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Kaltblau war der Himmel draußen über den gegenüberliegenden Dächern; immer noch schien die Sonne durch die hohen Fenster; aber die Eiskristalle, die unter Mittag ein wenig aufgetaut waren, schossen bereits wieder zusammen; ich hatte einen Ballkranz von künstlichen Blumen von einem Nähtischchen genommen, und die Sonne schien auch auf diesen Kranz.
Es war ein kunstreiches und zierliches Gewinde von weißen und blauen Holunderblüten und Blättern, und ein langes einzelnes blondes Haar hatte sich darin verflochten, als die Tote diesen Kranz nach jener Ballnacht, welcher das böse Fieber folgte, aus den Locken nahm.
Viele Arten von Kränzen gibt es in der Welt, und auf mancherlei Weise strebt die Welt danach, gewinnt oder verliert sie. Ist nicht jedes Leben an und für sich der Versuch, einen Kranz zu winden? Jeder begibt sich nach besten Kräften und Vermögen ans Werk; man hat Glück oder Unglück dabei: es kommen oft sehr schöne, oft aber auch sehr häßliche Machwerke zutage. Manch ein Kranz wird zerrissen, noch ehe er vollendet ist, und manch ein stolzer Kranz, den irgendein Menschenkind lange auf erhobenem Haupte trug, fällt zuletzt in eine fremde Hand, die ihn hält, die ihn, Blatt für Blatt, untersucht und zerpflückt, während eine winterlich-nüchterne Sonne, allem falschen, geborgten Schimmer abhold, darauf scheint.
So war es freilich nicht mit dem Gewinde, welches ich jetzt in der Hand hielt. Zu allem andern bestand es aus den Blüten des Holunders, und trotzdem, da es nur ein künstlich angefertigtes Ding war, war es doch von so frischer Lebendigkeit, daß der Greis, auf dessen Haupte längst der Schnee des Alters sich sammelte, in immer entlegenere, in immer blauere Fernen seines Lebens entrückt wurde. Erinnerungen wachten auf, welche im Grunde wenig mit diesem Putz der jungen Abgeschiedenen zu tun hatten.
Die Holunderblüte war schuld daran, daß ich im tiefen, bittern Ernst an das Gewinde dachte, welches auch um mein Leben, teilweise von meiner eigenen Hand geschlungen, lag und dessen beide Enden sich nun so bald berühren mußten.
Das Lied, welches auf dem Klavier aufgeschlagen lag, war viel mehr für mich geschrieben als für die junge Tote, die nach kurzem und glücklichem Atmen auf dieser Erde sanft, still und schmerzlos eingeschlafen war, welche diesen Kranz von schönen Frühlingsblüten auf schönerem Köpfchen getragen hatte, ein liebliches Symbol ihres Lebens und Kranzwindens. –
Früh war ich in die Welt hinausgeschleudert worden, hatte als ein verwaister Knabe, Erbe eines nicht unbedeutenden Vermögens, in dem Hause eines finstern hypochondrischen Verwandten gelebt, und dieser, welcher in den heitersten Tag seine krankhaften Grabesgedanken hineintrug, band mich mit harten eisernen Ketten an die tägliche Arbeit, das unablässige Studium. Mißmutig und widerwillig saß ich in seinem verdunkelten Gemach und verbrachte unter seinen mürrisch-wachsamen Augen meine Knabenzeit – sonst die glücklichste Zeit des Lebens – elend und kläglich genug. Die wilde Lust, das tolle Jauchzen im Kreise sorgloser Genossen lernte ich nicht kennen. Ich habe niemals eine Tracht Schläge für einen unsinnigen Jungenstreich bekommen, und daß mir damit ein großer Segen entging, den alles »Traktieren« der Grammatik nicht ersetzen konnte, wird mir mehr als ein sehr gelehrter Herr bezeugen.
