José Maria Eça de Queiroz
Stadt und Gebirg
José Maria Eça de Queiroz

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I

Mein Freund Jacintho kam in einem Palast zur Welt, mit 109 Contos Rente in Saatland, Weinland, Korkwaldungen und Olivenhainen.

Im Alentejo, über ganz Estremadura, quer durch die beiden Beira-Provinzen hindurch begrenzten dichte, sich über Berge und durch Täler windende Hecken, hohe Mauern aus gutem Gestein, Gewässer und Landstraßen die Ländereien dieser alten, ackerbautreibenden Familie, die schon zu Zeiten des Königs Diniz Korn aufspeicherte und Reben pflanzte. Ihr Landgut und der Herrensitz Tormes in Unter-Douro erstreckten sich über einen ganzen Gebirgszug. Zwischen dem Tua und dem Tinhela, fünf wohlgemessene Meilen weit, zahlte ihr die ganze Gegend Lehnszins, und ihr gehörende dichte Kieferwaldungen schatteten von Arga ab bis zur Bucht von Ancora. Der Palast jedoch, in dem Jacintho zur Welt gekommen war und den er immer bewohnt hatte, stand in Paris, auf den Champs-Elysees Nr. 202.

Sein Großvater, der sehr dicke und sehr reiche Jacintho, den man in Lissabon Dom Galiaon nannte, ging eines Nachmittags durch die Travessa da Trabuqueta, dicht an einer von einem Weingeländer überdachten Gartenmauer entlang, glitt auf einer Orangenschale aus und schlug auf das Pflaster hin. Aus der Gartenpforte trat in diesem Augenblick ein gebräunter, glattrasierter Mann in grobem, grünem Flausrock und hohen Reitstiefeln, der mit einem Scherz und leichter Mühe unserm ungeheuren Jacintho auf die Beine half und ihm sogar den Stock mit dem Goldknauf aufhob, der in den Schmutz gerollt war. Darauf heftete er die dichtbewimperten, schwarzen Augen auf ihn:

»Hallo, Jacintho Galiaon, was hast du dich denn um diese Stunde hier auf dem Pflaster herumzuwälzen?«

Und Jacintho erkannte betäubt und geblendet den Infanten Dom MiguelUsurpator Portugals, 1802 als dritter Sohn Johanns VI. geboren, 1821 von seiner Mutter, einer spanischen Infantin, an die Spitze der absolutistisch-theokratischen Partei gestellt, versuchte er die Konstitution umzustürzen und seinen Vater abzusetzen, wurde aber nach dem Scheitern dieses Versuches des Landes verwiesen. Nach Johanns VI. Tode ging die Krone von Portugal auf Maria da Gloria, die Nichte Dom Miguels, Tochter seines ältesten Bruders Dom Pedro, über. Miguel verlobte sich mit ihr und übernahm für sie die Regentschaft, löste aber bald darauf die konstitutionellen Cortes auf und ließ sich durch die alten Cortes zum König proklamieren. Gegen die Waffen seines Bruders siegreich, unterdrückte der Usurpator durch ein wildes Schreckenssystem die Gegenpartei. Nachdem Pedro 1832 Oporto zurückerobert (9. Juli, noch jetzt ein nationaler Feiertag), 1833 Lissabon besetzt und Maria II. zur Königin eingesetzt hatte, mußte Miguel 1834 die Kapitulation von Evora unterzeichnen, nach welcher er allen Ansprüchen auf den Thron entsagte und ins Exil ging. Er starb 1866 in Deutschland.

Von jenem Tage an widmete er dem guten Infanten einen Kultus, wie er ihn bei aller Gefräßigkeit nicht mit seinem Bauch und bei aller Frömmigkeit nicht mit seinem Gott getrieben hatte. Im Festsaal seines Hauses in Pampulha hing auf damastseidenen Teppichen das Porträt seines »Erretters«, wie ein Altarbild mit Palmzweigen geschmückt, zu Füßen der Stock, den die erlauchten Hände des königlichen Prinzen aus dem Schmutz aufgehoben hatten. Während der Infant in der Verbannung zu Wien schmachtete, stieß der dickleibige Dom Galiaon Sehnsuchtsseufzer nach seinem »Engelchen« aus und intrigierte für seine Rückkehr. Während des Krieges mit dem »andern, dem Freimaurer«, schickte er dem König durch Boten gekochten Schinken, Eingemachtes, Flaschen mit seinem Wein von Tarrafal und seidene Beutel voll Goldstücke, die er abseifte, damit sie schön glänzten. Und als er erfuhr, daß Dom Miguel mit zwei alten, auf ein Maultier geschnallten Koffern den Weg nach Sines in das endgültige Exil eingeschlagen hatte, da lief Jacintho Galiaon nach Hause, schloß wie zur Trauer alle Fenster und schrie wütend:

