Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Von draußen herein klang das Geräusch der häuslichen Abendverrichtungen der Gärtnersleute. Harmonisches Getön war wenig dabei; aber in Begleitung des Windes in den Obstbäumen und Stachelbeerbüschen kam doch die richtige Begleitung zu der fernern Unterhaltung am Teetisch von Fräulein Thekla Overhaus heraus. In was für einen Haushalt die junge Frau des westfälischen reitenden Kriegsknechts niedergesetzt worden war, wissen wir, und es war nunmehr des weitern davon die Rede. Die Welt ist immer alles Lärmes voll gewesen, und wenn die Frau Rittmeisterin vorhin meinte, daß sie ihr von Tag zu Tag schriller vorkomme, so – kam ihr das eben nur so vor, und ihrem jungen Verwandten auf ihr Wort hin gleichfalls in der stillen Stunde beim Mittagsessen.

»Guck dir jetzt den Marten genau an, junger Grünhage«, sagte die Blinde; »ich wollte, ich könnte es auch noch. Ein hübsch, fein Ding war sie, deine Tante nämlich, als sie vor fünfzig Jahren hier anlangte, und verdiente wohl einen treuen, ehrbaren Liebhaber – da kichern sie beide! Und der liebe Gott hat es doch alles in allem recht gut gemacht, daß sie heute abend noch hier sitzen und lachen können.«

»Und eifersüchtig war die schöne Thekla Overhaus aus der Schwarzburger Straße gar nicht!« lachte die Frau Rittmeisterin. »Nur barmherzig und voll Güte sagte sie: ›Da hast du ja noch eine Gelegenheit, dich angenehm und nützlich zu machen, Marten; – geh nur hin und sag: Fräulein Thekla schicke dich, halb aus Neugier und halb aus Mitleid, um das angefangene Werk der Barmherzigkeit fortzusetzen‹.«

»So ist es, Herr Student«, lächelte die Blinde. »Aber Fräulein Thekla ging damals doch wohl noch zu tief in Schwarz, um nicht ihre Neugier bezähmen zu können. Laß nur mein gutes Herze gelten, Fiekchen! Es fielen mir nur gradeso wie ganz Wanza die Arme am Leibe herunter, als morgens am neunundzwanzigsten September des Jahres neunzehn in meines Vaters Hause Marten Marten seinen Rapport machte und verkündete: ›Der Westfälinger hat sich über Nacht ein jung Weib mitgebracht, und ich habe ihm geholfen, es ihm ohnmächtig in sein Haus zu schaffen!‹ – Alle Teufel! sagte Wanza und lachte, und ich höre heute noch meinen seligen Vater und meine Brüder und sonstigen Hausgenossen am Kaffeetisch ihren Spaß haben; – ich aber habe: ›O du barmherziger Himmel!‹ gesagt und Marten sobald als möglich von der Arbeit abgewinkt und mir in meiner Stube von der Geschichte genauer erzählen lassen. Und dann habe ich Erdmann gefragt, was wir wohl dazu tun könnten.«

Der Student sah bei dem letzten Worte verwundert und fragend auf; doch die Tante winkte ihm und legte ihm die Hand auf das Knie, was nur heißen konnte: laß sie nur, sie erzählt die Sache ganz richtig.

»Nämlich, lieber Studente«, fuhr die Blinde fort, »wir Overhaus waren damals noch nicht auf mich alte heruntergekommene Jungfer und dies Stübchen vor dem Teichtore beschränkt, sondern wir waren ein großes Haus und eine weitläufige Familie und hielten es als von der göttlichen Vorsehung uns bestimmt, daß wir unsere Nase sofort in allem haben mußten, was hier am Orte und in der Umgegend passierte. War das nicht so, Marten?«

»Das war so, und ich wollte, es wäre noch so, Fräulein«, sagte der Nachtwächter mit einem tiefen Seufzer. »Es war eine gute Zeit damals.«

»Und von der bessern, die gewesen war, sprachen wir damals auch schon; und die, welche wir damals meinten, war erst eben vergangen in Knechtschaft und fremdländischer Willkür; aber – unser Erdmann lebte darin, Marten Marten! Der Sieg, die Freiheit und das Glück machten damals meiner besten Zeit ein Ende, denn sie nahmen meinen Freund hinweg! – Aber wo waren wir doch? Ja so; bei der Nase, die wir in alles steckten, was der Stadt Wanza passierte! Nun denn, weil wir denn unsern Senf zu allem zugeben mußten, so mischten wir uns denn auch sofort ein in den Haushalt der Frau Rittmeisterin Sophie Grünhage. Das heißt, ich mischte mich darein, nachdem ich meinen lieben Toten gefragt hatte, – meine Verwandtschaft wollte natürlich nur wie das übrige Wanza ihren Spaß und Hohn an dem Dinge haben; mir aber half Marten sogleich allzu scharf in das Mitleiden hinein –«