Es war viel lustiges und viel ernst-buntes Leben in manchem der Bücher, über denen ich meine Tage verbringen mußte; aber die heitersten, herrlichsten Götter und Göttinnen erschienen mir nur als griesgrämliche Quälgeister, und die Helden und Weisen schienen ihre Schlachten nur deshalb zu schlagen und ihre Weisheit nur deshalb von sich zu geben, um einen unmotivierten Groll an mir armem eingesperrtem Teufel auszulassen. Sie hatten nur gelebt und gewirkt, um mich nach ein paar tausend Jahren durch schauderhafte Irrgärten voll gräßlicher Vokabeln zu schleppen und mich in dunkle Abgründe voll scharfeckiger Konstruktionen zu stürzen.
Als endlich diese siebenjährige Jammerknechtschaft aufgeschlossen wurde, brach ich natürlich los wie ein Tier von der Kette, und die uralten und doch nimmer begriffenen Konsequenzen solcher Erziehung traten ein. Ich gehörte auf der Universität zu den wildesten, meisterlosesten Gesellen, und mein Ruhm war weniger groß im würdigen Kreise meiner Professoren als in der unwürdigen Mitte meiner Genossen. Ich floh natürlich aus dem Bereich meines Vormunds und Oheims soweit als möglich fort und begann meine akademische Laufbahn in Wien, welches damals noch das alte lustige Wien war. Und als mir dort der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war und zu viele Augen auf mein Treiben achteten, ging ich nach Prag, hochberühmt seiner medizinischen Lehrstühle wegen. –
Die Sonne umflimmerte noch immer den Ballkranz in meiner Hand, und das einzelne Haar, welches die schöne Trägerin zwischen den weißen und rötlichen Blüten zurückgelassen hatte, glänzte wie ein Goldfaden; – ich gedachte der alten hunderttürmigen Stadt Prag und eines andern schönen Mädchens, welches aber schwarze Haare hatte, und ich gedachte anderer Holunderblüte.
O Prag, du tolle, du feierliche Stadt, du Stadt der Märtyrer, der Musikanten und der schönen Mädchen, o Prag, welch ein Stück meiner freien Seele hast du mir genommen!
Sie sagen, wenn die tschechische Mutter ihr Kind geboren habe, so lege sie es auf das Dach: halte es sich fest, so werde es ein Dieb, rolle es herunter, so werde es ein Musikant. Wäre dieses Wort einem deutschen Kopfe entsprungen, so würde es viel böhmisches Gebrumm darum geben, da es aber ein panslavistisches Diktum ist, so muß man es nehmen, wie es sich gibt. Und nun gab es in der alten wundervollen Stadt Prag, als ich dort die Medizin studierte, solch ein Kind – es war freilich von einer böhmisch-jüdischen Mutter geboren –, welches nicht von dem Dache gerollt war, sondern sich recht fest gehalten hatte, welches also von Rechts wegen stehlen durfte und mußte. Mein Herz nahm es mir, und doch liebte ich es nicht, und eine traurige Geschichte ward daraus.
Damals war es fast noch schwerer als heute, den berühmten Kirchhof der Juden zu finden, wenn man fremd in der Stadt war. Man tat und tut am besten, nach dem Wege zu fragen und sich führen zu lassen, und so fragte auch ich am Tage nach meiner Ankunft, nachdem ich, vom großen Ring kommend, aus der Geiststraße mich in das namenlose Gewirr von Gassen und Gäßlein verloren hatte, welches um den »guten Ort« liegt.
Da es mein Grundsatz ist, mich bei Verlegenheiten in fremder Umgebung an das angenehmste Gesicht zu wenden, so sah ich mich auch jetzt nach demselben um, geriet aber aus einer Verlegenheit in die andere: das Volk, welches mir begegnete, war durchgängig häßlich wie die Nacht. Hätte ich mich an die abschreckendste Physiognomie wenden wollen, so würde ich eher zu einem Resultat gelangt sein. Endlich erblickte ich aber, was ich suchte.