»Ich bleib' auch nicht hier! Ich bleib' auch nicht hier!«

Nein, er wollte nicht in dem entarteten Lande bleiben, aus dem, entblößt und landesverwiesen, dieser König von Portugal auszog, der die Jacinthos von der Straße aufzuheben pflegte! Er schiffte sich nach Frankreich ein, samt seiner Frau, der Senhora Donna Angelina Fafes, aus dem berühmten Hause der Fafes da Avellan, sowie seinem Sohn, dem Cinthinho, einem gelben, verweichlichten Jungen, der Wärterin und einem Negerknaben.

An der kantabrischen Küste begegnete das Paketboot einer so schweren See, daß Donna Angelina ganz erschöpft auf den Knieen auf ihrem Lager in der Kabine dem »Senhor dos Passos«, dem Christus der Leidensstationen von Alcantara, eine goldene Dornenkrone gelobte, mit Blutstropfen aus Rubinen von Pegu. In Bayonne, wo sie anliefen, hatte Cinthinho die Gelbsucht. Auf der Fahrt nach Orleans brach in stürmischer Nacht die Achse des Reisewagens, und der feiste Herr, die zarte Dame aus dem Hause da Avellan und der Knabe marschierten drei Stunden im Regen und Schmutz der Verbannung bis zu einem Dorfe, wo sie, nachdem sie wie Bettler an stummen Türen gepocht, auf den Bänken einer Schenke schliefen. In dem »Hotel des Saints Pères« zu Paris hatten sie die Schrecken einer Feuersbrunst auszustehen, die im Pferdestall unter dem Zimmer Dom Galiaons ausbrach, und der würdige Fidalgo trat, nachdem er sich im Nachthemd die Treppen hinab in den Hof geschleppt hatte, mit dem bloßen Fuße in einen Glassplitter. Da erhob er in bitterem Zorn die zottige Hand zum Himmel und brüllte:

»Zum Henker! Da hört alles auf!«

In derselben Woche noch kaufte Jacintho Galiaon, ohne lange zu wählen, einem polnischen Fürsten, der nach der Einnahme von Warschau in ein Kartäuserkloster getreten war, jenes Palais auf den Champs-Elysées, Nr. 202, ab. Unter seiner reich vergoldeten Stuccatur und zwischen den geblümten Seidentapeten spann er sich ein, um von all den Aufregungen auszuruhen und ein geruhiges Leben und einen guten Tisch zu führen, mit ein paar Exilgenossen (dem Obertribunalrat Nuno Velho, dem Grafen Rabacena u. a. m.), bis er eines Tages an einer Magenstörung starb. Nun meinten die Freunde, Frau Angelina würde nach Portugal zurückkehren. Aber die gute Dame hatte einen heiligen Respekt vor der Reise, dem Meer und den Kaleschen, denen die Achse bricht. Und dann wollte sie sich auch nicht von ihrem Beichtiger trennen, noch auch von ihrem Arzt, die so tiefes Verständnis für ihre Gewissenszweifel und ihr Asthma betätigten.

»Hier bleibe ich in Nr. 202,« hatte sie erklärt, »wenn ich auch das schöne Wasser am Alcolena sehr vermisse ... Wenn 'Cinthinho größer wird, kann er sich ja entscheiden.«

Und 'Cinthinho war größer geworden. Ein Junge, schlanker und weißer als eine Kerze, mit langen, straffen Haaren und großer Nase, in schlotternde schwarze Gewandung gehüllt. Nachts, wo ihn Husten und Erstickungsanfälle nicht schlafen ließen, ging er im Nachtkleid mit einem Lämpchen in Nr. 202 um; und die Dienstboten im Gesindezimmer nannten ihn den »Schatten«. Aus dieser seiner Stummheit und Unentschlossenheit entpuppte sich nach Ablauf der Trauer um den Vater der lebhafte Wunsch, Drechslerarbeiten an der Drehbank anzufertigen; später, in der Honigblüte seiner zwanzig Jahre, ersproß in ihm ein andres Gefühl, das des Begehrens und der Bewunderung für die Tochter des Obertribunalrats Velho, ein Mädchen so rundlich wie eine Waldtaube, das in einem Pariser Kloster erzogen worden war. Im Herbst 1851, als schon das Laub von den Kastanienbäumen in den Champs-Elysées abfiel, spuckte 'Cinthinho Blut. Der Arzt streichelte sich das Kinn und riet mit ernster Falte auf der Stirn, der junge Mann solle nach dem Golf Juan oder in die lauen Sandbäder von Arcachon gehen.

