jede gottesfriedliche Erscheinung, die man sehen, hören, greifen konnte, in ein geheimnisvolles Durcheinander gefährlich unbekannter Dinge. Ließ sich ein Vogel hören, so geschah es gleichsam nur, um Entsetzen zu verbreiten, ein heller Pfiff war's höchstens, der Ohr und Mark und Bein durchdrang; der Bäume dumpf orgelndes Rauschen war jetzt eher das geheimnisvolle Unterreden dumpfer Räuberstimmen im Gebüsche, und wenn das Wild erschreckt aufrauschte und durchs Gestrüppe brach, wer stand dafür, dass es nicht ein Überfall von bösen Menschen war? Ein jeder Schrei, ein jedes Rauschen, und selbst die fürchterliche Waldesstille, wenn von Zeit zu Zeit die Natur gleichsam ihren Atem anhielt und kein Lebenszeichen gab, lähmten Vronls Knie dann, sie wäre lieber umgesunken, als noch weiter in der finsteren Wildnis fortgeschritten. Doch wollte sie um keinen Preis ihre Schwäche merken lassen. Nach und nach gewöhnte sich ihr Auge an die Dunkelheit, und jetzt erschienen manche Gegenstände in bleichem Schimmer, die früher ganz unsichtbar waren; aber auch das vermehrte Vronls Angst und Sorgen nur. Saß nicht dort im bleichen Totenhemde eine menschliche Gestalt, auf einem Steine seufzend, winkend, in starrer Ruhe? Bog und atmete da nicht ein kriechendes Ungeheuer vom Moosgrund auf den Fußweg nieder? Schrecklich, wenn es wütend einen Fuß anzüngeln oder schnell umschlingen sollte! Schlich dort nicht ein Diebeslicht nach dem Dickicht? Schauderhaft, wenn nun alle von einer Diebesbande eingeholt, umgangen, geplündert und ermordet würden? Waren das nicht mehrere Schritte als von drei Kameraden Gregors, welche folgten? Waren diese treu? Schlossen sich nicht Schritt für Schritt leise, flüsternd, triumphierend unbekannte Mordgesellen an diese an, um plötzlich auf den Freund und seine Eltern loszustürzen? So drängten sich in düstern Schrecknissen die Befürchtungen der Mutter; allein kein Wort, kein Laut verriet bisher, was sie empfand. Plötzlich aber entsprang sie dem Arm des Sohnes mit Entsetzen und stieß einen Schrei aus, dass selbst Gregor und seine Kameraden betroffen stille standen, um zu hören, was es gebe. Ein Frosch hüpfte in gemächlichen Sprüngen auf dem Laube weiter, er war der Mutter auf den Fuß gesprungen. Es lachten zwar alle bei der Entdeckung, dass es weitum widerhallte, auch Vronl sagte mit lustigem Gelächter: »Das Teufelsvieh, ich bin zum Glück nicht furchtsam«, aber sinnverwirrend ging ihr von nun an das Entsetzen durch alle Glieder. Gregor bemerkte das recht gut, denn sie hing zitternd und wie Blei an seinem Arme; daher begann er nun allerlei Geschichten zu erzählen, die in seinem Sinne lustig genug ausfielen, die aber das Herz der Mutter nur schlimmer auf die Folter warfen; denn von Geistern, Räubern und Gefährten lauteten die Geschichten, und wenn auch der Schluss in heitere Überraschungen auslief, so hatte doch indessen Mutter Vronl alles bis zum Schlusse für bare Münze hingenommen und war an Todesschauern hundert Mal gestorben. Vater Lobeiner schöpfte in der Tiefe seines Herzens Trost aus alledem, es werde diese erste Nacht in den schauervollen Waldesfinsternissen, dachte er, seines Weibchens Vorsatz, länger dazubleiben, mächtig schwächen; ja, er hoffte etwas übereilig, schon am folgenden Morgen wieder in sein Häuschen heimzukehren.

So war man einige Stunden fortgewandert; endlich hieß es »Halt!«

Mutter Vronl hielt sich fester an Gregors Arm, und dieser sagte: »Jetzt bückt Euch, Mutter, hier werden wir unser Nachtquartier aufschlagen.«

Die Mutter bückte sich und ging zwei Schritte vor, es war ihr, als zöge man ihr leise einen kühlen Schleier um das Haupt; sie dachte, nach der Kühle, die sie hier umfing, müsse sie in eine Felsenhöhle getreten sein.

»Nun wartet, Mutter, gleich will ich Feuer machen, damit Ihr seht, wie schön hier alles für Euch hergerichtet ist«, sagte Gregor.

»Ja, ja«, erwiderte die Mutter mit sorgenvoller Stimme, »ich bitte dich, mach' Licht, ich bin noch in meinem Leben keine Nacht in keiner Höhle geblieben; man könnte doch nicht wissen, was sich hereingeschlichen hat, ich könnte mich um gar nichts in der Welt hier niederlegen oder schlafen, wenn ich nicht sehen könnte, wo ich lieg' und wo ich schlaf'. Ja, mach' geschwinde Licht, ich habe keine Ruhe sonst.«

Aber Gregor fing in diesem Augenblicke zu wettern an, dass es in der Felsenhöhle betäubend widerhallte und draußen hundertfältig durch des Waldes Dunkel drang.

Er hatte sein Feuerzeug verloren.

Zum ersten Mal in ihrem Leben erschrak hier Vronl vor ihrem eigenen Kinde; sie fing nun auch an, ihn zu fürchten, der mit allen Waldesschrecken gleichsam so genau vertraut schien, dass er es wagen durfte, so gewaltig seine Gegenwart in später Nacht, umglotzt von Finsternissen, anzumelden. Immer hatte sie nur gehört von wilden Tieren, die an solchen Schreckensorten um solche Schreckenszeit in so geheimnisvollen Höhlen durch die erschrockenen Lüfte heulen; jetzt vernahm sie eine wütende Menschenstimme da, die Stimme ihres eigenen Sohnes, und es kam ihr vor, als müsste ihr Sohn in diesem Augenblicke etwas vom wilden Raubtier an sich haben. Zauberfunken sah sie durch die Finsternis wirbeln, ein grässlich bezahntes, weißes Ungetüm stieg an der Stelle, wo ihr Sohn stand, vor ihr auf und schien vernichtungsvoll gegen alles in der Höhle wüten zu wollen. Die Mutter wich und schwankte zurück, um nicht als das erste Opfer zu fallen, und fiel dem Vater Lobeiner in die Arme, aber auch da nur wilde Feindesmacht argwöhnend, floh sie wieder seitwärts davon und gelangte schreiend in das Freie und entsprang wie sinnlos durch den Wald. Aber bald von zwei gewaltigen Armen eingeholt und zurückgetragen, sah sie nun die Höhle in freundlicher Beleuchtung schimmern und recht einladend Betten, Tisch und Sitze bieten.

Gregor hatte von einem Kameraden Feuerzeug bekommen und Licht gemacht, er kam ihr wieder freundlich entgegen mit den Worten: »Mutter, Mutter, was macht mir Eure Angst für Sorgen, seid doch nicht wie ein Kind um nichts und wieder nichts, es kann Euch nichts geschehen.«

Die Mutter erzählte, halb lachend und halb weinend, was sie für ein Ungetüm gesehen habe, und man belustigte sich nicht wenig über die grauenhafte Phantasie der Mutter. Dann setzte man sich zufrieden um den Tisch; es war kaltes Fleisch und Wein und Käse da, und die Mutter gewann zum Teil ihre gute Stimmung wieder.

Nach der Mahlzeit streckte sich Gregor, mit seinen Kameraden wachehaltend, vor die Höhle; Vater und Mutter Lobeiner mussten auf guten Lagern im Innern derselben schlafen.

Gegen 3 Uhr morgens geschahen zwei wichtige Dinge für unsere wandernde Gesellschaft im Gebirge, das Morgenrot stieg im Osten leise zu den Wolken auf und schwang sich nach und nach mit heiteren Schwingen auf die höchsten Bergesgipfel gegen Westen; und ein Schuss fiel vor der Höhle, wo die Gesellschaft übernachtet hatte.

Alles bis auf Mutter Vronl sprang schlaftrunken auf und suchte die Gefahren, die sich plötzlich angekündigt hatten.

Allein man überzeugte sich sogleich, dass Gregors Kamerad im Schlaf an sein Gewehr gekommen und dieses im Sturze losgegangen war.

Beruhigt blickte man nach Osten und sah den jungen Tag in den verklärten Wolken sich verkündigen; die Reise sollte nun fliegenden Fußes weitergehen, man hoffte bei guter Zeit am Ziel der Wanderung anzukommen.

Aber wo fehlte es, dass man stille sprechend und harrend vor der Höhle stehen blieb, anstatt nun rüstig aufzubrechen?

Die Mutter schlief noch immer süß und ruhig, der nahe Schuss selbst hatte sie nicht wecken können.

Gregor gab nun allerlei Befehle, die gerne und geräuschlos von den Kameraden vollzogen wurden; einer holte frisches Wasser für die Mutter von einem nahen Felsenquell, ein anderer stellte einen Morgenimbiss auf den Tisch, und der dritte lud etwas ferner von der Höhle sein Gewehr aufs Neue; Vater Lobeiner zog seinen Hut und verrichtete im kühlen Dämmerlichte seine Morgenandacht.

Aber Gregor selbst trat sachte in die Höhle und betrachtete die Mutter mit liebevollem Kindesauge. Lange war ihm das Vergnügen nicht zuteilgeworden, dies teure Angesicht mit stiller Muße anzuschauen, unwillkürlich nahm er seinen Hut herunter und sagte leise vor sich hin: »Ein einsames Leben ist es doch ohne die Mutter in der Fremde, o wär' mein Leben ruhiger, ich hätte sie mir längst geholt. Ich kann's nicht mehr ertragen ohne Mutter, es gehe, wie es will, ich habe einen glücklichen Tag gehabt, wenn sie abends mit mir redete. Wie schläft sie ruhig und gesund, wie einem Kindlein färben sich noch ihre Wangen. Aber wir brechen nicht früher auf, als bis sie selbst erwacht.« Er stand noch eine Weile vor ihr, da bewegte sich Mutter Vronl mit allen Zeichen des nahen Erwachens, Gregor ging leisen Schrittes eilig aus der Höhle und sagte draußen lächelnd zu dem Vater: »Sie erwacht.« Gleich darauf drang ein Verwunderungsruf heraus, Vronl hatte die Augen aufgeschlagen und wusste nicht gleich, wo sie sich befinde; aber Vater und Sohn erblickend, die jetzt freundlich grüßend zu ihr in die Höhle traten, rief sie freudig: »Ist es Tag, o Kinder, und brechen wir nun auf? Ich bitt' euch, seid nicht bös, ich kann ja nicht dafür, dass ihr eine solche Schlafhaube zur Mutter habt, ihr hättet mich halt wecken sollen.«

Bald war sie nun auf den Füßen und gewaschen, und man genoss nur stehend sein Gläschen Wein und guten Schinken.

Der Eingang der Höhle wurde dann mit moosigen Steintrümmern so bewunderungswert vermauert, dass kein Mensch hier eine Höhle, noch viel weniger eine förmliche Menschwohnung nur geahnt hätte.

»Seht Ihr nun, Mutter«, sagte Gregor, als sie erstarkt nun weiter schritten, »seht Ihr, solche Wohnungen haben wir gar viele in den Gebirgen, wir ruhen und stärken uns oft darin; wo wir aber heute hinkommen, dort haben wir unsere Hauptwohnung, dort sind wir sicherer als Ihr zu Haus, kein Mensch sucht uns dort, kein Mensch kann dort zu uns gelangen.«

»Jesus ja, dass ich nicht vergesse, lieber Sohn, dass ich's bei Zeiten anbringe«, sagte Mutter Vronl. »Lieber Sohn, die Felsenhöhle da, von der wir kommen, die ist ja gerade recht, wenn auf den nächsten Sonntag unsere Gäste kommen, die Höhle ist nicht zu weit von unsern Gästen weg und wird gerade auch nicht gar zu weit von unserer Hauptwohnung weg sein, so ist es ein leichtes Zusammenkommen für uns alle. Richtig, richtig, dabei muss es bleiben, das wird das Allerbeste so sein, und das andere wird sich alles mit Leichtem geben.«

»Was meinst du denn für Gäste, Vronl?« fragte Lobeiner verwundert.

»Habt Ihr denn Gäste eingeladen, Mutter?« fragte Gregor etwas betroffen.

»Nun ja, nun ja, liebe Kinder«, sagte Vronl sehr glückselig und ging lustigen Schrittes auf dem schmalen Fußsteige voran. »Es muss über eine Hochzeit und alles werden, wenn wir den nächsten Sonntag da zusammenkommen, Schafft nur die ganze Woche, was ihr haben könnt, herbei, bringt Wildpret, bringt Rindenes, bringt mir Geflügel und Eier und Schmalz und Mehl und Butter, und bringt mir Salz und Kümmel und Gewürz und Honig, bringt mir, was eine ordentliche Hausfrau in die Wirtschaft braucht, wenn sie ihre allerliebsten Freunde einmal im Hause sehen will; bringt mir Milch und Essig, Zucker und Kaffee, kurzum, kurzum alles und nicht wenig, sonst schaut euch nur um, wo ihr eine andere Köchin hernehmt, ich geh' euch mitten in der besten Wirtschaft davon, wenn ich seh', dass ihr's nur dort oder da halbwegs fehlen lasst. Wisst ihr's nun? So richtet euch danach!«

Gregor presste etwas düster die Lippen zusammen und sagte nichts, aber der Vater fragte noch einmal: »Wen hast du den geladen?«

»Nun, wenn ihr nicht warten könnt bis Sonntag, so muss ich's euch halt jetzt gleich sagen, meine allerliebste Freundin, das Hofer-Käthchen hab' ich geladen und ihren Mann und seinen Bruder Anton und seine liebe Anne-Marie und den alten Mulderer habe ich geladen und den lustigen, alten Hofer und den Pahlsen und die Pahlsin – habe ihr was dawider? Wen soll man denn laden? Glaubt ihr denn, man findet die Gäste gleich haufenweis, wo man hinruft? Dem Hauswesen von meinem Sohn zu Ehren muss man doch etwas tun, und wen hätt' ich sonst noch laden sollen? Oder wisst ihr noch wen, den man nicht versäumen darf? So müsste man halt einen Boten heimlaufen lassen, zu finden ist ein jeder und jetzt ist auch noch Zeit.«

»Nein, nein, Mutter«, sagte Gregor, gute Miene zum bösen Spiele machend, »wir wünschen uns niemand weiter; die wir gerne sehen, die habt Ihr schon geladen; in Gottes Namen habt auch diese Freude, ich will schon sorgen, dass Ihr alle zum ordentlichen Aufwarten bis dahin bekommen sollt.«

Das Gespräch ging nun eine Weile in diesem Tone weiter, und Vater Lobeiner dachte eigentümlich lächelnd: »Es ist doch nicht eingetroffen, was ich vorige Nacht gemeint habe, sie hat sich durch ihre Angst doch nicht für immer schrecken lassen, vergessen ist vielmehr, was sie vorige Nacht ausgestanden hat. Aber eins geschieht am Ende doch, sie schreckt sich vielleicht ein anderes Mal noch gewaltiger als gestern, und sie bekommt die schreckliche Wildnis satt, oder Gregor sieht am Ende ein, sein gefährliches Leben leidet keine solche Wirtschaft für die Länge und bittet die Mutter selbst, dass sie wieder heimkehren möchte; das ist mein Trost ...«

Von dem Schrecken der Wildnis aber war vor der Hand keine Rede weiter, denn im heiteren Sonnenlichte hatte Vronl wieder die herzlichste Freude an allem, was sie sah; bald gefiel ihr ein farbiger Vogel in den Zweigen und wollte seinen Namen wissen, wenn sie ihn nicht kannte; bald rief ihr Mund ein frohes Verwundern aus über ein schönes Gebirgsmoos oder eine glühende Alpenblume; bald jubelte sie über die weiten Strecken Erdbeerblüten, die sie so zahlreich nie gesehen hatte; bald wollte sie, dass Gregor oder einer seiner Kameraden nach einem Ziele schieße, das sie selbst bezeichnete. Aber das Letztere musst Gregor der Mutter ein für alle Mal verweigern; es hätte zu leicht Gefahr anlocken können.

So um den Mittagsstand der Sonne erreicht man das Ziel der Reise.

Wir sehen uns wieder vor jener Waldkapelle im Hochgebirge, vor welcher wir in einer schönen Mondnacht unsere Geschichte beginnen sahen.