Es hing ein alter Frauenanzug vor einer dunkeln Haustür, und an dem Türpfosten lehnte träge, doch nicht unzierlich, ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie hielt die Arme und Hände auf dem Rücken verborgen und sah mich an. Ich sah sie wieder an und beschloß, meine Frage vorzubringen. Ein Gesicht aus den vornehmen Ständen hatte ich freilich nicht vor mir, und ehe mir Antwort ward, kam eine kleine braune Hand hinter dem Rücken des Kindes hervor, fuhr mir geöffnet mit unverkennbarem Verlangen entgegen, und ich konnte nicht umhin sechs Kreuzer hineinzulegen.
»Nach unseren alten Kirchhof? Nun, ich will hinbringen den Herrn.«
Herab von den drei schmutzigen Stufen sprang die schmächtige Gestalt, glitt mir voran, ohne sich umzusehen, und führte mich kreuz und quer durch die abscheulichsten Winkel, Gassen und Durchgänge, wo mir von allen Seiten mehr oder weniger vorteilhafte Handelsanträge in betreff meines schwarzen altdeutschen Sammetrockes gemacht wurden. Ich hielt mich nicht damit auf, diese Anerbietungen abzulehnen, sondern achtete nur auf das zierliche Irrlicht, welches mich durch diese seltsamen Regionen leitete und endlich neckisch schadenfroh mich verleitete.
Wir kamen in eine enge Sackgasse, dann rechts ab zwischen zwei hohe Steinmauern, an deren Ende eine unheimliche Rundbogentür in einen unheimlichen dunkeln Gang führte. An dieser Pforte stand meine leichtfüßige Führerin still, wies in die Finsternis hinein und sagte unübertrefflich treuherzig:
»Klopfen Sie dort an.«
Obgleich ich eigentlich durchaus nicht wußte, wo ich anklopfen sollte, so tappte ich doch auf gut Glück den Gang entlang, bis ich gegen eine andere schwarze, feuchte Tür stolperte. Ich klopfte und vernahm drinnen ein Ächzen, Stöhnen und dann ein Schlürfen. Dann öffnete sich die Pforte, und ich stand entsetzt vor einer unappetitlichen alten Hexe, welche mich auf tschechisch ankreischte. Drei andere ähnliche Zauberschwestern krochen an Krücken langsam herzu und schnarrten mir ebenfalls Unverständliches entgegen. Höchst verblüfft sah ich mich in dem halbdunkeln, weiten, niedern Raume um. Sechs Betten standen darin, und aus zwei derselben richteten sich zwei entsetzliche Gespenster auf und starrten mich an wie die unglückseligen Geschöpfe, welchen Gulliver auf seinen Reisen begegnete, diese Wesen, welche mit einem schwarzen Fleck vor der Stirn geboren werden und nicht sterben können. Ich hatte die Frechheit, meine Frage nach dem Judenkirchhof zu wiederholen, obgleich mir eine Ahnung sagte, daß ich an der Nase geführt und daß diese Frage an diesem Orte sehr unstatthaft sei. Und richtig – im nächsten Augenblicke befand ich mich wieder in dem vorhin geschilderten dunkeln Gange, froh, mit gesunden, unausgekratzten Augen davongekommen zu sein. Drinnen erschallte ein höllisches Gezeter: der Schalk, mein Irrlicht, mein allerliebstes Judenkind hatte mich für meine sechs Kreuzer in ein Spital für sechs christliche alte Weiber geführt, statt zu dem ehrwürdigen Israeliten, welcher den Schlüssel zu dem Beth-Chaim in Verwahrsam hat.
Ein helles Gelächter erweckte mich aus meiner ärgerlichen Erstarrung; draußen in die Winkelgasse schien die Sonne, und im Sonnenschein am Ende des dunkeln Ganges tanzte auch eine Hexe; aber diese Hexe war jung und reizend und
»'s isch ke liebliger G'schöpf aß so ne Hexli, wo jung isch.«
In dem Sonnenschein tanzte sie und drehte mir eine lange Nase, und ich drohte ihr mit der Faust: »Wart, Hexe, Verführerin, kleine Prager Teufelin!«
Sie aber deutete mit dem Finger auf den Mund und rief mir spöttisch zu:
»Strc prst skrz krk!«
welche melodischen, durch Vokalreichtum sich auszeichnenden Worte im rauhen Deutsch ungefähr bedeuten: »Stecke den Finger durch den Hals.« Dann verschwand der Kobold, und ich mochte nach Belieben über den tiefen Sinn dieser Worte nachsinnen, tat es aber nicht und fragte auch nach solcher üblen Erfahrung niemand mehr um den Weg nach dem Judenkirchhof, sondern fing an, ihn mit germanischer Ausdauer selbst zu suchen. Meinen eigenen Sternen vertraute ich, und sie ließen mich auch nicht im Stich und führten mich endlich durch das schmutzigste Labyrinth, welches die menschliche Phantasie sich vorstellen kann, zu der Pforte, welche in das schauerliche, oft beschriebene Reich des tausendjährigen Staubes führt.
Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen Gängen und sah die Krüge von Levi, die Hände Aarons und die Trauben Israels. Zum Zeichen meiner Achtung legte ich, wie die andern, ein Steinchen auf das Grab des Hohen Rabbi Jehuda Löw bar Bezalel. Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem vierzehnten Jahrhundert, und der Schauer des Ortes kam in vollstem Maße über mich.
Seit tausend Jahren hatten sie hier die Toten des Volkes Gottes zusammengedrängt, wie sie die Lebenden eingeschlossen hatten in die engen Mauern des Ghetto. Die Sonne schien wohl, und es war Frühling, und von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer Windhauch die Holunderzweige und -blüten, daß sie leise über den Gräbern rauschten und die Luft mit süßem Duft füllten; aber das Atmen wurde mir doch immer schwerer, und sie nennen diesen Ort Beth-Chaim, das Haus des Lebens?!
Aus dem schwarzen, feuchten, modrigen Boden, der so viele arggeplagte, mißhandelte, verachtete, angstgeschlagene Generationen lebendiger Wesen verschlungen hatte, in welchem Leben auf Leben versunken war wie in einem grundlosen, gefräßigen Sumpf, – aus diesem Boden stieg ein Hauch der Verwesung auf, erstickender als von einer unbeerdigten Walstatt, gespenstisch genug, um allen Sonnenglanz und allen Frühlingshauch und allen Blütenduft zunichte zu machen.
Ich habe schon erzählt, daß ich in dieser Zeit meines Lebens ein toller, wilder Geselle war; aber das Gefühl, welches mich an dieser Stelle erfaßte, enthielt die Bürgschaft dafür, daß ich noch ernst genug werden könne.
Immer tiefer sank mir die Stirn herab, als ich plötzlich dicht neben mir – über mir ein kindlich helles Lachen hörte, welches ich schon einmal vernommen hatte. Dieses Mal erschreckte es mich fast, und als ich schnell aufsah, erblickte ich ein liebliches Bild.
In dem Gezweig eines der niedern Holunderbüsche, die, wie schon gesagt, das ganze Totenfeld überziehen, – mitten in den Blüten, auf einem der wunderlichen knorrigen Äste, welche die Pracht und Kraft des Frühlings so reich mit Grün und Blumen umwunden hatte, saß das neckische Kind, welches mir vorhin so schlecht den Weg hierher gewiesen hatte, und schelmisch lächelte es herab auf den deutschen Studenten.
Als ich aber die Hand nach dem Spuk ausstreckte, da war er blitzschnell verschwunden, und einen Augenblick später sah das lachende bräunliche Gesicht, umgeben von schwarzem Gelock, um das Grab des Hohen Rabbi, als wolle es mich von neuem verlocken, und zwar zu einer Jagd über den alten Totenort. Aber dieses Mal ließ ich mich nicht verleiten; denn ich wußte klar, daß es mir doch nichts nutzen würde, wenn ich dem Ding nachspränge. In die Erde, in den schwarzen Boden hätte es sich verloren, oder, noch wahrscheinlicher, in die Holunderblüten über den Gräbern wäre es verschwunden. Wie angewurzelt stand ich auf meinen Füßen und traute dem hellen Tag, der glänzenden Mittagsstunde nicht im mindesten: wer konnte sagen, ob an dieser geisterhaften Stelle nicht andere Regeln der Geisterwelt galten als anderwärts?