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Zwei Weihnachtsabende.

I.

Eines milden Winternachmittags trat ein Knabe aus der Türe eines ärmlichen Hauses und schien nicht recht zu wissen, was mit sich und der Welt anzufangen sei.

Er blieb daher eine Weile ruhig stehen und bewunderte die langen Eiszapfen an der Dachrinne, blickte dann in das leise Gewirre tanzender Schneeflocken, bis eine derselben prickeln seine Nasenspitze traf, worauf er ein Stäbchen ergriff und, gedankenlos glotzend, feine Löcher in eine Eisdecke stieß.

Aber auch dieser Beschäftigung war er bald überdrüssig und ging nun um das Haus herum nach einer Holzschichte, in deren Nähe er ein Brett mit Rosshaarschnüren gelegt und Häckerling darüber gestreut hatte.

Zu seiner angenehmen Überraschung trieben sich Goldammer und Sperlinge zahlreich dort herum, und er meinte keine eitle Hoffnung zu hegen, wenn er annehme, dass wenigstens ein Dutzend dieser geflügelten Gäste in seine Fangschnüre sich verwickelt habe; aber in dem Augenblicke, als er sich zu überzeugen, in die Hände klatschte, rauschte die gefiederte Sippschaft wie mit einem Flügelschlage in die Luft und nahm auf dem laublosen Gipfel eines gegenüberstehenden Birnbaumes Platz.

Peterle war Weltmann und Philosoph genug, um einzusehen, dass fliehende Hoffnungen und Vögel nicht durch Steinwürfe wieder angelockt werden, er unterdrückte daher seinen Zorn, holte seinen Schlitten aus dem Gänsestall und schlenderte der Schneebahn des Dorfes zu.

Diese feierte heute ihr goldenes Monatsjubiläum und hatte eine Glätte erreicht, die zum Eintritt in jeden Salon befähigt haben würde; umso mehr erstaunte Peterle, den sonst von Kindern wimmelnden Schauplatz ganz und gar verlassen zu sehen.

Der Fall war, soweit sein Gedächtnis reichte, in den Annalen der Schlittbahn noch nicht dagewesen, und er blickte einige Male kopfschüttelnd rechts und links ins Dorf; allein sein Erstaunen wich bald einer ungezügelten Freude, die Bahn zu seiner ausschließlichen Verfügung zu haben, und ohne sich Zeit zu nehmen, auf den Schlitten wohlgeordnet niederzusitzen, warf er sich nur mit der Brust auf denselben und schoss, mit den nachsteuernden Beinen die Richtung lenkend, den langgedehnten Abhang hinunter. Zwar überschlug er sich unten und wurde in einer Schneewehe halb begraben, aber mit ungeschwächter Lust rang und pustete er sich wieder hervor, um sein Glück aufs Neue und immer wieder zu versuchen.

Eine halbe Stunde lang mochte Peterle auf diese Weise es getrieben haben, als er anfing etwas mäßiger zu werden.

Er setzte sich nun wie ein ordentlicher Mensch auf den Schlitten, fuhr auch nicht mehr der glattesten Linie der Bahn in voller Schnelle hinunter, sondern trieb sich rechts und links an raueren Stellen mit allerlei Künsten herum, die ihn freilich oft genug unter den Schlitten brachten, aber die Einförmigketi der Freude wenigstens mit neuem Reiz versahen.

Endlich ermüdeten such diese Kunstversuche, und Peterle fühlte lebhaft, dass die beste Freude des Menschen für die Dauer nicht allein genossen werden solle.

Er blieb daher, sooft er den Schlitten aus der Tiefe nach der Ansatzstelle heraufzog, wiederholt in Gedanken stehen und blickte forschend hin und her nach Kameraden aus; doch diese waren und blieben ferne, so dass Peterle sich schon entschließen musste, sie selber aufzusuchen; mit lässigem Ungeschick nestelte er daher eine Weile an der Schlittenschnur, bis sie an einem Hosenknopf festhielt, dann steckte er die krebsroten Hände in die Tasche und begann seine Entdeckungsreise durch das Dorf.

Der Abend rückte näher, und aus den trüber gewordenen Wolken fielen die Flocken dichter und dichter.

Mit geneigtem Kopf und halbgeschlossenen Augen vorwärts gehend, erinnerte sich Peterle an die Sage, dass die Seelen verstorbener Kinder auf ihrem Wege nach dem Himmel die Milchstraße passieren müssten, wo die Sterne wie hier die Schneeflocken um die kleinen Wanderer tanzen, nur schöner und wie Silberglocken klingend; plötzlich schlugen wirklich Glöckleintöne an sein Ohr, und Peterle meinte schon durch ein Wunder auf die Himmelsstraße versetzt zu sein und als Wanderseele das holde Gottesreich zu suchen.

Doch nur kurz war diese Täuschung; Peterle hatte das nächste Haus erreicht und sah eine Gruppe Kameraden stehen, die geheimnisvoll die Köpfe zusammensteckten und liebe Dinge mitzuteilen schienen; diesen sich anzuschließen, beeilte sich Peterle aus allen Kräften; aber in dem Augenblicke, als er sie erreichte, zeigten sie mit frommen Schauern nach dem Abendhimmel, wo ein roter Lichtstreif durchs Gewölk brach und mit dem Rufe: »Christkind backt schon!« sprangen sie dorfein.

Sie hielten erst vor einem Hause wieder stille, wo andere Knaben beisammen standen und ebenfalls geheimnisvolle Mitteilungen machten; die einen waren von oben bis unten mit Glöcklein behangen und tänzelten immer hin und wieder, um das wunderliche Getöne keinen Augenblick ruhen zu lassen, andere zeigten als Wahrzeichen von der Nähe des Christkinds Äpfel, Nüsse und Flittergoldstücke, die es bei seinem unsichtbaren Gang durch die Häuser verloren hatte; nach diesen Mitteilungen aber ging es mit großen Sätzen weiter ins Dorf hinein, um durch neue Kameraden neue Wunder zu erfahren.

Peterle war seinen Kameraden mit steigender Aufregung und atemloser Hast gefolgt, jetzt blieb er stehen und blickte nachdenklich zu Boden.

Warum war nur ihm heute noch nichts Holdes begegnet? Warum hatte ihm die eigene Mutter verschwiegen, dass der Heilige Abend so nahe sei?

Ein Schatten von Wehmut lief über die erhitzte Stirn des Knaben; wenn nicht in klaren Worten, so lag doch in seinem Gefühl die Frage:

»Geht das heilige Christkind auch wie jedes Glück nur durch reichere Häuser?«

Aber schon war der Schatten von der Stirn des Knaben wieder fort; das Christkind konnte ja, während er im Dorfe sich herumtrieb, in der Wohnung seiner Eltern gewesen sein – und wie beflügelt von dieser Hoffnung machte Peterle rechtsum, eilte mit freudigen Sprüngen das Dorf hinauf und mit den Worten:

»Mutter, Mutter, ist es dagewesen?« trat er mitsamt dem Schlitten in die Stube.

In einer Ecke der ärmlichen Stube saß eine hochgewachsene, hagere Frau an einem Spinnrad und trieb mit stummer Hast ihre Arbeit.

»Wer?« fragte sie nach einer Pause mit bebender Stimme.

»Das Christkind!«

Der Mutter sank der Kopf nach der Brust; Peterle meinte, dies sei eine Bestätigung seiner Frage, stieß den Schlitten hinter sich und rief entzückt: »Was hat es hier gelassen?«

Die Mutter bückte sich tiefer und rückte an der Spule, um anzudeuten, dass sie durch das Neigen ihres Kopfes die Frage des Knaben nicht bejaht habe; dann sagte sie mit mühevoller Fassung:

»Das Christkind ist nicht dagewesen; – aber es wird kommen, Peterle!«

Zum Glück ertönte in diesem Augenblick ein lustiges Schellengeläute vor dem Hause, und Peterle stürmte an das Fenster, um zu sehen, was es gäbe; ein schöner, mit Tierfellen ausgelegter Schlitten fuhr vorüber, von vier Pferden gezogen, die mit Schellendecken und Federbüschen herrlich ausstaffiert waren.

»Der junge Gutsherr!« sagte Peterle und hauchte emsig an das Fenster, um es besser vom Eise zu befreien; – die Mutter aber benützte die paar Augenblicke, um unbemerkt die Augen zu trocknen und tief aufzuatmen.