Als die Wanderer neben der Kapelle aus dem Gebüsche traten und auf einmal Berge, Wälder, meilenweite Ebenen zu ihren Füßen lagen, da kostete es der Mutter Vronl einen tiefen Seufzer, und in den Anblick eine Weile ernsthaft versunken, sagte sie: »Wo mag jetzt unser Dorf liegen? Gott, du lieber Gott, hinüberspringen kann man nicht, den Heimweg weiß ich auch nicht mehr zu finden, ich muss jetzt bleiben, gutwillig oder nicht. Was wird jetzt das Hofer-Käthchen machen? Gut, dass ich sie auf den Sonntag herbestellt habe, anfangs werde ich manchmal das Heimweh haben.«

»Das dort muss unser Dorf sein«, sagte Lobeiner, in weiter Ferne einen grünen Fleck mit weißen Punkten bezeichnend.

»Wo? Welches?« fragte Vronl lebhaft und legte die rechte Hand über die Augen. »Sieht man unser Häuschen auch heraus? Sieht man die Leute auch hin und wider gehen? Ist jemand gerade beim Gemeindebrunnen? Meinst du, wird man unser Glöcklein beim Abendläuten herauf hören können? Es täte mir sehr ahnt, wenn das nicht alles wäre.«

»O, sei kein Kind, liebes Weib«, sagte Lobeiner lächelnd. »Man sieht das ganze Dorf ja kaum größer als ein kleines Küchen-Gärtlein, wie wird man unser Haus oder gar die Leute drin ausnehmen können. Schau nur hin, siehst du es denn noch nicht?«

»Das dort?« rief Vronl. »O Jesus, das kann nicht sein, das könnte man ja auf einem Kinderteller davontragen!«

»Alles eins«, erwiderte Lobeiner, »unser Dorf ist es doch. Das Grüne, das sind die Bäume und die Wiesen im Dorf, und die weißen Flecken sind die Häuser dazwischen; nicht wahr Gregor?«

»Ja, ja, Mutter«, antwortete Gregor.

»Geht, geht«, sagte Vronl noch immer ungläubig, »geht, ihr wollt mich doch nur foppen beide, es kann gar nicht sein, was hilft denn alles.«

»So wartet, Mutter«, sagte Gregor, »wir wollen gleich einen andern Fall setzen, ich bin neugierig, ob ihr das lieber einsehen werdet? Von unserm Hause aus, wenn man auf das allerhöchste Gebirg hinaufschaut und auf dem allerhöchsten Gebirge etwas Weißes erblickt, wie groß ist denn das Weiße dann, und was könnte es denn vermög' seiner Größe sein?«

»Du meinst die verrufene Wolfskapelle – meinst du die?«

»Nun ja.«

»Nun, die kommt einem von unserm Haus aus nicht größer vor als eine große Erbsen; wenn nur ein Baumblatt vor wäre, glaub' ich, müsste es die ganze Kapelle zehn Mal verdecken und verbergen.«

»Nun seht Ihr also, Mutter, wie weit wir sind, das da ist die Wolfskapelle, seht nur, wie groß sie ist in der Nähe, denkt Euch nun, wie groß auch unser Haus von hier aus scheinen muss.«

»O du barmherziger, heiliger Gott im Himmel!« rief die erschrockene Mutter, »bis in dieser grausamen Weite sind wir? Und bei der verrufenen Wolfskapelle stehen wir auf einmal? Ob schrecklich, schrecklich, dann sind wir ja auch gleichsam bis in den Wolken oben, so ist mir's bei der Wolfskapelle immer vorgekommen.«

»Bei schönem Wetter ist von hier bis zu den Wolken noch sehr weit«, meinte Gregor lächelnd, »das sehen wir heute recht gut; aber wie es regnen will, da wohnen wir gleich und oft Wochen lang mitten in den Wolken.«

Die Mutter seufzte und sagte durch eine andere Erscheinung gefesselt: »Wie kommt denn dort für ein helllauterer Rauch aus dem Erdboden heraus? Ist vielleicht gar das Fegfeuer in diesem erschrecklichen Berge? Oder kochen und wirtschaften andere Geister da unten?«

»Ja wohl, Mutter, andere Geister – wir selbst, Mutter«, sagte Gregor lachend.

»Was?« rief Vronl, die Hände zusammenschlagend, »ist eure Hauptwohnung etwa gar unter der Erden? Und das nennt ihr eure Hauptwohnung? Schrecklich, schrecklich, was ich erleb' und Schlag auf Schlag muss hören.«

»Ja, Mutter«, sagte Gregor, »das ist unsere Hauptwohnung, und sie ist unter der Erden. Aber schaut Euch nur erst um darin, es wird Euch schon gefallen, Mutter.«

»Wo kommt man denn um Gotteswillen hinein? Muss man durch den Rauchfang hinunterspringen und durch ein Kellerloch herauskriechen, wenn man aus und ein da will?«

»Nein, nein, sorgt Euch nur nicht umsonst, Mutter, alles ist besser eingerichtet als Ihr denkt. Kommt, wir wollen gleich sehen. Zum Glück ist der Wolf schon da, und wir werden alles hübsch beleuchtet finden.«

Grogor ging nun voran, und die Mutter und Lobeiner folgten ihm einige Schritte tiefer ins Gebüsch. Hier bückte sich Gregor nach einem eisernen Ringe, an dem er eine sehr kunstreich mit Moos bedeckte Tür aufhob und die Mutter nun eine steinerne Treppe hinabsteigen hieß. Vronl blieb eine Weile zweifelhaft auf der obersten Stufe stehen und blickte ängstlich in die Tiefe, endlich auf wiederholtes Zureden Gregors und selbst des Vaters stieg sie voran hinunter, und die anderen folgten. Gleich schloss die Moostüre wieder über ihnen, und kein fremder Mensch hätte da einen Eingang in eine menschliche Wohnung vermutet.

Indessen hatten die drei Kameraden Gregors im Schatten eines Baumes ihre Jacken abgeworfen, die Gewehre an den Stamm gelehnt und sich selber bequemlich in das Gras gestreckt; sie sahen nicht eben heiter drein; jeder hatte seine Augen nach einer anderen Gegend gerichtet und ließ sie gedankenvoll auf fernen menschlichen Wohnungen ruhen. Suchte ihr Auge und ihr Herz auch nach einer lieben Mutter oder nach einem lieben Mädchen, oder wünschten sie sich, des ungezähmten, gefahrvollen Lebens in den Wildnissen satt, endlich wieder hinunter zu den Menschen geregelter Geschäfte, geduldeten Fleißes, freundlichen Zusammenlebens? Es schien keiner vor dem andern seine düstere Stimmung zu verbergen, es schien nicht das erste Mal zu sein, dass einer vor dem andern eine ähnliche Verstimmung bloßgegeben hatte. Erst Wolf, der nach einer Weile heftig lachend durch die Moostüre heraufstieg, unterbrach dies stille Dahinbrüten der drei Burschen.

»Das ist zum Totschießen«, rief Wolf, sich schüttelnd vor Gelächter, »ich geh' zu Grund da auf dem Platze gleich, mein ganzes Leben habe ich nicht so viel gelacht – ihr Kieselsteine, lacht doch mit, dass es die Wolken schüttelt, dass es eine Art hat! Die Mutter Vronl kehrt uns das ganze Haus um, reißt alles von den Wänden, wirft unsere Kleider durcheinander, dass sie der Teufel nicht mehr wird sortieren können; wir heißen leichtsinnige, liederliche Jungen, kaum ausgelaufene Wachteln mit Eierschalen auf dem Rücken, wir verstünden alle zusammen nicht so viel von einer Ordnung in der Wirtschaft als ihr kleiner Finger! O, wir haben uns da eine Regierung auf den Hals gezügelt, an die wir denken werden, geklagt sei's allen heiligen Patronen! Gregor sitzt unten und vermag sich kaum vor heftigem Gelächter, der Lobeiner möchte die Mutter gern besänftigen, aber kriegt selber eine Predigt ärger als die andere hinauf!«

Indem er noch sprach und sich die Mienen der drei Burschen sichtlich erheiterten, flogen einige alte Jacken, Hüte und Schuhe durch die Moostüre, welche Wolf offen gelassen hatte, hoch in die Luft, und Vronls zankende Stimme wurde unten hörbar; hierauf erschien sie selbst mit dem Oberkörper über der Moostüre und wetterte noch eine gute Weile in der von Wolf geschilderten Weise fort. »Es ist höchste Zeit gewesen«, schloss sie ihre gewaltige Predigt, »dass ich gekommen bin, sonst wäre so kein längeres Wohnen da untern mehr gewesen, der Schmutz und die Unordnung wären Hauswirt geworden. Ich will euch jetzt zeigen, was eine Wirtschaft heißt, wenn man einmal eine so hübsche Wohnung hat wie ihr da unten. Heute will ich euch noch eine Rast zu Hause vergönnen, aber morgen jag' ich euch vor Sonnenaufgang auf drei Tage aus meinem Angesicht, und kommt mir nur nicht eher, als bis ich die Ordnung zuwege gebracht habe.« Sie kam heraus, und der lächelnde Lobeiner und der vor Lachen geschüttelte Gregor kamen nach.

Man suchte nun allseitig durch Zureden und durch freiwilliges Versprechen der Mutter in allen Dingen der Häuslichkeit gern Folge zu leisten, Vronl zu beruhigen, und sie sagte jetzt:

»Gut, ich werde sehen. Aber zeigt nun, was ihr zu essen habt, der Ärger hat mich auf einmal ganz appetitlich gemacht.«

Sogleich wurde ein Tisch heraufgetragen und in den Schatten gestellt, und bald war ein kräftiges, kaltes Essen von Fleisch und Brot aufgetischt und gutes Bier zum Trinken herum geboten.

Vronl war auch bald wieder auf das allerbeste gelaunt, und ihre Heiterkeit ging auf alle über.

Der Nachmittag verging unter allerlei Besprechungen, und da sie meistenteils nur Häuslichkeit betrafen, so ließ man der Mutter Vronl gern das erste Wort.

Als sich die Sonne zum feierlichen Untergange anschickte, da wurde die Mutter nach und nach sehr stille und saß mit gefalteten Händen endlich sprachlos da, die Augen unverwandt nach Westen richtend. Etwas so unaussprechlich Großartiges und Erschütterndes als den Sonnenuntergang von einem Hochgebirge aus hatte sie noch nie gesehen, dieses heilige Feuermeer am Abendhimmel löste ihre Seele in eine ähnliche Glut der Andacht auf, sie war nicht mehr mit Bewusstsein auf dem Hochgebirge bei der Wolfskapelle, sie schwebte im Geiste unter den goldigen Abendwölklein und suchte mit den heiligen Empfindungen des Herzens weiter hindurch nach den Wohnungen der Seligen im Himmel.

Erst, als die Sonne unter dem langen Gebirgsstreifen im fernen Westen unsichtbar geworden war, erwachte sie aus ihren frommen Träumereien; ihre Andacht hatte auch die rauern Herzen ihrer Umgebung in reinere Stimmung aufgelöst.

»Hört man denn bei euch da gar kein Abendglöcklein läuten?« sagte Vronl endlich.

»Alle Kirchen sind zu weit weg, als dass man ihr Läuten hören könnte«, sagte Gregor.

»So muss da in die Kapelle ein Glöcklein hinein«, fuhr die Mutter fort, »ich kann so ein türkisches Judenleben nicht dulden, ich muss alle Morgen, alle Mittag, alle Nacht mein Gebetläuten haben, das ist das Allerbeste, merkt euch das ...«

6.
Ein Kapitel, das wiederum ein Seitensprung ist.

Der folgende Tag war ein gebotener Feiertag, und da ereignete sich in Angern die folgende Geschichte, welche wir aus allerlei Gründen mitteilen müssen.

Wir sind also wieder in Angern; freundlich schien die Morgensonne, der Tau lag noch auf den Gräsern; im Bienenstocke eines kleines Gartens ging es schon sehr lebendig her, und auch hinter dem Bienenstocke an dem großen Holunderstrauche, wo der Binder Loringel mit seinem Sohne sehr geheimnisvolle Dinge verhandelte.

Die Binderin trat jetzt aus dem Hause und horchte. Als sie weder die Stimme ihres Mannes noch die Stimme ihres Sohne in der Nähe hörte, legte sie ihre Hand über die Augen, um sie zu beschatten, und blickte forschend dort und dahin, entdeckte aber auch so die beiden Männer nicht. Sichtbarlich betrübt, stand sie hier noch eine Weile, zweifelhaft, was sie machen solle; endlich entschloss sie sich zu rufen, und wir erfahren bei der Gelegenheit, dass die beiden, Vater und Sohn, Andreas und Peter heißen. Welcher Andreas und welcher Peter? Das wird sich auch bald zeigen. Als die Namen gerufen waren, horchte die Binderin wieder, ob ihr geantwortet werde; aber sie horchte wieder vergebens.

»Sei still, rühr' dich nicht, sag' nichts«, bedeutete Vater Andreas seinem Sohne hinter der Holunderstaude. »Mit dem Weib ist's doch ein helles Kreuz, man ist nicht mehr im Stande, ein vertrautes Wort zu reden, überall ist sie einem auf den Fersen.«

»Stellen wir uns weiter an den Zaun her, Vater, dass sich die Äste besser herüber schlagen!« sagte de Sohn Peter. »Ja, mit der Mutter ist kein Einvernehmen mehr, wir müssen viel vertragen.«

Die Binderin ging um das Haus herum und trat durch das kleine Gitterpförtlein in den Garten. Sie trat so still herein, dass sie von den beiden Männern unmöglich gehört werden konnte. Als sie den Bienenstock erreicht hatte und hier aufmerksam und nachdenkend stehen geblieben war, vernahm sie das Flüstern beider Männer, die im Gefühl voller Sicherheit keine Ahnung hatten, dass sie schon belauscht sein könnten. Jetzt wäre es für die Mutter ein Leichtes gewesen, die Holunderstaude durch Sturm zu säubern, allein ihr lag ganz einfach nur daran, Vater und Sohn von allzu langen und vertrauten Verhandlungen durch die harmlosesten Mittel, meistens durch ihre bloße Gegenwart, zu verhindern, weil sie wusste, dass die beiden niemals etwas Gutes im Sinne hatten, wenn sie versteckte Orte aufsuchten, um ihre Geheimnisse zu verhandeln. Alle Schlägereien der Burschen, selbst der Männer in der ganzen Gegend, wusste sie, seien bisher noch immer von ihrem Manne und ihrem Sohn ausgegangen; sie hätte um alles gern jeden neuen Krieg vermieden und bot besonders seit einigen Tagen alle ihre Wachsamkeit auf, einen neuen Schlachtplan ihres Mannes, dem sie auf die Spur gekommen war, im Keime zu verhindern. Eine Weile also stand sie vor dem Bienenstocke und schaute dem Fleiße der lieben, kleinen Wesen zu.

»Wie das ohne Rast und Ruh' durcheinandergeht«, dachte sie, »eines hindert das andere nicht, alle gehören wie zu einer Familie zusammen und sind doch ihrer tausend und tausend. Warum bringen es so viele Menschen zusammen nicht auch zuwege? Ah, dort wird ein Faulenzer, ein Ruhestörer, ein Räuber herausgeworfen; stünde nur mein Mann jetzt bei mir da, ein solches Beispiel könnt' ihn doch verwarnen, wie es ihm noch einmal ergehen kann!« Sie meinte eine Drohne, welche von einem Schwarm Bienen aus dem Stocke geschleift und auf den Boden herab geworfen wurde.

Dann hob sie einen dürren Ast auf und zerbrach ihn, damit ihr Mann und ihr Sohn auf ihre Nähe aufmerksam würden; diese waren auch sogleich mäuschenstille, als sie das Knistern in der Nähe hörten, und schauten forschend zwischen den Zweigen heraus. Dabei konnten sie nicht verhindern, dass die Holunderstaude mehr, als ihnen lieb war, rauschte und der Mutter willkommenen Anlass gab, zu tun, als ob Hühner hinter der Staude säßen und mit dem Ast danach zu werfen.