Cinthinho indes wollte sich keinen Schritt von Therezinha Velho entfernen, zu deren stummem, schwerfälligem Schatten er sich durch Paris hindurch machte. Wie ein Schatten heiratete er, drechselte noch einige Zeit an seiner Drehbank herum, spie einen Rest von Blut aus und löste sich auf wie ein Schatten.

Drei Monate und drei Tage nach seinem Begräbnis kam mein Jacintho zur Welt.

* * *

Von der Wiege ab, die die Großmutter mit Fenchel und Ambra besprengte, um das »böse Schicksal« zu beschwören, wuchs und gedieh Jacintho mit der Zielbewußtheit, der saftstrotzenden Kraft einer Strandfichte.

Er hatte weder Masern noch Spulwürmer. Abc, Einmaleins und Latein gingen ihm so leicht ein wie die Sonne durch eine Fensterscheibe. Wenn er unter den Kameraden im Schulhofe seinen Blechsäbel schwang und einen Kommandoruf erschallen ließ, so war er gleich Sieger, – der König, dem man Lob darbringt und das Obst vom Vesperbrot opfert. Durch das Alter, in dem man Balzac und Musset liest, kam er ohne alle Qualen der Empfindsamkeit; noch auch fesselten ihn warme Dämmerstunden an die Einsamkeit eines Fensters, wo er sich in einem Verlangen ohne Gestalt und Namen verzehrt hätte. Alle seine Freunde (wir waren deren drei, sein alter schwarzer Diener Grillo mit eingerechnet) widmeten ihm stets eine reine und verläßliche Freundschaft, ohne daß jemals die Anteilnahme an seinem Luxus sie lebhafter gestaltet oder offenkundige Beweise seines Egoismus sie abgeschreckt hätten. Ohne genügend starkes Empfinden, um eine starke Liebe zu fassen, und glücklich in dieser befreienden Unfähigkeit, sog er aus der Liebe nur den Honig, – jenen Honig, den die Liebe für diejenigen aufbewahrt, die ihn gleich den Bienen leichtlebig, beweglich und unter fröhlichem Summen sammeln. Kräftig, reich, gleichgültig gegen Staat und Menschensatzungen, hatte er nie einen andern Ehrgeiz als den einer allgemeinen Weltanschauung; und in den heiteren Jahren der Studien und Kontroversen kreiste sein Verstand in der dichtesten Philosophie wie ein glänzender Aal in dem blauen Wasser eines Teiches. Sein Wert, – echter, seiner Goldwert – wurde nie verkannt, noch unterschätzt; und jedwede Ansicht oder ein Scherz, dem er Worte gab, begegnete einer Brise der Sympathie und der Zustimmung, die ihn trug, einhüllte und in der Höhe erglänzen ließ. Vom »Objekt« wurde er auf die verständnisvollste und liebenswürdigste Weise bedient; ich entsinne mich nicht, daß ihm jemals ein Hemdenknopf abgesprungen wäre, daß sich ein Papier boshafterweise seinen Augen entzogen, oder daß vor seiner Lebhaftigkeit und Eile eine perfide Schublade sich geklemmt hätte. Als er eines Tages unter ungläubigem Lachen über Fortuna und ihr Glücksrad einem spanischen Küster ein Zehntel eines Loses abkaufte, eilte Frau Fortuna leichtgeschürzt und lächelnd auf ihrem Rade herbei und präsentierte ihm vierhunderttausend Pesetas. Und wenn am Himmel die regengeschwollenen trägen Wolken Jacintho ohne Regenschirm sahen, so hielten sie ehrerbietig ihr Wasser zurück, bis er vorüber war ... Der Ambra und Fenchel der Frau Angelina hatten aus seinem Geschick siegreich und für immer das »böse Schicksal« vertrieben! Die liebenswürdige Ahne pflegte ein Geburtstagssonett vom Obertribunalrat Nunes Velho zu citieren, das einen Vers guter Lesart enthielt:

So wißt, Madame, dies Leben ist ein Fluß ...

