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2.

Ein kluger Kopf war eben auf ein Geschäft verfallen, welches nicht nur damals ein hübsches Einkommen brachte, sondern noch bis heute mancher Familie den Lebensunterhalt verschafft. Es war der Handel mit Schleiß- und Flaumfedern. Man konnte Massen derselben aus Ungarn, Polen und dem innern Böhmen ziehen. Die Heimat Stauffers, an der Westgrenze gelegen, war für große Lager ganz geeignet, um von da den Absatz nach allen Richtungen »des Reichs« durch Zweiglager und Hausieren zu vertreiben.

Der Stauffer denkt: lieber für einen Gulden hinaus, als ohne Pfennig daheim; er bewirbt sich um die bescheidene Anstellung eines Trägers bei einem Hausirer, erhält den Posten und versucht auf diese Art sein Glück. Er gibt seine Kinder, bevor er »gaien« geht, dem Johann Wallner, nimmt sie ihm aber gleich wieder ab, weil ihm beifällt, dass er ihn einmal einem Hirtenbuben hart ans Oh r fahren sah – einem solchen Menschen konnte er seine Kinder nicht anvertrauen. Er ließ sie nun lieber daheim, übergab sie der alten Apollonia, welche bei aller Armut in Achtung stand. Ihr durfte er vertrauen. Nun nahm er Abschied, das heißt: er saß mit der Apollonia und den Kindern bei der Morgensuppe, seine Reisesach' hatte er draußen hinter die Treppe gelegt, weil er in aller Stille fort wollte; jetzt sagte er der alten Pflegerin ins Ohr: »Ich geh', betet für mich, haltet meine Waiselen gut«, und lässt mit dem Löffel zwei schwere Tränen auf das Tischtuch fallen. Dann steht er auf, schlägt das Kreuz und geht pfeifend der Türe zu, als wolle er wie gewöhnlich an sein Tagewerk, wirft draußen seine Reisesach' über den Rücken – und rennt zum Dorfe hinaus und fort über die Grenze.

Im ersten bairischen Städtchen erreichte er das Lastenfuhrwerk mit der Ware seines Herrn. Als er hier den Wirt »Zum Reichsadler« ein Kind auf- und abtragen, es küssen und herzen sah, wobei das Kind dem Vater im Haupthaar wühlte, den Bart zerraufte und dazu lachte, da fehlte nicht viel, dass Stauffer Wanderstab und Glück von sich warf und heim lief zu seinen Kindern. Er konnte lange in keinen Spiegel blicken, um den Verbrecher nicht zu sehen, der in die weite Welt läuft, ohne beim Abschied seine Kinder noch auf den Armen auf- und abzutragen.

Nun aber ging er rüstig an seinen Beruf. Im Schwäbischen hatte man die »Niederlage«. Es wäre schwer zu sagen, wie sich der Stauffer nährte, wo er ruhte, wann er schlief; denn er schien nicht wie ein anderer Mensch den Hunger, die Ermüdung, den Schlaf zu spüren, er war Tag und Nacht bei der Sache, und ruhten seine Beine, dann stiegen seine Gedanken bergauf, bergab. Aber er war nicht bloß das stumme Lasttier seines Herrn, sondern auch dessen kluger Ratgeber, Freund und Überwinder manches widersetzlichen Käufers, denn er redete eine wahrhaft wirbelwindige Sprache, die keinen auf der festen Unterlage seiner Meinung haften ließ.

Manchmal pflegte er dem Kampfe seines Herrn mit einem Käufer stille zuzusehen, als ginge das Geschäft ihn nichts an. Siegte sein Herr, so war er gern zufrieden und schonte seine Hilfstruppen; kam aber das Gefecht ins Wanken, dann trat er vor und gab dem Käufer merkwürdigerweise vollkommen recht, lobte dessen Ansicht und stellte sich, als wolle er seinen Herrn zum Abschluss des Kaufes drängen. Dieser wusste, was das bedeuten sollte und widerstand. Nun trat der Käufer, gestützt auf Stauffers Beistand, schärfer auf – bis er merkte, dass dieser ihn eigentlich leise »bespäßle«, worauf der Käufer enttäuscht in sich selbst unsicher wurde! Jetzt fehlte nur, dass der Käufer gegen das ironische Lächeln zweier Fremden nicht gleichgültig sein konnte (wer sähe das mit Gleichmut!), und zur Ehrenrettung machte er ein besseres Gebot. Nun wurde der Stauffer witzig, und – lachte der Käufer nur erst, dann hatte er auch die gekaufte Ware auf dem Hals. In Heilbronn machte Stauffer einem Käufer den Kopf so wirbelig, dass er fluchend die Stube auf- und ablief, einen Krug an die Wand warf und in größtem Zorn ausrief: »Gut, ich kauf' die War', dann schlag' ich euch beide tot!« Er kaufte die Ware – das Totschlagen ließ er bleiben. Wenn nach solchen Auftritten der Stauffer und sein Herr aus einem Hause traten, dann rief dieser gewöhnlich, sich den Schweiß von der Stirn e trocknend: »Wär' ich allein gewesen, da heraus hätt' ich meine War' wieder ungerupft getragen!« Stauffer war aber gewöhnlich still nach solchen Kämpfen, ja oft mürrisch; er dachte: »Ihr seid alles keine Handelsleut'. Lasst mich einmal erst einen Kredit von hundert Gulden haben, und ich will euch zeigen, wie man's umrührt.«