Sie hatte gestern noch gehofft, für die reiche Nachbarin die nötige Anzahl Strähne fertig zu bringen, um heute von dem Lohn ihrem Knaben ein Christgeschenk zu holen; sie hatte die halbe Nacht gesponnen und gesponnen, war auch seit dem frühen Morgen wieder am Rocken gewesen; aber der Morgen ging vorüber, der Mittag kam – da sagte sie tonlos zu ihrem Manne:

»Martin, sieh' du selber zu; ich erschwing' die Arbeit nicht. Geh' zu einem Freund, zu einem Feind, wenn's sein muss, aber bring' ein Christgeschenk für unser Kind!«

Und ihr Mann, Martin Holger, ließ sich einen Auftrag, der ihm selbst so nahe ging, nicht zweimal sagen; trotzdem er von einer längeren Krankheit kaum genesen war und das Mittel von Anlehn mehr als erschöpft hatte, beschloss er doch seines Kindes wegen noch einige äußerste Versuche zu machen, und schritt nach wenigen Augenblicken ziemlich hoffnungsvoll zum Dorf hinaus.

Er hatte vor zwei Jahren dem Halmfelder in Büren einen Knaben aus dem Wasser gezogen und war bisher einer Belohnung mit ängstlicher Sorgfalt ausgewichen; jetzt wollte er Gelegenheit geben, die gute Tat auf leichte und billige Weise durch ein kleines Anlehn zu belohnen. Auch noch andere Umstände gaben Hoffnung auf einen erfolgreichen Gang nach Büren, wo ein einem hübschen Kramladen überdies die nötigen Weihnachtsgaben gleich zu haben waren.

»Um fünf Uhr längstens bin ich wieder da!« hatte Holger seinem Weib noch zugerufen, als er ging; – und wirklich hielt er Wort; er war seitdem zurück – aber müde und gebeugt – und unverrichteter Sache!

Er hatte den Halmfelder nicht zu Hause getroffen, und dessen Weib war leider auch nicht mehr am Leben; ein paar Anverwandte, die er um Hilfe angehen wollte, hatten selber kaum zu beißen und zu nagen, und einige Hausväter, bei denen er aus den Zeiten seines Dienstes her stets in gutem Andenken gestanden, sahen so strenge drein, als sie seine Absicht errieten, dass er jede ausdrückliche Bitte auf seinen Lippen ersterben ließ und weiter ging.

Wohl sah er jetzt, seinen Stab wieder heimwärts richtend, den hübschen Kramladen mit Weihnachtsgeschenken winken, sah lächelnde Eltern noch in Eile, unter Schürzen und Tüchern die buntesten Dinge davon tragen; er aber musste fürbass gehen, ohne Mittel etwas zu kaufen, mit dem erschütternden Gedanken, dass sein Kind unter Tausenden allein am schönsten Feste der Kinderfreuden leer ausgehen sollte! ...

»Was tun wir?« schloss er seinen Bericht zu Hause und blieb tiefsinnig seinem Weibe gegenüber stehen.

Eine Antwort erfolgte nicht; aber die Hände sanken der armen Mutter auf den Schoß und ließen wohl erraten, dass ihre Antwort trüb genug gelautet hätte.

Also blieb das gedrückte Elternpaar eine Weile wehvoll und wortlos einander gegenüber, keines wagte den tränenschweren Blick emporzurichten, keines wusste Rat und Hilfe; – in diesen Augenblick fiel Peterles Heimkehr aus dem Dorfe, man hörte draußen seine Stimme, das Gepolter des Schlittens, schon war er mit eiligen Sprüngen an der Tür des Hauses, in der Vorflur – da nahm die Mutter mit behänder Hast ihre Arbeit wieder auf, und ihr Mann ging mit wankem Schritt nach der Kammer um Hut und Mantel abzulegen ...

Hier stand er denn seit jenem Augenblicke immer noch, die Hand an der Wange, gebeugter und tiefsinniger werdend; obwohl sonst ein herzhafter Mann, hatte er jetzt doch Furcht vor seinem eigenen Knaben, dessen Gunst und Fragen ihn ganz außer Fassung zu bringen drohten.

Darum wollte er abwarten, bis die stärkere Mutter die Unruhe des Kindes etwas beschwichtigt haben würde, horchte von Zeit zu Zeit den Wechselreden beider in der Stube, worauf er den Kopf wieder sinnend und kummernd nach der Brust sinken ließ.

Holger hatte von Haus aus bessere Tage gesehen, und seine Gedanken verweilten eben bei den hellen Freuden seiner eigenen Knabenzeit, als ihn plötzlich das Aufschreien Peterles erschreckte und in die trübe Gegenwart zurückrief.

Die Mutter hatte den Knaben, um ihn zu beschäftigen, eben erst ein mit Bitten an das Christkind erfülltes Gebet verrichten lassen und ihn dann vor die Türe geschickt, um für dessen Eselchen ein Bündel Heu auf die Schwelle zu legen – als er, kaum hinausgegangen, vor Schreck und Freude zitternd wieder hereinsprang, schreiend auf die Mutter zulief, vor ihr auf die Knie fiel, die Hände faltete und, mit starren Augen nach der Türe sehend, rief:

»Es kommt jetzt, Mutter! – Sieh', es kommt!«

Und kaum hatte die Mutter Zeit und Fassung gewonnen, um zu fragen, wer denn kommen sollte, als auch schon durch die halboffen gebliebene Türe ein Lichtschimmer fiel, der allmählich heller und heller wurde; bald darauf ließ sich ein Glöcklein gar lieblichen Klanges hören, eine zarte Hand drückte die Stubentüre sachte weiter auf und –

In der Vorflur stand eine feine Frauengestalt da, weiß gekleidet und verschleiert, en von Lichtern flimmerndes, reich mit Geschenken behangenes Weihnachtsbäumchen in den Händen ...

Die Erscheinung blieb einige Sekunden lang regungslos stehen, nur an den bebenden Zweigen sah man, dass ein menschliches Zittern durch ihre Glieder rann; hierauf schritt sie langsam zur Türe herein, näherte sich feierlich der Mutter Holger und reichte ihr, leise nickend, das Weihnachtsbäumchen hin.

Wie eine Träumende nahm diese das schimmernde Geschenk in die Hand, starrte forschend auf den dichten Schleier, der ein himmlisches Gesicht zu bergen schien – wollte reden, wollte danken, doch vergebens; – nur zwei heiße Tränen, die sich große und schwer aus den Wimpern rangen, liefen, genug ausdrückend, über ihre Wangen.

Aber die Erscheinung schien auch keines Dankes zu harren.

Sie legte nur ihren rechten Arm um den Hals der Mutter Holger, senkte eine Weile ihre Stirn auf deren Schulter und zitterte fühlbar; dann erhob sie sich wieder, blickte einige Sekunden lang auf den Knaben nieder, in der Stube herum, auf den aus der Kammer schleichenden Hausvater – nickte noch einmal leise und ging dann, feierlich wie sie gekommen war, wieder er Vorflur zu, verschwand hinter der Türe – und bald waren die Glöckleintöne alles, was drei selige Menschen an die verschwundene, himmlische Erscheinung mahnte; – aber aus diese Töne wurden kurz darauf von dem Schellengeläute des gutsherrlichen Schlittens überlärmt, der draußen wieder daher kam und vorüberstürmte ...

II.

Wieder war es eines Winternachmittags, die Sonne ging eben unter, ein bläulicher Schatten lag über den Tälern, und ein sanfter Schimmer verklärte die Hügel, als oberhalb des Dorfes am Saume des Tannenwaldes ein junger Wanderer erschien, der plötzlich anhielt, die Farbe wechselte, dann ruhiger geworden, sich auf einen Knotenstock lehnte und lächelnd zu Tale sah.

Kein Wunder auch; war es doch heimatlicher Boden, den er betrat, der Spielplatz seiner Kinderjahre, den er vor Augen hatte. Das Dorf in der Tiefe war seiner Eltern Aufenthalt, jene Hütte mit der Zipfelmütze von Schnee die Stätte seiner eigenen Geburt, die Gärten des Dorfes, die Hügel herum, die Wälder und Berge – selbst der Park des Gutsherrn und die Mauer seines Schlosses auf dem Abhang waren das große Freirevier seiner Spiele gewesen.

Jetzt war er wieder hier – nach Jahren wieder, er betrat wie ein Fremdling, wie ein Verschollener die Heimat.

»Leben meine Eltern noch? Geht es ihnen wohl?« fragte er halblaut vor sich hin – »Was wird sich alles verändert haben!« fügte er dann hinzu und blickte wieder prüfend um sich her.

Nach außen fand er die Heimat wenig anders, als er sie vor Jahren verlassen; im Dorfe war hie und da ein Haus mit neuem Anwurf versehen, ein anderes von Wind und Wetter schadhaft zugerichtet; nur das Schloss des Gutsherrn schien von Grund aus neu, war durch zwei Flügel erweitert und von oben bis unten mit frischem Anstrich herausgeputzt.