Der erste, der in der Übereilung wie ein flüchtiger Hirsch hervorbrach, das war der Vater Andreas. Er fasste sich aber gleich, legte die Hände über den Rücken, tat, als ob nichts geschehen und sein Weib gar nicht da wäre, und ging, ein Liedlein brummend, nach dem oberen Ende des Gartens. Peter blieb in seinem Verstecke. Im Augenblick, als die Mutter ihren Mann anrufen wollte, trat ein fremder Bursche in schönen Sonntagskleidern von außen an den Gartenzaun und winkte den Binder mit einem geheimnisvollen »Bst« zu sich heran. Gleich drehte sich dieser um und tat, als entdeckte er jetzt erst sein liebes Weibchen, und rief freundlich herunter: »Schau, schau, liebe Klare, bist auch im Garten? Du holst mich gewiss zur Morgensuppe, aber ich komme gleich, gleich komm' ich, Schatz! Geh' nur voraus – da ist jemand Wildfremder, der will mit mir reden.«

Jetzt kam auch der Sohn wie ein harmloser Zuschauer hervor und gesellte sich wie zufällig zur Mutter, in der Tat aber, um ihre Aufmerksamkeit von dem Gespräche des Vaters mit dem Fremden abzulenken und sie mit guter Manier ins Haus zurückzubegleiten.

Ahnungsvolle Schauer liefen der Mutter durch alle Glieder, als sie den fremden Burschen sah; es war kein Zweifel mehr, dass dieser Fremde schon als Vorposten eines nahen Gefechtes erschien und dass es also nicht mehr möglich war, den geheimnisvollen Kriegsplan gänzlich aufzuheben, nachdem er schon wie ein vollständiges Manöver im besten Gange war. Es verschlug der Mutter alle Sprache und das Zureden ihres Sohnes, zur Morgensuppe mit ihr ins Haus zurückzukehren, überhörte sie ganz. Nach einer Weile tat sie einige Schritte gegen ihren Mann hin, um vielleicht doch aus seinem Gespräche mit dem Fremden zu entnehmen, dass sie umsonst in Sorgen oder durch ihre Nähe wenigstens dem Gespräche, falls es doch gefährliche Dinge verhandelte, nicht den gehörigen Verlauf zu lassen. Jetzt entdeckte sie durch die Zweige noch einen anderen fremden Burschen, der seine Jacke über der Schulter und auf einen Knotenstock gelehnt, in einiger Entfernung gleichsam Wache haltend dastand; dieser Anblick war nicht geeignet, die besorgte Mutter zu beruhigen, vielmehr machte sie schnell noch einige bedenkliche Schritte gegen ihren Mann hin, den ihre Nähe wirklich so beunruhigte, dass er anfing, mit dem Fremden erst in rein unsinnigen Tiraden zu reden, dann das ganze Gespräch einem raschen Ende zuzuführen, indem er ihm über den Zaun die Hand reichte und sagte: »Wer einmal so etwas sagt, der sagt es, ob er heut' oder morgen oder in einem Jahr noch daran denken mag oder nicht; hab' ich recht oder nicht? Jetzt grüß' dich Gott, und mir ist alles recht, muss alles recht sein. So hab' ich's immer gehalten!«

Die Burschen gingen, und der Binder kam zu seinem Weibe zurück.

»Nun, Schatz«, sagte er mit großer Freundlichkeit zu ihr, »willst du denn durchaus keinen Anfang mit der Morgensuppe machen? Musst du uns gerade den ersten Löffel gönnen? Das ist recht schön, liebe Klare; aber dein Nutzen ist es auch nicht, und weiß Gott, ich hätte dir die ersten Löffel gegönnt!«

Da sein liebes Weib nicht gleich antworten konnte, indem ihr Herz zu voll war, fuhr der Binder fort:

»Ein Bursche aus Stachesried, den du da gesehen hast; ein recht lieber, guter Bursche, der mir wegen dem Holz, was ich schon so lange haben möchte, zwei große Buchen und vier Tannen, einen Antrag gemacht hat – sein Vater hat seine eigene Waldung wie die freien Bauern da drüben alle; Schwegelmeier heißt sein Vater.«

Diese Worte, mit der arglosesten Miene von der Welt vorgebracht, verfehlten eine mildernde Wirkung auf das Herz der Mutter nicht, und sie glaubte ihnen, weil sie von Herzen gern geglaubt hätte. Etwas heiterer und gesprächig ging sie mit den beiden Männern in die Stube zurück, und sie setzten sich alle zur Morgensuppe um den Tisch.

Hier störte aber ein neuer Auftritt den kaum hergestellten Frieden, indem auf einmal wieder von außen an das Fenster geklopft wurde und ein anderer fremder Bursche vorgebeugt und zwischen seinen Händen düster lächelnd hereinsah. Der Mutter entfiel bei diesem Anblick fast der Löffel, auch Vater und Sohn blickten unmutig und erschrocken auf, weil kein Ort und keine Stunde unwillkommener gewählt sein konnten. Der Bursche lächelte und klopfte fort und winkte dann, der Binder Loringel möchte doch das Fenster öffnen, dass sie leichter miteinander reden könnten; aber Vater Andreas, dessen Hauptstärke Geistesgegenwart war, legte den Löffel ruhig nieder, als wäre er ohnedies hinlänglich satt, rutschte am Tische hinunter und sagte:

»Ah, was sollen wir da lange das Fenster aufreißen, genug hab' ich, so geh' ich lieber hinaus und hol' ihn herein. Frauchen, das ist vom großen Hammerschmied der Sohn, den schickt mir gewiss sein Vater wegen den Werkzeugen, die ich bei ihm bestellt hab', wenn er mir nur nicht kommt, dass meine Sachen erst in vierzehn Tagen zu haben sein werden! Merkwürdig, wie heute alles von allen Seiten auf einmal daher kommt.«

An der Türe drehte er sich noch einmal um und sagte:

»Frauchen, sei mir aber hübsch freundlich, wenn ich ihn jetzt hereinbringe, es ist ein Mordsbursch, und ich hab' ihm und seinem Vater schon manches Gute zu verdanken. Peter, verzähl's der Mutter, wie wir da einmal über der Grenze beim Eigner das gute Märzenbier getrunken haben und wie da auf einmal der Dings da, der Plader – nein der Häder – nein, was denn, der – nun verzähl's nur, was nur das damals für ein Mordsspaß gewesen ist – haha – verzähl's der Mutter!«

Der Peter verstand des Vaters Wink recht gut und begann mit wahrer Kunstfertigkeit eine aus der Luft gegriffene Geschichte zu erzählen, die mindestens dem Zwecke vollkommen entsprach, dem sie entsprechen sollte. Die Aufmerksamkeit der Mutter wurde einen Augenblick in Anspruch genommen und so von dem fremden Burschen abgelenkt.

Wer aber zur Türe hinausgegangen war, um den Burschen hereinzuholen, aber nicht wieder hereinkam, das war der Vater Andreas. Dem Sohne riss bereits das zweite Mal der Faden in seiner Geschichte, er bangte bereits nicht ohne Grund um die fernere Aufmerksamkeit der Mutter; da wurde er endlich seines Amtes enthoben, der fremde Bursche ging an den Fenstern vorüber wieder fort, und Vater Loringel kam heiter lächelnd in die Stube zurück.

»Schau, schau«, sagte er, »so groß und ernsthaft der Bursche ist, so ist er doch noch scheu wie ein Knäblein; man sollt' es gar nicht glauben. So komm doch herein und lass dich bei meinem Weibchen sehen, hab' ich zu ihm gesagt, sie wird dich gewiss gerne kennen lernen. O, mein Gott, hat er mir darauf gesagt, ich? Was sieht sie an mir? Wir kennen eins das andere nicht, und ich hab' auch keine Zeit mehr, ich will nach St.-Anna in die Kirche, da muss ich sogleich weiter. Ei, ei, hab' ich weiter darauf gesagt, einen Augenblick wirst du doch noch übrig haben, es ist ja noch früh genug heute, komm doch nur herein. Nein, nein, wirklich nicht, ich seh', ihr esst gerade, und das wäre mir leid, wenn ihr nicht ruhig essen könntet. Sei doch nicht so kindisch und rede dich auf so was aus, hab' ich wieder gesagt, im Notfall iss noch selber mit uns, so viel wirst du bei uns auch noch finden. Nein, Loringel, hat er wieder gesagt, nein, ich bin nur gekommen und hab' Euch sagen wollen, dass Euer Werkzeug längstens heut über acht Tage fertig ist und dass Ihr Euch darauf verlassen könnt. Gut, hab' ich gesagt, so bin ich meinetwegen noch zufrieden. Dann haben wir eine Weile über seines Vaters Geschäft geredet, und so ist die Zeit vorübergegangen, und da draußen geht er eben fort. Ein prächtiger Bursch«, schloss er seine Rede, »schau ihn nur an, Weibchen, wie er da draußen weiter geht!«

Das gute Herz der Mutter ließ sich auch diesmal wieder genügen und suchte nachgiebig genug ihren Argwohn zum Schweigen zu bringen.

Man stand auf und dankte Gott für Speis und Trank, dann eilte jedes sich in Sonntagsstaat zu werfen.

Binder Loringel musste seine besonderen Gründe haben, warum er seinem Weibchen immer einreden wollte, dass sie lieber zu Hause bleiben als in die Kirche gehen solle. »Du wirst wieder beim ‚Ite missa est' durch die Leute hindurch brechen und aus der Kirche stürzen«, sagte er zuletzt, »und wenn du hundsrackermüde heimgelaufen bist, wird erst noch kein Feuer auf dem Herd, kein Brunnwasser im Krug, keine Kartoffel geschält und kein Mehlteig geknetet sein, du wirst dich überhetzen, und wir alle werden doch so spät noch nichts zu essen haben.«

So überwältigend diese Gründe sein mussten, so schlagend erwiderte die Mutter diesen Gründen:

»Kümmere dich um Himmelswillen doch um etwas anderes, lieber Mann, und vergönne mir auch einmal eine Predigt und ein Hochamt, soll ich denn immer nur in die Frühmessen laufen und kein lebendiges, lautes Wort Gottes mehr hören? Das Essen wird auf dem Tisch stehen wie wir heimkommen, verlass dich nur, lieber Mann! Die gute Nachbarin hat alles übernommen, sie hat schon alles drüben, was sie braucht, es wird an gar nichts fehlen.«

Dagegen ließ sich nun nichts mehr einwenden; der einzige Ausweg, die Gefahren auf dem Kirchenwege zu vermeiden, war nun, durch den Sohn alle verdächtigen Anzeichen im Voraus wegräumen zu lassen, darum zog der Alte den Jungen in einem günstigen Augenblicke bei Seite und sagte ihm ins Ohr:

»Geh' voraus, dass mich ja keiner anrede, sie sollen nur ruhig in die Kirche gehen, das andere wissen sie so schon alles – ich werde schon während der Predigt ins Wirtshaus gucken – geh', mach' selber alles vernünftig ab.«

Der Bursche ging, bevor ihn die Mutter noch davoneilen sah und aufzuhalten suchte; als sie ihn vermisste und nach ihm fragte, erwiderte Loringel:

»Geh, geh, lass' ihn; du weißt ja, dass so ein Bursche keine Rast und Ruh' hat, bis er unter seinen Kameraden steckt; geh'n wir nur miteinander, er wird den Weg in die Kirche auch so noch finden.«

So gab sich denn die Mutter zufrieden und machte sich mit ihrem Manne auf den Weg; sie war heiter und gesprächig und schien auch ihren Argwohn ganz vergessen zu haben. Auf dem Wirtsacker, wo die fünfzehn großen Buchen stehen, erschrak sie aber, dass ihr beinahe Hören und Sehen verging. Im Schatten der Bäume sah sie nämlich dieselben drei Burschen stehen, welche sich kurz zuvor so verdächtig mit ihrem Manne hatten zu schaffen gemacht, und bei ihnen stand ihr Sohn Peter, der eben sagte:

»Ich bitt' euch, Freunde, es ist meine Mutter bei ihm, tut nichts dergleichen und erweckt ihr keinen Verdacht. Wenn die Predigt anfangt, wird er schon aus der Kirche schleichen und zu euch ins Wirtshaus kommen.«

Auch diese Worte verstand die Mutter.

Loringel, dem es eiskalt durch alle Glieder rieselte, beherrschte sein Gesicht aber so, dass man ihm weder Schreck noch Ärger ansah, vielmehr sprach er geschwinde mit scheinbarer Sorglosigkeit. Das und jenes und vom Hundertsten ins Tausendste, um sein besorgtes Weib noch einmal zu zerstreuen und zu beruhigen – aber diesmal ganz umsonst.

Als sich die Mutter ob des Gehörten endlich wieder so weit erholt und gesammelt hatte, dass sie ihr lange schon von Sorgen und Argwohn überquellendes Herz durch Worte erleichtern konnte, und als Loringel, den Sturm voraussehend, sie bereden wollte, sich an eine größere Gesellschaft anzuschließen, die des Weges kam, sagte sie entschieden:

»Nein, nein, lass uns nur allein beieinander bleiben; ich hab' was auf dem Herzen, und das muss jetzt gleich heraus.«

Loringel zog die Augenbrauen verlegen und wie verwundert bis unter die Stirnhaare in die Höhe und sagte mit gespitztem Munde: »Ja, freilich, auch recht, gut, gut, mein liebes, gutes, süßes Weibchen, du – nun was, was denn, Schatz? Was hast du denn auf dem Herzen? Warum red'st denn nicht? Red', so red'!«

Der Mutter klopften die Stirnadern in schwerem Drange, und ihr Herz pochte hörbar.

»Mann«, sagte sie, »ich bemerk' schon seit einiger Zeit wieder, als wär' etwas im Gange, was du angezettelt hast und was nichts Gutes sein kann; du hast vielleicht wieder das gute Einvernehmen zwischen einigen Dörfern untergraben, und es soll vielleicht heute ein Schlag geschehen, der viele Burschen und Männer unglücklich trifft. Höre, lieber Mann, wenn ich recht habe in meinem Verdacht, so bitte Gott um Gnade und verhindere alles, solange noch Zeit ist, dich wird sonst der barmherzige Himmel noch strafen für dein ganzes Leben, und alles Unheil kann einmal gegen dich ausschlagen, weil du der Urheber von allem bist. Geh' in dich, Mann, lass' es um Gott und Christi willen zu nichts kommen, sag' mir selber, wohin ich laufen und abmahnen soll, damit alles wieder gut wird, ich will mir die Füße wund und den Atem aus der Brust laufen, sag' mir nur: Was hast du wieder für ein Unheil ins Werk gesetzt, und wo sitzt das größte Übel? Diese Burschen sind heute nicht an unsern Gartenzaun und an unser Fenster gekommen wegen Holz und Werkzeugen, sie stehen nicht umsonst dort mit unserem Sohn im Schatten und ratschlagen und lassen sich vor mir verwarnen ... Mann, Mann! Fang nicht wieder eine so große Zwietracht an, lass unsern lieben Gott im Himmel nicht einmal dreinfahren mit glühenden Ruten. Dich trifft er zuerst, wenn er einmal seine Hand erhebt, deine Übeltat wird dich selber strafen!«

Der Binder erwiderte, mit gespitztem Munde lächelnd:

»Jetzt hör' auf! Nein, was du alles siehst und hörst und zu glauben glaubst, es ist fast nicht zu glauben, es geht schon über alles. Geh', wer wird denn auf so gefährlichen Spinnweben herumsteigen und sich so allerlei in den Kopf setzen, was gar nicht ist und gar nicht einmal wahr ist – hahaha! – Weißt du, was mein Sohn mit seinem Verwarnen vor dir gemeint hat? Ich sag' dir's ungern, Mutter, aber jetzt muss ich doch herausrücken. Schau, nimm mir's nicht übel, aber ich bin den Burschen schon ein gutes halbes Jahr her jedem einige Gulden schuldig, und da sind sie heute gekommen und haben mich angefordert, ich habe aber jetzt gerade nichts im Überfluss, das weißt du, und da hab' ich sie mit guter Manier wieder fortgerichtet, sie haben sich aber nicht recht wollen darein ergeben, und so hab' ich ihnen unseren Burschen nachgeschickt, dass sie mich wenigstens auf dem heiligen Kirchenweg nicht noch einmal anreden – und der hat sie gebeten, dass sie mich doch vor dir verschonen möchten, ich werde ja so unter der Predigt ins Wirtshaus kommen und noch einmal mit ihnen reden. Aber – hahaha! – Da sollen sie warten, bis ich ins Wirtshaus komme, solchen Schelmen werde ich eine Predigt aufopfern, da sollen sie nur warten bis heut' über ein Jahr!«

Diese gewandte Darlegung falscher Tatsachen verfehlte in der Tat ihre Wirkung nicht; es konnte nichts wahrscheinlicher sein, als dass der Binder seine heimlichen Schulden hatte, wie es schon öfters der Fall gewesen war. Jetzt überkam die Mutter eher eine Verlegenheit vor den Burschen als ein Argwohn gegen dieselben, und sie sagte nach einer Weile in gutmütigem Vermittlungstone: »Wenn es nicht gerade unter der Predigt wäre, so müsstest du doch mit den Leuten noch einmal im Guten reden. Wer uns einmal Gutes getan hat, den muss man hinterdrein nicht nur so weg behandeln. Weißt, ich kann allein vorausgehen in die Kirche, es ist noch Zeit, wart' auf sie hier und rede noch vor der Kirche mit ihnen. Gib ihnen gute Worte und schau halt, dass wir ihnen die paar Gulden bald auszahlen können.«

»Sollst du aber allein gehen?« sagte der Binder wie besorgt, aber innerlich jubelte er, »weißt, schließ' dich dort an die Herd' Nachbarinnen an, so will ich meinetwegen tun, was du wünschst, und auf die Burschen warten. So brauche ich doch die Predigt nicht zu versäumen.«

Sie trennten sich, und jetzt war auch bald die Gesellschaft heimlicher Aufwiegler ungestört, wie sie nur wünschen konnte, beisammen. An einen Gottesdienst wurde gar nicht mehr gedacht. Man konnte an diesem Tage besonders viele Burschen von weiter her auf dem Kirchenplatze sehen, und alle gingen statt in die Kirche ins Wirtshaus, wo sich bald ein verhängnisvolles Leben zeigte, dessen Mittelpunkt Loringel und sein Sohn darstellten. – Als der Gottesdienst zu Ende war, eilte alles dem eigenen Herde zu, um auch den Körper zu speisen, nachdem die Seele gespeist war. – Wir treten jetzt über eine neue Schwelle, um eine andere Familie kennen zu lernen.