So vergingen in der Woche sechs rastlose Tage, der siebente war der Tag des Herrn, den feierte auch der Stauffer immer gewissenhaft. Meistens brachte er ihn im Hauptquartier zu, wo er dann den ganzen Nachmittag unter dem Birnbaum im Schatten saß und sich eine Pfeife anzündete, »damit er besser heimdenken könne.« Die gutmütige schwäbische Wirtin pflegte sich zu ihm zu setzen, die Kinder kamen hinzu und es wurden liebe Stunden verplaudert. Für das zehnjährige »Mariele« derselben hatte der Stauffer eine besondere Vorliebe. Es erinnerte ihn lebhaft an sein ältestes Töchterchen daheim, das auch Marie hieß, auch so blaue Augen und eine so schöne weiße Stirne und dunkelblonde Haare hatte. Freilich wollte er der Wirtin nicht weh tun und ihr sagen: seines Töchterleins Augen seien noch schöner blau, auch gäbe es keine so schöne, weiße, runde Stirne mehr wie seines Kindes Stirne. Dabei wurde er immer von einem wunderlichen Gedanken heimgesucht: diese zwei »Marielen« einmal, wenn er reich und sie größer wären, in Österreich oder in Schwaben zusammen zu bringen. Diesen Gedanken verschwieg er nicht, und die Wirtin lächelte beifällig und sagte: »Ja, da ging ich selber einmal mit, das Österreich möcht' ich auch einmal sehen.« Nach solchen Sonntags-Nachmittagen fing dann das Rennen, Plagen und Jagen der neuen Woche unverdrossen wieder an.

Neun Wochen waren so verflossen, als die Ware, welche Stauffers Herr sonst schwerlich im Laufe von vier Monaten abgesetzt hätte, bis auf die letzte Flocke verkauft war.

Da legte sich der Stauffer eines Abends ungewöhnlich früh zur Ruhe, denn er hatte eine weite Reise vor.

Es war an einem schönen Sommermorgen, als die vier Kinder Stauffers in der Stube des bescheidenen Häuschens unter der Mühle auf dem Fußboden neben der Apollonia saßen und spielten. Die Apollonia sagte eben: »Mir klingt's im Ohr, Kinder, seid brav, ich glaub', der Vater wird bald kommen.« Da ging die Türe auf und ein Mann stürmte herein und warf einen Wanderstab und Reisesack von sich und stürzte mitten unter die Kinder auf die Knie, die Arme ausbreitend, Geschenke hinstreuend und rufend: »Da bin ich wieder, kennt ihr mich nicht mehr?«

Die Kinder erschraken und flüchteten sich zur Apollonia. Nur das neunjährige Mariele blieb vor ihm stehen, ihr sanftes, klares Auge hatte den Vater gleich erkannt; sie war nicht erschrocken, nur ihre Wangen waren vor Freude zu zwei purpurnen Röslein erblüht.

Stauffer sprang auf, hob seinen Liebling auf den Arm und küsste die schöne weiße Stirn und das schöne blaue Auge, lief wie toll auf und ab und rief ein über das andere Mal: »Nein, nein, wie du, so gibt's kein Mariele mehr auf der Welt, keines!«

Indessen hatten sich die anderen Kinder auch erholt und kamen auf Zureden der Apollonia zum Vater, um ihm die Hand zu reichen. Er nahm eins nach dem andern auf den Arm und trug sie küssend und scherzend durch die Stube. Sie wühlten ihm lächelnd im Haupthaar wie die Kinder jenes Wirtes »zum Reichsadler« getan hatten. So machte er seine Sünde beim Abschiede wieder gut. Dann aber rief er die Apollonia zu sich, gab ihr ein schönes Halstuch zum Geschenk und zeigte ihr sein Erspartes. Sie erstaunte. Er hatte fast den ganzen Lohn zurückgelegt.

Stauffers Geschick und Eifer waren indessen bekannt geworden, und viele Händler fragten an, ob er für erhöhten Lohn ihr Träger sein wolle. Er aber sagte: »Lasst mich sehen, ob mein Name mich nicht selber brauchen kann«, ging zum reichen Kaufherrn und erhielt für 500 Gulden Ware auf Kredit. Stauffer kannte sich selbst kaum mehr. Es brannte der Boden unter seinen Füßen, er musste fort; es trieb ihn an sein neues Geschäft, das er nun als eigener Herr betreiben sollte. Eines konnte er bei aller Eile nicht unterlassen: er musste dem Birkenwäldchen, aus dem er so lange sein kümmerliches Brot gezogen, einen Besuch abstatten, bevor er ging. Freundlich grüßend trat er eines Nachmittags in dessen Schatten und sagte: »Wie geht es dir jetzt, seit wir einander nicht mehr plagen? Du siehst frisch und gesund aus, mir geht es auch jetzt besser. O, dein Brot ist sauer gewesen und mein Messer scharf! Gib mir die Hand, wir wollen jetzt wie Freunde leben!« Das Birkenwäldchen streute kühle Schatten über ihn und ließ den Chor seiner Vögel schmettern! Stauffer ließ es auf sich wirken und sagte gerührt wie seine schwäbische Wirtin: »'s ischt recht!«

Heimkehrend und an Ruhländers Feld vorübergehend, blickte er nicht auf; es war noch nicht Zeit. Diesmal brannte er seinen Kindern beim Abschiede nicht durch, vielmehr plauderte und erzählte er ihnen bis zum Augenblicke seines Abschiedes gar bunterlei von seiner Wanderung, von Städten und Menschen und von der lieben Wirtin in Schwaben und ihrem Mariele vor, und dass er Letztere einmal mitbringen werde. Dann trug er seine Kinder, eines nach dem andern, durch die Stube, herzte und küsste sie, und als er sein Mariele in den Armen hielt, rief er mit glühenden Augen: »Ich will euch einmal ein Leben schaffen ... wie Gräfinnen sollt ihr mir ... Punktum!« schloss er, sich selber unterbrechend.

Er ging.

Außerhalb des Dorfes begegnete ihm Ruhländer. Der sagte: »Nun Stauffer, schon wieder auf und davon? Du nimmst den Weg ins Reich ordentlich unter die Füß'! Nun 's ist recht. Viel Glück. Jetzt muss ich wohl bald mein Feld vor dir in acht nehmen? Heut Nacht wird mir von grünen Fensterläden und Spiegelfenstern träumen.«

Stauffer sah zu Boden und gab keine Antwort. Mit einem scharfen »Behüt' Euch Gott« ging er von dannen. Es hätte dieses neuen Antriebs nicht bedurft, um den Stauffer wie mit Flammenruten an sein Geschäft zu treiben.