»Der alte Herr wird tot sein, der junge treibt's flotter als er«, dachte der Wanderer und blickte nachdenklich in den Widerschein der Abendsonne, der die lange Fensterreihe wie flüssiges Gold erscheinen ließ; dann aber raffte er sich ermuntert wieder auf, um seinen Wanderstab fortzusetzen und das Ziel der Reise noch vor Abend zu erreichen.

»Guten Tag«, sagte am Steinbruch ein Landsmann, der vorüberging – der Wanderer dankte, sie kannten sich nicht.

Ein Fuhrmann, der sich verspätet hatte, kam bergan und fragte, ob Vorspann im Walder seiner warte. Der Wanderer hatte nichts der Art gesehen, und beide gingen ruhig ihres Weges; – sie kannten sich nicht und waren doch Schulkameraden gewesen.

Jetzt war die Sonne hinter den Bergen verschwunden, Dämmerung fiel dichter auf Menschen und Dinge nieder, und der Wanderer erreichte das nächste Haus.

»Auch ein später Gast, der heimwärts trachtet«, dachte der Brändl, aus dem Fenster seiner Stube sehend, und ahnte nicht dass der Fremde seinem Ziele auf sechs Häuser nahe sei und bald die Neugier des ganzen Dorfes alarmieren werde.

Heute war es gerade ein Jahr, seit dem oben beschilderten Weihnachtsabend; unser Wanderer merkte wohl, was die Gruppen von Kindern und das geheimnisvolle Läuten hier und dort bedeuten sollten. Einst trieb er sich auch von Haus zu Haus mit heiligen Schauern herum bis die Abendglocke anschlug, bis die ersten Lichter der Weihnachtsbäume angezündet waren, worauf es freilich mit feurigen Sprüngen heimwärts ging, um bescheidene, aber doch willkommene Gaben in Empfang zu nehmen!

Es hätte dieser Erinnerung nicht bedurft, um das Herz des Fremden mächtig zu bewegen; sah er doch jetzt kaum zwanzig Schritte vor sich das Häuschen seiner Eltern, sah das kleine Eckfenster der Stube beleuchtet – wusste nun, dass es bewohnt war – und wer anders als die Seinen konnten und durften es bewohnen?

Eine Melodie erklingt uns plötzlich oft im Ohr, wir wissen nicht, woher sie kommt, was sie bedeuten will; sie pflanzt ihre Wirkung fort durch unser Fühlen und Denken, und das Herz wird Stunden lange wohl und weh bewegt; – so erklang dem Wanderer, ohne dass er sie noch sah, der Mutter Stimme, wie sie den Knaben oft vom Spielplatz heim rief, morgens beim Erwachen ansprach, lobte und warnte, tadelte und beglückte; diese Mutterstimme sollte er wirklich wieder hören, die Mutter selbst sollte er wiedersehen – sein ganzes Wesen erbebte, sein Herz war voll! ...

»Ein hübscher Bursch; wo 'naus er wohl eilen mag?« dachte der alte Kunrich, der, ein Pfeifchen rauchend, eben über die Straße ging, um der Weihnachtsfreude seiner Enkel beizuwohnen; er hielt einen Augenblick an und sah nicht wenig verwundert, dass der Fremde dem ärmlichen Hause Holgers zuschritt, vor demselben einen Augenblick stille hielt, durch ein Fenster in die beleuchtete Stube blickte, hierauf, an der Wand hintastend, die Türe suchte und geräuschlos hinter ihr verschwand.

»Was ist das?« bemerkte der Alte jetzt erstaunt – »so lebt der Holgerfritz am Ende noch? Kommt er selbst, oder sendet er nur Nachricht heim?«

Die Frage war wichtig genug, um den neugierigen Mann zu bestimmen, sich die Antwort gleich selbst zu verschaffen. In dieser Absicht klopfte er seine Pfeife auf eine Schneelage neben dem Weg, spuckte dazu und schlich kopfschüttelnd vor das Holgerhaus, um, durch das Fenster spähend, zu entnehmen, wie sich's mit dem Fremden eigentlich verhalten.

Die Sache aber war sehr klar ... Mitten in der Stube Holgers lag der Wanderstab des Fremden, wie er kurz vorher der Hand desselben entfallen war; der Fremde selbst kniete vor der Mutter Holger und drückte sein Antlitz auf ihr Knie, während sie vorgebeugt mit bebenden Händen seinen Kopf umfasste; – daneben stand Vater Holger wie ein Betender und sah fast ängstlich auf die beiden nieder als besorgte er, dass er nur träumen könne; Peterle aber hatte sich hinter den Vater geflüchtet und starrte verwirrt und erschrocken auf die ihm unbegreifliche Szene.

Umso besser begriff die Szene der alte Kunrich, welcher, nachdem er auch eine Weile starr durch das Fenster gesehen, eilig davon schritt, um die unglaubliche Kunde von der Heimkehr des Holgerfritz zu verbreiten; sie machte auch den überraschenden Eindruck und war binnen einer halben Stunde in allen Häusern bekannt.

»Wo ist der Bursche die Jahre her gewesen? Was hat er getrieben? Namentlich, wie konnte er leben, ohne seinen Eltern nur einmal zu schreiben?« Diese und ähnliche Fragen wurden mit Eifer aufgeworfen und umso nachdrücklicher verhandelt, als man den jungen Holger einst, bevor er in die Stadt getan ward, allerseits als wackeren Knaben kannte.

»Das ist jetzt alles recht schön und gut, aber die Hauptsache nicht«, sagte der Schürer endlich, ein Mann, der sich bei großen Fragen stets an die Deichsel stellte, um sie unerwartet auf eine neue Bahn zu drängen: »Ich will wissen, wie der Bursche heimgekommen, was es für ein Anseh'n mit ihm hat.«

Einigen Aufschluss hierüber konnte der Nachbar Brändl geben, der ihn hatte an seinem Haus vorübergehen seh'n; mehr noch, und zwar sehr zu Gunsten des Heimgekehrten wusste der alte Kunrich zu berichten, der ihn knapp neben sich auf der Straße und später durch das Fenster in voller Beleuchtung betrachtet hatte; er sagte daher mit Nachdruck:

»Der Holgerfritz ist frisch und gesund, sieht gut aus, ist standesmäßig gewandet und hat schönes Reisefach bei sich; was weiter nachkommt, kann man noch nicht wissen!«

Hiermit gaben sich die meisten für heute auch zufrieden; andere aber konnten sich nicht erwehren, noch einige Augenblicke an Holgers Fenster zu schleichen und sich von der Wahrheit dessen noch besonders zu überzeugen.

Sie fanden die Familie Holger bereits von dem ersten Taumel der Begrüßung erholt und einer ruhigeren Freude hingegeben; man hatte sich um den kleine Ecktisch gesetzt, der heimgekehrte Sohn zwischen Vater und Mutter, Peterle gegenüber, mit vor Staunen und Verlegenheit aufgetriebenem Gesicht und die Zipfelmütze in den Händen.

Das Aussehen des Sohnes war auch bei der Mutter die erste wichtige Betrachtung. Mit gefalteten Händen dasitzend, prüfte sie Angesicht, Gestalt und Kleidung des Heimgekehrten und schien gar wohl damit zufrieden; – erst nach und nach wagte sie in leisen Andeutungen auch das lange Verschwinden des Sohnes und sein unbegreifliches Schweigen zur Sprache zu bringen.

»Lasst das, Mutter«, sagte dieser, die Farbe wechselnd und dann durch leise Wehmut lächelnd – »Das erzähle ich ein andermal – morgen – wann ihr wollt ... Ich habe viel erlebt und bin weit herumgekommen; auch über dem Meere bin ich gewesen. Dass ich nicht geschrieben habe, Mutter, war gewiss nicht recht von mir; aber ich hätte euch die Wahrheit schreiben müssen, und die Wahrheit wär' euch mehr zu Herzen gegangen als mein Schweigen ...«

Er fühlte die erschrockenen Hände der Mutter an seinem Arm und setzte, sich besinnend, heiterer hinzu:

»Nun – ist doch alles jetzt vorbei; – ich habe nach vielen Schmerzen und Treulosigkeiten die Freude wiedergefunden – die Freude – und das einzig treue Mutterherz!«

Das einzig treue Mutterherz ... Diese wenigen Worte reichten hin, um die Mutter Holger auf den Gedanken zu bringen, dass es unglückliche Liebe gewesen sein müsse, welche die Leiden ihres Sohnes verschuldet!