In Gronners Hause war es eben nach dem Mittagessen; um den Tisch hatten sich ein großer und ein kleiner Knecht, eine große und eine kleine Magd, Vater Gronner und sein Sohn aufgestellt, und jedes betete für sich im Stillen seinen Dank für das empfangene Gute; die Mittagsglocke schlug inzwischen an, und so verlängerte ein jedes auch noch durch den »englischen Gruß« sein Gebet. Kaum aber war das vorüber, so schritt die große, gewaltige Magd mit stürmischer Geschäftigkeit zu dem Tische hin, warf Löffel, Messer, Gabeln, die herumliegenden Reste Brot und sonstiges in die große Schüssel, die man spiegelblank ausgeleert hatte, über alles das schlug sie dann von allen vier Ecken des Tisches her die Enden des Tischtuches zusammen, packte das Ganze mit spielender Kraft, fuhr damit einige Mal trocknend über die feuchten Stellen der Tischplatte und schwang es dann mit Leichtigkeit und solcher Schnelle hoch hinweg, dass die stämmigen Waden sichtbar wurden. Die kleinere Magd war indessen mit einem Arm voll Töpfe nach dem Stall gegangen, um zu melken; die Knechte schlenderten schwerfällig-behaglich auch hinaus, der Große, um sich, aus einer Pfeife rauchend, in den Schatten zu setzen, der Kleine, um, auf einer Maultrommel spielend, sich die Zeit zu vertreiben, bis die Kameraden beide abzuholen kämen. So blieben in der Stube nur Vater Gronner und sein Sohn zurück. Vater Gronner schob sich gleich nach dem Gebete wieder zwischen Tisch und Fenster auf die Wandbank nieder, einen Ellenbogen auf der Tischplatte, einen auf dem Fensterbrett, einen Fuß der Länge nach auf der Wandbank oben, den anderen unten; er wählte diese Stellung, weil er seinen Blick frei haben wollte durch das Fenster in das sonntäglich stille Dorf hinab und in der Stube auf seinen Sohn, seinen Liebling, der sich schweigsam vor das nächste Fenster hingestellt hatte und sich von der lieben, guten, warmen Frühlingssonne, die in einem bläulichen Strome hereinfiel, wohlig die Brust bescheinen ließ. Dem Burschen war so unbeschreiblich, wie einem eben ist in blühender Fülle der Gesundheit, in schönen, neuen Sonntagskleidern, und wenn die liebe Frühlingssonne ebenso freundlich auf einen durch das Fenster scheint. In einem solchen Zustande geht der Mensch oft ganz in dem Anblick der Natur auf, er fühlt sich selbst nicht mehr, er ist ein treuer, freundlicher Spiegel, in dem sich etwa wie in unserem Burschen der sonnig-flimmernde Mühlbach draußen, der lebendige Zaun von jungen Fichten, das Gärtchen voll rötlich blühender Apfelbäumchen und die Mühle rechts und oberhalb der Schützenbrunnen und weiter oberhalb die Dorfkapelle und das Jägerhaus im Schatten der vier Riesenlinden spiegelt, und über dies alles hinaus das Gebirge, die weißen Lämmerwolken und der schöne, blaue Himmel. Mag auf unserer Brust, auf welche die bläulich-warme Frühlingssonne fällt, die karminrote Seidenweste dann noch höher glühen, die versilberten Knöpfe dran noch lebhafter blitzen, wir haben doch für eine gute Weile nur Blicke für alle Dinge außerhalb den Fenstern, keinen Blick jedoch für uns; ein anderes Auge muss es gewöhnlich wieder sein, das uns betrachtet und über uns sich liebevolle Gedanken macht. So erging es unserem Vater mit seinem Sohne jetzt. Während dieser unbeweglich in Betrachtung des schönen Frühlingsnachmittags an dem Fenster stand und von sich kaum selber wusste, ruhte das liebevolle Auge des Vaters nicht selten dauernd auf der schöne, kräftigen Gestalt des Burschen und prüfte mit kindlich eitler Freude, wie gut dem Sohne die schönen, hellen Farben stehen, besonders die karminrotseidene Weste, die aufgeknöpft ihm leicht über die Brust hinab hing, das feine, weitärmelige Sonntagshemd, das blendend weiß im Sonnenschein blinkte und vor allem, vor allem das karminrote Seidenhalstuch, das einen freudig lebenswarmen Schein über sein mild ernstes Angesicht verbreitete. Am liebsten hätte Vater Gronner nun auch ein Gespräch mit seinem Sohne angeknüpft, so eines, in welchem er dem Lieblinge durch freundliches Rechtgeben oder durch gutmütiges Zuliebereden eine ununterbrochene Freude hätte machen können; eine milde Heiterkeit über dem ganzen Gesichte, ein zuvorkommendes Lächeln um die beiden Mundwinkel und ein leises Bewegen der Lippen schien an Vater Gronner deutlich genug hinzuweisen, wie bereit er sei, sich über dies und das in freundlichem Gespräche zu ergehen. Draußen vor den Fenstern geschah nichts Besonderes; vergebens verfolgte der Vater seines Lieblings Blicke, um abzunehmen, auf welchem Gegenstande sie vorzüglich weilten, er hatte sogar schon allerlei Stichworte und Reden in Bereitschaft, die er nach Umständen freudig anbringen wollte wie: »Wenn uns Gott das Leben schenkt und das Wetter schonet uns die Blüten« – oder: »Der Müller sollte längst den Steg verbessern, da geht der Nachbar drüber, und alles zittert unter ihm« – oder »Jetzt um Pfingsten wird's ein Jahr, da hat der Stedtiner sein Haus gedeckt, es hat sich wie von gestern gut erhalten ...« Umsonst; indem der Vater so beginnen wollte, erkannte er wohl selbst, dass derlei Dinge jetzt nicht gut zu brauchen seien. Tauben flatterten im Sonnenscheine, die leise bebenden Töne der Maultrommel spielten draußen um die Fenster, dann und wann war ein Freudenschrei der Kinder zu hören, die sich im Freien tummelten, aber zwischen Vater Gronner und seinem Sohne blieb es stille. Endlich fiel jenem ein, dass er ja heute seinem Lieblinge noch sein Sonntagsgeld nicht übergeben habe. Mit leiser Hast erhob er sich und eilte nach der Kammer; sechs blanke Silberstücke zählte er auf das Fensterbrett, strich sie dann wohlüberzählt in seine hohle linke Hand und kam damit zurück, ein Lächeln um den Mund und die freundlichen Worte auf den Lippen: »Da hätt' ich bald vergessen, mein Sohn! Du hast ja heute noch dein Geld zu kriegen.« Bevor er aber diese Worte sprach, ergab sich ihm ein anderer willkommener Umstand, dem Lieblinge sich freundlich zu erweisen, denn dieser stopfte sich eben, ruhig am Fenster stehend, seine Sonntagspfeife und dachte daran, wie schwer es wieder halten werde, bis sein feuchter Schwamm einen Funken fange; sogleich holte Vater Gronner einen Span vom Ofen, eilte nach der Küche und brannte den Span auf dem Herde an. Zurückkehrend sagte er lächelnd: »Ich hab' schon gemerkt, dass du Feuer brauchst, da ist's, mein Sohn.« Froh überrascht, nahm der Sohn den Span und sagte: »Schön Dank, Vater! Mit dem Schwamm hab' ich mein helles Kreuz.« Als die Pfeife brannte und der Span ausgetreten war, reichte Vater Gronner das Geld hin und sagte: »Gelt, da hätten wir bald alle zwei vergessen?« Der Sohn holte den ledernen Faltenbeutel heraus und zog ihn auf dem Fensterbrette auseinander: »Ich hätt' es vielleicht auch nicht gebraucht«, sagte er, »heut rührt sich ja kein Spielmann weit und breit.« Er tat das Geld hinein, zog den Beutel wieder zu und sagte weiter: »Ich will jetzt ein wenig in den Schatten 'naus; es ist gar zu lieblich heute.« »Ja, tu' das, mein Sohn«, erwiderte der Vater, »es tut einem die Sonne und der Schatten heute wohl! Gott, Gott! Wenn wir solche Tage behalten, was wird das für Frucht und Segen setzen – lass dich nur nicht aufhalten, mein Sohn, Schatten genug hat unser Garten.« Der Sohn war nicht lange im Garten und besah sich die rote Blütenfülle eines Apfelbäumchens, blaue Wölklein stiegen aus seiner Pfeife, und ein Heer Bienen summte geschäftig um seine Ohren, da stand auch der Vater schon hinter ihm und sagte: »Beschaust du die Blüh'? Jawohl, das Herz geht einem auf; bringt dir nur die Hälfte davon Obst, wo nehmen wir die Stützen her, mein Sohn? Es brechen alle Äste. Ich erleb's nicht mehr, aber du wirst's noch genießen, Sohn; ich hab' das Bäumchen gepflanzt und darf es sagen, das Bäumchen wird dir seine Früchte noch tragen und auch deinen Kindern noch, und wenn's gut geht, auch noch deinen Kindeskindern. Acht' es, pfleg es, es wird dankbar sein.« So ging es fort von Baum zu Baum. Gerne hörte der Sohn den Vater reden, der Vater wieder lauschte den Augen und den Lippen seines Lieblings ab, was er Liebes und Gutes und Wohlmeinendes sagen solle. So z.B. fasste er sogleich einen gründlichen Widerwillen gegen eine große Holunderstaude in der Ecke dort, als er bemerkte, dass seines Sohnes Auge eine Weile unmutig darauf ruhte: »Du«, sagte er schnell erratend, »was meinst, hau' ich morgen die ganze Staude nicht lieber weg? Sie erdrückt uns ja jeden Sprössling, weil von einem Sonnenlicht unter diesen Flügeln gar keine Rede sein kann.« Der Sohn erwiderte lächelnd: »Ja, ja, Vater! Gerade denk' ich auch daran; sie muss weg; es ist noch genug solches Gestäude um das Haus herum, der Schaden lässt sich noch ersetzen.« Unter solchen Beratungen verging eine angenehme halbe Stunde. Jetzt war aber vorauszusehen, dass diese Verhandlungen ihr Ende nehmen mussten.

Von allen Seiten hörte man schon Burschen daher pfeifen oder Maultrommel spielen oder sonst laut genug durcheinander reden, denn es war heute eine besondere Aufregung unter ihnen.

Vor Gronners Hause versammelten sie sich auf dem Anger, zu ihnen traten Gronners Knecht und gleich darauf auch dessen Sohn Johannes. Gronner blieb im Garten stehen und blickte etwas vorgebeugt und wohlgefällig lächelnd zwischen den Bäumen durch auf seinen Sohn hinaus, der doch der ansehnlichste unter allen andern dastand; auch entging es ihm nicht und tat ihm bis ins Tiefste der Seele wohl, dass die Burschen seinen Sohn wie den Vornehmsten unter sich behandelten, ihn schnell in ihre Mitte nahmen und nun in großer Anzahl weiter wanderten. Das Pfeifen und Spielen hatte aufgehört, und es wurde nur mehr lebhaft durcheinander gesprochen.

Hätte Vater Gronner geahnt, was eben so düster und stürmisch unter den Burschen verhandelt werde, er wäre nicht so wohlgefällig lächelnd zwischen den Bäumen dagestanden, bis die Burschen hinter den Nachbarhäusern verschwanden, und wäre gleich darauf nicht die kleine Erhöhung hinter dem Hause hinaufgestiegen, um die Burschen und vorzüglich seinen Liebling darunter noch einmal ins heiterblickende Auge zu bekommen, er wäre vielmehr mit besorgter Vaterseele den Burschen nachgegangen und hätte durch strenge Ermahnungen einen gefahrvollen Aufruhr niedergehalten, der bereits im vollste Schwunge war. Indessen hätte ihn wahrscheinlich bald die Fassung seines Sohnes einigermaßen beruhigt, der ihm die Hand gegeben und gesagt hätte: »Seid doch nicht besorgt, Vater! Ich steh' ein dafür, dass nichts geschieht.« Solche ruhige, ernste Worte sprach er auch zu den Kameraden, welche ihm berichteten, dass die vielen fremden Burschen auf dem Kirchenplatze und andere Zeichen vormittags nichts anderes bedeutet hätten als einen feindlichen Angriff von Ried herüber.

Der eine sagte, wie er heute auf dem Kirchenplatze vor einige dieser Fremden vorüber sei, habe er den einen deutlich sagen gehört: »Seht, da geht auch einer von denen, die immer die Hand im Sack haben und sagen: Geht, lasst mich aus, ich will von einem Streit nichts wissen.«

Ein anderer habe gleich darauf gesagt: »Das sind halt wahre Engel, die Angerer, man darf ihnen Ohrfeigen geben, und sie bedanken sich noch dafür.«

Bei diesen Worten habe er sich grimmig umgesehen, die kecken Redner haben aber auf die Seite geblickt und getan, als wäre nichts geschehen.

Ein anderer Bursche erzählte, ihm hätte ein Rieder Bursche beim Vorübergehen seinen Fuß so gestellt, dass er darüber gestolpert und fast gefallen wäre. »Hopsa!« habe der Bursche gesagt, »aufgepasst, es liegt mein Schuh im Weg!« die anderen Rieder Burschen und zwei Fremde hätten sich hinterher ausgeschüttet vor Lachen.

Ein dritter besann sich jetzt erst, was es bedeutet habe, als sich vor seinen Augen mehrere Rieder Burschen, verzwickt lächelnd, die Ärmel etwas zurückgestreift und gesagt hätten: »Puh, das wird noch eine große Hitze geben heut'.«

So wussten noch viele ihre besonderen Beobachtungen anzubringen, die alle das Ehrgefühl und den Mut der Burschen verletzen und stacheln mussten. Johannes hatte nur den Hut etwas tiefer in die Augen gedrückt und hörte mit Ruhe diese Berichte an, dann sagte er:

»Kameraden, ich will euch etwas sagen: diese Menschen können es nicht vergessen, dass wir sie immer und immer mit einer schweren Tracht Schläge heimgeschickt haben, sooft sie mit uns in Streit geraten sind, und sie möchten die Scharte jetzt auf alle Weise abschütteln, getrauen sich aber doch nicht recht. Wenn sich die Rieder zusammenzählen, so sind allein schon ein halbes Dutzend ihrer mehr als wir, und da rufen sie sich noch ein Dutzend Auswärtige zu Hilfe und denken nun, weiß was sie ausrichten werden. Wer dazu nur schmunzeln kann, das sind wir. Wir brauchen unseren Mut nicht erst zu zeigen, wir haben ihn schon oft genug gezeigt. Lasst uns über das von heute Vormittag ein Aug' zudrücken und die ganze Sach' vergessen, es ist nichts gewonnen und verloren dabei.«

Ein düsterer Unwille lief durch die Schar der Burschen, doch ließ man sich von dem Liebling aller ein Wort der Beschwichtigung gefallen.