Nach zehn Wochen schrieb er um neue Ware und schickte für die verkaufte das bare Geld; die neue Ware kam an und wurde vertrieben; abermals neuere Ware kam an und wurde vertrieben; der Herbst, der Winter ging darüber hin. Mit dem Eifer Stauffers war sein Glück gewachsen, mit seinem Glücke sein Kredit; es machte gewaltiges Aufsehen, als es plötzlich hieß: der Stauffer habe neuestens um Ware für zweitausend Gulden geschrieben, die er gleich bar bezahlt.

Jetzt begann in den Gemütern seiner Landsleute jene leise Wandlung, welche eine ehrenvolle öffentliche Meinung vorbereitet. Die einen freuten sich, die andern staunten, gar viele beunruhigten sich über das Glück eines bisher so unbeachteten Menschen; alle redeten davon. Wer bisher stumm an ihm vorüber gegangen, der dachte jetzt daran, ihn zu grüßen; wer ihn gegrüßt, wollte ihm jetzt die Hand reichen; wer ihm die Hand gereicht, der dachte ans Bruderschaft trinken, und wer etwa schon Bruderschaft getrunken hatte, der dachte: An dem kannst du einmal eine Stütze haben, wenn sich's wo an deinem Hauswesen senkt. Man war förmlich ungehalten, dass Stauffer dieses Mal gar nicht heimkommen und sich zeigen wollte; denn es war der zweite Sommer und der zweite Winter vorüber, ohne dass er kam. Die Leute plagten auf Kirchwegen und zu Hause die alte Apollonia, was denn der Herr Stauffer neues schreibe, es sei doch nicht schön, dass er gar nicht mehr heimsehe; der Felderer beklagte sich, dass ihn sein alter Freund gar nicht mehr grüßen lasse.

Und wieder war's ein holder Mai; die Schwalben hatten ihre Nester gebaut, die Lerchen stiegen und sangen, die Bäume blühten und würzten die Lüfte. Da hieß es, der Stauffer habe das schöne Grasplätzchen vor seiner Hütte zum Spielplatz für seine Kinder angekauft; man sah zu gleicher Zeit an Dach und Wänden bessern, jetzt war kein Zweifel mehr, dass der Stauffer heimkehren werde, reich beladen mit dem Segen seines Fleißes. Einige Hausmütter kamen, um Apollonia Eier, Butter und Weizenmehl anzubieten; denn es wäre sündlich, meinten sie, dem Herrn Stauffer jetzt nicht die allerbesten Tage zu bereiten. Die Apollonia wusste wohl, was sie zu tun habe, und dankte für den guten Rat, nahm aber keine Geschenke an.

Es war an einem herrlichen Mainachmittage, der Himmel wolkenlos, die Lüfte lau und die Sonne im Untergehen; die Kinder lärmten und tollten vor den Häusern, über ihnen flatterten wie Glockenzüge des Himmels graue Mückenstreifen: da stand unvermutet, auf seinen Stab gestützt, ein Mann vor einer Kinderschar unterhalb der Mühle und sah stillvergnügt dem harmlosen Treiben zu. Der Mann war Stauffer und die Schar der Spielenden bestand aus seinen Kindern und einem fremden schönen Knaben. Der Stauffer wurde nicht gleich bemerkt, und das schien ihm lieb zu sein, denn die Kinder führten eben ergötzlicher Weise allerlei Tier- und Natur-Nachahnungen auf:

Das Mariele (wie eine Ente wackelnd): »Soldaten kommen! Soldaten kommen!«

Das Gretchen (als Haushund): »Wo? Wo? Wo?«

Der Knabe Anton Hälder (als Enterich): »Sakerlot, Sakerlot!«

Röschen (als Katze): »Von Bernau, von Bernau!«

Das Käthchen (als Hahn auf der Mauer): »Sie sind schon da!«

Bei diesen Worten stürzte die Apollonia schreiend und die Hände zusammen schlagend aus dem Häuschen und rief: »Kinder, um Gottes willen! Seht und hört ihr denn gar nichts mehr? Wer steht denn dort? Wer ist denn gekommen?«

Wie abgeschnitten war auf einmal das Spiel der Kinder.

Mariele war es zuerst, das den Vater erkannte und auf ihn zukam.

Erst, als sie ihm die Hand hinreichte, erwachte Stauffer aus seinem träumerischen Wohlgefallen, mit welchem er seine Kinder und sein Mariele vor allen betrachtet hatte.

Mariele war schon zu groß, um auf den Arm gehoben zu werden; er kniete hin, umschlang das blonde Köpfchen und drückte es stumm an sein stürmisch klopfendes Herz. Es war eine Haarlocke losgegangen und rollte seidenweich über Stauffers Hand.

Nun kamen auch Gretchen und Röschen herbei und wurden vom Vater ans Herz gedrückt. Nur das lustige jüngste Kind, das Käthchen, blieb als Hahn auf der Mauer und rief in einem fort: »Sie sind schon da!«

Als sich der Vater mit ausgestreckten Armen näherte und lachend rief: »Es ist genug jetzt, komm' nur und lass' Dich fangen!« da schrie und flatterte sie gewaltig, sprang herunter und wollte scherzend mit dem kaum erkannten Vater ein Fangspiel beginnen. Der Stauffer haschte sie aber, schwang sie hoch in die Luft und trug sie triumphierend nach dem Häuschen.

In der Stube ging es nun jubelnd an ein Geschenke geben und nehmen.

Aber nicht lange, so wurde diese Familienfreude gestört. Stauffers Heimkehr war bekannt geworden, und nun erbrauste es bald von Neugierigen um das Häuschen. Glückwünschende

drangen herein.

