Alexander Puschkin
Pique-Dame
Alexander Puschkin

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I

Man kam bis in den trüben Tag
Zusammen, bei mancher Stunde Schlag
So oft.
Man setzte, – wie's Gott vergeben mag! –
Und hat auf doppelten Ertrag
Gehofft.
Man spielte, bis Haufen bei Haufen lag;
Gewinn ward fröhlich, Verlust ward zag
Gebucht.
So saß man in den trüben Tag
Und hat das Glück bei Schlag und Schlag
Versucht.

 

Beim Gardekavallerieoffizier Narumoff wurde einmal gespielt. Die lange Winternacht verging unmerklich; um fünf Uhr morgens setzte man sich zum Souper. Die Gewinner aßen mit viel Appetit, die anderen saßen zerstreut vor ihren leeren Gedecken. Der Champagner kam, das Gespräch belebte sich und alle beteiligten sich daran.

»Wie ging es dir, Surin?« fragte der Wirt.

»Habe wie gewöhnlich verloren. Offengestanden, ich habe stets Pech: trotzdem ich Mirandole spiele, mich niemals aufrege, trotzdem mich nichts aus der Ruhe bringt, verliere ich immer!«

»Ist wirklich niemals die Versuchung an dich herangetreten? Hast du noch niemals auf Route gesetzt? Deine Charakterstärke setzt mich in Erstaunen.«

»Aber Hermann erst!« sagte einer der Gäste und wies auf einen jungen Ingenieur: »zeit seines Lebens hat er noch keine Karte angerührt, zeit seines Lebens kein ParoliParoli: Die Verdoppelung des liegenden Einsatzes für das nächste Spiel. geboten und doch sitzt er bis fünf Uhr bei uns und schaut zu, wie wir spielen.«

»Das Spiel interessiert mich sehr,« sagte Hermann: »aber mir fehlen die Mittel, das Notwendige in der Hoffnung zu opfern, Überflüssiges zu gewinnen.«

»Hermann ist ein Deutscher: er ist zu vorsichtig, das ist's!« bemerkte Tomski. »Wenn mir aber ein Mensch unbegreiflich ist, so ist das meine Großmutter, die Gräfin Anna Fedorowna.«

»Wie? Was?« riefen die Gäste.

»Ich kann nicht begreifen,« setzte Tomski fort: »warum eigentlich meine Großmutter nicht setzt.«

»Was ist denn dabei so erstaunlich,« entgegnete Narumoff: »wenn eine Greisin von achtzig Jahren nicht setzt.«