Mit fragenden Blicken mehr als mit Worten drängend, wollte sie daher noch etwas Näheres erfahren, aber ihr Sohn wich nachdenklich aus und sagte, in der fast leeren Stube herumsehend:

»Was ist das aber? Haben wir nicht Weihnachtabend heute? Ist denn das Christkind hier gewesen?«

Beide Eltern sahen verlegen vor sich nieder; dann sagt die rüstigere Mutter:

»Es ist noch nicht hier gewesen.«

»Und soll es etwa gar nicht kommen?«

»Ja, es wird kommen – wir vertrauen fest darauf.«

Der Sohn merkte an der Verlegenheit der Mutter, dass hier ein Geheimnis im Spiel sein müsse, zog einige Geschenke für Peterle aus den Taschen und sagte dann:

»Für euch, Vater und Mutter, hat das Christkind manches in meinen Reisesack gesteckt, ihr sollt es auch gleich haben«, – aber in dem Augenblicke, als er sich erheben wollte, erklangen vor der Stubentüre leise Glöckleintöne, und ein froher Schreck erfasste die Eltern und den Knaben Peterle.

»Was soll das?« fragte Fritz, sich wieder setzend.

Die Mutter hatte kaum mehr Zeit, sich an das Ohr des Sohnes zu neigen und ihm das wunderbare Erlebnis des vorigen Weihnachtsabends in aller Kürze mitzuteilen, als die Stubentüre sachte aufgedrückt wurde – und dieselbe verschleierte Gestalt, welche vor einem Jahre wie von Himmelshöhen niedergestiegen und erschienen war, wieder in dem Hausflur stand.

»Sie ist es!« flüsterte die Mutter Holger und saß mit gefalteten Händen da.

»Wunderbar – beim Himmel, wunderbar!« sagte der Sohn ebenfalls und wendete kein Auge von der Erscheinung.

Diese aber, nachdem sie, ganz wie das erste Mal, eine Weile in dem Vorflur stille gehalten, bewegte sich nun langsam und feierlich zur Türe herein, ein flimmerndes Weihnachtsbäumchen in der Rechten schwingend; – es war auch bald kein Zweifel mehr, dass sie, wie im vorigen Jahr, sich der Mutter Holger nähern und ihr das Bäumchen übergeben wolle.

»Geht ihr entgegen, Mutter, sie hat mur euch im Auge«, sagte Fritz, die Absicht merkend.

Aber die Mutter war zu sehr beklommen, als dass sie sich erheben konnte; sie streckte nur die Hand aus, um das Bäumchen in Empfang zu nehmen, und ließ es regungslos geschehen, dass die Erscheinung wieder einen Arm um ihren Nacken schlang und die verschleierte Stirn auf ihre Schulter legte ... Eine Pause tiefsten Schweigens folgte; dann erhob die Erscheinung wieder ihr Haupt, richtete sich ruhig auf, um feierlich von dannen zu gehen, wie sie gekommen war; – aber in dem Augenblick, als sie zur Türe gewendet, noch einen flüchtigen Blick auf die übrigen Anwesenden richtete und auch in Friedrichs Angesicht sah – stieß sie plötzlich einen tiefen Seufzer aus, das Glöcklein entfiel ihrer Hand, und sie drohte bewusstlos hinzusinken.

»Gott und Maria!« rief Holger, die Gefahr zuerst erkennend; aber geistesgegenwärtiger war ihr Sohn, der rasch von seinem Sitz aufsprang und das wunderbare Wesen fest mit seinem Arm umfing.

»Wasser! Frisch Wasser!« rief er seinem Vater zu; – doch schon im nächsten Augenblick hätte er selber Hilfe und Stütze brauchen können; denn er hatte den Schleier der Erscheinung etwas gelüftet und in ein weibliches Antlitz gesehen – schön genug, um ihn aufs Mächtigste zu rühren – aber auch bekannt genug, um tiefe, tiefe Wunden seines Herzens wieder aufzureißen ...

Friedrich war es nicht, der sich zuerst erholte. Die junge Frauengestalt rang sich, noch ehe man ein Mittel der Belebung angewendet hatte, aus den Armen Friedrichs los, und nachdem sie den Schleier über ihr Gesicht gezogen, faltete sie zitternd ihre Hände, hob sie bittend gegen Friedrich auf und sagte leise:

»Du hast mich nicht erkannt – und wirst mich nicht erkennen ... Folg' mir nicht!...«

Langsam schritt sie dann der Türe zu, gefolgt von den unbeweglichen Augen einer seltsam hingebannten Menschengruppe ...

III.

Der folgende Weihnachtsmorgen entsprach der christlichen Freudenstimmung dieser Welt; vom wolkenlosen Himmel lächelte die Sonne auf ein herrliches Wunderbild der Erde, Baum und Strauch schienen von gediegenem Silber, mit blitzenden Diamanten behangen, und als riesige Tafelrunden von Weihnachtsbäumen standen die großen Tannenwälder da.

Gegen neun Uhr morgens schlich der erste Strahl der Sonne, deren voller Schein lange auf der Südseite des gutsherrlichen Schlosses gelegen hatte, auch an ein Erkerfenster der Westseite und fiel ohne Umstände durch eine Spiegelscheibe in ein reizendes Zimmer und geradewegs auf das Blumenbouquet eines kostbaren Bodenteppichs; gleichsam überrascht von der Pracht der Stickerei lockte er in aller Stille mehr und mehr Kameraden herein, bis ein förmlicher Bund von Sonnenstrahlen auf dem Teppich lag, der nach und nach eine forschende Rundreise durch das Zimmer über Tisch und Wände unternahm.

Es war auch wirklich der Mühe wert, die Herrlichkeiten zu sehen, welche in dem niedlichen Raume aufgestellt waren.

Was man sich nur Gutes und Schönes an Möbeln, Zierden und Spielereien in einem Damenstübchen vereinigt denken mag, das war vorhanden, und dazu ein Weihnachtsbaum auf dem runden Tische, wie ihn nur die lieblichste Erfindung und der gediegenste Reichtum zu schmücken im Stande sind.

Die Sonnenstrahlen schienen auch sehr vergnügt, die Zweige dieses Baumes endlich zu erklettern und hier in farbigen Glaskugeln sich eitel zu begucken, dort auf ungeöffneten Paketchen zu beratschlagen, was sie Kostbares enthalten mögen; einige wagten es sogar als geschickte Fabrikanten der Erdenpracht das Gewand des in Seide, Gold und Silber prangenden Engels auf dem Gipfel des Baumes zu prüfen.

Erst gegen zehn Uhr wurde ein leises Rauschen im anstoßenden Zimmer gehört, es nahten Fußtritte der Türe, und die Sonnenstrahlen flüchteten auf die gegenüber befindliche Wand, wo sie, in eine ovale Lichtscheibe zusammengedrängt, neugierig sehen zu wollen schienen, was denn nun geschehen würde.

Die Türe des Kabinetts ging auf, und eine junge Frau trat herein, die trotz der stillen Wehmut in den Mienen augenblicklich als die lieblichste Zierde des geschmückten Raumes gelten musste.

Sie war im vollen Festtagsanzug, das blassblaue Seidenkleid züchtig bis zum Halse geschlossen, das dunkelblonde Haar einfach gescheitelt und an den Schläfen in zwei sanfte Wellen zurückgekämmt; Hals und Arm waren noch ohne Schmuck, doch sollten sie unter den Gaben des Weihnachtstisches glänzende Entschädigung finden.

Als die junge Frau hereingetreten war, blieb sie einen Augenblick an der Türe stehen und betrachtete die Fülle von Geschenken mit aufflammender Freude; ging hinauf mit gefalteten Händen vor den Weihnachtstisch und besah sich Gabe für Gabe mit einem Anflug von Unruhe, ja Furcht, bis sie den Deckel der Schmuckschatulle auftat und, von der Pracht des Geschenkes überwältigt, in einen Ruf der lautersten Freude ausbrach.

»Wer hätte je so was gedacht!« sagte sie zitternd, eine doppelte Perlenschnur um den weißen Hals legend – »Wie hätte ich das je zu träumen gewagt!« fügte sie dann hinzu, indem sie die goldenen Bänder um die Armgelenke tat und sich vor den Spiegel stellte.

Aber ihre Freude wich auch jetzt wieder einer stillen Wehmut, und statt in dem Spiegel nach ihrem geschmückten Bilde zu forschen, senkte sie den Blick und verlor sich in Gedanken!

»Marie!« rief jetzt im Nebenzimmer eine kräftige Männerstimme.

Die junge Frau erschrak und erwiderte:

»Hier bin ich, Max.«

Dann wollte sie schnell den Schmuck wieder abnehmen und in die Schatulle legen, aber die Türe ging bereits auf, und der junge Gutsherr, ein hübscher, schlanker Mann von kavaliermäßigem Ansehen, trat herein.

»Ei, ei«, sagte er lächelnd – »überraschen muss ich meine Marie, um zu erfahren, dass ihr die Geschenke von gestern Abend Freude machen?«

»Max!« erwiderte die junge Frau und blieb, ein abgelöstes Armband in der Hand, errötend vor ihm stehen.