Stauffer benahm sich scheinbar ruhig, ließ die Gratulierenden sich in Freundlichkeiten abmühen, schob nur dann und wann stumm an der Mütze, und wenn er etwas reden musste, so war es kurz und von einem flüchtigen Lächeln begleitet. Als aber spät Abends die letzten Besuchenden sich entfernten, da drückte er mit krampfhafter Faust die Türe hinter ihnen zu und schob den Riegel so gewaltig vor, dass der Pfosten erbebte.

»Kommt ihr jetzt?« hörte ihn die Apollonia mit gepresster Stimme sagen, »bin ich euch recht so? Bin ich euch wundermäßig geworden? Säe ich Stiefelnägel und gehn mir keine Barfüß' mehr auf? Ha, Geduld noch eine Weil', der Letzte wird noch aufgespielt!«

So lauerte hinter Stauffers Betragen, er mochte heiter oder ernst erscheinen, ein düsterer menschenfeindlicher Gedanke, der seine Zeit noch nicht gekommen sah und sich unter dem Getriebe des Geschäftes gut genug verbergen ließ; denn sehr unruhige Tage waren's, welche Stauffer diesmal zu Hause zubrachte.

Man hatte gehört, dass er jetzt sein Geschäft auf großartige Weise ausdehnen wolle. Am nächsten Morgen saßen denn auch schon Leute vor dem Häuschen und warteten auf Audienz; es waren Männer, die sich als Träger anbieten wollten. Stauffer warb die Tüchtigsten und begann seine Bestellungen und Einkäufe. Wo er ging, zog er einen Schweif dienstbarer Menschen nach sich; wo er sich setzte, wurde er von freundlichen Menschen umringt, und musste er eines abgeschlossenen Geschäftes wegen in eine Schänke, so reichte und schob ihm jedermann sein Glas hin, wofür er stets allen wie einem ablehnend dankte. Seine Zeit war diesmal so in Anspruch genommen, dass er selten eine ruhige Stunde bei seinen Kindern zubringen konnte.

Zweimal widmete er jedoch ganze Vormittage äußerst wonnigen Feierlichkeiten. Es war das bei einer Schulprüfung und bei einem Bittgang um die Felder.

Bei der Schulprüfung hatte Stauffers Mariele als die beste Schülerin, einen schönen Doppelspruch mit dem besten Schüler, Anton Hälder, aufzusagen, und das gelang so gut und rührend, dass die Herren Prüfungs-Kommissäre, der Herr Vikar und der Herr Amtmann, dem schönen Kinde die Hände aufs Haupt legten, die Wangen streichelten und Lob über Lob erteilten. Mariele war auch auf alle Prüfungsfragen wohl vorbereitet und gab schnelle, klare und treffende Antworten. Der Vikar schien sie besonders gern zu fragen; es war auch etwas Erquickliches, wenn Marieles blaues Auge aufblickte und die liebliche Stimme Antwort gab.

Beim Bittgang um die Felder war Mariele unter den weißgekleideten Mädchen, welche das bunt geschmückte Mnttergottesbild trugen.

Der Stauffer hatte ihr zu dieser Feierlichkeit einen neuen Anzug machen lassen und ging während der Prozession stets zuvorderst unter den Männern, damit er seinen Liebling immer vor Augen habe. Mariele sah aber auch aus wie ein Engel. Der Knabe Hälder trug ein rotes Fähnlein voran und war froh, wenn es flatternd die Blicke auf sich zog; da musste wohl auch Mariele Stauffer zu ihm hinüber blicken.

Die Prozession wogte langsam dahin, verschwand in Hohlwegen und kam auf Hügeln wieder zum Vorschein, stockte auf engen Fußpfaden und hielt beim Ablesen der Evangelien vor Kreuzen und Kapellen immer eine Weile stille. Auch in der Nähe von Ruhländers Felde steht ein Kreuz; auch dort wurde Halt gemacht und eine Station gehalten.

Hier waren viele Augen auf den Stauffer gerichtet, denn das Feld, wohin derselbe sein Haus bauen wollte, war in der Nähe.

Stauffer sah frei auf, betrachtete mit hellem Blick den Teil des Feldes, wo er sein künftiges Haus schon längst in Gedanken stehen sah, und forschte dann nach dem Ruhländer, der, zu Boden sehend, nicht weit vom Kreuze stand. Es war nicht mehr alles in Ruhländers Hause, wie es sollte.

Stauffer hätte nicht Stauffer sein müssen, wenn ihm nichts davon hätte bekannt sein sollen.

Er schloss sich daher auf dem Heimwege an Ruhländer an und sagte zu ihm, ohne dass es jemand hören konnte:

»Ruhländer, du hältst ja schon wochenlang Wettrennen nach zwölfhundert Gulden und kannst sie nicht erreichen. Wie viel Gäule willst du noch zu Schanden reiten, bis du zu mir kommst? Ich lass' heut Nacht die Haustür' offen und sitz' ohne Licht in der Stube; kommst du, so ist mir's angenehm.«

Ruhländer sagte nichts darauf – aber kam in jener Nacht und beide redeten lange miteinander; bald fielen auch die Folgen dieser Zusammenkunft ins Auge. Das Mittelstück von Ruhländers Felde wurde abgesteckt, in der Ziegelhütte wurden Arbeiter geworben, im Walde Bauholz gefällt. Der Maurermeister aus Nierdingen und der Zimmermann aus Seilern ließen sich blicken, und die Sägemühle arbeitete für Rechnung Stauffers.

Im Juli drauf wurde auf der abgesteckten Feldstelle gegraben und der Grundstein zu einem Hause gelegt; Menschen und Fuhrwerk gingen ab und zu, die Wände stiegen aus dem Boden, und man sah verwundert in Erfüllung gehen, was der Stauffer vorausgesagt hatte.