Ja, ein Sommerfluß, zahm, klar, harmonisch ausgestreckt über glattem, weißem Sande, zwischen duftenden Pflanzungen und glücklichen Dörfern, würde dem, der ihn in einem Zedernboot mit Sonnenzelt und weichen Polstern hinabführe, mit Früchten und Champagner auf Eis, mit einem Engel am Steuer und ein paar andern Engeln, die am Schlepptau ziehen, nicht mehr Sicherheit und Wohligkeit bieten, als das Leben meinem Freund Jacintho bot.

Und deshalb nannten wir ihn den »Principe da Gran-Ventura« oder Prinz Glückspilz.

Jacintho und ich, José Fernandes, lernten uns kennen und befreundeten uns in Paris, in den Schulen des Quartier-Latin, wohin mich mein guter Onkel Affonso Fernandes Lorena de Noronha e Sande geschickt hatte.

In jener Zeit hatte sich Jacinthos eine Idee bemächtigt ... Dieser Prinz war zu der Ueberzeugung gelangt: »der Mensch ist allein dann hervorragend glücklich, wenn er hervorragend kultiviert ist.« Und unter einem kultivierten Menschen verstand mein Freund denjenigen, der seine Denkkraft mittels aller seit Aristoteles erworbenen Begriffe stärkt und die körperliche Fähigkeit seiner Organe mit allen seit Theramenes, dem Erfinder des Rades, erfundenen Mechanismen multipliziert und sich so zu einem wundervollen Adam gestaltet, der beinahe allmächtig, beinahe allwissend und dennoch befähigt ist, innerhalb der Grenzen des Fortschritts (soweit dieser im Jahre 1875 gediehen war) alle Genüsse und alle Vorteile, die sich aus Wissen und Können ergeben, zu vereinigen ... So wenigstens formulierte Jacintho häufig seine Idee, wenn wir über Zweck und Bestimmung des Menschen redeten und dabei unter dem Sommerzelt der philosophischen Bierhallen auf dem Boulevard Saint-Michel staubiges Bockbier schlürften.

Diese Ansicht Jacinthos hatte auf den Kreis unsrer Gesinnungsgenossen lebhaft eingewirkt: zwischen 1866 und 1875, also zwischen der Schlacht bei Sadowa und der Einnahme von Sedan, im Geistesleben aufgetaucht, hatten sie beständig von Technikern und Philosophen aussprechen hören, daß es das Zündnadelgewehr gewesen sei, das bei Sadowa, und der Schulmeister, der bei Sedan gesiegt hätte, – und waren deshalb durchaus der Ansicht geneigt, daß das Glück des Individuums sowohl wie das der Völker durch die unbegrenzte Entwicklung der Mechanik und der Wissenschaft verwirklicht werde.

Für Jacintho war seine Ansicht keineswegs bloß metaphysisch oder von dem vornehmen Genuß hervorgerufen, beschauliche Vernunftwissenschaft zu üben: – sie bildete vielmehr eine ganz aus Wirklichkeit und Nützlichkeit bestehende Regel, die das Verhalten bestimmte, das Leben regelte. Und schon zu dieser Zeit versah er sich, in Uebereinstimmung mit seiner Ansicht, mit der Petite Encyclopédie des Connaissances Universelles in fünfundsiebzig Bänden und errichtete auf dem Dache von Nr. 202 in einem Glashause ein Teleskop. Mit diesem Teleskop machte er mir in einer weichen, warmen Augustnacht seine Ideen greifbar. Am fernen Horizont wetterleuchtete es. Durch die Avenue des Champs-Elysees rollten die Fiaker der Kühle des Bois entgegen, langsam, aufgeschlagen, müde, von hellen Gewändern überflutend.

