Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auch ein Uhu richtet sich in seiner Felsenspalte, in seinem Gemäuerloch, in seinem hohlen Baume seine Wohnung nach Neigung und Geschmack, so behaglich als möglich ein; der Vater Kindler hatte dasselbe ebenso mit dem Winkel gemacht, in welchen ihn die Wellen des Lebens geworfen hatten. Ein Dichter und Philosoph hätte ihn um diesen Winkel beneiden können; die Aussicht auf Himmel und Erde, die freie Reichsstadt und die sehr unfreien Menschen in ihr, war fast noch weiterreichend und umfassender als die von der Scharfrichterei. Die Einrichtung des Thurmes war die aller ähnlichen Warten. Der Eingang zu dem einzigen Gemach befand sich so hoch von der Erde, daß man nur vermittelst einer Leiter zu ihm gelangen konnte, einer Leiter, welche jeden Abend in die Höhe gezogen und in einem Winkel des Gemaches aufbewahrt wurde. Da der alte Kindler sich nicht mehr recht auf seine Beine verlassen konnte, so vergingen wohl Monden, ohne daß er den Fuß auf den Erdboden setzte; er war dazu auch viel zu sehr beschäftigt mit dem Studium einer Prudentia oeconomica, einer ›Haushaltungsklugheit› in Schweinsleder, welches Werk mit seinem Lebensbankerott schier seine einzige Lectüre war, und welches seinen armen wirren Kopf noch immer verwirrter und confuser machte.
Vier Fenster oder vielmehr Schießscharten hatte das Wachtgemach, nach jeder Weltgegend eine Oeffnung zum Auslug. Eine kürzere Leiter führte aus dem Gemach auf die Plattform des Thurmes zu der verrosteten Carthaune, durch deren Losbrennen der Wächter anzeigte, daß etwas Verdächtiges am Horizont der Stadt aufsteige. Die viereckige Oeffnung, durch welche man auf die Plattform gelangte, konnte durch eine Klappe verschlossen werden.
In dem Wohn- und Wachtgemach befand sich eine Bettstatt für den Alten und jetzt auch noch ein Strohsack sammt einem österreichischen Soldatenmantel für den schwarzen Jürg. Eine Flinte hing an der Wand, eine Pike lehnte in der Ecke. Ein Wachtmantel von gelbem Tuch mit grünem Kragen – grün und gelb waren die Farben der Stadt – hing am Nagel, ein Bauer mit einem bunten, klugen Zeisig von der Decke. Auf einem Brette nahe dem Ofen befanden sich einige zerfetzte Bände des Theatrum europaeum, eine Kosmographie, eine Chronik der Stadt, eine Bilderbibel, eine Postille und ein Kalender. Haushaltsgeräth jeder Art war überall auf Brettern ziemlich ordentlich aufgestellt; auf einem schweren Eichentisch stand eine Lampe und lag das Strickzeug des Stadtwächters. Einige dreibeinige Schemel vollendeten die Ausstattung, und in einem Lederstuhl neben der Fensteröffnung, von welcher aus man in die Ebene blickte, saß Friedrich Kindler, zahnlos, mit weißem Haar, einer Brille auf den blöden Augen, seine ökonomische Prudenz im Schooß. Bekleidet war der Greis mit einem gelben, grünbekragten, rothgefütterten Rock, schwarzen Kniehosen, Gamaschen und schweren Schuhen; somit glich er dem lustigen Zeisig im Bauer so sehr, als es einem alten bankerotten Herrn und Reichsstädter, der in seiner Jugend auch ein lustiger Zeisig gewesen war, im hohen Alter möglich war.
Ueber die Kunst hauszuhalten und ein wohlhabender Mann zu werden, hielt er dem Sohn soeben eine sehr theoretische Vorlesung, welcher der schwarze Georg denn auch leider mit der gebührenden Aufmerksamkeit zuhörte. Mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, lehnte er neben der Fensteröffnung, aus welcher man in den verwilderten Heyliger'schen Garten hinabblicken konnte. Den verwundeten Arm trug er immer noch in der Binde, doch war die Heilung so weit vorgeschritten, daß er dieses Verbandes in nicht zu langer Zeit ledig zu sein hoffte.
Er war von einer stattlichen Gestalt, dieser schwarze Jürg; vielsagendes Feuer leuchtete aus den dunkeln Augen. Trotzdem, daß die Wunden und die lange Krankheit dem Körper eine gewisse unbeholfene Schwäche gegeben hatten, ging es aus jeder Bewegung des jungen Mannes hervor, daß die Genesung eine große Kraft und Gelenkigkeit zurückbringen würde. Verhaltener Zorn um die jetzige Thatlosigkeit lauerte zwischen den zusammengezogenen pechschwarzen Brauen, während auf der hohen freien Stirn etwas Anderes noch zu erkennen war, ein melancholisches Sinnen, ein träumerisches Denken, ein ruheloses Hin- und Herbewegen der verschiedenartigsten Gefühle.