Indessen blieben Stauffers Kinder mit der alten Apollonia ruhig in dem ärmlichen Häuschen, als ginge sie das schöne Bauwerk gar nichts an; der Stauffer selbst aber war fort mit einem großen Vorrat Ware und spornte seinen Eifer im Geschäfte rastloser als je. Schwaben, Tirol, die Rheinlande waren diesmal der Schauplatz seiner gewinnreichen Streifzüge. Er schien allgegenwärtig zu sein.

Von seinen dienstbaren Leuten war niemand sicher, dass er ihn jetzt und jetzt bei einer Fahrlässigkeit überrasche; daher auch Stauffers Eifer auf alle überging.

Die schwäbische Wirtin sah der Stauffer jetzt seltener; hatte er aber Gelegenheit, sie zu sehen, so versäumte er sie nicht, und erschien er, so war er sehr willkommen. Es stand dem »Herrn Vetter aus Österreich« ein Zimmer bereit, und Mariele stellte ihm jeden Tag einen frischen Blumenstrauß auf den Tisch.

So ging wieder ein Sommer, ein Herbst und ein Winter dahin. Stauffers Haus in der Heimat war indessen fertig geworden, die Wände getrocknet und angestrichen, aus Spiegelglas bestanden die Fenster und hellgrün schimmerten die Läden. Da kam mit den ersten Lerchen die Nachricht, dass auch Schlosser und Tischler mit der innern Einrichtung des Hauses fertig geworden.

Stauffer machte sich für kurze Zeit zur Heimreise frei und schickte einen seiner Träger als Vertrauten voraus, um ihn das Gerücht verbreiten zu lassen, dass sein Herr bei seiner Übersiedlung aus der ärmlichen Hütte in das schöne neue Haus drei Tage lang Festlichkeiten veranstalten wolle. Er selber blieb noch einige Tage in seinem schwäbischen Hauptquartier wie auf der Lauer zurück.

Es musste gewaltig in seiner Seele wogen. Seine Wirtin hatte ihn nie so gesehen. Er sprach kaum mit jemand; sein Angesicht war immer dunkel gerötet. So wagte denn auch Mariele nicht, am Tage seiner Abreise ihm ein Sträußchen Frühveilchen anzubieten, das sie für ihn schön gebunden und in ein Glas gestellt hatte.

In der Abenddämmerung war er fort.

Er kam diesesmal wieder um die Zeit des schönen Frühlings, aber bei Nacht und ungesehen in der Heimat an.

Als er ans erste Haus im Dorfe trat, schlug die Schwarzwälderuhr in der Stube elf.

Im Dorfe schlief beinahe alles; nur im Wirtshause ging es noch hoch her und einige Burschen sangen heim.

Der Stauffer war sonst immer, wenn er heimkehrte, um das Dorf herum gegangen und hatte kaum aufgesehen, heute schritt er aufrecht zwischen den Häusern und blickte mit leuchtenden Augen umher.

Da standen nun alle die Häuser, die einst so stolz auf die Hütte unter der Mühle geblickt, herrlicher als sie alle sah das Schlößlein von der Höhe auf sie herab; da schliefen nun die Menschen, die einst dem abgehetzten Besenbinder kaum ein freundliches Auge gezeigt; morgen erwarteten sie die Heimkehr des »Herrn« Stauffer, der ihnen Lustbarkeiten und Genüsse mancher Art bereiten sollte. Stauffer hielt inne und atmete tief.

»Wartet und schärfet eure Zähne bis zum jüngsten Gericht«, sagte er vor sich hin, »keine dürre Brotrinde leg' ich dazwischen!«

Die heimkehrenden Burschen näherten sich und sangen eben:

Mein Herzel ist z'rissen.
Mein Hütel ist neu;
Wär's Hütel doch z'rissen,
Ganz 's Herzel dabei!«

Der Stauffer trat hinter eine Mauer und hörte einen Burschen sagen: »Kommt schlafen. Es soll ja drei Nächt' drunter und driiber gehn, wenn der Stauffer kommt. Der Mann hat Litzen sonderbare Einfälle! Er soll aber leben!«

Die Burschen gingen vorüber, der Stauffer trat hervor.

Ein düsteres Lächeln um den Mund, sagte er: »Ja, lasst mich leben – ich will euch dafür eure drei Nächt' in Ruhe schlafen lassen!«

Er trat hinter einem Hause in einen Garten und hier an ein kleines Fenster; er klopfte.

Sein Träger, den er als Sendboten vorausgeschickt, schlief da drinnen, wachte auf und kam ans Fenster.

Er musste seinen Herrn erwartet haben, denn er fragte sogleich: »Seid Ihr es, Stauffer?«

Dieser bejahte und setzte hinzu: »Hast du getan, wie ich dir gesagt habe?«

Der Träger erwiderte: »Morgen von früh bis in die Nacht wird man Euch erwarten. Bei der Mühl' herum haben heute schon neugierige Leute gestanden. Alles glaubt an die drei Festtage. Ich will's nicht mit ansehen, wenn nichts daraus wird; morgen mit dem frühesten stoß' ich die Grenz' hinter meine Fersen. Ich möcht' in acht Tagen nicht herumzünden, um zu sehn wie man von Euch spricht!«

Der Stauffer sagte: »Recht! So ist's mein Wunsch. Ich hab' die Mauer um mein Haus nicht umsonst geführt. Jetzt will ich Brennnessel und Dornen auf den Weg zu meinem Hause pflanzen und Glasscherben streuen; ich hab's abgetan mit den Menschen!«

Er ließ sich einen Schlüssel durch's Fenster reichen und ging.

In der Hütte unter der Mühle war es ganz still, in Stube und Kammer kein Licht.

Der Stauffer schloss die Haustüre geräuschlos auf und trat hinein.

Leises Atmen mehrerer Menschen in der Stube. Stauffer strich mit einem Hölzchen über die Wand, es fing und durchblitzte das Dunkel.

Da saßen die Kinder mit der Apollonia, schlummernd aber vollständig angekleidet, am Tisch herum; sie hatten die Heimkehr des Vaters erwartet.

