Wilhelm Raabe
Die Kinder von Finkenrode
Wilhelm Raabe

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3

Als ich am andern Morgen die Augen aufschlug und die Ohren öffnete, verkündete mir ein lustiges Plätschern vor den Fenstern, daß es – regne, und daß daher die Aussichten auf eine behaglichere Fortsetzung und Beendigung meiner Reise zur Erbschaft nicht sehr bedeutend gestiegen seien. Mancherlei Töne des Grauens erfüllten die Gasse: Gänse gackerten, Enten schnatterten, dumpfes Gebrüll des nährenden Rindviehes erschallte aus fernen und nahen Ställen. Von dem Wunsche beseelt, ein wenig mehr von Sauingen und den Sauingern zu erblicken, schaute ich durch die trüben Scheiben: ein kleiner Autochthone stand in einer gegenüberliegenden Haustür, und störte von Zeit zu Zeit mit beiden schmierigen Pfoten die harmlosen Ansiedelungen der kleinen Backwoodsmen in dem roten, struppigen Urwalde seines Hauptes auf. Christianus, der Hausknecht, ein seltsamer Christ, brachte mir meine Stiefeln, welche er einem eigentümlichen Prozeß ausgesetzt zu haben schien. Ich begab mich in die untern Räume des Hahnen hinab, kann aber unmöglich noch einmal in der Erinnerung alles das, was ich hier erlebte, wachrufen! Ich will des unseligen Gebräus, welches man mir als Kaffee vorsetzte, nicht gedenken; ich will einen Schleier über Sauingen, Volk und Senat, seine Jungfrauen, seinen Nachtwächter Michel Märtens, seinen Hahn und Hahnenwirt fallen lassen, und mich sogleich vor die Postexpedition versetzen, wo ein vierräderiger, etwas räudiger Kasten die Verantwortlichkeit auf sich nehmen sollte, mich über die Berge nach Finkenrode zu schaffen. Hier aber streift meine Muse die Ärmel in die Höhe und geht mit frischen Kräften ans Werk.

Barmherziger Regenhimmel, was für zwei Mähren brachte die königliche Posthalterei zum Vorschein! Auf jeder Seite von einem Stallknecht unterstützt, wankten die beiden vierbeinigen Jammergestalten aus dem Stalle hervor und wurden vorsichtig an die Deichsel und aneinander gelehnt, um sich gegenseitig im Gleichgewicht und aufrecht zu erhalten. Mit unterschlagenen Armen überwachten der expedierende Sekretär und der, gleich zerfließendem Käse dreinschauende Posteleve das Anspannen, und ich notiere hier die Worte des letztern, welche an den Vorgesetzten gerichtet waren:

»Herr Postsekretär, diesmal gewinne ich meine Wette. Es ist das letzte Mal, daß wir sie sehen – sie kommen wahrhaftig nicht wieder!«

Der Sekretär zog die Feder sorgenvoll hinter dem Ohr hervor, kratzte sich damit an der frostgeröteten Nase, und zog sich nach einem letzten wehmütigen Blick auf die Rosse und einem gleichgültigen auf den unglücklichen Reisenden in seine Schreibstube zurück, gefolgt von dem Eleven, der kichernd die Hände aneinander rieb. Und jetzt war alles zum Ab – schleichen bereit, der Briefbeutel und der Schaffner waren an ihren Plätzen; ich der einzige Passagier, an dem meinigen – ein schwacher Ruck – ein gewaltiges Hurra der versammelten Sauinger Jugend, – fort ging es – nicht im sausenden Galopp, aber doch in einem schwachmütigen Trab, der mich auf den Gedanken brachte, man habe den beiden unseligen Gäulen als Ermunterungsmittel einige Disteln unter die Schwänze geschoben.

Nachdem ich eine Zigarre angezündet und den Schaffner mit einer dito versehen hatte, fing ich allmählich an, mich wieder etwas als Mensch zu fühlen; ich ließ das Wagenfenster auf der dem Wind und Regen entgegengesetzten Seite herab, und betrachtete die Gegend. Im grünen Sommer mochte sie sich wohl noch anmutiger dem Wanderer darlegen, aber auch heute, wo die Berge vom Dunst und Regen verschleiert waren, flatternde Nebel phantastisch durch die leeren Zweige der Bäume zogen, hatte sie ihre Reize. Hin und wieder klapperte eine Sägemühle in einem Tale; es rauschte manch Wässerlein aus mancher wilden Schlucht hervor, und bei jeder Wendung des Weges schoben sich die Berge origineller ineinander, und von Viertelstunde zu Viertelstunde wurde die Landschaft romantischer.