»So wißt ihr denn garnichts von ihr?«

»Nein, allerdings nichts!«

»So hört nur! Man muß wissen, daß meine Großmutter vor etwa sechzig Jahren nach Paris reiste und dort sehr en vogue war. Das ganze Volk lief ihr nach nur um »la Vénus moscovite« zu sehen; Richelieu machte ihr den Hof und meine Großmutter versichert, er habe sich einmal ihrer Sprödigkeit wegen beinahe erschossen. Zu jener Zeit spielten die Damen Pharao. Eines schönen Tages verspielte sie bei Hofe an den Herzog von Orleans auf Ehrenwort eine große Summe. Als meine Großmutter zu Hause war, teilte sie, während sie die Schönheitspflästerchen von ihrem Gesichte löste und den Reifrock losschnürte, meinem Großvater ihren Verlust mit, und befahl ihm, zu zahlen. Mein seliger Großvater war, wenn ich mich recht erinnere, so etwas wie der Haushofmeister meiner Großmutter. Er fürchtete sie wie das Feuer; geriet aber dennoch, als er von diesem furchtbaren Verluste hörte, außer sich, brachte ihr die Rechnungsbücher herbei, bewies ihr, daß sie in einem halben Jahre über eine halbe Million ausgegeben hätten, sowie, daß sie bei Paris nicht ihre Moskauer oder Saratower Güter besäßen, und erklärte rundweg, nichts zahlen zu wollen. Die Großmutter gab ihm eine Ohrfeige und legte sich zum Zeichen ihrer Ungnade allein schlafen. Des anderen Tages ließ sie ihren Gemahl rufen, sie hoffte, daß die häusliche Züchtigung auf ihn eingewirkt habe, doch sie fand ihn unerschütterlich. Zum ersten Male in ihrem Leben ließ sie sich ihm gegenüber zu Erörterungen und Erklärungen herbei; glaubte ihn umstimmen zu können, wenn sie ihm gnädig auseinandersetzte, daß Schuld und Schuld verschiedene Dinge wären und daß es zwischen einem Prinzen und einem Stellmacher einen Unterschied gäbe. Umsonst! Der Großvater war rebellisch. Nein und damit basta. Die Großmutter wußte sich nicht zu helfen. Sie war mit einem sehr bemerkenswerten Menschen bekannt. Sie haben doch bestimmt von dem Grafen Saint-Germain gehört, von dem man viel Wunderbares erzählt. Sie wissen, daß er sich für den ewigen Juden, für den Entdecker des Lebenselixiers, des Steins der Weisen und anderer Dinge ausgab. Allgemein verlachte man ihn als einen Charlatan und in seinen Memoiren nennt Casanova ihn einen Spion; übrigens war Saint-Germain, ungeachtet seiner Geheimnistuerei, von durchaus achtbarem Äußeren und war in Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig. Die Großmutter liebt ihn noch heute ganz sinnlos und wird zornig, wenn man von ihm mit Verachtung spricht. Großmutter wußte, daß Saint-Germain sehr viel Geld zur Verfügung stand. Sie beschloß, sich an ihn zu wenden, schrieb ihm ein Billett und bat ihn, unverzüglich zu ihr zu kommen. Der greise Sonderling kam denn auch sogleich und fand sie in der schrecklichsten Aufregung. Mit den allerschwärzesten Farben malte sie ihm das Bild ihres barbarischen Mannes und sagte endlich, daß sie all ihre Hoffnung nur noch auf seine Freundschaft und Liebenswürdigkeit setze. Und Saint-Germain dachte nach. ›Ich kann Ihnen mit der betreffenden Summe dienen,‹ sagte er dann: ›doch ich weiß, daß Sie sich nicht beruhigen werden, bis Sie mir die Summe zurückerstattet haben, und ich möchte Ihnen nicht gern neue Unannehmlichkeiten bereiten. Es gibt ein anderes Mittel – Sie können das Verlorene wieder zurückgewinnen.‹

›Allein, lieber Graf,‹ entgegnete meine Großmutter: ›ich sagte Ihnen doch, daß wir absolut kein Geld haben.‹

›Dazu haben Sie kein Geld nötig,‹ antwortete Saint-Germain, ›haben Sie nur die Güte, mich anzuhören.‹

Und da hat er ihr das Geheimnis enthüllt, für welches mancher von uns viel bezahlen würde.«

Die jungen Spieler verdoppelten ihre Aufmerksamkeit. Tomski brannte seine Pfeife an, machte einige Züge und fuhr fort:

»Am selben Abend erschien meine Großmutter in Versailles – au jeu de la reine. Die Bank wurde vom Herzog von Orleans gehalten; der Form wegen entschuldigte sich meine Großmutter, daß sie ihre Schuld nicht schon sofort begleichen könnte, ersann deshalb zu ihrer Rechtfertigung eine kleine Geschichte und fing dann an, gegen ihn zu setzen. Sie wählte drei Karten und setzte eine nach der anderen, jede der drei Karten bekam SenikaSenika: Die im Spiel erforderliche passende Karte. und zum Schluß hatte meine Großmutter alles wieder zurückgewonnen.«

»Ein Zufall!« sagte einer der Gäste.

»Märchen!« versetzte Hermann.

»Waren wohl erkennbar, die Karten!« bestärkte ein dritter.

»Ich glaube nicht«, sagte Tomski nachdrücklich.

»Was!« sagte Narumoff, »du hast eine Großmutter, die nach der Reihe drei Karten errät, und hast dir bis jetzt noch nicht ihre Kabbalistik zu eigen gemacht?«