»Nun, sei nur ruhig, meine Holde; diese heimliche Freude an den Dingen ist gewiss so viel wert als der lauteste Dan für dieselben; – ich bin vollkommen zufriedengestellt, seit ich dich so vor mir sehe!«

»Max – hab' ich dir gestern nicht warm genug gedankt, so verzeih'; – ich war zerstreut, beunruhigt – und du weißt ja ...«

»Keine Entschuldigung, mein Kind! ... Ich habe nichts dagegen, Marie, dass du als lieber Schutzengel den Armen beispringst und Trauernde tröstest. Spende Wohltaten, so viel du willst, mit und ohne deinen Namen, es ist mir recht; nur tue mit den einen Gefallen und erscheine an Abenden wie gestern nicht selber dort, wo dich ein Anblick für Stunden verstimmen kann!«

»Der gestrige Anblick einer armen Familie war mir neu – er wird es künftig nicht mehr sein – gelt, lieber Mann, du wirst geschehen lassen, was ich zu tun für gut finden werde!«

Marie umarmte ihren Mann mit bittender Lebhaftigkeit, und dieser sagte, sie auf die Stirne küssend:

»Gut – auch das; du weißt, ich mag dir nichts versagen ... Aber nun komm' und lege den Schmuck wieder an, der Schlitten zur Kirchenfahrt kann jeden Augenblick vor der Türe stehen!«

Er selbst nahm nun Stück für Stück des Schmuckes aus der Schatulle und reichte es dem lieben Weibe, worauf er sie vor den Spiegel führte, hinter ihr stehend mit den flachen Händen sanft über die Haarwellen an den Schläfen strich und mit den Worten: »Komm nun, holdes Närrchen«, ihren Arm nahm und sie aus dem Zimmer führte ...

Die Sonnenstrahlen hatten sich indessen über die Decke wieder aus dem Zimmer und am Erker hingeschlichen, von wo sie sich mit Blitzesschnelle auf das Fensterbrett eines ärmlichen Hauses im Dorfe und fast ohne Aufenthalt weiter durch eine trübe Scheibe auf den Fußboden der Wohnstube schwangen.

Hier fielen sie freilich statt auf einen Teppich mit Blumen nur auf eine raue Diele und mussten sich durch Beherzigung dessen entschädigen, was um diese Stunde am kleinen Ecktisch der Stube zur Sprache kam.

Denn dort saß der heimgekehrte Sohn Friedrich mit seinen Eltern und hatte, nachdem die zudringlichen Besuche des Dorfes zu Ende waren, eben seine merkwürdigen Reisen zu Wasser und zu Lande erzählt, zu welchen ihn, wie er nun selbst eingestand, eine unglückliche Herzensgeschichte getrieben.

Diese selbst zum Besten zu geben, schien er sich nicht entschließen zu können, bis er auf wiederholtes Drängen der Mutter einige nähere Andeutungen gab, welche wir in der nachfolgenden Skizze etwas ausführlicher mitteilen wollen ...

Fritz Holger war schon in seinem zehnten Jahre mit einem Frachtfuhrmanne nach der Hauptstadt geschickt worden, um dort bei Zeiten in etwas Ordentlichem unterwiesen und dann wie von selbst in der Welt weiter geschoben zu werden.

Der Meister, welcher sein Schicksal zuerst in die Hände bekam, war ein Beindrechsler von ziemlich ausgebreitetem Geschäft und seinem Charakter nach nicht besser und nicht schlimmer als hundert andere Meister dieser Art.

Der kleine Fritz nahm vom ersten Tage an »die Füße fleißig in die Hände«, wie man sagt, tat seine Lehrlingsschuldigkeit, wie sich's geziemte, steckte die Launen seines Herrn stets mit der Demut eines armen Knaben ein, der weiß, dass er in der Welt ohne Hilfe dastehe, und als es eines Tages geschah, dass der Meister in kurzzufahrender Hitze wegen eines vom einem kleinen Mistsklaven verübten Vergehens ihm in die Haare griff, ließ er auch da eine wehmütige Locke dahinfahren, ohne zu seufzen und zu murren.

Dem Drechsler gegenüber hatte en Kunsttischler eine Niederlage von Arbeiten, welche bald die Aufmerksamkeit, ja Bewunderung des strebsamen Knaben auf sich zog; jeden freien Augenblick benützte er, um sich betrachtend vor das Schaufenster zu stellen oder aus seine Werkstatt nach demselben hinüber zu schielen.

Freilich muss, um der ganzen Wahrheit gerecht zu sein, auch erwähnt werden, dass zu den anziehenden Dingen des Schaufensters bald ein kleines Mädchen gehörte, welches, täglich zwei Male aus der Schule kommend, zu ihrer Mutter in den Laden trat, wo es dann, an der Glastüre stehend, eine Erfrischung lustig verzehrte, und ohne viel zu denken – vorübereilende Menschen und Wagen betrachtete. Mochte es nun dem Umstande zuzuschreiben sein, dass das Engelchen drüben den Drechslerjungen ganz und gar außerachtließ oder denselben in einem unbewachten Augenblicke der dämonische Antrieb überfiel, sich auf gewaltsame Weise bemerkbar zu machen – kurz, der Fritzl erfrechte sich eines Tages, als die Augen des Kindes auf den Drechslerladen fielen, die ausgespreiteten Hände an die Nase zu setzen und sein Gegenüber, mit den Fingern spielend, auf bekannte Weise auszuspotten. Der nächste Zwecke, die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich zu ziehen, war nun zwar erreicht, aber er war auf eine Weise erreicht, dass der kleine Holger darüber fast verzweifeln wollte; denn das Mädchen hatte den Spott des Knaben kaum bemerkt, als ihr vor Staunen der Bissen im Munde stecken blieb und Purpurröte ihr Gesichtchen überzog, dann wendete sie sich zu ihrer Mutter zurück und verschwand in der Tiefe des Ladens. Es war die erste Frechheit des Knaben in der Hauptstadt gewesen, und sie sollte auch die letzte sein, namentlich beschloss er, hinfür, wo er nur könne, dem Kinde drüben artig zu begegnen.

Da der Kunsttischler manche Arbeit bei dem Drechsler bestellte und deshalb in der Woche einige Male hin- und her geschickt wurde, so begab es sich nicht selten, dass der kleine Fritz Gelegenheit erhielt, in das Haus gegenüber zu kommen, wo die Werkstätte des Kunsttischlers Werner die Hälfte des inneren Hofraumes einnahm.

Hier konnte er nun seine Neugierde über die Entstehungsart der vielbewunderten Gegenstände von Grund aus befriedigen und tat es gewöhnlich mit einem solchen Eifer und mit so vielen Fragen, dass er den Gesellen manchmal lästig wurde; der Meister Werner aber schöpfte aus diesem Interesse des Knaben nach und nach eine starke Meinung von dem Talente desselben und fragte eines Tages halb im Scherze, ob er denn für diese Arbeiten mehr Liebe habe als für die seinen. Fritz wurde rot und sagte mit großer Bestimmtheit, ja, und er wünsche sich längst, in dieser weiten, schönen Werkstätte mitzutun statt in der engen Zelle seines Meisters. Für Herrn Werner, der einst aus ähnlicher Abneigung von einem anderen Gewerbe zu seinem gegenwärtigen gekommen war, reichte diese Antwort vollkommen aus, um ihn zu bestimmen, sich noch denselben Tag mit dem Drechslermeister zu besprechen, und siehe da, am nächsten Morgen zog Fritz Holger mit einem Bündelchen unterm Arm in die Kunsttischlerwerkstätte ein.

Ein neues Leben fing hier für den Knaben an.

Abgesehen von der besseren Behandlung und Pflege wurde er auch sorgfältiger in seinen Arbeiten unterwiesen, und als er sich durch Fleiß und Talent bald ungewöhnlich hervortat, ließ ihn sein Meister, der hier an sein eigenes Jugendgeschick erinnert wurde, im Zeichnen unterrichten und beschloss überhaupt, sich dessen Wohl und Wehe, wenn er so fortfahre, auch ferner besonders zu Herzen zu nehmen.

Jahr um Jahr verging auf diese Weise, Lehrlinge und Gesellen wechselten in der Werkstätte Werners, Fritz aber, der zum hübschen Jüngling herangereift war, hielt standhaft aus und wurde endlich im ganzen Sinne des Wortes der Liebling des Meisters, half ihm Projekte entwerfen, Geschäfte einleiten, wurde dann und wann mit geheimen Sendungen betraut und stellte sich stets als ebenso gewandt als zuverlässig heraus. Sein guter Ruf blieb auch nicht bloß auf die Werkstätte des Herrn und Meisters beschränkt, er stieg auch nach und nach die schöne Treppe zur Wohnung desselben hinauf, wo die Frau Werner, durch Wohlhabenheit etwas vornehm und streng geworden, ihr entscheidendes Kommando führte. Das ewig wiederkehrende Lob des Mannes und der Gedanke, wie förderlich eine so geschickte und treue Seele dem Besten des Hauses sei, vermochten endlich auch sie, den Liebling ihres Mannes mit Beweisen der Achtung zu bedenken, sie beschenkte ihn oft mit ansehnlichen Gaben und ließ es schließlich zu, dass er jeden Sonntag an der Familientafel als Gast figurieren durfte.