Einer aber sagte nach einer Weile: »Johannes, was du jetzt gesagt hast, ist meinetwegen recht; wenn alle andern ja dazu sagen, so sag' ich auch nicht nein. Aber wie gefällt dir, was ich auf dem Kirchenplatze gehört habe? Ein Rieder und ein fremder Bursche sind nebeneinander gestanden, und da hat der eine zum andern gesagt: ‚Ich wett' meinen Hals dran, wenn wir von Ried in die Gärten hinausrücken, so wird's in Angern wie ein Kirchhof still sein, es wird sich kein Angerer nicht einmal blicken lassen; ich bin neugierig, ob einer beim ersten Haus drüben sichtbar wird – ich fürcht', wir werden mit Grashalmen raufen müssen, wenn wir unsern Mut zeigen wollen.'«

Johannes erwiderte ernst lächelnd: »Lieber Freund, das gehört auch zum andern in einen Sack. Wir wollen nicht wie ein Kirchhof still sein, denn wir wollen singen; aber die Freude sollen sie haben, dass wir uns keiner beim ersten Hause sehen lassen, wir wollen heute keinen Streit mit diesen Menschen.«

Er ging nach diesen Worten gegen das östliche Ende des Dorfes hin voran, die Kameraden folgten ihm düster schweigend – plötzlich aber zog er den Hut tiefer in die Augen, sah bleich wie Kreide aus, kehrte um und ging ohne ein Wort zu reden gegen das westliche Ende des Dorfes zu. Ein frohes Aufwallen und Drängen führte ihm die Schar seiner Kameraden nach.

»Wir wollen uns doch auch sehen lassen!« sagte Johannes nach einer Weile, und es war die Losung zu einem unvermeidlichen Kampfe gegeben.

Um diese Stunde war im Dorfe Angern jemand sehr zufrieden mit sich und mit der Welt, und das war die Mutter Binderin. Ihr Mann und ihr Sohn waren nämlich zur gehörigen Zeit zum Essen nach Haus gekommen, taten mit keiner Silbe einer Sache Erwähnung, die bedenklich scheinen konnte, betrugen sich, um es kurz zu sagen, wie zwei helle Engel und machten nach dem Essen keine Miene, sich vom Hause zu entfernen. Vielmehr um seine Sache recht harmlos 'nauszuführen, sagte Vater Andreas zu seinem Weibchen: »Komm doch und lass uns einmal ruhig unter einem Baum zusammensitzen, der Tag ist schön, da droben haben wir eine liebe Aussicht.«

Im Herzen der Mutter jubelte es laut über diese Worte, und sie war bereit, sich in den Schatten hinauszusetzen. Ihre Freude vermehrte es, als auch ihr Sohn Peter äußerte, ihm gefalle es heute zu Hause besser, und er wolle sich also auch zu Vater und Mutter in den Schatten setzen; doch wollte die Mutter ein solches Opfer nicht ohne Widerrede annehmen. »Du gehörst heute unter die Burschen«, sagte sie, »ich möchte nicht, dass du wegen mir zu Hause bleibst; willst du aber doch lieber bleiben, so mach' mir meinetwegen einmal die Freude und bleibe da.« Peter setzte sich neben Vater und Mutter in den Schatten. Sie hatten von da gerade die zwei Dörfer Ried und Angern und dazwischen die freie Wiesenfläche bequem vor Augen. Als sie ungefähr eine halbe Stunde so in traulichem Gespräche hingebracht hatten, machte die Mutter endlich die Bemerkung: »In Ried geht es ja heute zu, als müsst' jede Minute eine Armee herausreiten; das ist wahr, die Burschen halten halt keinen Sonntagnachmittag heilig, kaum ist die Predigt und das Essen unten, so geht's an nichts als Herumfachieren, Lachen, Lärmen; nun jung ist jung, lasst man ihnen halt die Freude.« Der Binder erwiderte: »Nur nicht vergessen, Weibchen, dass wir auch einmal jung gewesen sind.« Wieder nach einer Weile sagte die Mutter: »Ich möchte doch wissen, wie viel Tabak die Rieder Burschen heute verrauchen? Ist es nicht gerade, als wär' ein nasses Reis auf ein Feuer in den Rieder Gärten gelegt worden, es ist aber eine Wolke Tabakrauch um die andere, die in die Höhe steigt. Warum ist es denn aber bei uns in Angern so still heute?« Peter erwiderte: »Wir Angerer sind immer zwei, drei Stunden nach dem Essen wahre Faulenzer; wenn wir ausgeschnarcht haben, dann lassen wir uns auch wieder sehen.« Die Mutter sagte: »Dort seh' ich aber doch eine hübsche Menge ihrer gegen das letzte Haus herausrücken, es müssen ihrer doch fast alle sein.« Vater und Sohn stießen sich heimlich und verständigten sich durch Blicke. Nach einer Weile fuhr die arglose Mutter in ihrer Heiterkeit fort: »Es ist wirklich schade, dass die Rieder und die Angerer immer ein böses Aug' aufeinander haben. Wenn sie jetzt z.B., wie sie beisammen sind, dort auf die Wiese hinaustreten wollten, wie wäre das prächtig, wie müsste da ein Gesang oder ein froher Diskurs untereinander eine Freude sein – aber nein, da legen sich lieber die dort und die hier in ihre Gärten, schauen sich von Weitem wie die brummigen Bären an und müssen sich alles zu Fleiß tun, und wenn es gut steht, geht es ohne Schlägerei vorüber.«

Die Rieder Burschen erschienen jetzt in Begleitung ihres Hilfscorps vor dem ersten Hause ihres Dorfes und stimmten ein gewaltig dröhnendes Lied an; im nächsten Augenblicke drauf erschienen auch die Angerer vor ihrem Dorfe und sangen die kühne Antwortstrophe desselben Liedes. Die Mutter Binderin wurde totenbleich und sah ihren Mann an, auf dessen Gesichte sie Auskunft zu finden hoffte, ob dieses Lied wirklich wieder wie so oft Vorläufer eines gefährlichen Streites sei. Der Binder sagte mit ruhigem Lächeln: »Ach, heute muss das Gesinge etwas anderes bedeuten; ich wüsste gar nicht, wieso man wieder auf Händel verfallen könnte. Sei ruhig, Weibchen, es wird nichts sein.«

Da brachen in nämlichem Augenblicke die Rieder Burschen einen Gartenzaun nieder und schwangen ihre Waffen unter betäubendem Jauchzen gegen Angern herüber.

Ernst, schweigsam, in gedrängter Schar, und nur da und dort auf ihrem Wege eine Waffe aufraffend, setzten sich darauf die Angerer in unheilvolle Bewegung gegen Ried hinüber; man sah es ihnen an, dass dieser männlichen Entschiedenheit nicht ein halbes Werk genügen werde; den Rieder Burschen sollte nicht mehr die Ehre des Angriffs gestattet sein, sie hatten sich gut zu stellen, wenn sie die Ehre der Verteidigung retten wollten.

»O, lieber, gütiger Heiland!« rief die Mutter Binderin, »Mann, Mann! Wird das nicht doch wieder eine blutige Schlächterei setzen? Jesus Christus! Ja, ja, jetzt kann es gar nimmer anders sein, und ich fürchte, du hast doch wieder deine Hand in diesem bösen Spiel gehabt. Mann, Mann! Ich halt' es nimmermehr aus auf diesem Platz da! Hör' nur die Weiber von allen Seiten schreien; ja, ja, es ist wieder eine angezettelte Schlägerei, und du, o unglückseliger Mann, bist der Urheber davon!«

Der Binder war aufgesprungen und schaute mit verlängertem Hals wie ein Feldherr auf das Schlachtfeld nieder; die Rede seines Weibes hatte er schon gar nicht mehr gehört.

»Donnerwette!« sagte er, »die Angerer sind ja gar nicht zum Kennen heute? Wie die hellen Teufel geh'n sie ja drauf los – o schon recht so, schon recht so!«

Händeringend rief die Mutter: »Mann, wo ist es wirklich? Hast du deine Hand wieder in dieser Geschichte? O, du kannst's nicht verantworten, du wirst noch einmal sehen, wie schrecklich es dir ergeht!«

»Peter komm«, sagte der Binder jubelnd, »das müssen wir in der Nähe begucksen.«

So sah sich die angstvolle Mutter auf einmal allein mit der Gewissheit im Herzen, dass ihr Mann das ganze Unheil wieder herbeigeführt habe. Die Rieder Burschen waren indessen noch einige Schritte aus ihren Gärten hervorgetreten und erwarteten hier in geschlossener Schar den Feind; die Angerer rückten ohne Wanken gerade gegen sie vor und machten etwa fünf Schritte vor jenen halt. Gronners Johannes, der Anführer seiner Kameraden, trat zwei Schritte vor und redete die Rieder jetzt mit Nachdruck also an:

»Er und seine Kameraden«, sagte er, »seien gekommen, um vor allem darzutun, dass keiner von ihnen weder einzeln einen Rieder Burschen fürchte und dass sie auch insgesamt wieder vor allen Rieder Burschen zusammengenommen keine Sorge hätten; die Angerer seien keine Engel, die sich Ohrfeigen geben lassen und vergelt's Gott sagen, auch haben sie nicht immer die Hände in den Säcken, wenn es gilt, einen ehrlichen Mut zu beweisen. Das nun und noch jede andere schlechte Anklage haben sie von sich werfen wollen, als sie jetzt herübergekommen seien. Jetzt aber wolle er ihnen noch ein Weiteres sagen, danach sollten sie zuschlagen oder sich aussöhnen, wie sie wollten; die Angerer wären vor keinem ängstlich, obgleich sie auch keine Fremden zu ihrer Hilfe gerufen hätten. Eine Herde unvernünftig Vieh«, fuhr er fort, »geht aufeinander los, wenn sie sich erblickt, und sucht sich ohne Warum und Wie zu erwürgen und geht zufrieden auseinander, wenn es Blut gesetzt hat, wollen wir unvernünftig wie das Vieh nur stoßen und schlagen, dass einige auf dem Platze bleiben, andere blaue Köpfe heimtragen, so lasst uns losgeh'n aufeinander, die Ehr' ist wohlfeil genug; aber wollen wir doch noch Menschen heißen, so lasst uns einmal vorerst vernünftig miteinander reden. Warum wollt ihr nach langer Zeit einmal wieder Zank und Streit? Hat euch einer von uns etwas zuleide getan, könnt ihr das bezeugen? Nein! Wollt ihr also dennoch gegen uns losbrechen, so müssen wir euch als unvernünftig Vieh zurückschlagen; aber ich glaube, mehr Ehre hättet ihr dabei, wenn ihr noch zu rechter Zeit das einsehen wolltet, damit wir uns lieber als Freunde und Brüder die Hände geben, als uns mit Stöcken und Messern verschänden. Das, liebe Rieder, überlegt noch wohl, und wenn wir einig sind, dann wollen wir nachsehen, wo eigentlich der Schlem steckt, der uns gern übereinander bringen möchte.«

Die Anrede verfehlte ihre gute Wirkung nicht. Ein Rieder Bursche, der davon am meisten ergriffen war, schleuderte seinen Stock in die Luft und rief: »So ist' recht, wir sollten uns besser verstehen!«

Aber der unglückselige Stock war's, der alles wieder verdarb; er fiel so herab, dass er gerade Johannes' Nebenmann, schwer niedersausend, auf die Schulter traf. Das wurde missverstanden. Im nächsten Augenblicke wogten die Kämpfer wütend durcheinander wie zwei dunkle Staubwolken vom Wirbelwind ergriffen. Aus beiden Dörfern stürzten Männer, Weiber und Kinder ermahnend, schreiend, weinend herzu, aber alles kam nun zu spät und half nur den Kampf auf Tod und Leben grauenvoller entflammen, denn die Kämpfer verstanden jeden Ruf nur mehr als Ermunterung, sich als kühne Würger zu erweisen.

Die Binderin war vor Angst und Kummer kraftlos unter ihrem Baume sitzen geblieben und konnte die ganze Szene der wütendsten Burschenschlacht übersehen. Nur ein dumpfes Stimmengewirr und das gewichtige Niedersausen der immer und immer geschwungenen Waffen gelangten stoßweise, vom Winde heraufgetragen, zu ihren Ohren. Plötzlich war es, als stockte der Kampf, als schwiegen die Streiter, als ruhten alle Waffen. Das viele Volk, welches in bunten Massen immer dichter herbeigeströmt war, erstarrte nach und nach bis zu denen heraus, welche den äußersten Zuschauerring bildeten; ein leiseres, düsteres Brausen von Stimmen nur war von Zeit zu Zeit herauf zu hören. Von dieser versteinerten Menschenmasse machte sich jetzt ein einzelner Mann los und kam eigentümlich schwankenden Schrittes gegen die Binderin herauf, und bald erkannte sie, dass es ihr Mann sei.

»Um Jesu und Gottes willen!« rief sie ihm entgegen, »sag', was ist geschehen? Warum steht und schaut alles so? Warum ist alles so totenstille?«

Der Binder verwickelte sich im hohen Grase und fiel in die Knie, aber, sich schnell aufraffend, sagte er mit seltsamem Lachen und bleich vor Entsetzen: »Was, liebes Weib? Ein Spaß, ein Spaß, liebes Weib ... Sag', ich bin nicht da, verschließ' das Haus hinter mir…«

Einige Sekunden darauf löste sich eine zweite männliche Gestalt von der starren Zuschauermenge drüben los und kam desselben Weges und nicht minder schwankenden Schrittes als zuvor der Binder daher; es war sein Sohn Peter. Noch schmerzlicher von Angst und Erwartung gefoltert, rief auch ihm die Mutter entgegen:

»Was ist's? Was ist geschehen?«

Allein auch der entsetzte Sohn gab ihr nur unverständliche Worte zur Antwort und setzte wie sein Vater hinzu: »Versperrt das Haus hinter mir, ich bin nicht da ...«

Drüben vor den Rieder Gärten aber stand die dunkle Masse Menschen noch lange starr und beinahe lautlos, bis man gegen das Dorf Angern hin langsam und feierlich eine Gasse bildete, durch welche mehrere Angerer mit Trauermienen und unter heftigem Weinen einen stillen, toten Kameraden nach Hause trugen – den lieben, braven Johannes Gronner; er sei im Kampf, hieß es, erschlagen worden. Alles, was nur immer Zuschauer bei diesem Kampfe gewesen war, folgte jetzt unter dumpfem Durcheinanderreden trauernd nach Angern herüber, nur alle Burschen, welche sich kurz zuvor noch wie Tiger feindlich angefallen hatten, blieben erstarrt, von tiefer Reue gefoltert, auf dem Kampfplatze stehen. Als die Gefassteren unter ihnen endlich ihre Sprache wiederfanden, säumten sie nicht, ihr Bedauern auszudrücken, dass nach Johannes friedenstiftenden Worten dieser schreckliche Kampf dennoch ausgebrochen sei; jeder fühlte tief genug, wie erbärmlich ein Zorn sein müsse, der über einen arglos niederfallenden Stock auf Leben und Tod so drein fahren kann; allein man ging auch einen Schritt weiter zurück und suchte hervor, was jenen Zorn zuerst geweckt, genährt und so auf die Spitze getrieben hatte, dass er über einen arglos fallenden Stock begreiflicher Weise so auf Tod und Leben dreinfahren musste. Jetzt waren der Binder Loringel und sein Sohn auf allen Zungen. Die so viel Wut geweckt und gestachelt hatten, gegen die richtete sich nun die gesteigerte Wut aller. Es blieb nichts verschwiegen, welche Lügen beide seit einigen Wochen ausgestreut hatten, um die Rieder Burschen zu hetzen und selbst Fremde als Hilfstruppen herbeizuziehen; auch kamen nun andere Geständnisse an den Tag, welche es offenbar machten, dass der unselige Binder noch jedes Mal der heimliche Anstifter aller früheren Burschengefechte gewesen war. Es war also allen versammelten Burschen aus der Seele gesprochen, als es hieß: »Der Mann mitsamt seinem Sohn muss jetzt unser Opfer werden.«

Düster drohend, zog sich nun die ausgesöhnte Streiterschar von den Rieder Gärten gegen das Haus des Binder herüber; die gute Binderin, welche eben mit lautem Jammer den Tod des Gronner Johannes vernommen hatte und nun die Burschen gegen ihr Haus anrücken sah, erriet zu ihrem Entsetzen, was sie vorhaben möchten, stürzte in das Haus und rief die Namen ihres Mannes und Sohnes und meldete, angstvoll schreiend, das Anrücken der feindlichen Burschen.