»Da hast du, Fernandes,« sagte Jacintho, indem er sich an die Fensterbrüstung seines Observatoriums lehnte, »die Theorie, die mich beherrscht, bestens bestätigt. Mit diesen unsern Augen, die wir von der Mutter Natur erhalten haben, können wir, so schnell und gesund sie auch sind, kaum über die Avenue hinweg an jenem Kaufhaus ein erleuchtetes Schaufenster gewahren. Nichts mehr! Wenn ich indes meinen Augen die beiden einfachen Gläser eines Krimstechers hinzufüge, so unterscheide ich hinter der Glasscheibe Schinken, Käse, Steintöpfe und Einmachegläser mit Gelee und Kästen voll trockener Zwetschen. Ich habe also eine Wahrnehmung gemacht und habe vor dir, der du mit unbewaffnetem Auge nur das Fenster leuchten siehst, einen positiven Vorteil. Wenn ich nun statt dieser einfachen Gläser die meines Teleskops benutzte, die nach wissenschaftlicheren Regeln angefertigt sind, so könnte ich da oben auf dem Mars Meere, Schneeberge, Kanäle, Meeresbuchten, kurz, die ganze Geographie eines Gestirns erkennen, das Tausende von Meilen von den Champs-Elysées entfernt ist. Das ist eine andre und zwar ungeheure Wahrnehmung! Du hast hier also das primitive, das Naturauge, von der Zivilisation zur höchsten Potenz des Sehens erhoben. Demnach bin ich, sobald ich ein zivilisierter Mensch bin, glücklicher als der unzivilisierte, weil ich Tatsachen im Weltall entdeckte, von denen er sich nichts träumen läßt und deren er beraubt ist. Wende diesen Beweis auf alle Organe an, und du wirst mein Prinzip begreifen. Was die Vernunft angeht und den Genuß, den man aus ihr durch das stete Anwachsen der Wahrnehmungen schöpft, so bitte ich dich nur: vergleiche zum Beispiel Renan und Grillo. Es ist also klar, daß wir uns mit Kultur im höchsten Maßstabe umgeben müssen, um gleichfalls im höchsten Maßstabe den Vorzug zu genießen, daß wir leben. Gibst du das zu, Zé Fernandes?«

Es erschien mir keineswegs ausgemacht, daß Renan glücklicher sein müßte als Grillo: auch hatte ich kein Verständnis für den geistigen und zeitlichen Vorteil, der darin läge, durch den Weltenraum hindurch Flecken in einem Gestirn oder über die Champs-Elysées hinüber Schinkenbeine in einem Wurstladen zu entdecken. Aber ich stimmte doch zu, weil ich von Natur gutmütig bin und niemals jemand von der Ansicht abzubringen suchen werde, in der er Trost, Selbstzucht und einen Beweggrund zu Kraftäußerungen findet. Ich knüpfte also die Weste auf, wies mit einer Gebärde nach den Cafés und den Lichtern hinüber und schlug vor:

»Laß uns also gehen, um im größten Maßstabe Brandy und Soda mit Eis zu trinken!«

Infolge einer sehr natürlichen Schlußfolgerung haftete die Idee der Kultur für Jacintho an der Vorstellung einer Stadt, einer ungeheuren Stadt, deren weitläufige Organe alle kraftvoll funktionierten. Auch begriff mein hyperkultivierter Freund gar nicht, daß fern von den durch dreitausend Verkäufer bedienten Magazinen und den Markthallen, in die sich die Obstgärten und Marschen von dreißig Provinzen ergießen, von den Banken, in denen das weltbewegende Gold klingt, von den beängstigend rauchenden und erfindenden Fabriken, von den mit jahrhundertealtem Papierwust bis zum Bersten vollgepfropften Bibliotheken und den meilenlangen Straßen, die unter- und oberhalb von Telegraphen- und Telephondrähten, von Gas- und Abzugskanälen durchschnitten sind, von der sinnverwirrenden Reihe von Omnibussen, Straßenbahnen, Karossen, Fahrrädern, alten Karren und Luxusequipagen, und von zwei Millionen menschlicher Lebewesen, die keuchend auf der harten Suche nach Brot oder unter der Illusion des Genusses durch die Kultur wimmeln, – der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts die »Wonne, zu leben«, voll schlürfen könnte.