Hier saß er nun, wie durch ein Wunder empor geführt, dem Töchterlein des Hauses gegenüber, das er einst n frecher Lehrlingslaune so über alle Maßen zu beleidigen gewagt! Auch Mariechen (so hieß das Kind des Hauses) war seitdem den Ansprüchen der geistigen und leiblichen Entwicklung nichts schuldig geblieben, sie war zur schönen und züchtigen Jungfrau herangewachsen.

Zwar hatte es die Jahre her an tausend kleinen, kindlichen Beziehungen zu einander nicht gefehlt, die mehr als hinreichend waren, den Jugendstreich Holgers vergessen zu machen; jetzt aber konnte es nicht ausbleiben, dass die verborgenen Keime der Neigung rasch zu treiben begannen und auch der Umgebung sichtbar wurden.

Herr Werner bemerkte das Herzensverhältnis seines Kindes nicht ohne Befriedigung; er war ein Mann, der durch derbe Lektionen im Leben zurechtgewiesen, bescheiden zu begehren und die Stellungen der Menschen ruhig zu würdigen wusste. Nach seinem Sinne hatte Marie, seine Tochter, ein hübsches Vermögen zu erwarten, und was sie sonst noch hoffen sollte, war ein wackerer Mann, der ihre Liebe belohnte und das Geschäft des Hauses würdig fortsetzen konnte; – nicht so seine Frau!

Diese gehörte zu jenen Müttern, welche vor allen Dingen mit ihren Kindern höher hinaus wollen und namentlich für ihre Töchter nur an Männer denken, welche durch Stellung und Titel in besonderem Ansehen stehen.

Sie gewahrte daher kaum die zunehmende Neigung Holgers und ihrer Tochter, als sie ihre entscheidenden Maßregeln traf, um der Sache bei Zeiten und für immer ein Ende zu machen.

Fürs Erste wurde unter irgend plausiblen Vorwänden Holgers wichtiger Platz am Sonntagstisch wieder beseitigt, dann wurde dem auffallend schönen Töchterchen im Theater, auf Promenaden und Bällen Gelegenheit gegeben, sich unter der Männerwelt ein wenig näher umzusehen, und als auch da noch keine sonderliche Besserung eintreten wollte, zog die Frau Werner auch in ihr eigenes Haus größere Gesellschaften, ließ tanzen und Spiele aufführen und ermangelte nicht, ihrer Tochter bezüglich einer Manneswahl recht wacker an die Hand zu gehen.

Fritz und Marie durchschauten diese Absichten natürlich ganz genau und wussten sich lange Zeit heimlich darüber zu trösten; als jedoch endlich davon die Rede war, dass Marie auf zwei Jahre in eine Erziehungsanstalt entfernt werden sollte, um ihre Bildung zu vollenden, da fanden sie doch, dass ihrem Verhältnisse um jeden Preis der Untergang bereitet werde.

Sie beratschlagten daher nicht ohne Sorge, wie dem drohenden Unheil noch bei Zeiten vorzubeugen sei – aber ehe sie noch zu entscheidenden Beschlüssen gekommen waren, erhielt Fritz eines Tages den Auftrag, einige gefährdete Gelder einzukassieren, mit andern Worten, abzureisen und so einer nahen Katastrophe aus dem Wege zu gehen; – denn als er nach einigen Tagen wieder zurückkam, war Maries Entfernung eine Tatsache und nicht mehr zu ändern.

Wäre es bloß darauf abgesehen gewesen, die Liebenden durch Entfernung von einander zu heilen, so hätte diese Maßregel eigentlich wenig auf sich gehabt; denn diese Trennung erzeugt gewöhnlich erst recht das Feuer der Sehnsucht, und endlich mussten die Liebenden sich ja wieder im Hause Werners zusammenfinden!

Aber es dauerte gar nicht lange, so wurden die Anzeichen, dass die Entfernung des Fräuleins noch aus anderen Gründen erfolgt war, in bedenklicher Weise sichtbar.

Durch die Werkstätte des Meisters ging jetzt das Gerücht, Marie Werner habe vor ganz kurzer Zeit die Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht, welcher ihr und der Familie ausnehmend gefalle; die Eltern wären einer Verbindung desselben mit ihrer Tochter jetzt schon nicht abgeneigt und letztere habe sich gerade in Folge dieser Bekanntschaft so rasch für den Willen der Mutter entschieden, das Institut zu besuchen und ihre Bildung zu vervollständigen.

Ähnliche Gerüchte wurden in der Nachbarschaft hörbar, und wenn Fritz Holger auch mit gutem Grunde annahm, dass derlei Sagen ganz wohl aus einer Quelle, dem Munde der Frau Werner, stammen konnten, so war doch wieder ein Umstand bei der Sache sehr beunruhigend, dass jetzt beinahe täglich ein feiner Herr bei Werners Wohnung vorfuhr und recht wie ein künftiger Schwiegersohn droben seine Aufwartung machte.

Leider wohnt in der Brust der Liebenden außer der Kraft des Vertrauens auch ein äußerst nervöser Kobold, der Argwohn, und wenn es mit den obigen Gerüchten und Tatsachen darauf abgesehen war, in Holgers Brust gerade diesen aufzureizen, so musste man wohl zugestehen, dass die Absicht ganz und gar gelang.

Denn Holger hatte kaum den Einflüsterungen des Argwohns und der Eifersucht nur halb Gehör gegeben, als er diesen Unholden bald auch ganz die Zügel überließ und das Unheil recht durchgreifend machte. In kurzer Zeit sah er nicht nur Dinge, welche wirklich bedenklich waren, er fand auch Dinge bedenklich, welche an sich so unschuldig waren, als möglich waren; ja offenbare Unmöglichkeiten sah er endlich als glaubwürdige Tatsachen an.

Wie nun aber auch in Wahrheit für Holgers Hoffnungen die Dinge stehen mochten, so viel wurde dem Liebenden endlich klar, dass er schriftlich oder mündlich von Marie ein entscheidendes Wort vernehmen müsse.

Er begann daher die Nachforschungen nach dem verheimlichten Aufenthalte derselben mit vorsichtigem Eifer und erfuhr ihn endlich auch aus sehr zuverlässiger Quelle.

Ein langer, dreimal abgeschriebener Brief an die Geliebte war die nächste Folge dieser wichtigen Entdeckung. Holger teilte ausführlich mit, was er gehört habe, denke und leide und bat bei allem, was Liebenden heilig ist, um baldige Antwort.

Aber Tage und Wochen vergingen, ohne dass Marie eine Silbe von sich hören ließ, und dem Verzweifelten blieb nur ein letzter Schritt noch übrig, um zur vollen Überzeugung seines Glücks oder Unglücks zu gelangen; er musste Mittel und Wege ausfindig machen, wie er seine Marie einmal selber sprechen und sich mit ihr für alle Zukunft verständigen könne. Zu diesem Zwecke erbat er sich von seinem Herrn und Meister eines Tages unter dem Vorwand, seine Eltern zu besuchen, längeren Urlaub, den er auch erhielt – und so reiste er denn, von Hoffnung und Furcht gleichmäßig aufgeregt, dem Aufenthaltsorte der Geliebten zu.

Es war gerade um die Pfingstfeiertage, eine milde Frühlingssonne verklärte die jungsprossende Erde, als eines Nachmittags vor dem Gartentore eines berühmten Instituts für erwachsene Mädchen ein Reisewagen hielt – und Holger mit klopfendem Herzen ausstieg.

Er wollte sich bei der Vorsteherin der Anstalt melden lassen und Erlaubnis zu einer Unterredung mit Fräulein Werner erbitten, da er Nachrichten von der Familie derselben bringe; – aber in dem Augenblicke, als er den Griff des Glockenzuges in die Hand nahm, versagte ihm auch schon die Kraft, das beabsichtigte Zeichen seiner Anwesenheit zu geben.