Der Binder saß auf dem Boden hinter einem Taubenverschlage, war bleich wie der Tod und erbebte an allen Gliedern; doch wollte er spaßhaft sein und erwiderte auf die Nachricht seines Weibchens: »So? Sie wollen kommen? Die Schneiderarmee will kommen? Wenn sie Courage hätten, wären sie längst schon dagewesen.« Und auf die Nachricht von Johannes' Tode erwiderte er: »Tot? Hm, wird ihm viel geschehen sein dabei!« Allein, es war doch seine letzte Spaßhaftigkeit. »Peter, ich geh'!« rief er gleich darauf seinem Sohne zu, der auf einer Mehltruhe saß. »Komm mit fort, die Esel könnten doch keinen Spaß nicht verstehen.«

Mit genauer Not entkamen sie noch aus dem Hause, bevor es die Feinde mit wütendem Geschrei umringten, mit wahrer Virtuosität setzten sie über den Gartenzaun, wo sie morgens noch heimliche Audienzen gegeben hatten, und jagten wie auf englischen Rennern ins Weite über Felder und Wiesen, durch kreischendes Gewässer, wenn es ihnen quer über ihre Straße rann, dem nächsten Walde zu, der sie verbergen und retten sollte. Lange schon rauschten ihre flüchtigen Tritte durch hohes Waldgras und durch zürnendes Gebüsch, dessen Arme sie oft mit großer Gewalt umschlangen und anzuhalten suchten, ohne dass die Flüchtlinge in ihrer großen Angst zu Worte kamen; das Erste, das sie redeten, war nun ein gewaltiges Wortgefecht zwischen ihnen selber. Mit grimmigen Vorwürfen fiel der Sohn über den Vater her, und der Vater suchte alle Schuld von sich zu werfen wie eine fremde, unverdiente Last. »Längst schon hätte er solche nichtsnutzige Anstiftereien sein lassen, die sich ohnehin für sein Alter nicht mehr schicken wollten«, sagte der Vater, »aber der Quecksilbersinn seines missratenen Sohnes habe auch ihn diesmal wieder mit fortrutschen lassen, sonst wäre die ganze Dummheit gewiss unterblieben.« – »Ja«, meinte der Sohn, »eine Ausrede sei gar leicht gefunden, und das habe der saubere Vater immer gezeigt, wenn er eine Lüge bei der Hand haben wollte, das habe ihn nur ein 'Neingreifen in die Tasche gekostet; von wem hätte er denn die ganze Kunst gelernt, wie man Stänkereien anstifte, als vom Vater? Der Vater hätte ihm nicht bloß das Binderhandwerk gezeigt, er hätte ihn auch immer dazu gebraucht, wie man einem Menschen einen Reif umlege, dass man ihn gefangen herumführen könne, wohin man nur wolle usw.« Indem sie also stritten, liefen sie immer weiter, bis sie tiefer in den Wald hineinkamen, wo das Gestrüpp aufhörte und sich zwischen den Bäumen Schatten und Raum genug darbot; hier fielen sie sich in die Haare und walkten sich einander blutig. Als nun jeder mit seiner Tracht zufrieden sein konnte, sagte der Alte: »Jetzt müssen wir aber schauen, wo wir wieder weiterkommen, es ist mir, als kämen sie uns nach.« Der Sohn erwiderte: »Wahrscheinlich werden sie uns auch verfolgen, wir müssen für den Notfall zusammenhalten. Wo werden wir den bleiben über Nacht?« Der Alte sagte: »Bleiben müssen wir schon im Wald heute Nacht, da wird nichts helfen; auch wird es gut sein, wenn wir uns morgen noch stille halten; ich geh' sobald nicht heim.« »Und ich laufe in die weite Welt, ich geh' gar nimmer heim«, erwiderte der Sohn. So liefen sie denn wieder atemlos im Walde weiter, und als es finster wurde, stürzten sie sich, wie sie waren, auf den Boden und schliefen ein; am anderen Morgen ging es weiter ohne Ziel und Plan, sie verließen nur auf so lange den Wald, als sie brauchten, durch milde Gaben ihren Hunger zu stillen. Je länger sie, ihrem Gewissensschrecken folgsam, nur die tiefste Wildnis suchten, desto mehr verwilderte auch ihre Seele, und ganz verwahrlost und entstellt hatte sie endlich vier solche Schreckenstage hinter sich; jetzt schien ihnen die Wildnis mit Verfolgern bevölkert, und kein Geräusch vernahmen sie, das ihnen nicht Unheil anzudrohen schien. Hungerten und klagten sie am Tage über ihre Entsetzenslage, so entbehrten sie nun auch den erquickenden Schlaf bei Nacht. Ihr Zustand war endlich ganz der flüchtiger Mörder geworden. So legten sie sich endlich in der fünften Nacht wieder auf einsames Waldmoos nieder, um von ihrem Jammer mindestens etwas auszuruhen, die erschöpfte Natur aber fand hier endlich eine so ausgiebige Ruhe, dass die Flüchtlinge nicht nur die ganze Nacht, sondern auch noch den ganzen Morgen des folgenden Tages durchschliefen und erst erwachten, als es gegen Mittag ging. Erholt, aber sehr hungrig, setzten sie sich auf, und der alte Loringel sagte mit verzagter Stimme: »Heute glaube ich, ist ein heiliger Sonntag, alle guten Christen haben ihre heilige Messe gehört und sitzen jetzt beim Essen; wir haben wohl recht gut geschlafen, aber wo werden wir Mörder etwas zu essen hernehmen? Ich vergeh' vor Elend ...« Der Sohn fuhr in ähnlicher Verzagtheit fort: »Wenn wir nur erfahren könnten, wo wir sind, mir scheint, wir sind die vier Tage wie in einer Reitschule herumgeritten und sind nicht gar zu weit von unserer Heimat, mir scheint alles, ich kenn' den Wald da etwas.« Der Alte sagte wieder: »Horch, mein lieber Sohn, von Weitem ist es, als ob jetzt unser Glöcklein richtig, jetzt müssen wir uns im einschichtigen Waldhaus einquartieren, der gute Alte wird uns nicht verraten und muss uns etwas Essen reiche, ich vergeh' vor Hunger ...« Sie standen auf und wollten quer durch ein Gebüsch ihres Weges gehen – da hieß es »Halt!«, und zwei Männer mit Gewehren traten vor, um sie zu Gefangenen zu machen.

Ohne Widerstand ergaben sich die beiden Schmerzensgefährten.

»Ich will's nicht leugnen«, sagte Vater Loringel ganz gebeugt und verzagt, »ich kann's nicht leugnen, ich bin der Binder Loringel, und das ist mein Sohn; Ihr habt die Rechten schon in Eurer Gewalt; wir sind schuld, dass man den Gronner Johannes erschlagen hat, wir haben die Schlägerei angestiftet, und es ist zu unserer Strafe dann so schrecklich ausgefallen. Jetzt führt uns nur hin, wohin Ihr wollt, wir werden Euch schon folgen, gebt uns nur zu essen.«

»Was?« rief der eine von den Männern. »Ihr seid der verwetterte Binder, und das ist Euer Sohn? Das ereignet sich gerade recht, dass wir Euch da einfangen, Ihr seid wahrhaftig nicht wert, dass die Leute so viel Mitleid mit Euch haben, es ist eigentlich nur um Euer liebes Weib, die macht einem jeden Herzeleid genug. Kommt nur mit uns, Ihr werdet Bekannte treffen; wir haben den Befehl, einen jeden einzufangen, der diesen Weg daherkommt; im Übrigen seid froh, dass der Gronner Johannes eigentlich nicht gestorben ist, er ist nur ein paar Stunden in einer Ohnmacht gelegen, jetzt ist er wieder so gesund wie zuvor.«

Ein erschütternder Freudenschrei entfuhr den beiden Missetätern bei dieser glücklichen Kunde; sie stürzten wie die Rasenden über den Mann her und bestürmten ihn mit tausend Bitten und Fragen nach den näheren Umständen des wunderbaren Vorfalles. Dazwischen rief der eine: »Was hat die unglückliche Mutter derweil angefangen?« Der andere rief: »Was macht mein liebes Weib?«

»Geht zum Kuckuck«, sagte der Mann, indem er die Stürmenden von sich wehrte, »was soll ich mich da in langes Geträtsch einlassen? Wartet, bis ihr heimkommt, das Übrige lasst euch dort erzählen. Kommt und seid froh, dass ihr den Toten wieder lebig wisst.«

Sie gingen nun zwischen den zwei bewehrten Männern weiter, und nachdem sie ein dichtes Gebüsch durchbrochen hatten, standen sie auf einmal vor jener Felsenhöhle, die wir früher schon kennen gelernt haben; vor der Felsenhöhle stand ein langer Tisch aufgeschlagen, ein lustiges Gelächter scholl von da in die Lüfte, und um den Tisch herum saßen – Loringel legte wie von einem Wunder überfallen, beide Hände über die Augen und wollte seinen Blicken gar nicht trauen – saßen:

Der alte Hofer, der alte Mulderer, dessen Söhne Georg und Anton, Vater Pahlsen, Vater Stedtiner, Vater Lobeiner, dessen Sohn Gregor und fünf von dessen besten Kameraden; zwischen dieser Versammlung von Männern saß das Hofer-Käthchen und Anne-Marie, die Mutter Stedtiner und die Mutter Pahlsin; die Mutter Lobeinerin trat eben bedienend aus der Höhle.

War die Verwunderung der beiden Ankömmlinge groß, so war die Überraschung der gastlichen Versammlung um nichts geringer. Es war eben von den beiden Schelmen die Rede gewesen, und die Mütter erwähnten mit besonderer Rührung des verlassenen Zustandes und des Jammers der lieben Binderin; jetzt traten die beiden Schelme wie Gespenster aus dem Gebüsche, und der Unmut über ihre Schelmenstücke wich sogleich einer herzlichen Teilnahme, als man sie so von Elend beinahe aufgerieben vor sich sah. An mehreren Seiten des Tisches erhob man sich zugleich, um für die Hungernden Platz zu machen, sie mussten sich setzen, und während sie gesättigt wurden, ihre traurigen Erlebnisse erzählen. Diese versöhnten einen jeden Unmut, der sich hier und da noch regen wollte. Von nun an waren die Ankömmlinge als förmliche Gäste der Lobeinerin betrachtet, die in seliger Geschäftigkeit sich aufs Neue als flinke Wirtin zeigte, nachdem die übrigen Gäste bereits hinlänglich befriedigt waren.

So wären wir denn trotz einem so großen Seitensprunge noch auf ein halbes Stündchen bei dem Festessen zurechtgekommen, welches Gregor seiner Mutter zu Liebe mitten in der Waldwildnis ihren liebsten Bekannten zum Besten geben musste. Es musste dabei sehr heiter hergegangen sein, denn, frohes Rot auf den Wangen, saßen alle Gäste um die Tafel und griffen nur mehr tapfer zu den Bechern, die Wolf als Kellermeister füllte.

Die Sonne kam stark ins Sinken, die düsteren Waldesschatten ängstigten die Mütter, dass es zu spät werden und man den Heimweg nicht mehr finden könnte; so brach man endlich auf, in jeder Weise sehr befriedigt und besonders froh, der Binderin den Mann und Sohn mit heimzubringen.

Als sich Gregor nochmals von allen und besonders von Loringel und seinem Sohne hatte versichern lassen, dass sie schweigen wollten, solange sie lebten, von dieser Gasterei im Walde und von ihm als dem Wirte, brach er nebst seinen Kameraden mit der Gesellschaft auf, um sie bis zum Ausgange des Waldes zu begleiten.

Auffallend dürfte es sein, zu hören, dass Lobeiner heute an Heiterkeit alle Gäste, selbst den alten Hofer, übertraf. Wir werden weiter erfahren, dass er seine Gründe dazu hatte.

7.
Heimweh und Mutterliebe.

Der rötliche Abendschimmer fiel nun wieder auf das Birkenwäldchen wie feierliche Verklärung, mählig schweigsamer wurde der Gesang der Vögel, und jene stille Wehmut, welche sich so gern mit den Abendschatten auf die Erde lagert, sank nun leise aus den Abendwolken auf die Berge, Wälder, Täler und auf das Herz der Menschen nieder.

Unsere Gesellschaft erreichte jetzt den Saum des Birkenwäldchens und nahm herzlich voneinander Abschied.

»Vronl«, sagte das Hofer-Käthchen mit liebevoller Wärme, »komm bald wieder heim, du weißt, wie wir aneinander gewohnt sind, ich habe viel Kummer und Zeitlang ausgestanden, seit du nicht zu Haus gewesen bist, komm heute mit. Wie haltest du es noch länger allein in diesen Wildnissen aus? Komm gleich mit uns!«

Die übrigen Freundinnen stimmten sogleich in diesen Aufruf und fassten Vronls Arm, um sie mit halber Gewalt mit fort zu führen.

Vronl war schon auf dem ganzen Wege her viel stiller und nachdenklicher geworden, der Abschied fiel ihr schwer auf das Herz; doch ihre Schwäche zu verbergen, fasste sie sich, so gut es ging, und sagte:

»Nein, liebes Käthchen, nein, liebe Pahlsin und Stedtinerin, das geht nicht an; ich habe jetzt erst angefangen, meinem Sohn die Wirtschaft einzurichten, mitten in so einer Arbeit darf der Mensch nicht nachlassen, wo denkt ihr hin? Ich kann euch diesmal nicht heimgeleiten, ich muss dableiben. Behüt' euch Gott, und geht nur dieses Mal allein nach Hause.«

Man ließ denn ab, sie länger zu bestürmen und sagte wehmütig: »So behüt' dich Gott und komm' recht bald uns nach.« Hofer-Käthchen fügte noch hinzu: »Wenn du heimkommst, liebe Vronl, so klopf' zuerst an mein Fenster, du musst so an unserm Haus vorbei, ich möchte die Erste dich sehen und grüßen.«

Vronl nickte nur mehr zu diesen Worten, zu reden wurde ihr schon zu schwer.

Vom Abendschimmer still verklärt, stand sie noch lange unbeweglich am Saum des Birkenwäldchens da und blickte mit feuchten Augen der scheidenden Gesellschaft nach, die nun heiteren Gespräches ihrer Wege heimwärts ging. Dort, wo sich ein Feldweg und ein Fahrzeug kreuzen, näherten sich der Gesellschaft jetzt eine Burschen- und eine Mädchengestalt, und man hielt auf einmal gegenseitig wie verwundert stille, als ob man sich fast erkennen sollte und fast wieder nicht. Bursch und Mädchen sprangen nun zuerst auf die Gesellschaft los und reichten ihre Hände jedem hin, und bald erscholl der allgemeine Verwunderungsruf:

»Bei Gott, der Bartel ist's, du Gottes Wunder, und das Röschen ist's aus Wien!«

Ein abermaliges frohes Begrüßen folgte allerseits, und unter lebhaftem Durcheinanderreden ging man bald darauf heimwärts weiter.

Vronl hatte den Begrüßungsruf recht deutlich herüber hören können, ein Messer hätte sie nicht schmerzlicher getroffen. Wie beneidenswerter war nun der Heimweg durch diese unvermutete Vermehrung der Gesellschaft, was wurde nun Liebes und Neues und Verwunderliches erzählt, wie vergnügter mussten nun die Herzen der Gesellschaft schlagen! Und Vronl sah sich so allein dastehen, keine Seele unter der Gesellschaft dachte mehr an sie, man hatte auf einmal Besseres zu denken. Schon war sie sehr versucht, alles hinter sich im Stiche zu lassen und vorwärts der Gesellschaft nachzueilen, sie machte auch bereits einige Schritte in diesem Sinne, als sie sich festgehalten fühlte von einer kraftvollen Hand; die Stimme ihres Gregor sagte:

»Mutter, wollt Ihr mir davon? Soll ich Euch nicht länger bei mir haben? Seht nur um, auch da sind Leute, die Euch gerne sehen!«

Errötend fiel im Vronl an den Hals, und mit unaufhaltsamer Hast ging sie dann den Weg nach der Tiefe des Waldes voran, dass ihr Gregor, Lobeiner und drei Kameraden ihres Sohnes kaum folgen konnten.

Ziemlich spät gelangte man bis zur Höhle zurück, wo man vor ungefähr acht Tagen das erste Nachtquartier aufgeschlagen und heute Mittag so fröhlich getafelt hatte. Wolf und zwei andere Männer wurden eben fertig mit dem Verräumen aller Dinge um und in der Höhle, und das Lager für die Eltern Gregors war wie das erste Mal zurechtgemacht.

