Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.
Langer Friede; neuer Sturm

Leis unmerklich gingen jetzt Tage, Wochen, Monate vorüber, ohne dass der gewöhnliche Lauf der Dinge in der Gegend von Dobbl durch ein besonderes Ereignis unterbrochen wurde. hinter den stetigen Formen des Dorflebens und den ländlichen Arbeiten verstand es die Zeit vortrefflich, ihre Schritte zu verbergen; wie auf samtenen Sohlen schlich eine Jahreszeit an die Stelle der anderen, man hatte wiederholt gesät und geerntet, ohne darüber aufzublicken und eh' man sich's versah, waren auch die Monte zu Jahren geworden.

Der Weringer befand sich jetzt in einem Zustande, der bei allen Menschen einmal eintritt, welche aus einem sehr bewegten Leben in eine stillere Gleichförmigkeit neuer Verhältnisse treten; erst sich wehrend gegen die Fesseln einer ungewohnten Gebundenheit, kommen sie in einen Zustand nachdenklichen Stillehaltens, wo sie, gleichsam den Finger an dem Mund, überlegen, was denn eigentlich besser sei, der freie Sturm und Drang des Vergangenen oder das gebundene Behagen der Gegenwart. Aber siehe da, dieses flüchtige Stillehalten hat die Zeit erwartet, um ihren Mann entscheidend anzufassen und unentfliehbar an die neue Lebensart zu ketten.

Geraume Zeit schon bosselte das nahende Alter an Weringers Gestalt und Angesicht; die Stirnfalten wurden reichlicher und tiefer, die Zeit zog ihm ein braunes Haar um das andere durch die hageren Finger und ließ es grau zurück, in einer stillen Nacht während des Schlafes knickte sie ihm einige Glieder des Rückgrades und er ging von Stund' an mit etwas vorgebeugtem Nacken und Haupte.

Der Weringer merkte das gar nicht. Ein gewisses Behagen, eine mählige Vorliebe für Ruhe und Bequemlichkeit war alles, was er an seinem neuen Zustande gewahrte, und dennoch war auch dieser Zustand eine Wirkung des nahenden Alters; denn der sanfte Abendtau des Lebens fing an sich über ihn zu senken, sein Blut zu kühlen und zu verdünnen, der Puls ging langsamer. War der Weringer sonst ein Muster von Mäßigkeit gewesen, so liebte er jetzt namentlich ein Glas mehr als sonst, wurde fast täglich bei einer Gesellschaft Bekannter im Wirtshause gesehen und kam nicht selten um Mitternacht nach Hause. Diese geruhsamere Art zu sein und zu genießen, verbunden mit mäßiger gesunder Arbeit legte seinem großen Körper sichtbar zu und seine, freilich jetzt etwas hängenden Backen waren nie zuvor so voll gesehen worden.

Hatte es einst den Weringer von Zeit zu Zeit mit Gewalt in die Ferne getrieben, so war er jetzo fast verstimmt, wenn er einen weiteren Gang zu machen hatte. Selbst seine Bärbl zu sehen, ging er höchstens das Jahr einmal die Hälfte Wegs bis in das Wirtshaus, wo er einst die Heirat abgeschlossen hatte. Bei solchen Zusammenkünften durfte aber nie von der Eisenbahn gesprochen werden, wie denn überhaupt diese schwache Seite von jedermann sorgfältig geschont wurde. Man darf wohl sagen, dass der Weringer auf diese Art von allem, was an und auf der Eisenbahn jenseits der Berge vorging, so wenig wusste, als wenn sie mitten durch den Mond gegangen wäre.

Also hätte er ja endlich erreicht gehabt, weshalb er sich aus der alten in die neue Heimat geflüchtet, wenn nicht dennoch höchst bedeutsame Vorfälle eines Tages noch einmal von Grund aus alles aufgewühlt und durcheinander gerüttelt hätten …

Die Zeit der Sonnenwende war gekommen; im Gebirge, wo man noch das Holz nicht zu schonen hatte, liebte man das Fest der Johannisfeuer noch besonders und befolgte dabei die Bräuche der Väter. Auch diesmal sollte es der Festlichkeit an Teilnahme nicht fehlen. Schon einige Tage zogen Buben mit großen Stäben im Dorf herum und sammelten unter allerlei Gebärdenspiel Holz und Eier, indem sie vor jedem Hause sangen:

Da kommen wir herangegangen
Mit Spießen und mit Stangen
und wollen die Eier langen.
Feuerrote Blümelein,
Aus der Erde springt der Wein –
Gebt uns doch der Eier ein
Zum Johannisfeuer.
Der Haber ist gar teuer;
Haber zu! Haber zu! Frie fre freit
Gebt uns doch ein Scheit!