»Und für dieses Mitleid suche ich nun schon fünfzig Jahre nach der richtigen Gegenleistung und finde sie nicht. Du bist nur ganz einfach mein altes gutes Mädchen!« sagte die Tante Sophie leise, ganz leise.

»Nämlich, Herr Studente«, fuhr die Blinde fort, »wenn so ein Nachtwächter für seinen Dienst recht ordentlich passen soll, dann muß er jederzeit Augen und Ohren am rechten Flecke haben, und so kam er denn, wie es sich gehörte, und meinte: ›Greulich, Fräulein! Sie glauben es nicht, was das junge Geschöpf auszuhalten hat in seinem jungen Ehe- und Wehestand vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Sie sagt, sie habe Eltern, aber zu glauben ist das nicht; denn Eltern können ein jung Kind nicht so aufs Geratewohl mit einem Werwolf zusammengekoppelt in die weite Welt schicken. Sie trägt es kein halbes Jahr; und noch dazu meint er, der Herr Rittmeister meine ich, es gar nicht böse, sondern recht gut nach seiner Art; ich zum Exempel komme schon recht gut mit ihm aus; aber der Satan muß ihm die Lust zum Freien eingeblasen haben, um die unschuldige Kreatur zu ruinieren. Mich hat er gedungen zur Hausarbeit, und wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein Thekla, so will ich den Dienst weiter tragen; denn ein ander Frauenzimmer außer seiner Frau will der Unmensch nicht im Hause dulden.‹ – Das wollen wir doch einmal sehen, habe ich damals im stillen gesagt; aber Urlaub von meinem Dienst habe ich dem Marten Marten fürs erste doch gegeben und es für eine Weile noch nur von ferne angesehen. Ein paar Monate später kommt er denn – dieser hier gegenwärtige Marten Marten, Herr Student Grünhage, und lacht und brummt: ›Sie haben befohlen, Fräulein, und Ihnen bin ich mit Leib und Seele verpflichtet, und der Frau Rittmeistern habe ich nunmehr nach Gottes Willen zugeschworen; aber was der Teufel alles verlangt, wenn man ihm den kleinen Finger gegeben hat, das läßt sich an allen zehn Fingern nicht herzählen. Jetzo spiele ich alles dort im Hause und will ja auch alles, ohne zu mucken, weiterspielen; aber – vor einem bewahre mich der gütige Herre Gott, nämlich, daß ich auch noch die Amme und Kindsfrau machen muß. Lieber noch einmal in Sankt Amand unter dem niederbrechenden Brandschutt als jetzo hier in Wanza mit einer königlich-westfälischen Krabbe im Kattunmantel auf der Straße spazieren! Der Frau Rittmeistern wollte ich ja auch das wohl zu Gefallen tun, was ich sonst gewißlich nur unserm Herrn Erdmann und Ihnen, Fräulein, zuliebe getan hätte, wenn es Gott so gewollt hätte, aber – Herrgott, sie wachten expreß nachts auf hier in Wanza, um mein Horn zu hören und über den freiwilligen Jäger zu lachen, der sich zu 'nem Kindermädchen für den König Hieronymus von Westfalen hatte machen lassen.‹«

Sie lächelten auch um den Teetisch in dem Gartenhause vor dem Teichtore, obgleich der Kandidat der Theologie Erdmann Dorsten, dem der Nachtwächter von Wanza auch diesen Liebesdienst erwiesen haben würde, vor dem Ranstädter Tor erschossen worden war. Der Meister Marten brachte es seinen Jahren und seiner Lederhaut zum Trotz schier noch zu einem Erröten, und die Frau Rittmeisterin mußte ihm wirklich mit der Vermahnung an die Freundin zu Hülfe kommen:

»Jungfer Overhaus, hat Sie es wirklich schon vergessen, daß es ein noch ziemlich junger Jüngling ist, dem Sie alles dieses zum besten gibt?«