Nach kurzer Rast sagte Gregor zur Mutter:

»Jetzt behüt' Euch Gott, liebe Mutter, schlaft ruhig auf alle Mühen heute; die Woche, die jetzt kommt, wird Euch schon leichter werden, die schwerste Arbeit ist vorüber. Ich mit meinen Kameraden habe noch einen Gang vor heute, fürchtet aber nichts, ich lass Euch wohl bewachen und beschützen.«

»Es wird nicht gar so peinlich dringen«, sagte Mutter Vronl, »bleib da für diese Nacht und lass den Rehbock leben bis auf morgen, er kommt dir schon morgen auch noch über quer.«

»Es geht nicht, Mutter; was ich vorhabe, lässt sich nicht verschieben. So, gute Nacht; ich seh' Euch morgen in aller Frühe wieder. Gute Nacht auch, Vater.«

Begleitet von seinem liebsten Kameraden schritt nun Gregor ohne Aufenthalt davon und war nach wenigen Augenblicken im dichten Wald verschwunden. Die Nacht war vorgerückt, und eine Finsternis, die greifbar schien, fiel von den dichtverflochtenen Zweigen nieder.

Doch beirrte das die beiden Freunde auf ihren wohlbekannten Wegen nicht.

Eine Weile gingen sie schweigsam nebeneinander in Gedanken weiter, dann sagte Gregor mit ungewöhnlicher Wärme:

»Freund, seitdem wir meine Mutter bei uns haben, ist es mir gerade, als würde ich alle Tage um ein gutes Stück ein anderer Mensch, ich bringe meine Gedanken nicht mehr recht auf den Anstand mit, und mir ist nur wohl, wenn wir alle abends vor unserer Wolfskapelle sitzen, einen Bissen mit Ruhe essen, einen Schluck mit Gusto trinken, und wenn uns das kleine Abendglöcklein läutet, den Hut abziehen, weil auch meine Mutter betet. Ich sage dir, es kann mir leicht geschehen, dass ich ohne Mutter nicht mehr werde bleiben können; ich muss alles in Bewegung setzen, die Mutter bei uns zu halten; sie darf mir nicht mehr heim; ich habe sie fast lieber noch als diese Wälder, als das freudige Leben auf den Bergen, lieber als jedes andere Glück auf Erden. Was haben wir davon, wenn wir unser Wild erlegen und glücklich an Ort und Stelle bringen? Wir versorgen uns mit einem Braten und verteilen unser Geld; ist ausgeruht, so geht die Arbeit wieder an, das Beste dran ist, dass wir dann und wann um unser Leben kämpfen müssen, das erfrischt uns immer wieder neu. Aber sag', wie anders ist es die acht Tage her ergangen? Wie reinlich ist, was wir erblicken, wie nett ist unsere Erdenwohnung, wie genau zur rechten Stunde essen wir, wie viel besser schlafen wir als früher, und sehen wir nicht frischer und freudiger aus, seitdem die Mutter bei uns ist? Um alles in der Welt muss sie bei uns bleiben, wir müssen alles anwenden, was sie freut, dass sie bei uns bleibt, solange wir es verlangen.«

Der Freund stimmte mit Bewegung bei und dachte: »Ich will ihr's ewig danken, dass sie uns heute Nacht von unserem Schwur erlöst ...«

Unter solchem Gespräche setzten sie ihren Weg noch weiter fort; Gregor wurde immer feuriger in seiner Begeisterung für die Mutter, der Freund hörte bald nur mehr zerstreut zu, blieb dann und wann einen Augenblick stille stehen und horchte nach der Gegend zurück, woher sie gekommen waren.

Plötzlich fiel dort ein Schuss und gleich darauf wieder einer. Eine frohe Bewegung lief dem Burschen durch das Herz: »Jetzt sind sie dran«, dachte er. Erschrocken aber sagte Gregor: »Sind die Schüsse nicht bei der Höhle gefallen, wo die Mutter übernachtet?« Indem er noch fragte, folgten zehn bis zwölf Schüsse auf demselben Platze in schneller Folge aufeinander, und es war, als könnte man auch ein dumpfes, unbestimmtes Schreien hören.

»Zurück!« rief Gregor. »Es ist ein Überfall, wir sind verraten, man wird mir Vater und Mutter gefangen nehmen!«

Und mit schäumendem Munde, das Gewehr von der Schulter herunter schwingend und in der bloßen Hand zum flinkeren Gebrauche tragend, jagte er den Weg zurück, den er eben von der Höhle her gekommen war.

Der Freund folgte mit lächelndem Munde, aber doch blass bei dem Gedanken an Gregors Raserei, wenn er nun, vor der Höhle angekommen, seine Befürchtungen wahr finden würde.

Es fielen noch einige Schüsse, indem beide der Höhle zueilten, dann wurde alles stille, kein Geräusch und keine Stimme ließ sich von dorther mehr vernehmen; ihre eigenen, fliegenden Schritte nur waren es, die Gregor und sein Freund durch die Stille der Nacht jetzt hören konnten.

In der Nähe der Höhle stieß Gregor auf einige glimmende Gewehrpfropfen, die ihn vorbereiteten, was er zu erwarten habe.

Die Kameraden, Wolf, die Wächter, waren von der Höhle verschwunden; in der Höhle suchte Gregor Vater und Mutter vergebens. Noch mehr glimmende Gewehrpfropfen, einige zertrümmerte Geräte und beschwerlicher Pulvergeruch in der Höhle waren alles, was Gregor anstatt der Seinen fand; so mussten alle denn gefangen sein.

Das Licht, welches Gregor für einen Augenblick durch Streifen über die raue Felsenwand angezündet hatte, zertrat er nun selbst wieder, um nicht länger die grauenhaft verlassene Umgebung zu sehen, und jetzt begann eine Szene, die alle Befürchtungen des Freundes weit übertraf und diesen in sich selber wankend machte, ob es doch gut gewesen sei, sich in einer Geschichte beteiligt zu haben, die Gregors ganzes Wesen so fürchterlich erschüttern musste.

Durch die schauervolle Finsternis der Nacht vernahm der Freund erbebend bald nichts mehr als Gregors unbeschreiblich rasende Stimme, die jetzt vor der Höhle in das freie Meer der Lüfte aufflog, bald; in der Höhle ertönend; von den Wölbungen zehnfach und gräulicher zurücksprang; denn wie eine Wölfin, die bei ihrer Heimkunft ihre Jungen nicht mehr findet, schoss Gregor in die Höhle hinein und heraus, der ungemessensten Wut sich gänzlich überlassend. Mit dem Donner seiner Stimme wechselte das Krachen zertrümmerter Stühle und Tische, die Gregor im Finstern in die Hände fielen, bis er endlich wie ohnmächtig vor Erschöpfung vor der Höhle niederstürzte und dem betäubend lauten Wüten eine lautlos bange Stille folgte, die umso schauderhafter war, als sie grell und plötzlich eintrat.

Erschüttert blieb der Freund noch eine Weile seitwärts stehen und überlegte, ob er Gregor von dem wahren Sachverhalt der Dinge unterrichten solle oder nicht; aber er erkannte bald, nachdem die Geschichte so weit getrieben sei, könne von einer übereilten Aufrichtigkeit nicht mehr die Rede sein, die Sache müsse ihren natürlichen Verlauf nun haben.

Er ging auf Gregor zu, um ihn durch tröstliches Zureden in seinem Schmerze wieder aufzurichten.

»Freund, Bruder, was ist das?« sagte er, ihn sanft am Arme rührend. »Willst du nicht lieber aufstehen und hören, was ich von der Sache meine? Wer weiß, ist das Unglück so groß, als wir glauben? Es muss ja deine Mutter nicht gerade gefangen sein; wir können nicht wissen, was sonst hier geschehen ist; steh' auf und lass uns auskundschaften, wo wir ihnen auf die Spur kommen; du bist immer in allem voran gewesen, sei nicht auf einmal der Verzagteste von allen!«

»Du hast keine Mutter dabei, o Freund, du könntest nicht so reden!« sagte Gregor, sich langsam aufrichtend. »Jetzt wird man die Mutter um meinetwegen festsetzen und meinen Vater dazu; du weißt, wie das geht, man wird sie hungern lassen, man wird sie quälen um Aussagen, sie wird nichts aussagen und wird wieder hungern und festsitzen müssen. Jetzt kommt der Gram bei Tag und Nacht nicht mehr aus ihrem Herzen, sie wird um mich jammern, um die Freiheit jammern, und wenn es gut geht, in einem halben Jahr wird ihr Schatten endlich freigelassen. Wohin stürm' ich zuerst? Was zünd' ich an? Was zerstör' und zerreiß' ich mit meinen Zähnen? Wer hat an uns allen den Teufel aus der Hölle gemacht und uns verraten? In zehnmal hunderttausend Stücke zerreiß' ich ihn, ich senge und brenne, wo ich einen Feind vermute – komm, komm, du hast recht, auf die Spur lass uns geraten, dann weiß ich, was ich tue.«

Schnell, bevor es der Freund vermutete, entsprang Gregor durch das Gebüsch davon, und jener folgte nur mit Mühe.

Es war anfangs ein schmaler Fußweg, den Gregor einschlug, der Fußweg teilte sich bald nach zwei entgegengesetzten Richtungen, und hier sagte Gregor, ohne einen Augenblick anzuhalten: »Geh' du links und ich rechts, in drei Tagen sind wir bei der Wolfskapelle wieder beisammen, bring' gute Nachricht oder meine Mutter, kost' es was es wolle!« Und nach diesen Worten war er verschwunden.

Leichter aufatmend, blieb der Freund einen Augenblick stille stehen, denn er musste sich von seiner nicht geringen Besorgnis erholen, dass Gregor den Weg links einschlagen könnte; in dieser Richtung hätte er auf die Flüchtlinge unausweichlich stoßen müssen, welche Mutter und Vater Lobeiner zu entführen suchten.

Er eilte nun seines Weges weiter und konnte bald ein großes Geräusch vernehmen, welches ihm anzeigte, dass der zweite Akt der Verschwörung eben im Beginne sei.

Noch schneller eilend, wollte er als unerwartete Hilfe sich scheinbar ein großes Verdienst um Gregors Dankbarkeit erwerben, was später dessen Versöhnung sehr erleichtern musste. Er knallte einen Schuss in die Lüfte und rief ein weitum hallendes »Hallo!« Sogleich wurde das Geräusch aus der Ferne lauter, Menschenstimmen erhoben sich wie im heftigsten Kampfe begriffen, und als Gregors Freund die Stelle erreichte, woher der Lärm kam, schien der Kampf bereits entschieden, er hörte die freudig schluchzende Stimme der Mutter Vronl und hörte den Vater Lobeiner eben sagen: »Gott sei gedankt, wir sind gerettet.«

»Ist mein Gregor angekommen!« rief jetzt Mutter Vronl. »Ist er's gewesen, der nicht weit von da geschossen hat? Das hat die Lumpen, die Räuber, die Schergen verjagt!«

Gregors Freund trat hinzu und hörte nun erzählen, was er bereits wusste; wir wollen auch nicht länger zögern, die Verschwörung in Kürze mitzuteilen, in welche alle Kameraden Gregors, Wolf, einige geworbene Gehilfen und selbst Vater Lobeiner verwickelt waren.

Die Verschwörung war allein gegen Gregors Festigkeit gerichtet gewesen, mit welcher er am freien Waldesleben hielt trotz aller bisherigen Gefahren und trotz der Widerstrebens seiner Kameraden, die lange schon an zärtlichen Banden nach dem Elternhause oder an die Seite eines Liebchens heimgezogen wurden. Gregor hatte sich nämlich einst, als er das freie Waldesleben mit seinen Kameraden begann, von diesen schwören lassen, nie sich von ihm loszusagen, bis er sich freiwillig einst entschließen würde, in sein Elternhaus zurückzutreten. So waren nun alle bei Todesstrafe an seinen Willen gebunden und hätten wirklich trotz allem heimlichen Widerstreben ihren Schwur gehalten, wenn sich nicht in der Mutter Vronl ein günstiger Umstand eingestellt hätte, den Starrsinn Gregors zu brechen und ihm selbst das gesetzlose Leben in den Wäldern unerträglich zu machen. Man hatte es anfangs mit Vergnügen gesehen, dass durch eine ergötzliche Verkettung von Umständen Vronl zu ihnen in die Wälder kam und Gregor sich immer inniger an ihre Nähe gewöhnte; als es so weit war, traten die Verschworenen, unter ihnen auch Lobeiner und Wolf, zusammen und entwarfen den Plan, der Mutter durch eine scheinbar große Gefahr das Waldesleben für immer zu verleiden. Einige verkleidete Gehilfen mussten in der bestimmten Nacht während Gregors Abwesenheit gleichsam im Namen des Gesetzes die Höhle überfallen und nach kurzem Widerstande der Kameraden Gregors Vronl und ihren Mann gefangen nehmen; die bestimmte Nacht war nun heute angekommen, Gregor in der Ferne, alle Umstände sehr erwünscht, und Vronl, Lobeiner und die Kameraden Gregors wurden überfallen und gefangen. Nun aber war verabredet, den verstellten Dienern des Gesetzes ihre Beute in derselben Nacht noch durch einen erneuerten Angriff wieder abzujagen. – Das geschah, die Diener des Gesetzes flohen gern um einen guten Lohn, und Vronl musste Gregors Kameraden allem Scheine nach ihre Rettung verdanken. Der Jammer, den sie während der Geschichte auszustehen hatte, sollte ihr ins Künftige den freien Wald verleiden.

Und man erreichte auch, was man wünschte.

Mutter Vronl war durch den doppelten Kampf ihrer Gefangenschaft und ihre Wiederbefreiung so ganz Schrecken und Verzweiflung, dass sie an ein längeres Bleiben in den Wäldern gar nicht mehr dachte. Den ersten Augenblick ihrer Erholung benutzte sie, um ihrer Gesinnung also Luft zu machen:

»Geht, lauft einige und sucht mir meinen Gregor auf«, rief sie, »und sagt ihm, dass alles wieder vorüber ist und dass er mir nachkommen soll, ich geh' nach Hause, da in der Wildnis ist mein Bleiben nicht mehr länger. O, was hab' ich ausgestanden diese Nacht, und wer weiß, was ich noch Schlimmeres ausstehen müsste, wenn ich noch länger bleiben wollte. Jetzt wird die ganze Hölle erst gegen uns loswerden, weil wir ihnen wieder ausgekommen sind; jetzt werden sie ein ganzes Kriegsheer zusammenkommen lassen und zwischen jedem Baum sechs Mann Reiter und Fußgänger hereinstürmen; sie werden Kanonen und Kartätschen sausen lassen; was wären wir armen Seelengeschöpfe gegen einen solchen Kriegsverbrauch, mich täte der Lärm allein schon ab, von einer Kugel, die mich trifft, gar nicht zu reden. Kommt, zeigt mir und meinem Mann den Weg hinaus, den kürzesten Weg, ich bitt' euch; ich kann es nimmer erwarten, bis ich wieder in meinem ruhigen, sicheren Bettlein zu Hause liege, mein starkes Dach, meine ordentliche Wirtschaft, meine Kirche, meine lieben Nachbarn wieder habe.«

Man brach ohne Verzögern auf und gelangte in das Freie und kam endlich auch im Heimatdörflein an.

Vronl hatte nicht vergessen, was ihr aufgetragen war, sie klopfte an Hofer-Käthchens Kammerfenster und sagte:

»Liebe Nachbarin, da bin ich wieder, o, ich hätte dir gleich da sehr vieles zu erzählen, aber lass es lieber bis auf morgen. Morgen werde ich dir erzählen, o Käthchen, dass ich von vermummten Muschketieren heute Nacht gefangen und wieder frei geworden bin. Ich kann es nicht mehr ertragen in der wilden Schrecknis draußen; daheim, daheim, o Käthchen, ist es doch am besten; man sagt ja, überall ist es gut, daheim, da ist es doch am besten. Gute Nacht, bleib' liegen, steh' nicht wegen mir jetzt auf, wir sehen uns ja alle Tage jetzt wieder. O liebe Freundin, was ich ausgestanden habe, gute Nacht!«

Aber Käthchen stand dennoch auf und kam mit heiterem Gruße an das Fenster. Es begann nun eine so lebhafte Unterredung, dass die guten Weibchen gar nicht merkten, eine volle Stunde sei darüber hingegangen.