Denn in einiger Entfernung von dem Gittertore war eben seine heißersehnte Marie Werner erschienen, schöner als er sie je gesehen zu haben glaubte, sichtlich aufgeregt und mit fliegender Röte auf den Wangen; sie schritt etwas rasch auf einem breiten, offenen Sandweg hin und schien nicht ungern zu hören, was ihr junger Begleiter, ein fein gekleideter Stadtherr, lebhaft und manchmal mit artigen Verbeugungen sagte, dann lachten beide von Zeit zu Zeit gar fröhlich zusammen und verschwanden endlich in dem schattigen Teile des Gartens, gefolgt in einiger Entfernung von der würdigen Matronengestalt der Oberin, welche das junge Paar nicht ungern ihrer harmlosen Unterhaltung zu überlassen schien.

Fritz Holger hatte das Gesicht von Maries Begleiter, der stets nach der entgegengesetzten Seite hinsprach, nicht genug sehen können, um zu unterscheiden, ob er eine bekannte Persönlichkeit vor sich habe oder nicht; aber es schien ihm auch nicht nötig, seinen Nebenbuhler näher kennen zu lernen, der ihm jetzt unzweifelhaft der glückliche Bewerber war und derselbe junge Kavalier sein mochte, welcher seit Kurzem so fleißig in Werners Hause ein und aus ging.

Seines Bedenkens war hier nichts weiter zu tun und zu suchen, als sich wieder unangemeldet zu entfernen, dem ganzen Sturm von Schmerzen über ein verlorenes Paradies den freien Lauf zu lassen und so lange als möglich allem Trost und der Gesellschaft der Menschen zu entfliehen. Holgers Entfernung glich denn auch einer förmlichen Flucht von dem Orte seines Schmerzes, und in kurzer Zeit waren Institut und Stadt hinter Höhen und Wälder verschwunden.

Dass in einer solchen Stimmung an einen Besuch seiner Eltern und auch an eine sofortige Rückkehr in das Haus seines Herrn und Meisters nicht zu denken war, versteht sich wohl von selbst; – und so eilte Holger für einige Tage dem Gebirge zu, um in einsamen Tälern und Schluchten, sich selbst überlassen, die Fassung zu suchen, welche er so sehr bedurfte.

Nach drei Tagen erst kehrte er nach der Hauptstadt zurück, um seine Pflichten wieder aufzunehmen – und, wenn er die nötige Sammlung gefunden hätte, seinem Meister die ganze Lage seines Herzens wie ein aufrichtiger Sohn zu offenbaren.

Diesen Vorsatz auszuführen, war er eines Tages eben auch bereit, als ihn eine Nachricht so sehr übermannte, dass er sein Geständnis sowohl als die eben wieder neu aufdämmernde Hoffnung für immer aufgab und einem Zustand verfiel, welcher nur bei schweren Erlebnissen einzutreten pflegt; denn die Kunde lief durch Werners Haus und verbreitete sich in der Nachbarschaft, dass Marie schon in den nächsten Tagen auf Besuch im Elternhause erscheinen würde, um – ihre Verlobung mit einem reichen, jungen Edelmanne zu feiern!

Diese Nachricht musste umso glaubwürdiger scheinen, als zu gleicher Zeit auch wirklich ganz ungewöhnliche Anstalten zu einer glänzenden, ostensiblen Festlichkeit im Haus getroffen wurden.

Das ganze Unheil eines verzweifelten Seelenkampfes brach nun über den armen Holger herein und entwaffnete jeden Versuch zur Rettung, ließ jede Möglichkeit einer vernünftigen Hoffnung als eitel erscheinen.

In dieser Lage traten nun die tollsten Versuchungen seines verwirrten Gemütes auf, kamen grimmige Vertilgungsgedanken gegen sich selbst an die Ordnung – bis der Unglückliche schließlich einen anderen, wenn auch nur vorläufigen Ausweg fand, der seiner wackeren Natur uns seiner bisherigen Aufführung am meisten entsprach.

Eines Morgens, nachdem er den Tag zuvor ausnehmend fleißig gewesen und sich gegen alle, selbst gegen die Frau Werner sanft und gut gezeigt hatte – war er fort – um in der weiten Welt die Wunde seines Herzens nach und nach vernarben zu lassen oder, wenn er die Kraft der Selbstüberwindung nicht ausreichend besitzen sollte, sein Leben einem raschen Ende zuzuführen.

In einem zurückgelassenen Briefe an seinen Meister legte er seinen Zustand offen dar, dankte warm für alles von Jugend auf empfangene Gute und bat um ein freundliches Andenken, was auch künftig für Nachrichten über ihn eintreffen würden.

Diesem Briefe lagen auch ein paar Zeilen an Marie Werner bei, in welchen er bat, sich wegen seiner Leiden keine Sorgen zu machen, das in der Liebe zu einem andern gefundenen Glück fröhlich zu genießen und seiner nur mit schwesterlicher Neigung zu gedenken.

»Leben Sie wohl, Marie«, so schlossen jene Zeilen – »ich gehe, um Ihr Glück auch nicht durch meine Nähe zu trüben!«

Der Unglückselige!

Hätte er mit weniger Hast und Leidenschaft die Dinge untersucht, wie sie wirklich lagen, er würde sie keineswegs für seine Hoffnungen so untröstlich gefunden haben!

Tatsache war es zwar, dass Marie Werner in letzter Zeit für einen reichen und anziehenden jungen Mann ein lebhafteres Interesse gefasst hatte und nicht ungern hörte, dass man sie beglückwünsche und beneide, da sich der junge Mann wirklich Mühe gab, Maries Herz und Hand zu erwerben; aber wenn Holger mit mehr Selbstvertrauen und Kühnheit aufgetreten wäre und auch seinen Herrn und Meister bestimmter für das Glück seines Herzens aufgeregt hätte, so wäre sein Sieg denn doch so gut als entschieden gewesen.

Marie Werner hatte übrigens seinen Brief, der durch die Hände der Institutsvorsteherin gehen musst, nicht erhalten, sie hatte weder von dem verunglückten Versuche Holgers, sie im Institute zu sehen noch von den vielen und geschäftigen Gerüchten eine Ahnung, welche man in ihrem Elternhause zu machen im Begriffe war – zu ihrer Verlobungsfeier benützt werden solle, denn die Vorbereitungen zu der vielbesprochenen Festlichkeit galten einfach der Feier von Maries Geburtstat, der aus leicht begreiflichen Gründen von Seiten der Frau Werner mit großem Lärm und Aufwand begangen werden sollte.

So hatte also Holger selbst die unglückliche Entscheidung durch sein übereiltes Weichen vom Kampfplatze herbeigeführt, und Marie Werner wurde später die Gattin eines Nebenbuhlers, dem er sie mit Erfolg hätte streitig machen können.

Von all' dem freilich hatte Fritz Holger weder bei seiner Flucht noch im gegenwärtigen Augenblicke eine Ahnung, wo er beruhigt aus der Fremde zurückgekehrt, seine sehr knappen Bekenntnisse an die Eltern mit den folgenden Worten schloss:

»So bin ich damals fort und habe mich, wie ihr wisst, in der weiten Welt herumgetrieben; von einem Tag zum andern war ich nicht sicher, ob nicht eine aufgesuchte Gefahr oder ein schwacher Augenblick meinem Leben ein Ende machen würde. Aber der Himmel stand mir bei, er stärkte meine Kraft – und so bin ich endlich wieder bei euch, mein Herz hat seine Ruhe wieder, und das Leben soll von Neuem frisch und froh beginnen!«

Davon, dass er die verlorene Geliebte als wunderbare und zärtliche Wohltäterin seiner Eltern wiedergesehen, schwieg er natürlich und war nur entschlossen, über ihren Aufenthalt und ihre Leben bald und behutsam Nachforschungen anzustellen.

Mutter Holger erhob sich jetzt und sagte, da die Kirchenglocken zum Gottesdienste riefen:

»Nun so komm' aber auch und lass uns Gott und dem Erlöser kniefällig danken für die große Gnade, die sie uns erwiesen haben!«

Fritz und sein Vater erhoben sich ebenfalls, um sich zum Kirchengange bereit zu machen; sie standen auch bald in vollem Sonntagsanzug in der Stube, die Mutter Holger sprengte Weihwasser über sie – als draußen die Töne von Schellendecken hörbar wurden und ein vornehmer Schlitten vorüberflog.

»Der junge Gutsherr mit seiner schönen Frau! Sieh' doch, wie herrlich!« sagte Holger zu seinem Sohne, durch das Fenster zeigend,

»Ja – herrlich, herrlich ...«, sagte Fritz mit bebender Stimme vor sich hin; – denn hier sah er ja endlich den siegreichen Nebenbuhler genauer – seinen eigenen Gutsherrn! – und neben ihm Marie – schön und blühend noch wie einst und – freilich glänzender gestellt, als wenn sie seine eigene Frau geworden wäre!

War es dieser Gedanke oder ein leiser Vorwurf des Gewissens, der das Herz der jungen Gutsfrau jetzt bewegte?