»Da haben wir neulich gelegen – Wagen und alles!« sagte der Schaffner, auf einen Abhang zeigend. »Mehr links! links, Schwager! . . . Donnerwetter! . . . na, gottlob! wir sind vorüber!«

Ich hatte schon die Zähne zusammengeklemmt, um mir eventualiter nicht die Zunge abzubeißen; jetzt brachte ich sie aufatmend wieder voneinander: »Wie heißt jener Ort dort?«

»Das ist Rollendorf. Fetter Boden und reiche Bauern, aber viel Dreck, Herr!«

Rollendorf? Rollendorf? Der Name kam mir so bekannt vor, – heftete sich nicht irgendeine vergessene Tatsache aus meiner Kindheit an diesen Ort? Ich faßte den spitzen Turm des Dorfes fester ins Auge! Rollendorf? Rollendorf? Ich fand nicht wieder, was ich in der Erinnerung suchte; aber mein Herz schlug doch ein wenig höher, und ich freute mich dieses seltsam wehmütigen Gefühles.

»Dort, wo der Dampf aufsteigt, sind die Hütten von Waldenberg – und da, auf dem Bergrücken, guckt die Kollerwarte hervor; zwischen den beiden Höhen ist der Kollergrund – da liegen viele Schweden begraben!« sagte der Schaffner.

»Was ist das dort für eine blaue Höhe? Die höchste – ganz in der Ferne?«

»Das ist der Eulenkopf! Ja, das ist der höchste Berg in unserer Gegend. Als ich Soldat war, Anno Dreizehn, habe ich aber viel höhere gesehen.«

»Der Eulenkopf, wahrhaftig, das ist der Eulenkopf! Hurra, der Eulenkopf! Gruß dir, Gruß dir, Heimat!«

»Wenn wir diese Höhe hinauf sind, können wir die beiden spitzen Türme von Finkenrode und den Fluß sehen; jetzt verdeckt der Wald noch die Aussicht.«

Ich hatte fast keine Ruhe mehr auf dem Sitze. Alle die so bekannt klingenden Namen, welche der Mann erwähnte, jagten mir das Blut rascher und rascher durch die Adern. Ich drehte mir fast den Hals ab; auf allen Seiten tauchte meine vergessene Jugendwelt um mich her empor.

»Dort geht der Herr Pastor Rohwold. Wie kommt der daher?« sagte der Schaffner, auf einen Wanderer zeigend, der auf einem Waldwege mit einem Regenschirm dahinschritt. »Sein Vater war Pastor zu Rulingen, und er ist es kürzlich auch geworden.«

»Arnold Rohwold! Das Pfarrhaus zu Rulingen – o, wie habe ich das vergessen können?« – Wäre mein Jugendgespiele nicht schon in einer Niederung verschwunden gewesen, ich hätte mich aus dem Wagen gestürzt, und wäre ihm nachgesprungen. Zwanzig Jahre lagen zwischen jener Zeit und heute! – – –

»Finkenrode! Da ist Finkenrode!« rief ich aufspringend; aber die niedrige Wagendecke trieb mir den Hut bis über die Nase hinunter, und als ich ihn mühsam mit Hilfe des grinsenden Kondukteurs wieder in die Höhe gezogen hatte, war der Blick auf die beiden spitzen Kirchtürme meiner Geburtsstadt verschwunden. Wir fuhren jetzt bergunter in den Wald hinein, vorsichtig und langsam, denn der Weg war fast grundlos durch den fortdauernden Regen geworden.

»Dunkeldorf ist die letzte Station,« sagte der Schaffner, »nachher müssen wir noch über den Schillingsberg; das ist ein schweres Stück Arbeit. Um elf Uhr sind wir in Finkenrode.«

In Finkenrode! Ich hätte den Mann umarmen mögen, beschwor aber zugleich den Himmel, irgendeinen Dämpfer auf meine sentimentalen Aufwallungen zu setzen. Ach, ich wurde schneller und nachdrücklicher erhört, als mir lieb war!

