Wilhelm Raabe
Der Marsch nach Hause1
Wilhelm Raabe

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10.

Pasewalk ist eine schöne Stadt; fraget nur die geborenen Pasewalker darnach! Im Jahre 1674 soll es eine noch viel schönere Stadt gewesen sein, doch das ist schwerlich heute noch auszumachen. Jedenfalls war es im November des obengenannten Jahres eine recht lebhafte Stadt, denn der Feldmarschall Karl Gustav Wrangel hatte sie zum Sammelplatz der Truppen, mit welchen er im folgenden Monat in die Mark Brandenburg einfallen wollte, auserkoren. Von Pasewalk aus war er denn auch richtig im Dezember mit 14 000 Mann über die Grenze aufgebrochen, hatte Stargard, Landsberg, Wriezen, Ruppin und so weiter genommen, brandschatzte und plünderte nach alter gewohnter Art sachverständig und mit Vergnügen und ließ es sich in Abwesenheit Kurfürstlicher Durchlaucht so wohl als möglich innerhalb Dero Grenzpfählen sein.

Auch Rathenow ist eine schöne Stadt und wurde im Anfange des Monats Juni des Jahres 1675 ebenfalls recht lebendig; denn um jene Zeit rückte der Herr Obrister von Wangelin mit sechs Kompanien Dragoner von seinem eigenen Regiment und einiger Infanterie von einem andern Regiment dort ein, machte es sich gleichfalls darin recht gemütlich und dachte an nichts Böses. Die Seinigen aber folgten in allen Dingen seinem Beispiele, ohne auf die Gefühle und Behaglichkeit der Bürgerschaft die mindeste Rücksicht zu nehmen.

In oder vielmehr vor der Stadt Rathenow finden wir unsere beiden guten Freunde aus der Krone zu Lindau im Bodensee, die Korporale Sven Knudson Knäckabröd und Rolf Rolfson Kok, genannt Meister Gockele, richtig und für jetzt gottlob noch in guter Gesundheit wieder. Aber um die Stelle zu beschreiben, an welcher wir sie finden, ist eine Beschreibung der Lage der Stadt Rathenow unbedingt notwendig, obgleich wir das ziemlich kurz machen können. Die Stadt Rathenow liegt nämlich an der Havel, welche in zwei verschiedenen Armen daran vorüberfließt; und um zu den morschen, an verschiedenen Stellen eingefallenen Mauern und zum Tor zu gelangen, hatte man die beiden Arme und den dadurch gebildeten Werder zu passieren, und zwar vermittelst zweier größerer Zugbrücken und mehrerer kleinerer Brücken.

An der ersten Zugbrücke, das heißt, der am meisten nach Westen zu gelegenen, hatte in der Nacht auf den 15. Juni alten und 25. neuen Stils der Korporal Rolf Kok von Wangelins Dragonern die Wacht mit sechs Mann, und der Korporal Sven Knäckabröd leistete ihm Gesellschaft.

Da waren sie denn! –

In Wehr und Waffen, wie sie es auf der Hafenmauer von Lindau geträumt hatten, saßen sie wieder an einem schwedischen Wachtfeuer und hielten sie wieder einmal den vorgeschobenen Posten gegen den Feind.

Sie saßen dicht nebeneinander an den verglimmenden Kohlen, die beiden braven alten Grauköpfe, und wachten hellen Auges, während ihre Mannschaft, bis auf den Posten unter dem Gewehr, ruhig auf den zusammengetragenen Strohbündeln im tiefen Schlafe lag. Es war gegen zwei Uhr morgens, der Havelnebel lag weiß und dicht auf dem Flusse und den weiten Bruch- und Moorgegenden ringsum; aber man merkte doch, daß die Dämmerung nicht fern sein konnte. Die hohen Pfeiler der Zugbrücke standen bereits ziemlich klar hervor aus dem weißen Nebel, und die schwedischen Reitersmänner hatten bis jetzt eine ruhige Nacht gehabt.