»Na, was das anbetrifft!« brummte aber der junge, kindliche Mensch Bernhard Grünhage vollständig im Ton und Ausdruck seines Freundes Ludwig Dorsten, und Fräulein Thekla kam nun ihm zu Hülfe, klopfte mit dem Teelöffel auf den Tisch und sagte vergnügt:

» Ich erzähle; und Sie, Rittmeisterin Grünhage, mache Sie nur die Jungfer Overhaus nicht irre, wie Sie es Anno zwanzig probierte. Und du, merke dir, Sohn Bernhard Grünhage, stirb lieber jung, als daß du alt wirst, ohne dir deinen Humor durch die Zeit festhämmern zu lassen. Mit einem wetterfest geschmiedeten Gleichmut magst du meinetwegen gleichfalls achtzig Jahre alt werden und zuletzt dich blind, ohne viel weltlich Besitztum und als einzig Überbleibsel von deiner Familie, vor das Teichtor hinsetzen und Historien aus der Vergangenheit erzählen. – Nun also, mit dem Marten Marten als Wartefrau mit dem Kindermantel um die Schultern war das nur ein blinder Lärm; aber mich brachte es doch mehr auf die Beine als nächtlicherweile ein Feuerjo von demselbigen Marten Marten. Springt man bei dem einen mit beiden Beinen aus dem Bett, so sagte ich mir hierbei: jetzt greifst du aber mit beiden Händen zu, Thekla! Und – so kam es zum ersten Rendezvous und Scharmützel mit deinem seligen Onkel an deiner Tante Gartenhecke, junger Grünhage, und sehr poetisch machte es sich, im schönsten Frühling achtzehnhundertundzwanzig! Der Marten hatte natürlich das Stelldichein vermittelt, und ich sehe mit meinen dunkeln Augen heute noch den Knicks, den mir deine Frau Tante machte, und das Gesicht wie drei Tage Regenwetter, was sie mir über die Hecke zeigte.«

»Du aber sagtest: ›Mach die Tür auf, Kind; mein Name ist Thekla Overhaus, wir kennen uns schon lange durch Marten Marten, und ich bin gekommen, dir Wanza ein bißchen leichter zu machen; – guten Morgen, Herr Kapitän Grünhage.‹«

»Und das gehörte item dazu, daß mir der Unhold richtig aus dem nächsten Gebüsch auf den Hals kam, um die Romantik zu stören. ›Gnrrr!‹ knarrte er; aber verblüffen ließ sich Thekla Overhaus nicht so leicht, weder durch seinen Schlafrock noch seinen schwarzen Tonpfeifenstummel noch durch den Rausch vom letzten Abend in seinen Augen. ›Bonjour, Herr Rittmeister Grünhage‹, sage ich höflich; – ›nicht wahr: Charakter und Aufrichtigkeit! so heißt die Devise auf dem Orden der westfälischen Krone?‹ – ›Sie befehlen, Mademoiselle?‹ fragt der Menschenfresser mit hoch heraufgezogenen Augenbrauen. – ›Mit Charakter und Aufrichtigkeit komme ich, um Ihrer Frau die Visite zu machen, die sie mir schuldig geblieben ist, Herr Rittmeister‹, antworte ich freundlich. ›Wir sind schon alte Bekannte von Leipzig her, wo mein Bräutigam, der Kandidat Dorsten, geblieben ist; also nehmen Sie nur meinen Besuch an, Herr Rittmeister!‹ – Du erinnerst dich noch, Fiekchen! Machte die Eule Augen! So habe ich keinem zweiten Menschen imponiert wie deinem biedern Alten, und es war wahrhaftig nicht notwendig, daß ich ihm auch noch mit dem übrigen Zubehör seines Ordre de la Couronne de Westphalie, dem Löwen von Kassel, dem Pferde von Niedersachsen und dem Kaiserlichen Adler mit dem Je les unis auf dem Blitze, auf den Leib rückte. – So höflich hat mir auch kein zweiter je die Tür geöffnet und mich gebeten, einzutreten und vorliebzunehmen, Herr Grünhage. Und daß er sie mir nachher nicht wieder vor der Nase schloß, dafür habe ich denn auch Sorge getragen.«

Was fiel der Frau Rittmeisterin plötzlich ein? Sie erhob sich, ging um den kleinen Tisch herum und gab der Erzählerin einen Kuß auf jedes der erblindeten Augen. Aber in heller Begeisterung rief der Nachtwächter Marten Marten:

»Ja, Sie haben ihn zu nehmen gewußt, Fräulein! Es war aber auch die höchste Zeit, daß Sie uns persönlich zu Hülfe kamen.«