Dunkeldorf war bald erreicht, und vor der Schenke wurden die Pferde gewechselt. Wir vertauschten unsere Geisterrosse gegen andere, und der käseartige junge Postmann schien seine Wette doch noch nicht gewinnen zu sollen Einmal kamen sie noch zurück, die vortrefflichen Tiere! Zurück nach meinem unvergeßlichen Sauingen, auf welches ich allen Segen, alles nur mögliche Glück herabflehte, während ich liebend den Tieren die feuchten Mähnen strich, und einen Kognak gegen die Kälte und gegen meine besseren Gefühle genoß.

Weiter! Weiter!

Mühsam arbeiteten sich jetzt die frischen Gäule den Schillingsberg hinauf, den königlichen Postwagen mit dem Vertreter der deutschen Journalistik, dem Kondukteur Mönkemeyer und der Korrespondenz der Finkenrodener hinter sich herschleppend; als uns, nahe dem Gipfel, das Fatum, die Moira schrecklich ereilte.

Krack! krack! seitwärts neigte sich der schwarzgelbe Kutschkasten; der tote Rehbock schoß von dem Verdeck zuerst hinab auf die bodenlose Landstraße. Mönkemeyer, der Schaffner, ließ mich pflichtgemäß auf sich fallen, der Postillon fluchte; die Pferde schlugen scheu aus, da lag der königliche Postwagen auf der königlichen Landstraße. Ein seltener Genuß in dieser Zeit der Kurierzüge mit einem Postwagen umgeworfen zu werden! . . .

»Der Teufel!« rief der Schaffner.

»Ach du lieber Himmel!« seufzte ich.

»'s ist doch, als hätte der verfluchte Kasten ordentlich seinen Spaß daran!« schrie wütend Mönkemeyer. »Sehen Sie nur, Herr, wie behaglich sich die Bestie, die Kröte, die Kanaille in den Sumpf gelegt hat, als gäbe es gar keine Wagenremise in Finkenrode! 's ist zum Rasendwerden! Warten Sie, ich will Ihnen Ihren Schirm hervorsuchen!«

Mit diesen Worten stieg der Erzürnte auf die Speichen des Vorderrades und langte mir mein seidenes Wetterdach hervor. Ich spannte es aus, und rettete mich auf einen Steinhaufen am Wege. Von hier konnte ich das Schlachtfeld mit mehr Gemütsruhe betrachten.

»Na, Schwager, da ist nichts anderes zu machen! Spannt nur die Pferde ab und reitet nach der Stadt um Hülfe; ich will bei der Karrete bleiben. Der Herr wird auch am besten tun, wenn er als Infanterist in Finkenrode einrückt; es geht ja jetzt nur noch bergab, und der Weg ist auch nicht allzu schlecht.«

»Ja, es wird wohl das beste sein!« sagte ich, und stieg die zwanzig Schritte, die ich noch von der Höhe des Berges entfernt war, empor bis zu einem uralten Grenzstein des Erzbistums Mainz, welcher halbversunken dort steht.

Finkenrode! . . .

Ein Blick überflog meine ganze Kindheitsgegend, soweit es der verhangene Himmel erlaubte.

Die Endung »rode« des Stadtnamens deutet an, daß auf der Stelle, wo heute sieben- bis achttausend Menschenkinder ein ziemlich glückliches und, was man auch darüber sagen mag, ziemlich harmloses Dasein führen, tiefer, germanischer, herzynischer Urwald war, der sich in alten Zeiten von den Harzbergen über die norddeutsche Ebene, bis an das deutsche Meer erstreckte. In der Tat gibt es auch jetzt noch Wald genug an den Bergen und um die Berge von Finkenrode.

Wir stehen auf echt cheruskischem Gebiet, wenn gleich die Cherusker selbst lange den Sachsen Platz gemacht haben!