Stauffer weckte erst die Apollonia, dann die Kinder und sagte nach kurzer Begrüßung: »Macht euch fertig, wir quartieren um ins neue Haus.«

Bald darauf trat eine Gruppe Menschen aus der Hütte und ging im Dunkel auf dem kürzesten Wege zum Dorfe hinaus und der Hanslusthöhe zu. Der Stauffer trug sein Jüngstes auf dem linken Arme, an der Rechten führte er sein zweites Kind, das Röschen; Mariele und Gretchen gingen rechts und links neben der Apollonia.

Die Apollonia weinte; die Kinder, schlaftrunken und nicht begreifend diesen geheimnisvoll nächtlichen Umzug, schauerten furchtsam; nur das Mariele blickte bewusst umher und betrachtete mit stillem Vergnügen die schimmernden Sterne.

Der Stauffer redete auf dem ganzen Wege kein Wort; seine Schritte griffen rasch aus. Beim obern Fahrwege erbebte er plötzlich, hielt an und horchte vor sich hin. Fußtritte hatten sich hören lassen und kamen näher. Der Stauffer meinte, das Dorf hätte einen Aufpasser bestellt, der ihn ausspioniere. Schon wollte er sein jüngstes Kind vom Arm auf den Boden stellen, um jeden absichtlichen Störer seiner geheimen Wanderung abzuweisen; allein er überzeugte sich bald, dass er sich in seinem Argwohn geirrt habe. Es war ein Schleichhändler, der vorüber glitt, froh, kein lebendes Wesen um sich zu sehen. Stauffer ging beruhigt weiter und erreichte das neue Haus. Er konnte sich nicht klar machen, was in ihm sich regte und bewegte, als der Schlüssel im großen Vorhoftor rauschte und der Torflügel sich öffnete, ihn und die Seinigen einzulassen; etwas wie leise Wehmut, dass ihm das zufallende Tor zu unbarmherzig die Vergangenheit von der Zukunft abschneide, mischte sich in seine stürmische Empfindung. Er schritt über den halbrunden Vorhof und schloss nun auch die Haustüre auf. Da hallte es so feierlich in der Vorflur von den neuen Wänden; da musste alles so hell und blank sein. Stauffer erschien das erste Mal in diesem Hause, und ihm war, als müsste er leise auftreten, um die vornehme Herrschaft in den Zimmern nicht zu stören.

Er machte Licht.

Der Eindruck war umso tiefer. Die Lage und Einteilung der Zimmer kannte er genau, denn er hatte den Plan entwerfen helfen. Daher wusste er auch sogleich, in welches Zimmer er die Seinigen bringen sollte: es befand sich im obern Stockwerke, die Fenster sahen nach dem Birkenwäldchen.

Hier zeigte sich nun, dass er durch seinen Sendboten den Kindern eine große Freude hatte bereiten lassen. Ein glänzender Christbaum voll Geschenke und Silber- und Goldflitter stand mitten im Zimmer und nun wurden, um den Jubel der Kinder voll zu machen, auch die Wachslichter an den Zweigen angezündet. Der Stauffer küsste seine Kinder, sah dem freudigen Treiben eine Weile zu und sagte dann zu Apollonia: »Wenn die Kinder zu Bett sind, kommt hinüber, ich hab' Euch was zu vertrauen.«

Er ging hinaus und betrat ein Zimmer mit den Fenstern nach dem Dorfe. Hier machte er kein Licht, damit es im Dorfe nicht auffalle, sondern öffnete leise ein Fenster und lehnte sich hinaus.

Der Mond ging eben auf.

Der Himmel war wolkenlos, die Sterne blinkten, die Luft, das Dorf war stille; nur die Mühle sendete ihr einförmiges Rauschen herauf wie in jener Nacht, als Stauffer, durch Ruhländers Worte tödlich verwundet, auf der Hauslusthöhe stand und sein Herz von glühenden Wünschen und Racheplänen schwoll.

Da stand nun das Haus, da lehnte er nun am offenen Fenster und sah zwischen hellgrünen Fensterläden hinunter auf das Dorf seiner Geburt, seiner Leiden, seiner wirklichen und eingebildeten Misshandlungen – und wenn die Sonne im Osten sich heraufzuschwingen anschickte, konnte er lächelnd als gemachter Mann hinunter sehen auf die täglich neu erwachenden Sorgen und Plagen des Dorfes. Stauffer hatte es erreicht: er hatte, was er einst wünschte, und mehr als das; morgen sollten auch die da unten, alt und jung, etwas von Demütigung durch ihn erfahren. Stauffers Glück war aber noch nicht zu Ende. Sein Geschäft blühte; was er begann, endete mit seltenem Segen. Eine solche Fülle von Glück konnte noch viel Überraschendes bringen.

Stauffer weinte.

Er weinte, weil ihm so wunderbar zu Mute war; er weinte, weil es ihn drängte, gen Himmel zu schauen und zu sagen: O Herr, ich bin so viel Segen nicht wert gewesen. Er weinte, weil ihm all' seine Pein da unten vor die Seele trat, weil es ihm schmerzlich wehe tat, dass die Menschen gerade gegen ihn so schroff und unversöhnlich schienen! Das fühlte er: wenn in diesem Augenblicke einer gekommen wäre und hätte ihm freundlich die Hand gegeben und hätte mit sanfter Stimme zu ihm gesagt:

»Stauffer, du bist allein, du wirst unglücklich, wenn du allein bleibst, sei mein Freund und Nachbar« – er fühlte, dass ihn eine solche Stimme und Freundschaft überwältigt hätte.

Aber wer war denn Schuld, dass in dieser Stunde kein solcher Freund erscheinen wollte?