Als Jacintho mir in seinem Zimmer in Nr. 202 mit den auf blühende Fliederbüsche gehenden offenen Verandatüren diese Bilder entrollte, wuchs er zusehends. »Welch erhabene Schöpfung, die Stadt! Nur in ihr, Zé Fernandes, nur in ihr kann der Mensch stolz seinen Geist, seine Seele bestätigen!«

»O, Jacintho, und die Religion? Bestätigt denn nicht die Religion die Seele?«

Er zuckte die Achseln. Die Religion! Die Religion ist die prunkhafte Entwicklung eines elementaren, allen rohen, unentwickelten Wesen gemeinsamen Instinkts, der Furcht. Ein Hund, der seinem Herrn, von dessen Hand er Brot oder die Peitsche bekommt, diese Hand leckt, bietet das groteske Abbild eines Betbruders, eines bewußten, berechnenden Betbruders, der vor Gott, welcher Himmel oder Hölle verteilt, auf den Knieen liegt!... Dagegen das Telephon! Der Phonograph!

»Sieh, da hast du den Phonographen!... Der Phonograph allein, Zé Fernandes, macht mir meine Ueberlegenheit fühlbar, ein denkendes Wesen zu sein, und scheidet mich vom Tier. Glaub mir, es geht nichts über die Stadt, Zé Fernandes, es geht nichts über die Stadt!«

Und dann, fügte er hinzu, könne ihm auch nur die Stadt die Sensation geben, die dem Leben so nötig wäre wie die Wärme, die Sensation von der menschlichen Zusammengehörigkeit. Und wenn er so von seiner Nr. 202 in die Runde blickte und in dem dichten Häuserhaufen von Paris zwei Millionen Wesen am Werte der Kultur keuchen sähe, so fühle er eine Ruhe, ein Behagen, das nur dem des Pilgers zu vergleichen sei, der auf seiner Wüstenwanderung sich auf seinem Dromedar aufrichtet und die lange Reihe der mit Streichhölzern und Waffen bepackten Karawane dahinschreiten sieht.

Sehr impressioniert, murmelte ich: »Caramba«!

Im Gegensatz hierzu zittere er vor Furcht über seine Hinfälligkeit und Einsamkeit, wenn er auf dem Lande sei, inmitten der Unbewußtheit und Unbewegtheit der Natur. Da fühle er sich wie verraten und verkauft in einer ihm feindlich gesinnten Welt. Keine Dornenranke, die ihre Dornen einzöge, damit er ungehindert passieren könnte. Wenn er vor Hunger stöhnte, so streckte ihm kein noch so voll beladener Baum an der mitleidigen Spitze eines Zweiges seine Frucht entgegen. Und dann, so inmitten der Natur habe er plötzlich das unbequeme und demütigende Bewußtsein von der Nutzloswerdung aller seiner hochkultivierten Fähigkeiten. Alle Intellektualität werde auf dem Lande unfruchtbar, und es bleibe allein die Bestialität. In diesem rohen Pflanzen- und Tierreiche erhalten sich ausschließlich zwei Funktionen lebendig, die der Ernährung und die der Zeugung. Abgesondert, beschäftigungslos, zwischen Schnauzen, die nicht aufhören zu weiden, und Wurzeln, die nicht aufhören zu saugen, ersticke seine arme Seele in dem heißen Hauch der allgemeinen Befruchtung, schrumpfe zusammen, reduziere sich zu einem Seelenkrümchen, einem geistigen Fünkchen, das wie tot auf einem Stück Materie flimmert; und in dieser Materie gewinnen zwei Instinkte die Oberhand, herrisch, heftig: der zu verschlingen und der zu zeugen. Nach Verlauf einer Woche auf dem Lande bleibe von seinem ganzen so vornehm zusammengesetzten Wesen nur ein Magen und ein Phallus. Die Seele? Vom Tier unterjocht. Und dann müsse er eilen, zur Stadt zurückkehren, in die glänzende Flut der Zivilisation untertauchen, um darin die vegetative Kruste abzuspülen und neu vermenschlicht, vergeistigt und »jacinthisch« emporzutauchen!