»Hol's der Teufel!« antwortete Tomski. »Sie hatte vier Söhne, einer von ihnen war mein Vater; alle waren tolle Spieler, aber keinem von ihnen hat sie ihr Geheimnis entdeckt, obgleich es ihnen doch nur zum Vorteil sein konnte und ebenso mir. Und dennoch erzählte mir mein Onkel, der Graf Iwan Iljitsch, eine Geschichte, die er mit seinem Ehrenworte bekräftigte. Der verstorbene Tschaplitzki, jener selbe, der als Bettler starb, nachdem er Millionen durchgebracht, hatte einmal, als er noch jung war, gegen dreihunderttausend Rubel verspielt, ich glaube an Soritsch. Er war verzweifelt. Meine Großmutter, welche sonst den Leichtsinn junger Leute sehr streng verurteilte, muß wohl mit ihm Mitleid gehabt haben. Nachdem sie ihm das Ehrenwort abgenommen hatte, nie wieder zu spielen, gab sie ihm drei Karten, die er eine nach der anderen setzen sollte. Alsdann suchte Tschaplitzki seinen siegreichen Partner auf; sie fingen an zu spielen. Auf die erste Karte setzte Tschaplitzki Fünfzigtausend und gewann Senika; bot Paroli, dann Doppelparoli – und gewann nicht nur alles zurück, sondern auch noch mehr . . .«

»Allein es ist Zeit, schlafen zu gehen, schon ist es drei Viertel auf sechs.«

Tatsächlich dämmerte es schon. Die jungen Leute leerten ihre Gläser und fuhren nach Hause.

 

II

»Il paraît que monsieur est décidément
pour les suivantes.
«
»Que voulez-vous, madame? Elles sont
plus fraîches.
«
Aus einem Gespräch

 

Vor dem Spiegel ihres Toilettenzimmers saß die schon bejahrte Gräfin ***. Drei Zofen umgaben sie. Die eine hielt ein Büchschen mit Schminke, die zweite ein Körbchen mit den Haarnadeln, die dritte eine hohe Haube mit feuerfarbenen Bändern. Obgleich die Gräfin auf eine Schönheit, die längst verblüht war, nicht den geringsten Anspruch erhob, bewahrte sie sich doch all die Gewohnheiten ihrer Jugend, folgte streng den Moden der siebziger Jahre und zog sich ebenso lange und sorgfältig an, wie vor sechzig Jahren. Am Fenster saß ihr Pflegekind, ein junges Mädchen, vor dem Stickrahmen.

»Guten Tag, grand' maman!« sagte ein junger Offizier, der eben eintrat. »Bon jour, mademoiselle Lise. Grand' maman, ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.«

»Was ist denn, Paul?«

»Gestatten Sie mir, Ihnen einen meiner Freunde vorzustellen und ihn Freitag zu Ihrem Balle mitzubringen.«

»Bring' ihn doch lieber gleich mit zum Ball und dort wirst du ihn mir vorstellen. Warst du übrigens gestern bei den **?«

»Aber natürlich! Es war sehr lustig; bis fünf Uhr wurde getanzt. Und wie gut sah die Jelezkaja aus!«

»Nun, mein Lieber! Was ist denn Hübsches an ihr? War ihre Großmutter, die Fürstin Darja Petrowna nicht viel schöner? . . . Apropos: mir scheint, sie muß doch schon sehr gealtert sein, die Fürstin Darja Petrowna?«

»Wie, gealtert?« antwortete Tomski zerstreut; »sie ist ja schon sieben Jahre tot.«

Das Fräulein hob den Kopf und machte dem jungen Manne ein Zeichen. Er entsann sich, daß man vor der bejahrten Gräfin den Tod ihrer Altersgenossinnen verbarg, und biß sich auf die Lippen. Allein mit großem Gleichmut hörte die Gräfin diese für sie neue Nachricht an.

»Tot!« sagte sie; »und ich wußte es nicht einmal! Wir avancierten damals gleichzeitig zu Hoffräuleins und als wir empfangen wurden, war die Kaiserin . . .« Und gewiß zum hundertsten Male erzählte die Gräfin ihrem Enkel diese Anekdote.

»Nun, Paul,« sagte sie alsdann, »hilf mir aufstehen. Lisette, wo ist meine Tabatière.«

Und gefolgt von ihren Zofen begab sich die Gräfin hinter die spanische Wand, um ihre Toilette zu beenden. Tomski und das Fräulein blieben zurück.

»Wer ist es, den Sie vorstellen wollen?« fragte Lisaweta Iwanowna leise.

»Narumoff. Kennen Sie ihn?«

»Nein! Ist er Offizier oder im Staatsdienst?«

»Offizier.«

»Ingenieur?«

»Nein, Kavallerist. Warum glauben Sie denn, daß er Ingenieur wäre?«

Das Fräulein lachte und antwortete nicht.

