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Ich bin auch in der Gasse gewesen, die Marwitzschen zu sehen, und ich habe sie gesehen und vorzüglich einen von ihnen. Der kam, angetrunken und zerlumpt, auf einem kleinen, abgehetzten, zottigen Gaul um die Ecke; die Lanze ließ er über das Pflaster nachschleifen, die Zügel hielt er mit den Zähnen, und mit der rechten Faust hielt er den Polizeikommissarius am Kragen gepackt und schleppte ihn ebenfalls an dem Boden nach. Das war ein betrübter Anblick, denn der schlechte Mann hatte seine Perücke verloren und ist halb tot gewesen unter der Faust des wilden Reiters. Und dicht vor dem Kommis Kupfermann an seinem Pfosten hat dieser Reiter sein Pferd so plötzlich angehalten, daß es schier mit dem Hinterteil zu Boden lag und daß die Funken aus dem Pflaster sprangen. Mit einem jähen Schwung schleuderte er den Kommissarius dem Bruder des Leutnants Kupfermann vor die Füße, hob sich im Sattel, die Lanze über dem Kopf schwingend, und schrie: »Da hast du ihn, Fritz, nun spuck ihm ins Gesicht!« Der Kupfermann aber hat sich gottlob nur umgewendet und mit der Hand abgewinkt; da hat der Reiter den bewußtlosen elenden Menschen wieder von der Erde aufgegriffen; es sind seine Kameraden, die auch schon halb betrunken waren, mit lautem Geschrei herzugekommen, und so haben sie den Franzosenfreund zwischen den Pferden weiter geschleift. Niemand hat erfahren, was dann unter ihren unbarmherzigen Händen aus ihm geworden ist, aber zu einem Spuk ist er nachher in dem Hause, welches er bewohnt hat, geworden. Der Reiter, der ihn zuerst gepackt hielt, soll ein Stadtkind gewesen sein, der wilde Reichert genannt. Bei Waterloo wird ihm das Bein zerschossen, und als die Chirurgen ihn nach der Schlacht auf ihrem Tische haben, um es ihm abzusägen, da sieht er ihnen ruhig ohne einen Laut zu, mit der Pfeife im Munde; als sie ihn jedoch verbunden haben und alles soweit gut ist, da tut es plötzlich einen Ruck in ihm, als wolle er aufspringen, und dann fällt er zurück und ist tot. Der gehörte auch recht in die Zeit; allein ganz sicher ist's doch nicht, ob er's war, welcher den Kommissarius dem Fritz Kupfermann zum Gericht brachte; denn andere wollen sagen, es sei Franz Hornemann gewesen, der sich nach dem Kriege in der Fremde aus Eifersucht vor den Augen seiner Braut erschoß und auch zu den wüstesten, aber lustigsten und gutmütigsten Burschen im Städtchen gehört hat.
Ist das aber heute nicht eins wie das andere? Ach Gott, mein Kind, fünfzig Jahre sind eine lange Zeit! Niemand, der den nassen Rock zum Trocknen an den Ofen hängt, gedenkt noch des einzelnen Tropfens; nur solch eine alte, müßige Frau gleich mir, die in dem Leben des Tages wie in einem Halbschlummer sitzt, hat die Zeit und die Kunst, sich solcher Einzelheiten zu erinnern. Die Erde hat sich ihres Rechtes auch wieder erinnert, nachdem die großen Geschwader vorbeigerauscht waren; sie hat die Verwüstung mit Blüten und Erntekränzen gedeckt, hinter dem Feldgeschütz ist der Pflug gegangen, und die Krähen, die auf den Schlachtfeldern sich sättigten, sie hüpften wieder hinter dem Bauern in der Ackerfurche her. Über alle Gräber ist Gras gewachsen und auch über das unserer Ludowike.