Sie wechselte die Farbe und senkte sichtbarlich bewegt die Augen, während sie an Holgers Fenster vorüberfuhr.

»So nahe also lebt sie mir? ... Ist sie nicht ganz so schuldig, wie ich wähne? ... Geduld, ich soll's ja bald erfahren«, dachte Fritz, den Eltern nach der Kirche folgend ...

IV.

»Was ist dir, Marie?« fragte während des Gottesdienstes der junge Gutsherr seine Frau, die neben ihm in einem Kirchenstuhle saß und warme Tränen auf die Blätter des Gebetbuches weinte.

»Nichts, nichts, lieber Max; – es ist der Sterbetag meiner Mutter, das ist mit eben eingefallen«, erwiderte die bewegte Frau und senkte ihr tränenreiches Antlitz tiefer auf das Buch.

Und es traf sich, dass zur selben Zeit auch Mutter Holger, die weiter hinten in der Kirche saß, ihren Sohn anblickte und sagte, da sie ihn bleich und angegriffen sah:

»Was ist dir, Fritz?«

Der Gefragte erwiderte:

»Die Kirche ist schwül und dumpfig, es sind zu viele Leute da« – stand auf und ging hinaus und wanderte, Luft und Ruhe suchend, im Freien hin und wieder, bis der Gottesdienst zu Ende war und alles aus der Kirche strömte.

Es war eine vorübergehende Wallung, die den jungen Man ergriffen hatte; er kam gestärkt und wohlgemut nach Hause und blieb in dieser Stimmung denselben und den nächsten Tag.

Dies beruhigte auch die Eltern wieder, und es fiel ihnen nicht auf, dass er im Laufe der Woche öfter auf den jungen Gutsherrn und dessen Frau zu reden kam.

Die Nachrichten, welche Holger über das junge Paar im Schlosse erhielt, waren sehr freundlich. Die Ehe war glücklich, mit den Finanzen stand es trotz der kleinen Verschwendungslust des Gutsherrn befriedigend, die schöne Frau war die Wohltäterin der Armen und an bescheidenem Sinn ein Muster für jedermann.

Dies überraschte den jungen Holger weniger als die Nachricht, dass Marie den Gutsherrn erst vor dritthalb Jahren geheiratet habe.

Wie, dachte er; so hätte es damals mit der Verlobungsfeier keine solche Eile gehabt? Wie, wenn ich damals doch durch bloße Gerüchte und Umtriebe getäuscht worden wäre?

Er durfte so nicht weiter denken.

Aber dann wieder der Umstand, wie er Marie als geheimnisvolle Wohltäterin seiner Eltern gefunden; – war das Zufall? Galten diese Aufmerksamkeiten nur einer armen Familie überhaupt, oder galten sie eben seiner Familie?

Solche Taten konnte nur die Reue eines zarten Gewissens – oder ein Rest treuer Liebe für den Verlorenen ausführen!

Das waren nun freilich Gedanken, die aber auch den Aufenthalt in der Heimat nicht mit erwünschter Gemütsruhe genießen ließen.

Als daher eines Abends, bald nach Neujahr, die Eltern Holgers mit ihrem Sohn beisammen saßen und allerlei verhandelt worden war, sagte Fritz ganz unerwartet:

»Meine Zeit ist gekommen, liebe Eltern, ich muss euch wieder verlassen!«

»So auf einmal, Fritz? Du hast ja vierzehn Tage bleiben wollen?« sagte die Mutter tief bewegt.

»Ich muss wieder Arbeit haben, ohne Arbeit wird mein Sinn nicht hell! Und weil wir Hoffnung haben, uns bald wiederzusehen, so lasst uns froh und zufrieden für diesmal scheiden; ich werde morgen reisen.«

»Und wohin zuerst?« fragte der Vater.

Fritz wollte eben Antwort geben, als die Türe aufging und ein Brief gebracht wurde.

Der Brief kam aus der Hauptstadt und war an Fritz Holger adressiert.

»Wie kann dort jemand wissen, dass ich lebe und hier bin?« sagte Fritz verwundert, indem er den Brief erbrach.

Aber gleich in den ersten Zeilen des Briefes, der von seinem ehemaligen Herrn und Meister kam, war die Auflösung des Rätsels enthalten.

Marie Werner hatte ihrem Vater gleich nach ihrem ersten Zusammentreffen mit Fritz von dessen Heimkehr geschrieben und ihm an das Herz gelegt, den jungen Mann nicht ferner fremden Menschen zu überlassen, sondern wieder in sein Haus zu ziehen und für seinen äußeren und inneren Frieden besorgt zu sein. Werner, der durch die übereilte Flucht seines Lieblings einst schwer getroffen war, ergriff die Gelegenheit mit Freuden und lud nun denselben mit den herzlichsten Ausdrücken zu sich ein.

»Meine Frau lebt nicht mehr, mein verheiratetes Kind ist weit von mir – kommen Sie, Fritz, und teilen Sie mein Geschäft, das ich Ihnen später ganz überlasse«; so schloss der Brief, und in einer Nachschrift sagte er noch kurz, dass er es für dringende Pflicht halte, ihn über manches, was in frühere Beziehung seiner Tochter zu ihm betreffe, aufzuklären.

Fritz legte den Brief stille neben sich und stützte den Kopf schweigend in seine beiden Hände.

»Von wem ist der Brief?« fragte Mutter Holger sehr gespannt.

»Von meinem früheren Freund und Meister Werner.«

»Du lieber Himmel! – und was schreibt er die?«

»Ich möchte wiederkommen und bei ihm bleiben – und sein Geschäft einmal ganz übernehmen.«

»Und was wirst du tun?«

»Ich will's versuchen ...«, sagte Fritz nach einer Pause und las dann seinen Eltern den Brief mit einigen Unterbrechungen ganz vor.

Für die Eltern, welche die Sache vorwiegend von der nützlichen Seite nahmen, war die Nachricht sehr erfreulich, und sie gingen sorgenloser als je zur Ruhe; – Fritz aber ging noch lange in der Stube hin und wieder und konnte das rechte Gleichgewicht seiner Seele nicht finden.

Es war schon gegen Mitternacht, als er noch einmal an das kleine Fenster trat und, die heiße Stirn an den Rahmen legend, stumm hinaussah in die stille Winternacht und hinauf nach dem Schlosse des Gutsherrn.

Hier waren alle Lichter bereits ausgetan, nur das westliche Erkerfenster war noch schwach beleuchtet.

»Wer ist dort noch wach?« dachte Holger, jenes Fenster lange betrachtend – »Sitzt Marie dort einsam und sinnt über mein Schicksal nach? Was soll ich von ihrem Briefe an den Vater halten; ist er auch das Zeichen eines schuldigen Herzens? Was ist vorgefallen, als ich damals die Hauptstadt verlassen?«

Mit diesen und ähnlichen Gedanken legte sich Fritz endlich zur Ruhe und erhob sich wieder mit demselben.

»Ich soll ja alles hören«, sagte er zuletzt ermannt und beschloss den versprochenen Aufklärungen Mut und Fassung entgegenzubringen.

Dies tat auch Not; denn schon am Tage seiner Ankunft in der Hauptstadt erfuhr er ausführlich aus Werners glaubwürdigem Munde, dass Marie in großem Kummer Jahre lang auf seine Rückkehr gewartet und endlich erst, nachdem jede Hoffnung auf sein Wiedererscheinen aufgegeben war, ihren gegenwärtigen Mann geheiratet habe ...

Aber diese Aufklärung kam jetzt zu spät; Fritz musste die Dinge hinnehmen lernen, wie er sie fand – und er tat es endlich auch; ja, er hielt es für seine dringende Pflicht, in einigen Zeilen die verlorene Geliebte ausdrücklich zu beruhigen und zu gestehen, dass er sich am meisten anzuklagen habe ...

Weihnachten kam wieder, und die Eltern Holger erhielten Geld und Geschenke von ihrem Sohne; – aber auch die wunderbare Erscheinung ließ sich's nicht nehmen, wieder in die Hütte derselben zu kommen und ihr gabenreiches Weihnachtsbäumchen mitzubringen.

Fritz hatte seinen Eltern gesagt, dass er, als er damals den Schleier der Erscheinung etwas gelüftet, in ein wahrhaft »himmlisches« Antlitz gesehen habe – die guten Alten nahmen dies auch wörtlich und glaubten daran; – nur schrieben sie jetzt ihrem Sohne, dass die Erscheinung diesmal nicht so traurig, sondern viel froher und freudiger gekommen und wieder verschwunden sei!

»Es geschehen halt doch noch Wunder«, schloss derselbe Brief mit gläubigem Gemüte – »nur die schlimme Welt will nicht mehr an solche Himmelswunder glauben! ...«


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