»Paul!« rief die Gräfin hinter der spanischen Wand hervor; »schick mir doch irgendeinen neuen Roman, aber nur um Gottes willen keinen von den modernen.«

»Weshalb nicht, grand' maman

»Das heißt also einen Roman, wo der Held nicht unbedingt seinen Vater oder seine Mutter erwürgt, und worin keine Ertrunkenen vorkommen. Ich fürchte mich so vor Ertrunkenen.«

»Solche Romane gibt es heute nicht mehr. Aber wollen Sie nicht vielleicht einige russische?«

»Gibt es denn etwa russische Romane? . . . Schick sie, Väterchen, bitte schick sie mir!«

»Und nun verzeihen Sie, grand' maman: Ich habe Eile . . . Verzeihen Sie, Lisaweta Iwanowna! Warum glaubten Sie denn, daß Narumoff ein Ingenieur wäre?«

Tomski verließ das Toilettenzimmer.

Lisaweta Iwanowna blieb allein zurück; sie ließ die Arbeit sinken und sah zum Fenster hinaus. Und schon nach kurzer Zeit erschien auf der anderen Seite der Straße gerade beim Eckhause ein junger Offizier. Röte bedeckte ihre Wangen; sie machte sich wieder an die Arbeit und beugte den Kopf über den Kanevas. In diesem Augenblick trat die Gräfin herein, sie war fertig angezogen.

»Lisette,« sagte sie, »befiehl anzuspannen, wir wollen ein wenig ausfahren.« Lisaweta stand von ihrem Stickrahmen auf und machte sich daran, die Arbeit wegzuräumen.

»Was ist denn mit dir geschehen! Bist du taub, was?« schrie die Gräfin; »befiehl, schleunigst anzuspannen.«

»Sofort!« antwortete still das Fräulein und lief ins Vorzimmer.

Ein Diener erschien und überbrachte der Gräfin die Bücher vom Fürsten Paul Alexandrowitsch.

»Es ist gut! man dankt,« sagte die Gräfin; »Lisette, Lisette, wohin läufst du denn?«

»Mich anziehn.«

»Wirst dazu noch Zeit finden. Setz' dich hierher. Schlag' mal den ersten Band da auf, lies vor . . .«

Das Fräulein nahm das Buch und las einige Zeit laut vor.

»Lauter!« sagte die Gräfin, »und was hast du denn, Mütterchen? Hast du die Stimme verloren, was? . . . Halt . . . rück mir mal den Schemel heran; näher . . . so!«

Lisaweta Iwanowna las noch zwei Seiten. Die Gräfin gähnte.

»Laß das Buch«, sagte sie. »Was für ein Unsinn! Schick es dem Fürsten Paul zurück und laß ihm danken . . . Allein, wo bleibt denn der Wagen? . . .«

»Der Wagen ist vorgefahren«, sagte Lisaweta Iwanowna, nachdem sie auf die Straße hinausgesehen hatte.

»Und du, warum bist du nicht angezogen?« fragte die Gräfin; »immer muß man auf dich warten, das ist unerträglich, Mütterchen.«

Lisa eilte in ihr Zimmer. Kaum waren zwei Minuten vorbei, als die Gräfin aus allen Kräften zu läuten begann. Zur einen Tür rannten drei Zofen herein, und zur anderen der Kammerdiener.

»Warum muß ich euch so lange klingeln,« bemerkte die Gräfin: »man sage Lisaweta Iwanowna, daß ich auf sie warte.«

Lisaweta Iwanowna trat in Hut und Mantel ein.

»Endlich, Mütterchen!« sagte die Gräfin: »und welcher Putz! Warum nur? willst du jemandem den Kopf verdrehen? . . . Und wie ist denn das Wetter? Windig wohl!«

»O durchaus nicht, Durchlaucht! es ist ganz windstill!« antwortete der Kammerdiener.

»Ihr antwortet immer aufs Geradewohl! Man öffne das Klappfenster. Natürlich, ich dachte es mir gleich: Wind! Und wie kalt es ist! Den Wagen wieder in die Remise! Lisette, wir fahren nicht: du hast dich umsonst geputzt.«

»Und das ist mein Leben!« dachte Lisaweta Iwanowna.