Jedem deutschen Schulknaben wird die Geschichte der Dido eingebläuelt, daß aber auch der deutsche Boden eine ganz ähnliche Sage aufzuweisen hat, weiß und kümmert niemand. Ich halte es für ein Verdienst, die alte Geschichte an dieser Stelle wieder aufzufrischen, obgleich ich an jenem Morgen, an welchem ich die Heimat zum ersten Mal wieder erblickte, wahrlich nicht daran dachte. – Den Cheruskern waren die Katten gefolgt, diesen die Thüringer im Besitz des germanischen Jagdgrundes, auf welchem heute Finkenrode liegt. Letztere saßen hier, als ein Schiff den Fluß herauf kam, welcher so dicht an der Stadt vorbeifließt, daß er den Fuß des letzt übrig gebliebenen Bollwerks der einstigen Ringmauer bespült. Damals war von der Stadt Finkenrode noch nichts zu erblicken: gewaltige Eichen und Buchen spiegelten sich allein in den gelben Fluten der Weser, und staunend rannten die Bewohner der Wildnis, ob des fremden Anblicks, an dem Ufer zusammen; denn den Thüringern war die Schiffahrt unbekannt, sie waren ein Jägervolk, welches seine Bäche durchwatete, seine größeren Gewässer durchschwamm. Niemals war ein solches schwimmendes Gebäu gesehen, hier zu Lande! Jetzt hielt das Schiff an, ein gerüsteter Krieger trat ans Ufer und grüßte das versammelte Volk zu seinem Erstaunen in einer Sprache ähnlich der ihrigen. Er war blondhaarig und riesenhaften Körperbaues wie sie selbst; aber sein Leib, seine Brust, seine Arme waren mit allerlei wundersamen, köstlichen Zieraten bedeckt. Schwere goldene Ringe umgaben seine Handgelenke; Ketten von aufgereiheten römischen Kaisermünzen, mit dem Schwert erbeutet auf kühnen Seeräuberzügen, die gallische und hispanische Küste entlang bis tief in das Land hinein, wo damals Syagrius seinen Todeskampf kämpfte – umschlangen seinen Hals.

Den thüringischen Männern gefiel dieser Schmuck, der Glanz des Goldes stach ihnen in die Augen. Gierig fragten sie nach dem Preise aller dieser Herrlichkeiten.

»Gebt mir dafür, was Ihr wollt!« sagte der Fremdling, und lachend boten ihm die Besitzer des Landes einen Schoß voll Erde von ihrem Grund und Boden, und lachten noch mehr, als der fremde Krieger bedächtig seine Einwilligung nickte und allen Schmuck, alle Ketten und Ringe abstreifte. Die klugen Thüringer füllten ihm das Gewand voll Erde, wie sie versprochen. Kaum aber war das geschehen, so sprangen von dem Schiffe waffenklirrend und jubelnd die unbekannten Leute ans Land – eine Kolonie riesiger, vom Meerwind gehärteter Männer und hoher, stolzer Weiber! Der listige Käufer aber bestreute mit der gekauften Erde eine weite Strecke fruchtbaren Bodens, und auf ihm faßte das Volk der Sachsen zuerst festen Fuß in der alten Cheruska! Schiff auf Schiff kam nun den Strom herauf, Ansiedlung nach Ansiedlung entstand; nach langen blutigen Kämpfen wichen die Thüringer zurück, und drängten die Katten abermals weiter ab gegen Süden, wo sie heute noch sitzen!

Wo aber Werimar und Mangingelt, die Führer des ersten Sachsenschiffes, ihre Schwerter zuerst in den Boden gestoßen hatten, da steht heute das Rathaus der Stadt Finkenrode, und heute noch sitzen ein Bremer und ein Manegold im Rat der Stadt; der erste ein wackerer Schneider, der andere aber ein sechs Fuß hoher Schmied, der seinen Hammer heute noch vielleicht ebenso gewaltig schwingt, wie sein Vorfahr vor tausend Jahren das Saß, das sassische Schwert.