Aber vor den neuen Frühlingen zog erst der Winter von dreizehn auf vierzehn. Der Feind war aus den Grenzen des Landes getrieben, und die Wetterwolken, die früher im Osten standen, die hatten sich nun nach Westen gezogen, und ihr Donner verrollte immer ferner. Alle Sommer- und Herbstblumen aus dem Garten meiner seligen Mutter waren in dem Wasserglase in unserem Gefängnisstübchen verblüht; das Gezweig wurde kahler, der Himmel grauer, die Winde kälter, und mit der Verwandlung des Jahres ist auch allgemach eine Verwandlung über meine Kranke gekommen. Sie wurde mürrischer, heftiger, boshafter und fing an, nach den erwachsenen Leuten zu schlagen oder sie zu beißen, wenn sie sich ihr zu nahe wagten. Sie ist auch recht weinerlich geworden, nicht wie jemand, der aus seinem großen Kummer oder sonst aus Melancholie weint, sondern wie ein krankes, unzufriedenes Kind, das selbst nicht weiß, was es will, und dem nichts recht zu machen ist. Mit der Schwester Zustand hat sich natürlich auch der meinige verändert, und dieses Zusammensein mit der Irrsinnigen, diese ewige geheime Angst und Unruhe, dieses Aufmerken auf jede ihrer Bewegungen den ganzen Tag über mußten mich ihr allmählich ganz gleich machen. Ach, mein Kind, wie hat man meine Kindlichkeit zerbrochen, als man mich, die eben noch mit der Puppe spielte, zum Spiel mit diesem allergrößten Unglück und Kreuz, welches den Menschen treffen kann, einschloß! Ich hatte keinen, der mir half; meine Mutter, die es gewiß getan hätte, lag unter ihrem grünen Hügel, und den anderen allen hatte die wilde Zeit so sehr den Sinn eingenommen, daß es ihnen nicht möglich gewesen ist, auf etwas so Kleines zu achten. Da haben wir denn gesessen, die Kranke und ich, stundenlang, halbe Tage lang, jedes in einer Ecke, und haben einander angestarrt, bis für mich jeder Ton im Hause jenseits der verriegelten Tür wie ein Geräusch aus einer Welt war, mit der ich nichts mehr zu tun hatte. Ich habe auch meine Gespielen in der Gasse lachen hören und habe mir die schmerzenden Augen zugehalten und die Ohren verstopft; ich war noch ein junges Kind, aber den Tod hab ich mir doch wünschen können, und das hat gewährt bis zu dem Tage, der mich freilich von meiner grausigen Wache erlöste, aber die arme Ludowike in ein noch viel größeres Elend stürzen sollte.
Das ist ein dunkler Tag zu Anfang des Dezembers Anno dreizehn gewesen; die Kranke zeigte sich an demselben noch ruheloser und unzufriedener als gewöhnlich, und alle meine schwachen Bemühungen, sie zu besänftigen und zu erheitern, sind vergeblich gewesen. Sie stand jetzt am Fenster, blickte stier und gleichgültig nach dem langsam ziehenden Gewölk und nahm nur von Zeit zu Zeit eine Flechte ihres langen, vollen, schönen Haares und zog sie durch den Mund. Sie könnte dort unter dem Apfelbaum stehen, ich würde sie darum nicht deutlicher erblicken, als ich sie jetzt vor mir habe. Sie hatte ihr Gewand zerrissen in ihrem Unmut, die eine Schulter war entblößt; sie griff öfters mit den Fingernägeln in das weiße Fleisch und achtete es nicht, daß das Blut schon hervorquoll. Ich hatte am Morgen aus ihrer kleinen Bibliothek Schillers Gedichte mit mir heraufgenommen in unser Gefängnis, saß in meinem Winkel und las laut und eintönig ein Gedicht nach dem andern her, denn wir hatten gemerkt, daß sie das wohl mochte, obgleich sie nichts mehr davon verstand. Dieses Lesen schläferte sie häufig ein, oft aber hörte sie auch stundenlang zu, indem sie vor mir knieete, den Kopf in meinen Schoß gelegt, und mich jedesmal, wenn ich ermüdet das Buch zuklappen wollte, in das Bein kniff und mich so zwang fortzufahren.