»Gar nicht!« sprach Thekla Overhaus lachend. »Eine Viertelstunde nachher hätte ich eigentlich ruhig nach Hause gehen können und den jungen Ehestand, das heißt die junge Frau im Hause, dreist ihrem eigenen Ermessen überlassen können. Eine Viertelstunde in der Gartenlaube mit den beiden guten Leutchen genügte der Mamsell Overhaus vollkommen, um sich zu überzeugen, daß die Sache gar nicht so schlimm war. Die Frau Rittmeisterin war schon recht löblich im besten Zuge, ihr borstig Ungeheuer glattzukämmen, und zwar mit Charakter und Aufrichtigkeit –«

»Ich war das unglückseligste Geschöpf auf Gottes weitem Erdboden, und du kamst wohl zur richtigen Stunde, liebes Herz, und griffest im letzten Moment nach der Haarflechte, die noch mal über Wasser auftauchte und an der du mich richtig triefend ans Land ziehen konntest.«

»Naß wie eine Katze, Fiekchen!« rief Fräulein Thekla gerührt. »Das Gleichnis paßt ausnehmend. Der arme Mann trug schon mehrfach die Spuren von deinen Sammetpfoten, und ich habe es dem Marten lange nachgetragen, daß er mich zu meinem Trost nicht auch hiervon in Kenntnis gesetzt hatte.«

»O wie konnte ich denn?« fragte der Meister Nachtwächter verschämt, und sich an den Studenten wendend, setzte er hinzu: »Wir waren doch beide immerhin Kriegskameraden, Herr Grünhage, wenn wir auch auf verschiedenen Seiten gestanden hatten; und Ihr seliger Herr Onkel war ein braver Offizier in seinem Regimente gewesen und in hundert Schlachten, und Wanza paßte uns schon so genug auf jede Witterung zu einem Pläsier über uns – nicht wahr, Frau Rittmeistern?!«

»Heitere Geschichten erzählen sie dir, Neffe Bernhard«, sagte die Tante, »aber Lügen strafen kann ich sie nicht. Erzählt meinetwegen von den alten Dummheiten dem dummen Jungen weiter; ich aber sage kein Wort mehr, bitte mir nur aus, daß du mir deinen nächsten Brief, den du nach Hause schicken willst, vorher zeigst. Man weiß doch niemals so ganz genau, wie ein Wort das andere gibt, selbst zwischen den besten Freunden –«

»Und Freundinnen!« sprach die Blinde. »Alte Kriegskameradin, ärgerst dich wohl gar noch über deine eigene Bravour? Preise lieber mit mir den Himmel, daß er dir auf allen zehn Fingern die dazugehörigen Nägel wachsen ließ, um dich damit um dein jung Leben zu wehren und um dein deutsches Volk und Vaterland dazu, du allerechteste Ritterin vom Eisernen Kreuze! Was wir andern vor und in dem Kriege tragen mußten, das hast du nachher tragen müssen, und zwar doppelt und dreifach. Wie gut hatt' ich es mit meinem toten Helden und bei Leipzig mitbegrabenen Schatz gegen dich mit deinem lebendigen Heros in der nichtsnutzigen, schadenfrohen Welt hier am Markte in Wanza! Und wenn mir in meinem stolzen Schmerz das ganze deutsche Volk zur Seite stand: wen hattest du in deinem Elend, welchem auch die paar Leute rundum nur höhnisch zusahen? Den Meister Marten und mich! Denn wer in Wanza oder sonst umher in der Bevölkerung hätte nicht nach den großen Molesten der eben verflossenen Jahre jetzt nicht gern sein Vergnügen an dem, was dir als Weiberschicksal aufgelegt worden war, mitgenommen? Ja, wer das nun so beschreiben könnte, wie es eigentlich beschrieben werden muß! Nämlich von Tage zu Tage, zum Weinen und zum Lachen durcheinander! Der könnte Geld verdienen mit dem Komödienschreiben. – ›Guten Morgen, Fiekchen! Guten Morgen, Chevalier!‹ – ›Gnrrr!‹ brummt's aus dem Ofenwinkel her, und von der andern Seite kriege ich einen heißen Kuß, und die Frau Rittmeisterin hält mich fest am Arm und spricht nach der Rauchwolke am Ofen hin: ›Es ist gut, daß du kommst, Thekla. Sag du es ihm auch, daß es sich nicht schickt, seine Frau in einer Schenke zum besten zu halten, in der man selber nur der Lustbarkeit wegen geduldet wird. Sie haben im Bären gestern abend auf die Gesundheit der Frau des Rittmeisters Grünhage getrunken, und als er in der Nacht mit Marten nach Hause kam und wohl nicht wußte, was er sagte, hat er mir davon als von einer Ehre erzählt, die sie uns an seinem Zechtisch angetan hätten. Sie lachen ihn damit aus, wenn er ihnen damit kommt, wie er hoch zu Pferde mit Helmbusch und Panzer in alle Hauptstädte der Welt eingeritten sei, – Wanza lacht ihm unter die Nase, und er wird weinerlich und tröstet sich damit, daß er den verschluckten Zorn zu Hause an seinem Weibe auslassen kann. Ich aber bin sein Weib und heiße die Rittmeisterin Grünhage und sage ihm nichts, wenn er in seinem Unglück wütend wird und nach mir schlägt wie das Kind nach der Tischecke; – aber ihre Ehre soll er der Rittmeisterin Grünhage lassen, und um die bringt er sie, wenn er ihre eigenen Landsgenossen dazu aufreizt, ihr spöttisch ein Vivat in der Trinkstube und vor ihrer Haustür zu bringen! Marten Marten blies sein Horn dazwischen und rief zwei Uhr ab und schickte die Narren und Dummköpfe zu ihren eigenen Weibern; ich aber habe bis zum Sonnenaufgang vor meinem Bette gesessen, auf der Fußbank und mit dem Kopfe auf den Knieen, und über all die Siege nachgedacht, in die der Kaiser Napoleon und der König Hieronymus ihre deutschen Kriegsleute mit hineingenommen haben; – o hilf mir, hilf mir, Thekla!‹«