Und diese gekünstelten Metaphern meines Freundes drückten wirkliche Gefühle aus, deren Zeuge ich war, und die mich aufs höchste belustigten auf dem einzigen Spaziergang, den wir aufs Land machten, in den sehr liebenswürdigen und gesellschaftlichen Wald von Montmorency. Es war die reine Posse, Jacintho in der Natur! Nicht sobald hatte er das Holzpflaster oder den Makadam hinter sich gelassen, so erfüllte ihn jeder Boden, auf den sein Fuß trat, mit Furcht und Schrecken. Jedweder Rasen, auch der sonnverbrannteste, schien ihm eine tödliche Feuchtigkeit durchzusintern. Unter jeder Erdscholle, aus dem Schatten jedes Steines hervor fürchtete er einen Angriff von Skorpionen, Vipern, von kriechenden, schleimigen Wesen. Im Schweigen des Waldes empfand er eine unheimliche Entvölkerung des Weltalls. Die Vertraulichkeit des Gezweigs, das ihm Aermel oder Gesicht streifte, empörte ihn. Eine Hecke zu überspringen, betrachtete er als eine degradierende Handlung, die ihn zum Uraffen stempelte. Alle Blumen, die er nicht schon in Gärten gesehen hatte und als durch lange Jahrhunderte ornamentaler Dienstbarkeit gezähmt kannte, flößten ihm, als giftig, Mißtrauen ein. Und mit possenhaftem Trübsinn betrachtete er gewisse Eigentümlichkeiten und Formen der unbelebten Natur, die hurtige und vergebliche Eile der Bäche, die Kahlköpfigkeit der Felsen, alle die schnörkelhaften Verrenkungen des Baumwerks und sein feierliches, einschläferndes Rauschen.

Nach Verlauf einer Stunde in jenem ehrsamen Gehölz von Montmorency ging meinem armen, furchtgehetzten Freund der Atem aus, und er empfand schon jenes allmähliche Einschrumpfen und Untertauchen der Seele, das ihn wie zum Tier unter Tieren machte. Er heiterte nicht eher wieder auf, als bis wir wieder das Trottoir und das Gas von Paris erreicht hatten und bis unsre Viktoria wieder Aussicht hatte, an einem wackelnden Omnibus zu zerschellen, der mit Stadtbürgern vollgepfropft war. Er ließ auf den Boulevards halten, um in großer Geselligkeit die Materialisation wieder zu zerstreuen, von der ihm der Kopf schwer und benommen war, wie der eines Ochsen. Und er verlangte, ich solle ihn nach dem Varietäten-Theater begleiten, um mit den Couplets der »Femme à Papa« den lustigen Lärm abzuschütteln, der ihm noch von den in den hohen Platanen singenden Amseln im Ohr klang.

Dieser liebenswerte Jacintho war damals dreiundzwanzig Jahre alt, ein prachtvoller junger Mann, in dem die Kraft des alten Landjunkergeschlechts neu erblüht war. Nur mit seiner feinen Nase, deren Flügel fast durchsichtig und von unruhiger Beweglichkeit waren, als wenn sie Düfte einzögen, gehörte er den Verfeinerungen des neunzehnten Jahrhunderts an. Das Haar war noch nach Art der derberen Aera kraus, fast wollig: und der Schnurrbart fiel wie der eines Kelten in seidigen Fäden herab, die er aufbürsten und kräuseln mußte. Sein ganzer Anzug, die flotte Krawatte aus dunkelm Atlas, die von einer Perle zusammengehalten wurde, die weißen büffelledernen Handschuhe, der Stiefellack, alles kam aus London, in Kisten aus Zedernholz verpackt. Im Knopfloch eine Blume, keine natürliche, sondern eine von seiner Straußbinderin keck komponierte: Blütenblätter ungleicher Blumen wie Nelken, Azaleen, Orchideen oder Tulpen, mit einem leichten Fenchelzweig zu einem Stiel vereinigt.

m Februar 1880, an einem grauen, unwirtlichen Regentage erhielt ich von meinem guten Onkel Alfonso Fernandes einen Brief, der mir, nach allerlei Lamentationen über seine siebzig Jahre, seine Hämorrhoiden und die beschwerliche Verwaltung seiner Güter, die »einen jüngeren Mann und jüngere Beine verlangte«, anbefahl, auf unsern Landsitz Guiaens im Douro zurückzukehren. Gegen den gesprungenen Marmorsims des Kamins gelehnt, wo am Abend zuvor meine Nini ein in ein »Journal des Débats« eingewickeltes Leibchen zurückgelassen hatte, rügte ich aufs strengste das Verfahren meines Onkels, der solchergestalt die Blüte meines juristischen Wissens in der noch unerschlossenen Knospe abschnitt. In einer Nachschrift fügte er hinzu: »Das Wetter ist hier köstlich, ein wahres Rosenwetter, und Deine liebe Tante schickt viele Grüße; sie hat in der Küche zu tun, denn heute sind es sechsunddreißig Jahre, daß wir Hochzeit machten, und wir haben den Pfarrer und den Quintaes zu Tisch, da will sie doch mit dem Essen Ehre einlegen.«