Lisaweta Iwanowna war tatsächlich ein vom Unglück verfolgtes Geschöpf. »Bitter ist das Brot der Fremde, und schwer zu ersteigen die Stufen der fremden Treppe«, sagt Dante, wer aber kennt die Bitternis der Abhängigkeit, wenn nicht das arme Pflegekind einer vornehmen alten Dame. Im Grunde hatte die Gräfin *** kein schlechtes Herz, war aber eigenwillig wie eine von der Welt verwöhnte Frau, geizig und voll eines kalten Egoismus, wie alle die alten Leute, die mit ihrer Liebe am Ende sind und denen die Gegenwart fremd ist. Sie nahm an all den Nichtigkeiten der großen Welt teil; sie schleppte sich auf alle Bälle, wo sie dann geschminkt und in ihrer altmodischen Kleidung in irgendeinem Winkel saß, wie eine ungestalte aber unumgängliche Zierde des Ballsaales; als ob es nach einem festgesetzten Zeremoniell herginge, näherten sich ihr die eintretenden Gäste mit tiefen Verbeugungen – nachher beschäftigte sich kein einziger mehr mit ihr. Bei sich empfing sie die ganze Stadt, hielt die strengste Etikette ein und konnte keinen Menschen erkennen. Ihr zahlreiches Personal, welches in den Vorzimmern und Mädchenstuben dick und fett wurde, machte, was es wollte und wetteiferte nur im Bestehlen der absterbenden Greisin. Lisaweta Iwanowna aber war des Hauses Märtyrerin. Sie bereitete den Tee und bekam die Vorwürfe wegen des unnützen Verbrauchs an Zucker zu hören; sie las Romane vor und war an allen Fehlern des Autors schuld. Sie begleitete die Gräfin auf ihren Spaziergängen und mußte für Wetter und Pflaster verantwortlich sein. Ihr war ein bestimmtes Gehalt versprochen, welches ihr niemals ausgezahlt wurde; desungeachtet aber verlangte man von ihr, sie solle wie alle, das heißt, wie sehr wenige gekleidet sein; auf den Bällen kam sie nur dann zum Tanzen, wenn es an einem vis-à-vis fehlte, die Damen jedoch nahmen ohne Umstände jedesmal ihren Arm, wenn sie in der Garderobe etwas an ihrer Toilette in Ordnung zu bringen hatten. Sie aber hatte genug Selbstbewußtsein, um ihre Lage mit aller Lebhaftigkeit zu empfinden und darum schaute sie voll Ungeduld und Erwartung nach ihrem Retter aus; allein die in leichtsinniger Hoffart berechnenden jungen Kavaliere würdigten sie keiner sonderlichen Aufmerksamkeit, wenn auch Lisaweta Iwanowna hundertmal reizender war als alle die überhebenden und abstoßenden Partien, die sie umschwärmten. Und oft verließ sie heimlich die langweiligen, prunkvollen Räume, um in ihrem dürftigen Zimmer zu weinen, in dem sich eine tapetenbezogene spanische Wand, eine Kommode, ein winziger Spiegel und ein angestrichenes Bett befanden und wo ein Talglicht in einem kupfernen Leuchter trübe brannte.

Einst – und dies geschah zwei Tage nach jenem Abend, der zu Beginn dieser Erzählung beschrieben wurde, sowie etwa eine Woche vor der Szene, bei welcher wir abbrachen – einst blickte Lisaweta Iwanowna, die am Fenster vor ihrem Stickrahmen saß, unversehens auf die Straße und gewahrte einen jungen Ingenieur, der unbeweglich dastand und seine Augen auf ihr Fenster richtete. Sie senkte den Kopf und wandte sich ihrer Arbeit zu; nach fünf Minuten blickte sie wieder auf und der junge Offizier stand noch immer auf demselben Flecke. Da es nicht ihre Art war, mit vorübergehenden Offizieren zu kokettieren, sah sie nicht weiter auf die Straße, sondern nähte beinahe zwei Stunden, ohne den Kopf zu erheben. Dann wurde zum Diner gerufen. Sie stand in der Absicht auf, ihre Rahmen wegzuräumen, sah unwillkürlich auf die Straße und erblickte wiederum den Offizier. Das kam ihr ziemlich merkwürdig vor. Nach dem Diner trat sie mit einem Gefühl einer gewissen Unruhe ans Fenster, aber der Offizier war nicht mehr da und so vergaß sie ihn . . .