In unendlichen Krümmungen zieht sich der schiffbare Fluß zwischen den Bergen hin, die sich bald dicht zusammenschieben, als wollten sie ihm den Durchgang verwehren, bald wieder in weiten Flächen und Geländen sich auseinanderlegen. Aus ihrem Wolkenschleier sahen alle die Berggipfel, Höhen, Täler, Wälder mich an, als wollten sie sagen: »Was willst du von uns? Du hast uns so lange verleugnet – du gehörst nicht mehr zu uns – wir kennen dich nicht mehr!« . . . Aber ich kenne euch! rief es in mir. Das da ist der Springberg, und dort ragt der Junkerstein – dort ist die Pfaffenschlucht und da das Frauenholz, aus welchem der Hurlebach noch ebenso lustig hervorsprudelt, wie in alter Zeit! O ich kenne euch alle und ihr sollt nicht das Recht haben, mich von euch zu stoßen! Da, wo der leichte Rauch aufwirbelt, ist die Paddenmühle – horch, horch, das Geläut von Sankt Marienstuhl klingt noch, wenn auch die Nonnen selbst lang vertrieben sind aus dem Mariengarten! Es ist Sonnabend, deshalb klingt die Glocke in dem wundervollen Turm dort über dem Wald, und horch, horch – da, die Glocken der Heimat, die Glocken von Finkenrode! . . . Hals über Kopf rannte ich den Schillingsberg hinunter, mit der einen Hand den Regenschirm, mit der andern den Hut haltend. Was kümmerte mich der stärker werdende Regen, unter mir hatte ich ja die beiden Turmspitzen der Martinskirche meiner Vaterstadt, die freundlich aus dem Nebel und Dunst heraufschauten und winkten! Platsch, platsch, platsch! über Stock und Stein, glitschend, rutschend, springend und stolpernd, daß mir das Wasser und anderes mehr um die Ohren flog, immer hinab ins Tal, jetzt über den Hurlebach, an der klappernden Paddenmühle vorbei, durch die Wiesen, die Gärten entlang, bis an das Burgtor der alten Stadt Finkenrode! Ah! . . .

Ein Trupp Gänse zischte und schnatterte mir unter der Wölbung entgegen, ein Kopf, bedeckt mit einer weißen Zipfelmütze, fuhr aus dem Fenster des Steuereinnehmerhauses am Tor, verwundert die so unerwartet herantrabende Erscheinung anstarrend; – langhallendes Kindergeschrei die Straße entlang; Kinder an den Fenstern, Kinder in den Türen, unter den Torwegen, Kinder im Regen, Kinder im Trockenen – wahrlich, ich hatte meine Vaterstadt Finkenrode erreicht; nicht mit den Gefühlen eines Olympiasiegers, nicht mit den Gefühlen eines Heimwehkranken; aber doch mit recht anständigen, stichhaltigen, naturgemäßen Gefühlen, welche von einem nicht allzuverhärteten und gleichgültig gewordenen Gemüt zeugten. Nach einigen Augenblicken des Verschnaufens schritt ich gemächlicher die Hauptstraße hinab, rechts und links die Häuser entlang blickend. Alle diese alten vorgeschobenen Giebel, diese Winkel und Ecken, diese hohen Treppenstufen, diese überdachten Haustüren, diese dunkeln Torwege hatten etwas so Bekanntes, freundlich Wirkendes, Heimliches für mich, daß es wahrhaftig kein Verdienst war, gerührt zu werden, und die Wasserströme nicht zu achten, welche die Dachrinnen auf mich heruntergossen. Jetzt schritt ich über den Marktplatz an dem sprudelnden Brunnen mit dem Bilde des heiligen Martins, des Schutzpatrons der Stadt, vorbei; – – mein Auge fiel auf ein ziemlich großes, freundliches Haus mit spiegelblanken Fensterscheiben und zwei jetzt kahlen Akazienbäumen vor der Tür.

»O, der alte Oheim Fasterling!« rief ich, und eine ganze Welt von Erinnerungen stürmte auf mich ein. Der Oheim Fasterling war eigentlich nicht mein Verwandter, sondern ein alter pensionierter Hauptmann, welcher die Befreiungskriege mitgemacht hatte und seit langen Jahren in Finkenrode allen heranwachsenden Buben das preußische Exerzierreglement beibrachte. Ich war einst sein Liebling gewesen, er hatte mich auf seinem alten Eisenschimmel das Reiten gelehrt, ich begleitete ihn auf seinen Spaziergängen – der Oheim Fasterling! der Oheim Fasterling! . . .

Jetzt, um die Ecke biegend, stand ich vor der prächtigen alten Kirche des heiligen Martin, deren Türme man in allen Gassen von Finkenrode über die Dächer ragen sieht. In ihrem Schatten lag noch immer das im Sommer so idyllisch umgrünte Schulhaus, der Schauplatz meiner ersten Jugendtaten; ich machte, daß ich den – Gasthof zum goldenen Weinfaß erreichte.

 
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