»Nun hör einer die Komödiantin!« rief die Tante Sophie, die Hand ihres Neffen und des Neffen des seligen Herrn Rittmeisters fassend und festhaltend. »Selbst meine Stimme von Anno Tobak kriegt sie noch heraus. Im Bären saß ihr Erdmann freilich nicht mit den Wanzaer Spießbürgern bis zwei Uhr morgens. Aber nur weiter! Trotzdem daß man nicht weiß, ob man sich mehr ärgern, lachen oder weinen soll, so ist es doch mir alten Person, als würde mein jüngstes Leben wieder lebendig, und interessant ist das jedem Menschen immer.«

Wenn so die Tante sprach, was sollte dann der junge Neffe sagen!... Gar nichts! – Er sah nur mit weit aufgerissenen Augen in die Jahre hinein, über welche die »gute Komödiantin«, die blinde Thekla Overhaus, so gelassen sprach und die andern zuhörten, und konnte höchstens fürchten, demnächst zu erwachen, um sich die Augen zu reiben: »So lebhaft habe ich aber lange nicht geträumt!«

Noch aber dauerte die Magie fort. Ohne sich durch die Freundin stören zu lassen, sprach Fräulein Thekla weiter:

»Mein seliger Vater rauchte auch und machte vielen Dampf, wenn er über etwas nachdachte; aber das Gewölke, was dein Seliger alle Tage unter deinem Regime um sich versammelte, brachte er doch nur bei höchsten Ausnahmsgelegenheiten zustande. Daß du viel gute Reden in den blauen Dunst hineinreden mußtest, läßt sich wohl nicht leugnen, Fiekchen; aber zerteilte sich mal der Nebel und kroch der arme Sünder draus heraus, so war die Wirkung deiner natürlichen Begabung meistens überraschend. Wie aus dem russischen Winter von zwölf kam er dann und wann hinter dem Ofen krummbuckelig hervor und ächzte: ›Es ist ein wahres Glück, daß Sie endlich sich sehen lassen, Mamsell Overhaus! Sapristi, wer mir das an der Moskwa gesagt hätte, wie weit ein Rittmeister im Zweiten Königlichen Kürassierregiment herunterkommen kann, wenn er sich einfallen läßt, sich eine Frau zu holen, um nach Mont-Saint-Jean sein letztes Behagen an seinem eigenen häuslichen Herde zu finden! Marten weiß es, wie oft sie damit droht, daß sie mir in die Wipper gehen will; aber läge ich bei Leipzig oder sonstwo wie andere brave Leute verscharrt und moderte ruhig, so wäre mir auch wohler. Lassen Sie sich auch darüber eine Rede von ihr halten, Mamsell.‹«