Nach zwei Tagen, als sie mit der Gräfin gerade hinausging, um sich in den Wagen zu setzen, sah sie ihn wieder. Er stand dicht an der Haupttreppe und sein Gesicht war vom Biberkragen verhüllt; unterhalb der Mütze funkelten seine schwarzen Augen. Ohne zu wissen, warum, erschrak Lisaweta Iwanowna und setzte sich mit unerklärlichem Zittern in den Wagen.

Als sie wieder zu Hause war, eilte sie zum Fenster, der Offizier stand an der früheren Stelle und sah sie unverwandt an; von Neugier gepeinigt und von einem Gefühle, das ihr völlig neu war, erregt, trat sie vom Fenster zurück.

Und kein Tag verging seit jener Zeit, an dem der junge Mann nicht um die bestimmte Stunde vor den Fenstern ihres Hauses erschienen wäre. Zwischen ihm und ihr entstand ein geheimes Einvernehmen. Wenn sie an ihrem Platze bei der Arbeit saß, fühlte sie plötzlich sein Kommen, hob den Kopf und sah ihn von Tag zu Tag länger und länger an. Und es schien, als wäre ihr der junge Mann dafür dankbar; mit dem scharfen Blick der Jugend bemerkte sie jedesmal, wie seine beiden Wangen, wenn ihre Blicke sich begegneten, ein schnelles Rot überflog. Und schon nach einer Woche lächelte sie ihm zu.

Als damals Tomski die Gräfin um Erlaubnis bat, ihr seinen Freund vorstellen zu dürfen, klopfte das Herz des armen Mädchens. Doch als sie erfuhr, daß Namuroff kein Ingenieur, sondern ein Gardeleutnant sei, bedauerte sie, mit ihrer unvorsichtigen Frage dem oberflächlichen Tomski ihr Geheimnis verraten zu haben.

Hermann war der Sohn eines Russe gewordenen Deutschen, der ihm ein kleines Kapital hinterlassen hatte. Hermann glaubte, sich seine Unabhängigkeit sichern zu müssen, er rührte deshalb seine Zinsen nicht an, lebte nur von seinem Gehalte und gab auch nicht der kleinsten Laune nach. Übrigens war er verschlossen und ehrgeizig und seine Kameraden kamen selten in den Fall, sich über seine übermäßige Sparsamkeit lustig machen zu können. Er hatte starke Leidenschaften und eine feurige Einbildungskraft; allein seine Standhaftigkeit bewahrte ihn vor den gewöhnlichen Verirrungen der Jugend. Er war zum Beispiel dem Spiele in der Seele völlig ergeben und nahm doch niemals Karten in die Hand, weil er berechnet hatte, daß sein Gehalt ihm nicht erlaube (wie er sagte), »das Notwendige in der Hoffnung auf Überflüssiges zu opfern«, – und saß trotzdem ganze Nächte hindurch am Kartentische und verfolgte mit fiebrigem Zittern die vielen Wendungen des Spieles.

Die Geschichte von den drei Karten wirkte lebhaft auf seine Einbildungskraft und ging ihm die ganze Nacht nicht aus dem Kopf. »Wie, wenn« – sann er am Abend des nächsten Tages auf einem Spaziergang durch Petersburg, – »wie, wenn nun die alte Gräfin mir ihr Geheimnis enthüllte oder mir jene drei Glückskarten bezeichnete? Weshalb sollte ich dann mein Glück nicht versuchen . . .? Sich vorstellen lassen, ihre Gunst erringen; vielleicht ihr Liebhaber werden; doch das alles will seine Zeit, sie aber ist schon siebenundachtzig Jahre alt; schon nach einer Woche kann sie tot sein, nach zwei Tagen! . . . Und die Geschichte selber? . . . Ob man ihr Glauben schenken darf? . . . Nein! Überlegung, Mäßigung und Arbeitsamkeit: das seien meine drei Glückskarten, und sie allein werden mein Vermögen verdreifachen, versiebensachen und mir Ruhe und Unabhängigkeit verschaffen!« In Grübeleien versunken, befand er sich auf einmal in einer der Hauptstraßen Petersburgs vor einem Hause in altem Stil. Die Straße war voll von Equipagen; eine Kutsche nach der andern fuhr an der erleuchteten Freitreppe vor. Und den Kutschen entstiegen bald das schlanke Füßchen einer jungen Schönheit, bald ein knarrender Reiterstiefel, bald ein gestreifter Seidenstrumpf oder ein Diplomatenschuh. Die Pelze und Mäntel streiften an dem majestätischen Portier vorüber. Hermann blieb stehen.