»Stauffer – Stauffer! – warst du je freundlicher gegen die Menschen als sie gegen dich? Hast du die liebevolle Hand der Menschen ergriffen, wo und wann sie dir gereicht wurde? Dass man erst aufmerksam wurde und dich zu schätzen begann, als dein Gliick anfing, das beleidigt dich? Ei, da hattest du eben angefangen den Leuten Achtung abzuzwingen, da hattest du gezeigt, wie viel Fleiß, wie viel Eifer, wie viel Talent, wie viel Sorgfalt für deine Zukunft und für die Zukunft deiner Kinder in dir sei, und darum achtete, grüßte man dich: war das so übel getan? Was war denn an einem armen, stillen, verschlossenen, mürrischen, zurückgezogenen Besenbinder Ehrwürdiges? Zur Zeit deiner bittersten Armut, Stauffer, gab es Leute, die noch ärmer und misshandelter waren als du; nun, hast du, der Reichere, diese Leute aufgesucht und besser behandelt, als du von den reicheren Dorfbewohnern behandelt worden bist? Wenn ein Bettler, kummervoll und presshaft, in das Dorf kam, bist du ihm entgegen gegangen, hast ihn am Arm geführt, ihm freundliche Worte gesagt und ihm deine Liebe und dein Lager angeboten? Stauffer! Stauffer! Gemach! Schirre so trotzige Gedanken aus, es geht an einen Abrand!«

Lange noch lag der Stauffer so im Fenster, das Gemüt gewaltig bewegt, indes ringsum dieselbe Ruhe herrschte; nur der Mond war höher herausgerückt. Im Zimmer drüben war es stille geworden, die Kinder waren endlich eingeschlafen. Jetzt kam Apollonia, um zu hören, was Stauffer ihr noch vertrauen wolle.

Dieser erschrak, als er die Türe öffnen hörte.

Fast wünschte er, dass die Apollonia nicht gekommen wäre. Doch nun wühlte er seine unwirschen Gedanken wieder auf und sagte: »Ich reis' vor Tag wieder ab, ich bin nur gekommen, um Euch mit den Kindern in mein neues Haus einzuführen. Haltet drei Tage lang das Haus versperrt für jeden, der nicht herein gehört. Wartet und pflegt meine Kinder gut. Ich werde fort sein, wenn sie wach werden; schreibt mir, ob sie oft nach mir fragen, sagt ihnen, dass ich recht bald wieder nachsehen werde. Das Mariele ...«

Er stockte. Er langte eine Brieftasche hervor und gab der Apollonia eine ansehnliche Summe.

»Hier ist Geld«, fuhr er fort. »Die Menschen sind schlecht. Sie meinen, ich soll ihnen für all' die Rippenstöß' aus alter Zeit jetzt drei heilige Feiertag' machen; ich werd' es aber bleiben lassen. Sie werden sauer dreinsehen. Kann sein, sie werden so schlecht sein und meine Kinder hier aushungern wollen. Kauft Lebensmittel von weiter her, zahlt doppelt, wenn es sein muss und schreibt mir – von meinem Mariele.«

Wieder versagte ihm die Stimme, dann fuhr er fort:

»Es gibt Pfeile, mit denen man trifft bis übers Meer; so verwundet man die Seelen im Jenseits noch – wenn man einem die Kinder kränkt. Ich sag' Euch, Apollonia, die Menschen sind schlecht. Jetzt werden sie mir die Kinder kränken, sie werden sie ›Herrenzüchtle‹ oder ›Schlossfräule‹ oder ›Birkengräfle‹ oder so was nennen. Mein Mariele muss mir aus der Schule! Auch die anderen. Der Lehrer und der Geistlich' sollen ihnen im Haus Unterricht geben.«

Er ging auf und ab, dann fuhr er fort:

»Jetzt wird man seine Kinder auch vom Spiel mit den Meinigen abhalten. O sie wissen, wie man einen bis ins Mark verwundet. Apollonia – der Büchner, aber der Jakob und nicht sein Bruder, der ist noch der Beste; der, glaub' ich, wäre bei Seite zu nehmen, der hätte noch ein Herz. Geht in drei Tagen zu ihm, Ihr braucht nicht zu sagen, dass ich Euch schicke. Steckt Euch dabei hinter sein Weib, sie ist gut; kann sein, die lassen ihre Kinder zu den Meinigen. Ich weiß nicht, was ich tät', ich müsste Haus und Heimat verlassen, wenn es meinen Kindern an ihre beste Freude ging; werden die Menschen groß, dann ist es so mit Spiel und Freuden aus!«

Die Apollonia hörte mit Betrübnis zu. Sie wagte nun, die Menschen in Schutz zu nehmen; so sei es doch nicht, meinte sie, und wenn der Stauffer freundlich gegen die Menschen sein wollte, so könnte er gewiss viel Liebes auch von ihnen erfahren.

Der Stauffer fiel ihr in die Rede:

»Lasst das Evangelium unletz', das ist Sach' für einen Schriftgelehrten«, sagte er.

Die Apollonia wagte noch einen kleinen Versuch, den Stauffer zu bewegen, wenn auch nicht drei Tage, so doch am nächsten Morgen den Leuten irgendeine kleine Freude zu bereiten.

Ein heftiges »Nein« schnitt die Unterredung ab.

Die Apollonia nahm Abschied und legte sich schlafen, der Stauffer lehnte noch lange im Fenster.

Endlich krähte der Haushahn, der Morgen dämmerte, im Dorfe begann es sich zu regen: da machte der Stauffer sich auf und eilte auf Umwegen der Grenze zu. Je höher die Sonne stieg, desto lebhafter stellte sich vor seine Seele, was jetzt im Dorfe geschehen möge. Sein ganzes Wesen fieberte. Gruppen vor der Hütte unter der Mühle, vor seinem Hause auf der Höhe, Anfragen im Wirtshause, wie viele Fässer umsonst verzapft würden – bald darauf Lärmen, Schimpfen, Drohen, Fenstereinschlagen – das alles glaubte er zu sehen und zu hören. Er ging, sozusagen mit gespitztem Ohr nach der Heimat horchend, seines Weges. Einmal hielt er tief erbleichend inne und ward versucht, vor sich selber reißaus zu nehmen, weil ihm einfiel, dass er seine Kinder eigentlich doch ohne Schutz zurückgelassen habe; die Menschen sind ja so schlecht, dachte er, dass es einigen Rohlingen einfallen könnte, das Haus zu stürmen und die Kinder zu misshandeln, und da wäre es doch Vaterpflicht gewesen, im Hinterhalt zu bleiben und bei der Hand zu sein. Nur der Gedanke, dass er, wenn er auch gestreckten Laufes heimkehren wollte, doch nun einmal zu spät kommen würde, drängte ihn seines Weges weiter. So voll von Fiebergedanken, Sorge, Groll, Racheplänen erreichte er Schwaben, griff er wie zuvor sein Geschäft mit der gewohnten Rastlosigkeit an.