Die Frau Rittmeisterin rückte auf ihrem Stuhle und schob ihn knarrend ein wenig zurück vom Tische. Der Meister Marten räusperte sich wie einer, der wohl ein warnendes Wort ins Gespräch geben möchte, aber es unterläßt, teils aus Respekt, teils weil er ganz genau weiß, daß es doch nichts helfen werde. Fräulein Thekla Overhaus erzählte gut, aber sie erzählte fast zu gut für den fernern gemütlichen Verlauf der Abendunterhaltung; am liebsten hätte jetzt der Nachtwächter von Wanza den Studenten Grünhage einen Augenblick mit vor die Tür genommen, um ihm zuzuflüstern:

»Ängstigen Sie sich nur nicht. Man muß sie seit fünfzig Jahren kennen, um zu wissen, daß auch dieses dazu gehört. Wenn Fräulein den Ton annimmt und die Frau Tante das Gesicht macht, dann weiß ich schon, was sich begeben wird. Na, Sie werden's ja gleich selber hören, was jetzo kommt.«

Ein süß, aber etwas spitzig Gelächel der Tante Sophie kam und dazu sanften und leidenden Tones das Wort an die alte Freundin:

»Es geht doch nichts über ein gutes Gedächtnis, und es ist gottlob nicht das erstemal, daß ich dir dazu gratulieren kann, liebste Thekla. Zumal jedesmal, wenn wir auf dies Kapitel geraten! Gewöhnlich wird es dann aber auch Zeit, daß man an den Aufbruch denkt und, wie im Evangelium Lucä geschrieben steht, die Toten ihre Toten begraben läßt, – meinst du nicht, mein Herz?... O ja, meine Gute, es war wirklich ganz behaglich, so erhaben und elegisch und so gelassen mit ruhigem Gemüte über dem albernen Neste Wanza und über dem Hause des Rittmeisters Grünhage zu schweben und von Zeit zu Zeit hinzugehen und den einen um den andern sein Elend aufsagen zu lassen. Von einer Schulmeisterin hattest du immer einiges an dir zu unserm Besten; o ja, und du hast natürlich vollkommen recht, im Grunde war es nur meine Schuld, wenn ich mich einen um den andern Tag in mein Giebelstübchen flüchten und verriegeln mußte, wo dein seliger Bräutigam die schönen Verse auf das deutsche Vaterland und dich gemacht hat. Du hast die Verse noch; aber ich habe auch noch die Erinnerung an alle die Stunden, die ich allein da gekauert habe mit gerungenen Händen. Natürlich hat es an mir nicht gelegen, daß er – mein seliger Mann – sich nicht aufgehängt oder erschossen hat, um seinem Überdruß an der Welt ein Ende zu machen! Ich danke dir recht innig, daß du mich in gewohnter freundlicher Weise von neuem darauf aufmerksam gemacht hast, meine beste Thekla; und dir, Herr Neffe, rate ich –«

»Jetzt hör auf, Sophie!« sagte Fräulein Thekla, aufrechter denn je sitzend. »Wären wir mit Marten unter uns allein, so möchtest du, solange es dir beliebt, deine Dummheiten auskramen. Da sitzt aber ja wohl noch der junge Mensch, den du mir mitgebracht hast, um mich ihm meinerseits von dir und seinem verstorbenen Onkel erzählen zu lassen. Der wird eine schöne Idee von dir mit sich nach Hause bringen! Wahrhaftig, hört man dich so reden, so möchte man glauben, man schriebe noch immer achtzehnhundertfünfundzwanzig und nicht neunundsechzig. Übrigens aber schwatzest du doch nur drauflos, um mir noch mal zu beweisen, daß dir, Gott sei Dank, das Temperament nicht fehlte, um damals dein heute verjährtes Elend zu tragen. Und nun mach uns nicht ferner lächerlich vor deinem Herrn Neveu und unserm alten Freund Marten. Klappe dem jungen Mann gegenüber einen Deckel auf die Vergangenheit, und wenn es absolut notwendig ist, daß er noch weiter was draus erfahre, so verweise ihn an Marten Marten; uns aber laß unsere letzten Wege in Frieden zusammen gehen. Ich meine, für uns zwei ist es allgemach doch wohl ein wenig zu spät geworden, als daß wir uns die paar übrigen guten Stunden hier in Wanza und auf der Erde selber verderben sollten durch die paar Tropfen warmen Blutes, die wir aus unseren jungen Jahren noch übrigbehalten haben.«


 << zurück weiter >>