Heute jedoch hatte mein Lesen keinen Einfluß auf ihre Stimmung, sie war und blieb, so wie ich sie dir beschrieben habe, mein Kind, stand am Fenster, drehte mir den Rücken zu und wiegte den Oberkörper verdrießlich hin und her. Plötzlich stößt sie einen Ruf aus, wie vor Überraschung und Freude. Sie tritt zurück, und ich springe auf, um zu erfahren, was sie draußen gesehen haben könne; aber in demselben Augenblick hat sie bereits das Fenster aufgerissen und sich in die Fensterbank geschwungen. Sie will hinaussteigen, und ich, in Todesangst, unter gellendem Hülferuf, suche sie zu halten; aber sie schlägt mir lachend mit der Linken auf die Hände und setzt mir die Zähne in das Handgelenk, aber zugebissen hat sie nicht!
Es zog sich ein Lattenwerk für den wilden Wein an der Hausmauer bis zu unserem Fenster empor; dasselbe hätte unter meinem eigenen leichten Gewicht sicherlich zusammenbrechen müssen, aber die Ludowike hat es wie durch ein Wunder getragen. Gleich einer Katze hing sie daran, und nachdem sie sich von meinem schwächlichen Griff frei gemacht hatte, setzte sie ihren Willen geschickt durch, wo jeder andere den Hals gebrochen haben würde.
Im Hause vernahmen sie endlich mein helles Rufen und achteten darauf. Sie eilten schnell genug die Treppe empor, allein in ihrer Aufregung vergaßen sie natürlich, daß sie selber uns eingeschlossen hatten, und so mußten sie vor der Tür warten, bis der Schlüssel geholt war. Bis dahin hatte die Irre übergenug Zeit, ihren gefährlichen Weg fortzusetzen, und als die Hausgenossen endlich in die Stube drangen, da stand sie schon in dem Garten meiner Mutter, warf triumphierend die Hände über das Haupt, lachte wild und schrie lauter als wir alle. Sie jauchzte in ihrer Freiheit gleich einem wilden Tier, rannte im Kreis umher und warf sich zu Boden und wälzte sich. Nun stürzte man schnell wieder die Treppe hinab, und die Leute, welche zu dieser Zeit in dem Hause meines Großvaters wohnten, kamen ebenfalls hervor; aber es dauerte eine Weile, ehe man sich genug gefaßt hatte, um Jagd auf die Kranke machen zu können, denn das Entsetzen und die Scheu waren zu groß. Ich für meinen Teil habe mich auch zu Boden geworfen und die Augen mit den Händen bedeckt, als man sie endlich doch jagen und fangen mußte. Sie schrie so laut, daß auch die Leute in der Gasse stehenblieben und horchten, und als man sie wieder in ihr Gefängnis halb trug, halb schleifte, da hab ich mir wohl die Ohren verstopft, aber ihr Geschrei drang doch durch, und jetzt noch höre ich es dann und wann in einer schlaflosen Nacht und muß danach den Tag über in großer Zerschlagenheit umhergehen.
Es hat sich ein preußisches Militärhospital damals in unserer Stadt befunden, und ein ganz berühmter Arzt war demselben vorgesetzt; auch dieser gelehrte Mann wurde nun von meinem Vater herbeigerufen; aber auch seine Meinung ist gewesen, daß die Kranke jetzt in Dunkelheit, Hunger und Kälte gehalten werden müsse, um ihre Tobsucht und Raserei zu bändigen. Da ist denn ein Strohlager in der schwarzen Rauchkammer, wo sonst die Schinken und Würste im Rauch aufgehängt wurden, zubereitet worden und meine Schwester in diese Kammer gesperrt, die nur durch den Schornstein erwärmt wurde und die ihr Licht durch ein einziges, winziges Fenster bekam, welches so hoch in der Wand angebracht war, daß niemand ohne eine Leiter dazu gelangen konnte. Und alles, alles, was der Mensch sonst zu seinem Leben nötig hat, ist der Schwester genommen; sie wurde mit sich selber allein gelassen, und auch ich durfte nicht mehr zu ihr.