Lobeiner stand mit seligem Vergnügen hinter ihnen und lächelte schweigsam vor sich hin, sooft sein Weibchen ihre Verwünschung gegen die erschreckliche Waldwildnis ausstieß und beteuerte, sie niemals wieder zu betreten. Als er endlich mit ihr sein lieben Häuschen wieder betrat, da entlockte es seiner Brust einen tiefen Freudenseufzer, und er rief:

»O, dass wir wieder da sind!«

»Ja, ja, mach' nur gleich Licht, o lieber Mann«, rief die Mutter, freudig weinend, »dass ich meine liebe, gute, reinliche Stube wiedersehe, meine Kammer, meine Kisten und Kasten, meinen Stall und meinen Boden, mein liebes, liebes Haus.«

Das Licht war kaum angezündet, als sie es mit freudiger Heftigkeit ergriff und sich jubelnd um und um drehend die Stube beleuchtete und grüßte, nach dem Stalle eilte, um zu sehen, wie man ihre Kühe indessen wohl besorgt habe, auf dem Hausboden und in der Kammer nachsah, ob alles in der Ordnung geblieben sei, wie sie es verlassen hatte. Jeden lieben Gegenstand sprach sie an, alle Kisten und Kasten riss sie auf, um ihnen endlich wieder frische Luft zu lassen; nur mit Mühe hielt sie Lobeiner zurück, dass sie nicht auch Feuer in den Ofen machte und zu kochen anfing, nur um zu sehen, wie viel besser es sich zu Hause alles schicke und machen lasse als in der Waldeswildnis.

Müde vor Leiden, Angst und Freude gingen die guten Eheleute endlich schlafen; der Schlaf war ihnen nachgeschlichen und drückte ihnen die Augen zu, als sie kaum zu Bette waren.

8.
Noch ein Sturm, allein der letzte.

Nicht lange darauf klopfte es ziemlich lebhaft an Lobeiners Stubenfenster, ein Flügel desselben ging seufzend auf, eine männliche Gestalt stieg hinein, trat auf die Wandbank, sprang auf den Boden nieder, näherte sich der Kammertüre, riss sie auf, trat in die Kammer und stand vor dem Bette der schlummernden Eltern.

»Seid ihr da, Vater und Mutter, schlaft ihr schon?« sagte Gregors Stimme etwas heiser. »Erschreckt nicht, ich bin's, euer Gregor.«

Die Mutter schlief bereits zu tief, sie hörte nichts; aber Vater Lobeiner erwachte und sagte:

»Du bist uns so eilig nachgekommen? Nun, hast du's endlich auch genug in deinen Wildnissen und willst bei uns bleiben?«

»Das will ich nicht«, erwiderte Gregor vor Hitze heftig atmend. »Ich bin da, um euch abzubitten, dass ich euch die Nacht verlassen habe, es wäre euch das Unglück nicht geschehen, und sollte ich ein ganzes Kriegsheer halten müssen, um euch zu beschützen. Kommt, steht auf und folgt mir wieder.«

Es trat eine dumpfe Pause ein; man hörte nur Gregors Atmen und das schlummerhafte Ziehen der immer noch nicht erwachten Mutter; dem Lobeiner musste es den Atem verschlagen haben, er wurde erst nach einer Weile wieder hörbar.

»Wart«, sagte er dann mit einer unheilvollen Dämpfung der Stimme, »geh' still hinaus in die Stube, wir wollen die Mutter nicht wecken, sie hat zu viel ausgestanden heute; ich weiß ihren Willen auch, lass uns miteinander ausmachen, was auszumachen ist.«

Er stand behutsam auf, kleidete sich, soweit es nötig, an und betrat nun mit Gregor die Stube.

Kaum waren sie draußen, so schloss Lobeiner schnell die Kammertüre, damit die Mutter nicht leicht etwas von ihrer Unterredung hören könnte, und es war jetzt ein schauderhafter Auftritt zwischen Sohn und Vater, als dieser den Sohn mit Blitzesschnelle an der Brust erfasste und schäumend vor unermesslicher Wut ausrief:

»Du, du – was willst du wieder? Mich und die Mutter willst du noch einmal in deine verdammten Höhlen, in deine unterirdischen Wohnungen verleiten, wo man mit halbem Tageslicht zufrieden sein muss und alle Minute in Lebensgefahr geraten kann? Bist du nicht über einen gottverdammten Heidensohn, dass du noch einmal verlangen kannst, deine Mutter soll wieder die nämlichen Todesschrecken verwinden wie schon ein paar Mal früher und besonders wieder heute Nacht? Was? Wir sollen noch einmal unser sicheres Gottesdach für deine Höllenwölbung umtauschen und deine Sündenbraten essen statt unserer erlaubten, ehrlichen Kost zu Hause? Hast du Gottesfurcht und Elternlieb' in deinem wüsten Herzen, dass du alles Böse nur von uns verlangst und auf unsere frommen Wünsche gar nicht achtest? Wir haben jeden Tag für dich gebetet und nur einen Herzenswunsch gehabt, dass du selber zu uns kommen und bei uns bleiben mögest, und alles ist umsonst gewesen; für dich hat kein Gebet mehr einen Nutzen, und alles willst du, nur bei uns in Frieden leben willst du nicht. Jetzt sag' ich dir, verlass' mein Haus, betret' es niemals wieder, wenn du nichts anderes willst als uns aufs Neue fortzulocken, sonst zwingst du mich, dass ich dich selber bei Gericht angebe oder dich in meiner Wut ermorde – du missratenes Kind – nur um Ruh' zu haben.«

Gregor machte des Vaters Hand mit leichter Mühe von seiner Brust los und sagte:

»Vater, Vater, geht nicht so mit mir um, ich bin schwierig, wo Ihr angreift, an Leib und Seele; ich steh' für keinen Ausgang gut, wenn Ihr mir verwehren wollt, dass ich mit der Mutter rede. Geht und lasst mich ruhig zu ihr hinein, ich muss von ihr selber hören, ob sie mir folgen will oder nicht; Euer Wüten könnte mich nur selber wütend machen, das hätte nicht Kopf und Fuß, es muss zu einem besseren Ende kommen.«

»Keinen Schritt von hier«, wütete der Vater noch heftiger als zuvor.

»Jedenfalls so viele bis zu meiner Mutter«, erwiderte der Sohn.

»Ich falle dich wie meinen blutigsten Feind und Räuber an«, schrie der Vater.

»Verhütet, dass ich Euch selbst nicht so betrachte«, rief der Sohn.

Da ging die Kammertüre auf, und Mutter Vronl stürzte weinend zwischen beide.

»Ich hab' euch schon gehört«, rief sie in Verzweiflung, »ihr wollt euch an das Leben wegen mir, o himmlischer, gerechter Gott, was wird das werden! Mann, o wilder Mann, leg' deine Hand nicht gottvergessen an dein eigenes, gutes Kind, du tötest nicht dein Kind, du tötest nur alleine mich, mich, die schmerzhafte, arme Mutter. O Gregor, Gregor, denk', an wem du dich vergreifen willst, er ist dein Vater; schrecklich ist die Sünde, wer den Vater nicht verehrt, lass ab, lass los, du bringst mich um mein Leben, du ermordest deine Mutter. Was willst du hier? Mich willst du wieder in die Wildnis locken? O Sohn, o liebes Kind, das kannst du nicht verlangen, das kann dir nicht gelingen, es kann nicht sein. Kommst du nicht zu uns und willst da sein und bleiben wie ein gutes, liebes Kind, ich kann dir nicht mehr folgen, es ist umsonst, ich hab' zu viel bei dir gelitten.«

»Mutter ... Mutter ...«

»Nein, nein, nein«, fuhr Mutter Vronl fort. »Ich habe dir mein Leid und meinen Kummer gern verschwiegen, jetzt muss ich dir's nur sagen, weil du mich dazu zwingst, keine Stunde wäre mir mehr in der Wildnis möglich zu leben; der Schreck, die Angst, der Kummer hat sich mir in allen Gliedern eingenistet; solang' ich lebe, bring' ich ihn nicht mehr heraus. O komm und bleib du selber da, hier ist das Leben sicher und bleibt das Herz uns fromm – bleib da, bleib da, es bittet deine Mutter, wir wollen dich wie ein neugeborenes Kindlein auf den Händen tragen; bleib bei uns, entsag' der Wildnis, und alles wird ein gutes Ende nehmen!«

»Mutter, Mutter«, sagte Gregor nach einer Pause liefer Erschütterung fast mit gebrochener Stimme, »hör' ich Euch wirklich reden, wie Ihr da redet? Gelte ich auf einmal gar nichts mehr bei meiner Mutter, dass sie mir nicht mehr folgen und mir vertrauen will?«

»Geh, geh, mein liebstes Kind, und bedenk', wie oft ich dir gefolgt bin und wie gefährlich das immer gewesen ist? Jetzt folg' auch du mir und deinem Vater einmal, bleib' bei uns, sei auch einmal wie ein anderer, guter Sohn und halte dich an deine Eltern, da ist keine Gefahr für dich, und das ist leichter zu befolgen, als dass du uns, deine alten Eltern, wieder von dem sicheren Haus verlockest. Komm, komm, o lieber Sohn, bleib da, verlass uns nicht, erspar' uns so viel Kummer.«

»Wenn das Euer letztes Wort ist, Mutter, so behüt' Euch Gott für immer, und damit Ihr meinetwegen auch keine Gefahr mehr auszustehen habt, so hinterlass' ich Euch dies Geld da, kauft mich vom Soldatenleben frei, ich hab' es Euch aus der weitesten Fremde hergeschickt, aber selber kommen könne ich nicht. Gute Nacht auf immer, Mutter; gute Nacht für ewig, Vater.«

Mutter Vronl sprang ihm nach, um ihn zurückzuhalten, konnte ihn aber erst erreichen, als er mit einem Fuße bereits aus dem Fenster war; mit leichter Mühe streifte er der Mutter Hand von seinem Arme los und sprang hinaus und war verschwunden.

Vorgebens rief die Mutter schmerzzerrissen: »Sohn, mein Sohn, das kannst du deiner Mutter antun? Sie verlassen willst du? Für immer willst du fort? Mein Sohn – um Jesu Christi willen, ist es möglich, dass du gehst? Dass du die Mutter, den Vater – Kind, o Kind – verlassest? ...«

Er war davon.

Laut weinend blickte Mutter Vronl noch eine gute Weile durch das Fenster in die stumme, finstere Nacht hinaus, bis sie Lobeiner sanft zurückzog, das Fenster schloss und die Schluchzende tröstend nach der Kammer führte.

»Lass uns für ihn beten«, sagte er, selbst erschüttert. »Das ist alles, was wir für ihn können.«

»Mein Sohn, mein einziges Kind!« rief Mutter Vronl noch lange weidend. »Die Mutter kann er so verlassen ... O, wir sind Missetäter, weil wir mit dem einzigen Kind so sehr bestraft sind ... wir sind arme, arme, arme Eltern ...«

Aber sie hatten auch einen armen Sohn. Stürmisch wie ein schmerzhaft Rasender war er fortgeeilt, und allerlei schwarzblütige Entschlüsse flogen durch sein tief verwundet Herz, kaum aber hatte er den Wald erreicht, so stürzte er, weinend wie ein Kind, zu Boden, weil er in seinem Sinne alles, alles nun verloren hatte, was ihm lieb und wert gewesen war auf Erden: das Mutterherz, die Mutterliebe, den folgsamen Mutterwillen. Zu diesem Zustande bewältigte ihn der Schmerz noch lange, endlich raffte er sich wieder auf, suchte tiefer in die Waldesnacht zu dringen auf Wegen, die wir nicht mehr kennen und auf denen wir ihm nicht weiter folgen dürfen.

9.
O Kindesherz, o Mutterherz!

Schwere Morgennebel drückten noch die Täler; lichter und immer lichter zeichneten sich die Wälder, je höher sie auf Bergesgrund bis an die Wolke rührten; wie ein weißer Feuerpunkt glänzte in der Morgensonne die Wolfskapelle auf dem höchsten Bergesgipfel, und acht frische Burschen, die ihre Gewehre umgehangen, standen reisefertig neben der Kapelle.

Es war Gregor mit seinen Kameraden.

»Ihr seid erlöst von euerm Schwur«, sprach Gregor eben ernst, und seine innere Bewegung niederkämpfend. »Geht jeder, wohin ihr wollt; bei Morgenschein haben wir den Bund geschworen, bei Morgenschein lösen wir ihn wieder auf; mein Wille hat jetzt keine Macht mehr über euch, ihr seid mir keinen Dienst mehr schuldig. Grüßt mir Vater, Mutter, Bruder oder Schwester, oder was ihr sonst noch Liebes in der Heimat findet – ich kann euch niemand von den Meinen grüßen, sie haben mich verlassen ... So behüt' euch Gott; die Orte wisst ihr, wo wir unsere Sachen haben, holt euch, wann ihr könnt, was ihr zurücklasst; nur eines bitt' ich euch, verratet, solang ihr lebt die Wohnung bei der Wolfskapelle nicht, sie soll uns heilig sein, sie hat uns oft beschützt und ist uns teuer mit der Zeit geworden. Ich geh' in fremdes Land, ich hör' in Spanien ist Krieg, der erste Soldat, dem ich begegne, ist mein Mann, mit ihm halte ich's auf Tod und Leben. Lebt ihr wohl und lasst mich hier noch eine Weil' allein ...«

Die Kameraden reichten ihm mit feuchten Augen ihre Hände nacheinander hin, und keiner konnte sprechen. Selbst sein bester Freund hatte nicht das Herz zu sagen: »Wir haben dich verraten, du bist getäuscht ...« Sie schieden lieber schweigend; es schieden alle tief erschüttert ...

Gregor stand noch lange unbeweglich da und blickte in die nebelvolle Ferne; es war ihm nicht mehr gegönnt, sein Heimatdorf zu sehen, die Dämmerung, der Nebel lagen noch zu undurchdringlich auf demselben.

»Jetzt wird man in den Tälern alle Morgenglöcklein läuten, meine Mutter wird erwacht sein, meine Mutter wird jetzt beten«, dachte er ...

Er zog den Hut, es feuchtete sich sein Auge; ein schmerzhaftes Lächeln zuckte um seine Lippen; er dachte an die rührend heitere Szene, als die Mutter zum ersten Mal bei der Wolfskapelle angekommen, ausrief: »Mein Gebetläuten muss ich des Tages dreimal haben, das ist das allererste, ein türkisches Judenleben wär' es sonsten.« Er betete wie damals andachtsvoll.

Plötzlich erschrak er und erschütterte es ihn so sehr, dass er langsam den Hut aus seinen Händen fallen ließ, die Knie bog und schluchzend sich zu Boden neigte, um ihn zu küssen, das für seine Mutter eigens angeschaffte Kapellenglöcklein fing wie von selbst zu läuten an. Gregor wusste niemand, der es in diesem Augenblicke hätte läuten können ...

Als er aufstand und das Glöcklein lange wieder schwieg, stand Wolf vor der Kapelle, reisefertig wie unser Freund und sagte: »Gehen wir, guter Freund?«

Gregor rief erstaunt und sehr bewegt: »Was? Du bist's, Wolf? Du willst mit?«

»Mit wem sonst als mit dir? Sag' nichts, gib dich drein, du musst dich schon mit mir bequemen.«

Gregor umarmte ihn, ohne etwas zu erwidern; dann stiegen zwei erschütterte Gestalten vom Gebirge nieder mit dem festen Sinn und Schritt nach Spanien ...

Sollen wir trotz unsern aufgeklärten Zeiten den Propheten spielen?

Eines Tages wird's geschehen, dass ein leiser Finger an das Kammerfensterlein der Mutter Vronl klopft; das Morgenglöcklein läutet, die Mutter sitzt im Bette auf und spricht verweinten Auges ihr Gebetlein für das ferne, ferne, vielleicht verstorbene Kind, denn ihr hat die Nacht von ihm geträumt. – Da hört sie klopfen: »Vater, hörst du nichts?« sagt sie zu dem noch halb im Schlafe liegenden Mann, »es muss wer vor dem Kammerfenster sein ...« Da klopft es stärker an dem Kammerfensterlein, der Umriss einer Gestalt wird im Morgendämmer sichtbar, und eine fremde, und doch so wohlbekannte Stimme sagt: »O Mütterlein, o Vater, seid ihr wach? Es ist wer da, macht auf, er möchte hinein zu euch ...« »Jesus Christus, Jesus Maria!« ruft die Mutter – »Heilig Engel und Heerscharen, wer seid Ihr? Seid Ihr nicht? ...« Und die Hände über den Kopf zusammenschlagend und vor Freude wie rasend, ergänzt sie dann: »Bist du nicht Gregor, mein Kind, mein Sohn, mein alles?« »Ich bin lange ausgeblieben«, sagt die Stimme, »die Sehnsucht zieht mich heim, o Mütterlein, o Vater, von heut' an will ich bei euch bleiben ...« Es wird aufgemacht und mit Narben im Gesichte schreitet Gregor zur Haustüre herein; aber noch wohlerhalten wie ein Mädchengesicht wird das seine scheinen gegen das Gesicht eines zweiten Mannes, der unserem Helden folgt: Wolf wird kaum erkennbar sein vor lauter Ehrennarben über Stirn und Wangen.

 


 << zurück