»Wie die machten wir es auch sonst, Bruder Sven«, sprach jetzt der Korporal Rolf, auf seine schnarchenden Dragoner weisend. »Das ist vorbei; wir sind zu alt dazu geworden, Kamerad; aber es hat auch sein Gutes, man sitzt und schwatzt, und eine Pfeif Toback am Feuer ist auch was Liebliches. Vor dreißig Jahren schmauchte man noch nicht so stark in den Armaden als heute. Das ist auch was Neues.«

Er reckte und dehnte sich, während der Kamerad nur behaglich wie ein alter Hund unterm Ofen knurrte.

»Sven«, fuhr der Korporal Rolf fort, »tu auch was zur Unterhaltung. Jetzt haben wir doch das Leben wieder durchgeprobt; nun sag, wo sitzest du lieber – hier unter den Kürassen und Eisenhelmen oder dort – da – dahinten, da oben in deinen Bergen zwischen den Ziegen und Böcken und sonstigem Rindvieh? Bruderherz, sag an, wie gefällt dir dein jung-alt Leben?«

»Es ist nicht auszusagen, Wachtkommandant! Man kann nur immer von neuem darüber nachsinnen und hat dann doch auch dazu wieder keine Zeit. Ich bin noch lange nicht mit der glücklichen Stunde fertig, wo wir wieder unter der Fahne anlangten und der Posten uns im Lager von Pasewalk die Parole abforderte. Ja Parole hin, Parole her! Die Parole hatten wir freilich nicht, aber unsern Ausweis hatten wir doch parat, und die Kniee beben mir jetzt noch, wenn ich an die Rührung denk, mit welcher wir ihn von uns gaben. Versprengt beim Sturm auf Lindau! Gefangen in den Bergen Anno siebenundvierzig, nach dem Sturm auf die Bregenzer Klause und Burg Hohen-Bregenz! Das gab ein Zulaufen und Maulaufreißen bei Offiziers und Gemeinen! Und es war dazu ein Weg gewesen, ein richtiger Weg im Zickzack, auf welchem wir angelangt waren vom Bodensee bis an den Ukerfluß! Und lauter junge Gesichter in den Regimentern, und selbst die alten unbekannt, und kein Hauptmann, Leutnant oder Feldweibel, so uns den weitem Weg in das gute alte Leben weisen konnte vor Staunen und Wunder. Das Herz zittert mir immer von der Stunde, Korporal Rolf!... Ach, der Wrangel, der Wrangel, das war das größte Glück, daß der Feldmarschall oder, wie sie ihn jetzt nennen, der Connetable zu Handen war und uns aufnehmen konnt! Ja, des Feldmarschalls Gnaden, die mit uns und dem König über die See gekommen waren, wußten, was mit uns anzufangen sei, Preis und Glorie über den Karl Gustav! Er hat uns die Hände geschüttelt und in seinem Quartier an seinem Tische niedersetzen lassen. Alle großen Offiziers und Kommandanten haben uns als reine Wundertiere angestarrt, und der Connetable hat uns zugetrunken, und alle großen Generale haben uns auch zugetrunken, und nachher hat uns das Volk, Reiter und Infanterie, auf den Schultern durch die Lagergassen getragen. Vivat Schweden! Schweden und die schwedischen Helden zu Roß und zu Fuß immerdar! Rolf Kok, nachher hab ich oft gedacht, in der gloriosen, leuchtenden Stunde hätten wir sterben sollen. Ich glaube, sie hätten alle Fahnen über uns gesenkt und mit allem Geschütz uns nachgefeuert, als ob wir selber die allerberühmtesten Generale gewesen wären.«