Liebes Kind, ich konnte nichts dafür, daß ich fast alles Mitgefühl mit den Menschen verloren hatte. Meine Jugend war mir so zerstört und zunichte gemacht, daß es gewesen ist, als ob niemals die Sonne über mein Kinderspiel geschienen, niemals die Lerche über meiner Wiege gesungen habe. Ja, ich hatte endlich selbst ein gut Teil von dem Gefühl für die kranke Schwester, der man mich zugesellt hatte, verloren; doch das kam in der Zeit der Trennung von ihr schnell zurück.
Nun saß ich wieder unter den Vernünftigen und Verständigen und hörte in dumpfer Gleichgültigkeit ihren klugen Reden, ihren Späßen und ihrem Gezänk zu und begriff fast nichts mehr von ihrem Leben; denn alles, was man sagte und tat, war mir gleich dem Kratzen an einer Kalkwand. Aber das begriff ich klar, daß man die Ludowike schier zu den Toten rechnete und daß ein jeder jeden Gedanken an sie so hastig als möglich aus seinem Sinne zu verscheuchen bemüht war und daß man stillschweigend ein Übereinkommen getroffen hatte, die dunkle, kalte Kammer, in welcher sie gefangen saß, so wenig es sein konnte, unter sich und gar nicht gegen andere zu erwähnen. So war denn die Schwester rein eine Lebendigbegrabene geworden; aber mit mir ging man sehr lieb und zärtlich um, denn sie sahen wohl ein, was sie angerichtet hatten, und sie mochten sich wohl häufig im geheimen bittere Vorwürfe machen. Was sie aber auch taten, das Verlorene ließ sich nicht so leicht wieder ersetzen, das Verworrene und Verunstaltete ließ sich nicht so leicht wieder ins Rechte zurückführen. Ich fürchtete mich vor ihrem Lachen fast noch mehr, als ich mich vor dem der Irrsinnigen gefürchtet hatte, und als sie nach Neujahr, um den Übergang der verbündeten Heere über den Rhein zu feiern, zum Tanz auf das Rathaus gingen, als ob alles im Haus und im Herzen in der schönsten Ordnung sei, da hab ich mich die Bodentreppe hinaufgeschlichen und saß nieder auf der letzten Stufe vor der verschlossenen Türe der armen Verlassenen und saß da im tiefsten Gram. Ich war leise, leise gekommen und dachte, niemand solle mich aufjagen, aber die Kranke drinnen merkte bald wie durch Instinkt meine Gegenwart und kratzte an dem Schloß und rief mich bei meinem Namen. Freilich biß ich die Zähne aufeinander und wollte nicht antworten, denn man hatte mir ja jetzt allen Verkehr mit ihr streng untersagt; aber ich mußte es doch, und die Stimme von drinnen klang mir nun wieder vertrauter als all der Lärm des Tages unter den Vernünftigen drunten in der Wohnstube. Die Kranke sang in ihrem Gefängnis, und dann sang ich ebenfalls in meiner Betrübnis lauter Lieder aus dem Gesangbuche, bunt durcheinander, wie sie mir grad einfielen; das dauerte wohl über eine Stunde, bis wieder der böse Augenblick kam und die Wahnsinnige anfing, wie ein Hund zu bellen und mit den Fäusten gegen die Tür zu schlagen. Da bin ich im allergrößesten Schauder dann wieder treppab geflohen zu der Magd in die Küche, und während die Schwester heiser durch das Haus schrie, sind wir am Herde zusammengekrochen und haben fort und fort gebetet, ich das Vaterunser, und die Magd, welche aus der katholischen Gegend gewesen ist, »Gegrüßet seist du Maria«, und was sie sonst noch wissen.