Vierzehn Tage waren endlich vorüber, und der Stauffer fand im Hauptquartier einen Brief aus der Heimat. Erschüttert nahm er ihn, zögerte aber lange, ihn zu erbrechen.

Der Brief lautete erfreulich.

Es hatte zwar an dem gefürchteten Morgen einige Bewegung im Dorfe gegeben, es hatten sich einige Gruppen um die Hütte unter der Mühle gesammelt; als man aber die Hütte versperrt und leer fand, und bald darauf entdeckte, dass Stauffers Kinder mit der alten Apollonia bereits im neuen Hause seien, da schämte sich jeder zu zeigen, dass ihm an der ganzen Gnade Stauffers überhaupt etwas gelegen sei, man argwohnte, was der Stauffer bei der Sache im Schilde geführt, und ging lächelnd auseinander. Als nun gar bekannt wurde, der Stauffer sei dagewesen und wieder fort, da läugneten viele, von dem »Wettergaul« je etwas erwartet zu haben, und man gab sich Mühe, gegen alles gleichgültig zu scheinen, was vom Stauffer kam und was den Stauffer anging. Man war nur froh, ein Ableitungsopfer für Einfälle, die man dem stillen Ärger abrang, gefunden zu haben; der Mändele Peter war an jenem Morgen im Sonntagsstaat vor Stauffers Haus erschienen und wurde nun mit Witz- und Spottreden, wo er gesehen wurde, verfolgt. Stauffers Kinder blieben vollkommen unangefochten, ja die vernünftigen Väter und Mütter im Dorfe zeigten sich jetzt herzlicher gegen sie als je.

Dieser letztere Umstand traf tief in Stauffers Gemüt. Er sagte es zwar niemand, aber er fühlte, dass sein Herz sich in zwei Lager teile, davon eines lebhaft darauf drang, der Kinder wegen mit der Heimat Frieden zu schließen, während das andere sich in altem Ingrimm heftig dagegen wehrte – und siegreich blieb. Um aber doch der Versöhnlichkeit nicht ganz aus dem Wege zu gehen, entwarf er folgenden Plan.

Er wollte nach einiger Zeit wieder auf ein paar Tage heim. Er wollte Morgens aus dem Fenster blicken, dem Treiben in – und außer dem Dorfe zusehen und erwarten, ob ihn jemand besuchen oder, wenn jemand vorüberginge, ob man ihn grüßen würde. Nach Umständen wollte er sehen, was weiter zu tun sei. Er ließ daher daheim die Nachricht seiner Wiederkehr verbreiten, dann reiste er ab und war am bestimmten Tage daheim.

Es war Anfangs August.

Die Ernte war im vollen Gange, die Felder wimmelten von Schnittern, die vor Sonnenaufgang ausgezogen waren und Abends munter und singend nach Hause zurückkehrten.

Stauffer war mit der Morgendämmerung auf und legte sich mit breitem Behagen zum Fenster hinaus, das Dorf überschauend, die Menschen betrachtend und neugierig erwartend, was seine Anwesenheit für Wirkung tun würde. Die Sonne kam, die Täler dampften, der Nebel verzog sich; in den reinen Lüften klang die Morgenglocke und hinter den fröhlichen Menschen her klingelten die Herden hier und dorthin nach der Weide.

Niemand sah nach dem Stauffer auf.

Wenigstens blieb niemand stehen, grüßte niemand herauf, zog niemand die Mütze. Und doch ging es am obern Fahrwege, nicht weit von Stauffers Hause, lebhaft hin und wieder.

Als der Stauffcr gegen Mittag den Büchner einen schweren Kornwagen daher fahren sah, nahm er die Pfeife aus dem Mund und legte die eine Hand zurecht, um zuvorkommend an die Mütze zu greifen, wenn der Büchner nur die leiseste Miene machen würde, zu grüßen.

Büchner sah und grüßte nicht; er tat, als wäre gerade hier eine gefährliche Fahrt, und stellte sich auf ein Rad, obwohl es schnureben vorüberging.

Stauffer nahm seine behagliche Stellung nicht mehr ein. Er setzte sich neben das Fenster, so dass er alles sehen, selbst aber nicht mehr gesehen werden konnte.

Er wollte so beobachten, ob die Menschen heimlich mehr nach seinem Hause sehen würden?

Nein.

Wie einverstanden untereinander unterließ es jedermann.

Stauffer legte die Pfeife weg, das Rauchen schmeckte ihm nicht mehr; er legte die Mütze weg, um den Kopf besser in die Hände stützen zu können.

Wenn die Burschen von den Höhen sich zujauchzten, so glaubte er, sie jauchzten absichtlich gegen sein Haus herüber, um anzuzeigen, dass sie auch ohne Stauffers Freundschaft leben und froh sein könnten. Schäkerte und lachte man in der Ferne, so musste jemand über den Stauffer einen Witz gemacht haben.

Er war sonderbar bewegt – reiste auch den folgenden Tag wieder ab.

Und nun wollen wir es für eine lange Zeit wie die Bewohner seiner Heimat machen, welche den Stauffer kommen und gehen, tun und treiben, schalten und walten ließen nach Belieben, ohne ihre Aufmerksamkeit ihm insbesondere zuzuwenden.


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