Es war kein Wunder, daß der Sohn des strumpfstrickenden Stadtsoldaten von der Römerhöhe mit den gemischtesten Empfindungen auf den Garten und das Haus des Zinsmeisters Heyliger niederblickte. Da drunten lebte der Mann, welcher Schuld hatte an dem Tode der armen Mutter, der Mann, welcher das Glück des Vaters, das eigene Glück kalten Herzens zerstört hatte; – da drunten saß aber auch die Tochter des Todfeindes, das unschuldige, süßeste Bild, – von da drunten blickte bittend und klagend Laurentia Heyligerin zur Römerhöhe hinauf, und gezwungen wurde durch ihr thränenvolles Auge der schwarze Georg, alles Andere zu vergessen und zu vergeben.
»Georg,« sagte der Alte von seinem Lehnstuhle her, »Du gibst nicht Acht, Georg! Und was der Autor allhier vom Interusurio saget, muß Jedermann doch sehr wichtig sein. Und wie er den Carpzov'schen und Leibnitzischen Calculus widerleget, hat Hand und Fuß und lässet sich wohl hören. Knöpf' auf die Ohren, Jürgen, auf daß Du klüger werdest als Dein alter Vater; hier fahren wir fort, Pagina–«
»Ach, Vater, gebet mir Urlaub,« sprach der Sohn mit einem tiefen Seufzer; »mein Kopf schmerzet mehr als es zu sagen ist, und mein Herz ist so bedrängt, daß ich mit dem besten Willen den Worten Eures gelehrten Buches nicht folgen kann.«
Betrübt das Haupt schüttelnd, sah der Alte den Jungen an; dann murmelte er:
»Ist's mir nicht immer grad' so gegangen?! O, ein grausam gelehrt Buch, oh, oh, oh! Aber ich krieg's doch noch klein, und Georg soll's auch. Daß Dich das Mäusle, laßt's mich nur gefaßt haben, dann soll's bald zu End' sein mit dem Hocken hier auf dem Thurm.«
Aus dem Nachdenken über die Schwierigkeiten seines Buches erlöste den guten Greis bald ein tiefer Schlaf, und dieser Schlaf war der eigentliche Verderber Friedrich Kindler's, denn seit frühesten Jahren kam er jedesmal, wenn irgend eine Theorie in die Praxis zu übersetzen war. So verschlief der arme Friedrich jede günstige Gelegenheit, jede Gunst, welche ihm das Glück und Geschick unter die Nase hielt.
Bald rutschte die Prudentia oeconomica von den Knieen des Greises und fiel zu Boden. Der Sohn hob das zerlesene Buch auf und beugte sich dabei einen Augenblick hindurch über das ehrliche, gutmüthige Gesicht seines Vaters.
In Liebe und Betrübniß seufzte er:
»Armer, alter Mann!« dann das Buch betrachtend: »Du abscheulicher Plagegeist, jetzt wäre die Gelegenheit günstig, Dich über die Seite zu schaffen auf Nimmerwiederfinden.« Nun wieder mit einem Blick auf den schlummernden Alten: »Nein, nein und abermals nein. Es wäre zu grausam! Alter Vater, steckt nicht in diesem jämmerlichen Tröster Alles, was Dir das Leben noch fröhlich ausputzt? Wie er lächelt im Schlaf! Aus diesem Teufelsbuch stammt auch das Lächeln, nun baut er im Schlaf die Träume weiter, die er wachend von diesen Seiten lies't. Da liege Du, ich würde Dich mit meinem letzten Lebensblut vertheidigen, Du leidiger Quälgeist.«
Sorgsam legte der Soldat das Buch auf den Tisch, dann stieg er, nach einem letzten Blick auf den Vater, leise und vorsichtig die Leiter hinab, die zur Erde niederführte.
Schön war der Sommerabend, und lange wollte der feurig-rothe Wiederschein im Westen dem weißen Licht des Mondes das Reich über die Welt streitig machen.
Der schwarze Georg ging nur, wenn die Dämmerung kam, aus seiner Klause hervor. Er scheute den hellen Tag und die Begegnungen, welche derselbe mit sich brachte. Er hatte gehofft, aus dem Franzosenkriege heimzukehren, sieghaft, reich und bewundert, um den alten Vater aus seinem Hunger- und Kummerthurm zu erlösen und mit ihm die Stelle in dem reichsstädtischen Gemeinwesen wieder einzunehmen, welche der vordem so angesehenen Familie der Kindler von Rechtswegen gebührte.
Das war nun Alles nichts. Geknickt waren die siegesfrohen Hoffnungen, gelähmt die hochfliegenden Gedanken ersten Jugendmuthes; krank, mit gelähmten Flügeln mußte der junge Falke den kümmerlichen väterlichen Horst wieder aufsuchen. Georg Kindler war ein armer Invalide, der Hülfe noch mehr bedürftig als selbst der alte Vater.