Am Morgen des Festes selbst wurden in der Kirche Lichter angezündet, mit denen man um die Felder lief, worauf die kleinen Mädchen sich in Weringers Hause versammelten, den Severle auf einen Tisch setzten, ihn mit einem Blumenkranz schmückten, um ihn tanzten und hin als »Johannisengel« anriefen. Inzwischen hatten auch die Erwachsenen Holz in Scheiten und Prügeln zu sammeln angefangen, wozu der Mainhard einen Wagen, der Weringer ein Pferd und ein dritter Nachbar einen Knecht geliefert, die alle mit Strohbändern festlich herausgeputzt waren.

Der Feuerplatz für den Abend war ein Stück Heideland unweit des Dorfes. Mit hereinbrechender Dämmerung waren dort drei Holzstöße errichtet, aus denen überaus hohe und mit Stroh umwickelte Stangen sich erhoben, diese wurden auf ein Zeichen angezündet und gaben die Feuersignale, dass das Fest begonnen habe. sofort eilte Groß und Klein aus dem Dorfe nach dem Festschauplatze, die niederbrennenden Stangen setzten die Holzstöße in Brand, welche nun die Sammelpunkte für die verschiedenen Gruppen der Dorfbewohner wurden. Liebespaare, Brautleute und junge lebensfrohe Eheleute tanzten um die Flamme des einen Holzstoßes und hießen die »Springer«; den einen kleineren Holzstoß versammelten sich die Kinder mit alten Mütterchen, Basen und hochbetagten Mannen, welche salzbetreute Brotschnitte bähten, daher die »Bäher« hießen; der dritte Flammenherd war für das rüstige, aber gesetzte Alter, welches sich's wohl sein ließ und die Versammlung der »Bestichler« genant wurde, weil hier die heitere Stimmung manchen derben Scherz über Springer und Bäher vom Stapel ließ.

Der ansehnliche Mittelpunkt dieser dritten Versammlung war der Weringer. Er hatte Tische und Stühle aus seinem Hause herbeibringen lassen und dazu ein Fässchen selbst verzapften Bieres, davon er nun mit seinen Nachbarn froh und wohlbehäbig zechte. Sein Behagen ging auch auf alle über, welche um ihn waren, selbst der Mainhard ließ sich nicht wie sonst von seinem Eifer gegen den Aberglauben, der an diesem Abend in Blüte stand, so weit hinreißen, dass er seine Freude störte, obwohl ihm nicht entging, wenn hier ein Mütterchen aus der Hand eines Burschen wahrsagte, dort eine Heiratskandidatin mit einem brennenden Scheit bei Seite schlich, um es rückwärts über den Kopf zu werfen und aus der Lage desselben das Herz des still Verehrten zu entziffern.

Die Freud des Festes hatte eben den höchsten Grad erreicht, als um den brennenden Holzstoß der »Springer« ein greller Lärm entstand, und alles in dumpfer Verwirrung durcheinander lief. Schon glaubte man, es habe die Kleidung eines der Springenden Feuer gefangen und könne nicht rechtzeitig gelöscht werden, als der Lärm plötzlich wieder verstummte und alles mit lautlosem Schweigen auf einen geheimnisvollen Gegenstand starrte. Hierüber verbreitete sich Verwunderung und Neugierde bis zum Tische Weringers, und man stand auf, um selber nachzusehen.

Man war noch nicht bis an dem eigentlichen Kern des Ereignisses vorgedrungen, als durch die unheimliche Stille der Menge einzelne gellende Töne, dann ein kurzes Gebrüll des Schmerzes und zuletzt ein leises bebendes Weinen vernommen wurde.

»Da ist einem Weibsbild übel worden«, sagte der Mainhard, sich lebhaft durch die Leute drängend.

Es entstand wieder eine lautlose Pause, und bald darauf hörte man ganz deutlich eine traumhaft gedämpfte Stimme sprechen und über bekannte Personen des Dorfes allerlei wunderliche und überraschende Dinge aussagen.

»Eine Spatenher! Glaubt ihr nichts! Fort mit dem Lügenwunder!« tobte auf einmal die Stimmer Mainhards, und trotz der furchtbarsten Konvulsionen musste sich ein Frauenzimmer, das wie eine Verzückte rücklings auf dem Boden gelegen hatte, von seinen kräftigen Händen fassen und aufrichten lassen.

Ein unbeschreiblicher Tumult entstand. Auch der Weringer war jetzt bis in die Nähe der Hellsehenden oder »Besessenen«, wie er sie nennen hörte, glücklich durchgedrungen und gewahrte mit Erstaunen, dass er jenes abenteuerliche Frauenzimmer vor Augen hatte, welches er während seiner letzten Achtspännerfahrt nach der Hauptstadt wegen ähnlichem Trug und Treiben hatte verhaften sehen.