Während ich ein Scheit ins Feuer warf, dachte ich daran, wie gut die Suppe der Tante Vicencia schmecken müßte! Seit wie vielen Jahren hatte ich sie schon nicht gekostet, so wenig wie das gebratene Spanferkel und den im Backofen gerösteten Reis unsers Hauses! Bei dem herrlichen Wetter mußten sich schon die Mimosen in unserm Hofe unter ihren großen gelben Trauben biegen. Ein Stück blauen Himmels, – von dem in Guiaens, denn wo anders ist er nicht so strahlend und weich –, blickte in das Fenster, zauberte auf die abgeschabte Trübseligkeit des Teppichs grüne Rasenflächen, Bäche, Gänseblümchen und Kleeblumen, nach denen mir die Augen wässerten, und durch die Sergevorhänge strich eine seine, würzige Bergwaldluft... Einen wehmütigen »Fado« pfeifend, zog ich meinen alten Koffer unter dem Bett vor und packte sorgsam zwischen Hosen und Strümpfe eine Abhandlung über bürgerliches Recht, um endlich in der ländlichen Muße im Schatten der Buche die Gesetze zu lernen, die die Völker regieren. Am Nachmittage kündigte ich dann Jacintho an, daß ich nach Guiaens abreisen werde. Mein Freund schrak mit einem dumpfen Stöhnen des Entsetzens und des Erbarmens zurück:

»Nach Guiaens! O, Zé Fernando, wie fürchterlich!«

Und die ganze Woche ließ er es sich dann angelegen sein, mir allerlei Bequemlichkeiten zu empfehlen, mit denen ich mich versehen müßte, damit ich in der Weltabgeschiedenheit, fern von der Stadt, ein bißchen Seele in ein bißchen Körper bewahren könnte. »Nimm einen Armstuhl mit! Nimm die Allgemeine Encyklopädie mit! Vergiß nicht ein paar Büchsen Spargel mitzunehmen!« ...

In den Augen Jacinthos war ich, sobald ich der Stadt entrissen sein würde, wie ein entwurzelter Baum, der nicht wieder ausschlägt. Das Leidwesen, mit dem er mich zum Bahnhof begleitete, würde sich ganz vorzüglich für mein Leichenbegängnis geeignet haben. Und als er die Wagentür hinter mir schloß, ernst, feierlich, wie man ein Grabgitter schließt, da schluchzte ich beinahe – vor Mitleid mit mir selbst.

Ich kam in Guiaens an. Noch hingen Blütentrauben an den Mimosen in unserm Hofe; ich schlürfte mit Entzücken die Suppe der Tante Vicencia; mit Holzpantoffeln an den Füßen wohnte ich der Maisernte bei. Und so von der Ernte zur Beackerung, nach der sengenden Sonnenhitze auf den Dreschtennen zur Rebhuhnjagd auf bereiften Fluren; ich zerbrach die erfrischende Wassermelone im Staub der Kirchweihfeste, beteiligte mich an dem fröhlich geselligen Treiben des Kastanienfestes, saß die langen Winterabende mit den andern gesellig bei der Lampe, schürte am Johannisabend die Scheiterhaufen an, baute zu Weihnachten Christgärten und Krippen, – und so glitten mir sacht sieben Jahre dahin, die mich allezeit so beschäftigt fanden, daß ich nie Zeit gefunden hatte, die Abhandlung über bürgerliches Recht zu öffnen, – so gleichmäßig still, daß ich mich als an etwas Besonderes nur erinnere, daß am Sankt Nikolastage der Pfarrer vor der Tür des Braz das Córtes von der Stute fiel. Von Jacintho erhielt ich nur selten ein paar Zeilen, in höchster Eile inmitten des Tumults der Zivilisation gekritzelt.

Schließlich, in einem sehr heißen September, wo er die Weinernte leitete, starb mein guter Onkel Alfonso Fernandes, so ruhig (Gott sei gelobt für diese Gnade!) wie ein Vöglein verstummt, das sich den Tag über müde gesungen und geflogen hat. Ich vertrug noch auf dem Lande mein Trauerzeug. Mein Patenkind Joanninha machte um die Zeit des Schweineschlachtens Hochzeit. Unser Dach war in Reparatur. Ich kehrte nach Paris zurück.


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