»Wem gehört dieses Haus?« fragte er einen an der Ecke stehenden Wachtposten.

»Der Gräfin ***« antwortete der Wachtposten.

Hermann erbebte. Und wieder stieg in seiner Einbildung die seltsame Geschichte auf. Und so strich er um das Haus herum und dachte an dessen Eigentümerin und ihre wunderbare Fähigkeit. Spät erst kehrte er in seinen bescheidenen Winkel zurück, konnte lange nicht einschlafen, und als ihn endlich der Schlaf überkam, träumte er von Karten, vom grünen Tisch, Stößen von Banknoten und Haufen von Dukaten. Er setzte Karte auf Karte, bog sehr entschieden die Ecken ein, gewann unaufhörlich, harkte das Gold zu sich heran und steckte die Banknoten in die Tasche. Als er dann spät erwachte, seufzte er über den Verlust seines geträumten Reichtums, spazierte wieder ziellos durch Petersburg und stand plötzlich wiederum vor dem Hause der Gräfin ***. Eine unbekannte Macht schien ihn hingezogen zu haben. Er blieb stehen und sah nach den Fenstern. An dem einen bemerkte er ein schwarzgelocktes Köpfchen, das sich augenscheinlich über ein Buch oder eine Arbeit beugte. Das Köpfchen richtete sich auf. Und Hermann erblickte ein frisches Gesichtchen und schwarze Augen. Diese Minute entschied über sein Schicksal.

 

III

Vous m'écrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire.
Aus einem Briefwechsel

 

Noch hatte Lisaweta Iwanowna Hut und Mantel nicht abgelegt, als die Gräfin sie von neuem rufen ließ und wiederum den Befehl gab anzuspannen. Sie stiegen ein. Während zwei Diener die Greisin in den Wagen hoben, erblickte Lisaweta Iwanowna ihren Ingenieur, der hart am Wagen stand; er faßte ihre Hand, sie verlor vor Schrecken die Besinnung und der junge Mann verschwand. In ihrer Hand blieb ein Brief zurück. Sie verbarg ihn unter ihrem Handschuh und während des ganzen Weges sah und hörte sie nichts mehr. Die Gräfin hatte die Angewohnheit, alle Augenblicke im Wagen etwas zu fragen: »Wem sind wir da eben begegnet? Wie heißt die Brücke? Was steht auf jenem Schild?« Allein diesmal antwortete Lisaweta Iwanowna aufs Geratewohl und verkehrt und erzürnte dadurch die Gräfin.

»Was ist denn mit dir geschehen, Mütterchen? Bist du versteinert, was? Entweder hörst du mich nicht oder du verstehst mich nicht? . . . Ich bin, Gott sei Dank, weder heiser, noch habe ich meinen Verstand verloren.«

Aber Lisaweta Iwanowna hörte nichts. Als sie wieder zu Hause war, lief sie in ihr Zimmer und nahm aus dem Handschuh den Brief. Er war nicht versiegelt. Lisaweta Iwanowna las ihn durch. Der Brief enthielt eine Liebeserklärung. Er war zart, ehrfürchtig und wörtlich einem deutschen Roman entnommen. Allein Lisaweta Iwanowna verstand kein Deutsch und war sehr zufrieden.

Dennoch beunruhigte sie der seltene Brief ungewöhnlich. Es war zum ersten Male, daß sie geheime enge Beziehungen mit einem jungen Manne einging. Seine Dreistigkeit erschreckte sie. Sie bezichtigte sich eines unvorsichtigen Betragens und war ratlos; sollte sie in Zukunft nicht mehr an jenem Fenster sitzen und durch solch eine Nichtachtung dem jungen Offizier die Lust am weiteren Vorgehen nehmen? Oder ihm den Brief zurückschicken? Oder kühl und entschieden antworten? Sie konnte sich mit niemandem beraten, sie hatte keine Freundin und keine Vertraute. Endlich entschloß sich Lisaweta Iwanowna zu einer Antwort.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, richtete Feder und Papier – und überlegte. Mehrere Male begann sie ihren Brief und zerriß ihn wieder. Bald schienen ihr die Ausdrücke allzu nachsichtig, bald allzu hart. Schließlich gelang es ihr doch, einige Zeilen zu schreiben, mit denen sie zufrieden war. »Ich glaube,« so schrieb sie, »daß Sie ehrliche Absichten haben und mich nicht durch einen unüberlegten Schritt beleidigen wollen; allein wir sollten uns nicht auf solchem Wege kennenlernen. Ihren Brief sende ich Ihnen zurück und hoffe, daß ich hinfort nicht mehr über eine unverdiente Nichtachtung Ihrerseits zu klagen haben werde.«