Lebhafter, als er lange her gesehen worden, wollte er eben mitten unter die Leute treten, um sein Ansehen zu gebrauchen und mitzuteilen, was er von dem Frauenzimmer wusste, als er eine schwere, bebende Hand auf seiner Schulter fühlte und seinen Namen rufen hörte.

Er wendete sich um und sah einen Knecht seiner Tochter Bärbl hinter sich, der in Schweiß gebadet ausrief:

»Weringer, geschwind! Ich hab' Euch was zu sagen.«

Er erzählte nun, dass dem Bärbl durch den Telegraph gemeldet worden, ihr Bruder Georg in Delsburg liege auf den Tod danieder, sie solle es gleich den Eltern melden, damit sie ohne Verweilen und auf die schnellste Weise zu ihm kommen, wenn sie ihn noch lebend sehen wollen.

Diese Nachricht war bedeutend genug, um den Weringer sofort von der Szene mit der Hellseherin abzuwenden; er übergab die Kinder der Aufsicht einer Magd und kehrte dann mit Urban in sein Haus zurück.

»Spann mir gleich die zwei Braunen vors Wägelchen«, sagte er zu diesem, mit großen Schritten dahin schreitend, »wir fahren, Urban, rasch, wir fahren!«

An der Reise war also nicht zu zweifeln, aber der Weringer musste sie leider allein antreten; denn sein Weib lag schon den ganzen Tag etwas unwohl zu Bette und würde sich selbst den Tod geholt haben, wenn sie, von Schreck und Anstrengung gerüttelt, die nächtliche Reise angetreten hätte.

Dies überlegte der Weringer auf dem Heimwege wohl und beschloss, die Reise sofort allein und so geräuschlos anzutreten, dass sein Weib erst nächsten Morgen davon erfahren sollte.

»Dann lässt man Euch aus Delsburg sagen, Ihr möchtet ja die Eisenbahn benützen«, sagte Bärbls Knecht jetzt, hinter dem Weringer herkommend – »sonst wäre ja doch alles umsonst und alles zu spät.«

Wie mit der Brust gegen einen Balken rennend, blieb der Weringer bei diesen Worten plötzlich stehen … »Die Eisenbahn benützen – er! … und alles sonst vergebens und zu spät?« … Bedeutungsvollere Schreckensworte schlugen selten jemand an das Ohr …

Mit gesenktem Haupte und verkürzten Schritten ging der Weringer jetzt dem Hause zu und wusste trotz der ziemlich hellen Nacht den Eingang kaum zu finden.

Die Weringerin schlief bereits; dies erleichterte jedenfalls den Abschied … »Aber die Eisenbahn benützen – oder den Sohn nicht lebend mehr zu sehen!« … Dieser Gedanke wühlte sich wie eine Bombe in Weringers Brust, um seinen schwer errungenen Lebensfrieden abermals in Trümmer zu zersprengen.

Statt in Eile das für die Reise Notwendige zusammenzuraffen und keinen Augenblick zu verlieren, setzte sich der Weringer an den Ecktisch in der Stube und legte den heißen Kopf in die Hände. Alles drehte sich im Wirbel um ihn her, die Grundfesten seiner Seele erbebten; – und doch, doch – konnte denn ein Zweifel sein, was er schließlich wählen musste?

Urban trat wiederholt herein und meldete, dass Pferde und Wagen vor dem Hause hielten; er bekam keine Antwort und ging stets wieder, um gleich darauf von Neuem dasselbe anzumelden. Endlich erhob sich der Weringer, machte Licht, nahm Geld und einen Mantel und trat noch an das Bett des Weibes.

Die gute Mutter schlief und hatte keine Ahnung von den Leiden ihres Sohnes und den Kämpfen ihres Mannes. Dieser starrte sie eine Weile blass und erschüttert an, dass fuhr er sich über die Stirne, machte eine heftige Bewegung nach der Türe und ging hinaus … »Alter, bist Du's?« sagte die Stimme seines Weibes leise und halb im Schlaf; – er antwortete nicht mehr und trat vor das Haus, wo er, auf das Wägelchen steigend, dem Urban nur zurief:

»Großfelden zu!«

Das war die nächste Eisenbahnstation; … der Weringer entschloss sich also, der Feindin seines Lebensglückes diese ungeheuren Sieg zu gönnen? … Noch zerriss vielleicht das Für und Wider seine Brust, er schwieg, schlug den Mantel über Schultern und Kinn, warf sich im Sitz zurück, das Wägelchen rasselte davon …

Lange noch glimmten und loderten weit und breit die Johannisfeuer durchs Gebirge und leuchteten der wunderbarsten Fahrt; hier und dort schien es, als streckte ein verglimmender Aschenhaufen noch einmal sein jähes Flammenhaupt empor, um zu sehen, ob es wahr sei, was man sage: der Weringer wolle eine Fahrt mit den Dampfrossen wagen!


 << zurück weiter >>