»Freilich wäre dieses eine großmächtige Ehre für uns gewesen«, meinte der andere nachdenklich, »aber, Sven Knudson Knäckabröd, es ist auch so, wie es jetzo ist, recht angenehm. Hat nicht der Oberst Wangelin vor der Front von seinem Regiment gesagt, es sei eine mächtige Ehre für ihn, daß wir bei ihm zu Pferde stiegen? Und wir sind zu Pferde gestiegen, Sven, du, weil du in deinen Bergen eben lange genug auf der Kuh geritten bist, ich, weil ich vordem dem Rate zu Lindau auch als Feuerreiter aufgewartet habe. Wir sind zu Pferde gestiegen, Korporal Knäckabröd; – nachdem wir lange genug im verzauberten Schlaf lagen, sind wir endlich als junge Burschen wiederaufgewacht und -aufgesessen. Ist es nicht so? Und als es neulich über die Grenze ging, nach alter Weise mit fliegenden Standarten, Pauken und Trompeten, haben wir uns da nicht gefühlt wie die Jüngsten? Haben wir da nicht die Hüte geschwenkt wie die jüngsten Jungen bei der Bagage? Daß wir heute einen roten Rock tragen, ist mir freilich nicht so lieb, als wenn wir noch im gelb und blauen Koller auszögen; aber es ist einerlei: vivant die Helden aus Mitternacht! Vivat der glorreiche, ewig siegreiche Karl Gustav, der Feldmarschall Wrangel! Und eine Lust war's doch auch, daß wir mit einreiten durften in die Städte nach alter Art: in Landsberg, Krossen, Wriezen, und wie sie sonsten heißen; und ein Pläsier ist es, daß wir – wir, Korporal Sven, heute diese Wacht halten an der Havel gegen die Brandenburger.«

»Gegen die Brandenburger«, lachte höhnisch der Korporal Sven Knäckabröd. »Bah, wo sind sie denn, diese Brandenburger? Wirf einen Groschen da in den Nebel hinein, so weit du kannst, und such ihn nachher! So kannst du auch nach den Brandenburgern suchen, Rolf Rolfson Kok.«

»Nein, Sven, sie sollen sich doch ziemlich brav gehalten haben am Rhein gegen die Franzosen. Ich hab mich hier und da umgehört und mancherlei vernommen; die Herren Offiziers und Politici munkeln allerlei. Wir haben uns eigentlich diesmal das Spiel doch ein wenig zu leicht gemacht. Der welsche Signor in der Krone war auch ein Politicus, und was er von der Katz und den Mäusen gesagt hat, das ist nicht ohne. Bruderherz, ich gäb viel darum, wenn dieser Kurfürst Friedrich Wilhelm bald zu Hause wieder einsäße, und zwar mit Macht und Gewalt. Um Kinderspiel sind wir doch den weiten Weg nicht hergekommen, und ich sage dir, Kamerad, ich hoff auf den Kurfürsten wie auf eine Braut, und ich hoffe, er bringt das Doppelte unserer Armada mit, daß wir doch Ehre davon hätten. Bruder Sven, es wär mir ein Ekel, wenn das Spiel bis zum Ende zu leicht blieb und wir ›Gewonnen!‹ schrieen wie ein Lagerweib über einen gestohlenen Unterrock.«

»Da tröst dich, Herzbruder Rolf; auch ich habe mich unter den Politikern umgehört und das Meinige in Erfahrung gebracht. Auf dem Marsche nach Hause und gegen uns sind sie; aber daß es ein weiter Weg vom Rhein bis an die Havel ist, das haben wir ja auch gespürt. Mir ist's auch lieber, wir rufen Viktoria auf einem ordentlichen Felde, als daß wir uns wie der Fuchs in den Taubenschlag geschlichen haben sollten und niemand vorhanden wäre, dem es am Herzen läge, uns zu verjagen.«

»Wie geht ihr Weg eigentlich? Kannst du das mir in den Sand malen?«

»Nein, solches vermag ich nicht; aber ich zähl an den Fingern unsern eigenen Marsch ab und vermeine, wir haben auch unsere Zeit gebraucht. Sie kommen wie wir durch der Schwaben Land, auch durch des Bischofs von Würzburg Grenzen und nachher durch der Thüringer Berge. In der Stadt kalkulierten sie gestern beim Landrat von Briest, sie möchten vielleicht schon bei Erfurt stehen. Geduld dich noch ein paar Tage, Kamerad Rolf; dann magst du nach deinen Pistolen sehen und das Schwert in der Scheide lockern.«

»Das gebe der Himmel zu unserem und Schwedens Ruhm«, sprach der Korporal Rolf Kok, und –

»Halt! Werda?« rief in dem nämlichen Augenblick der Posten an der niedergelassenen Brücke und warf den Karabiner schußgerecht vor.


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