So schämte er sich nun nach seiner Heimkehr, wie sich ein edler Geist in solchem Fall zu schämen pflegt. In der Dunkelheit verbarg er sich und sein Mißgeschick den Augen der Menge und wich den Menschen ängstlicher aus, als das böseste Gewissen es thut.
Diese nächtlichen Wanderungen, die Bergwände entlang zwischen den Weinbergen und den Gartenhecken, sollten und konnten aber doch nicht verlaufen ohne einige solcher Begegnungen, welche Georg so sehr fürchtete. Denn wo ist vollkommene Einsamkeit in dieser Welt des Lärms und des Durcheinanders? Immer von Neuem drängt sich das Leben dem verwundeten Gemüth auf, und selten gelingt es dem scheuen Geist, diese Einmischungen von sich zu weisen.
Auf flüsternde Liebespaare, die aus anderm Grunde, als er, die Einsamkeit suchten, traf Georg. Es begegneten ihm die jungen Herren, welche das Haus und den Garten des Zinsmeisters Heyliger umstrichen; diesen lächelnden und seufzenden Gesellen blickte der schwarze Jürg mit einem unbeschreiblichen Ausdruck nach, wenn er zur Seite trat, um sie vorüber zu lassen.
Es begegnete dem schwarzen Jürg auch Wolf Scheffer, der Scharfrichter von Rothenburg, und da diese letztere Begegnung die wichtigste von allen war, so wollen wir hier das Nähere darüber mittheilen. Sie fand statt an einem Tage, wo ein zwischen Regenschauern, Windstößen und grauer Stille wechselndes Wetter die Wege an den Bergen einsamer als gewöhnlich machte. Aus diesem Grunde hatte Georg seinen Thurm früher als gewöhnlich verlassen und traf auch auf Niemand zwischen den Hecken, bis er an die Ecke des Berghanges gelangte, wo der Wald begann und sich in die Ebene hinabsenkte.
Unter den ersten Bäumen des Waldes sah Georg Kindler eine Gestalt im rothen Mantel emporsteigen, und da der Weg kein Ausweichen zuließ, so sahen sich die zwei Männer im Begegnen grade in die Gesichter, und jeder stand, die Stirn runzelnd und die Zähne zusammenbeißend, still.
»Da hab' ich Euch ja!« rief der Scharfrichter.
»Euch bin ich nirgends und niemals ausgewichen!« sagte Georg Kindler.
»Bigott, hab' ich's nicht gesagt, wir Zwei hätten uns noch lange nicht zum letzten Mal gesehen?!«
»Bigott,« rief auch Georg, »ich wär' doch lieber Profoß im Regiment Deutschmeister blieben.«
»Meinet Ihr? Basolamano! Man wird alt und fängt an, die Bequemlichkeit zu lieben; – gefällt mir recht wohl hie zu Rothenburg im Thal. – Freut mich, Euch zu sehen, und hoff' Euch nunmehro bei Gelegenheit dies verkleisterte Auge heimzahlen zu können. Thut mir die Liebe an, Weibel! 's war' mir ein' Seelenlust, Euch so – von Amtswegen vorzunehmen.«
Der schwarze Jürg schnitt eine Grimasse und seine Hand zuckte nach der linken Hüfte, von der sonst der Degen herabhing. Der Scharfrichter lachte:
»Laßt nur, Camarado, wir sind hier nicht im Feldlager, und meine günstigen und gnädigen Herren vom Rath dulden keinen Friedensbruch innerhalb der Bannmeile.«
Mit höhnischer Devotion zog der Henker von Rothenburg den breitkrämpigen Hut ab, verneigte sich tief vor seinem Widersacher und schloß seine Rede:
»Wünsch' Euch den schönsten guten Abend, Herr Weibel vom Regiment Montecuculi, ich will Euch nicht länger aufhalten, Ihr habet Euere Gänge allhier in Rothenburg, und ich habe die meinigen. Grüßet doch Euer Liebchen da unten in der Silberburg; hoff' auch bei Gelegenheit ihre nähere Bekanntschaft zu machen, wir kommen wohl einmal auf die eine oder die andere Art zusammen, 's trifft sich wunderlich in der Welt.«
Sprachlos vor Wuth blickte der schwarze Georg dem Freimann nach; die Thränen traten ihm vor machtlosem Zorn in die Augen; eine Waffe hatte er nicht, ein unnützes Glied hing der Schwertarm in der Schlinge; so mußte Georg Kindler den Feind spotten und lachen lassen.
Aneinander gerathen waren die beiden Männer vor zwei Jahren in einem baierischen Dorf, wo der Weibel vom Regiment Montecuculi ein armes Weiblein vor dem Profoß von Deutschmeister-Infantria erretten wollte. Es kam darüber zum Kampf, und in demselben verlor Wolf Scheffer das Auge. Das arme baierische Mädel aber wurde glücklicherweise durch eine barmherzige Kugel getödtet, ehe die Croaten in das Dorf einritten.