Als Lisaweta Iwanowna am folgenden Tage Hermann kommen sah, stand sie von ihrem Stickrahmen auf, ging in den Saal, öffnete das Klappfenster und warf den Brief auf die Straße, wobei sie sich auf die Gewandtheit des Offiziers verließ. Hermann eilte herbei, hob ihn auf und trat in eine nebenan befindliche Konditorei. Nachdem er das Siegel erbrochen, fand er seinen Brief, aber auch Lisawetas Antwort. Er hatte das erwartet und kehrte, ganz vertieft in seine Intrigue, nach Hause zurück.

Nach drei Tagen brachte ein junges, munteres Laufmädchen für Lisaweta Iwanowna ein Billett aus einem Modemagazin. Lisaweta Iwanowna sah eine Geldforderung voraus und öffnete es daher mit einiger Unruhe – und erkannte plötzlich die Handschrift Hermanns.

»Sie haben sich geirrt, mein Kind,« sagte sie, »dieses Billett ist nicht an mich gerichtet.«

»O nein, es ist gewiß für Sie!« entgegnete das dreiste Mädchen, wobei sie ein listiges Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte, »bitte, lesen Sie nur!«

Lisaweta Iwanowna durchflog das Billett. Hermann verlangte ein Rendezvous.

»Nein, sicher nicht,« sagte Lisaweta Iwanowna, die von der Eile, von der Forderung und von der Art, wie sie ihr übermittelt wurde, erschreckt war, »es ist sicherlich nicht an mich gerichtet«, und zerriß den Brief in winzige Stücke.

»Warum zerreißen Sie es denn, wenn das Billett nicht für Sie war?« sagte die Mamsell, »ich hätte es doch dem, der es sandte, zurückgeben können.«

»Mein Kind,« sagte Lisaweta Iwanowna, ohne verhindern zu können, daß diese Bemerkung sie erröten machte, »ich bitte Sie, mir in Zukunft keine Billette zu überbringen. Dem aber, der Sie beauftragte, sagen Sie, daß er sich schämen solle . . .«

Doch Hermann gab nicht nach. Lisaweta Iwanowna bekam jeden Tag von ihm einen Brief, der ihr bald auf diese, bald auf jene Weise zugestellt wurde. Es waren schon nicht mehr Übersetzungen aus dem Deutschen. Da ihn die Leidenschaft fortriß, sprach Hermann jetzt seine eigene Sprache: in ihr drückte sich die Unbeugsamkeit seiner Wünsche und die Verworrenheit einer ungezügelten Phantasie aus. Lisaweta Iwanowna dachte nicht mehr daran, die Briefe zurückzusenden, sie berauschte sich an ihnen, beantwortete sie – und ihre Briefe wurden jedesmal länger und zärtlicher. Endlich warf sie ihm durch das Fenster folgenden Brief zu: »Heute findet bei dem ***schen Gesandten ein Ball statt. Die Gräfin wird dort sein. Wir werden bis gegen zwei Uhr dort bleiben. Sei dies die Gelegenheit, mich ohne Zeugen zu sehen. Sobald die Gräfin fort ist, wird die Dienerschaft wahrscheinlich weggehen; in der Vorhalle ist der Portier, aber er geht auch gewöhnlich in seine Kammer. Kommen Sie um halb zwölf. Steigen Sie ruhig die Treppe hinauf. Sollten Sie im Vorzimmer jemandem begegnen, so fragen Sie nur, ob die Gräfin zu Hause sei. Wenn man Ihnen ›nein‹ antwortet, dann können Sie nichts anderes tun, als nach Hause gehen. Doch wahrscheinlich wird Ihnen niemand begegnen. Die Zofen sitzen alle in ihrem Zimmer. Aus dem Vorzimmer durch die linke Türe gehen Sie immer geradeaus bis zum Schlafgemach der Gräfin. Hinter der spanischen Wand im Schlafgemach werden Sie zwei kleine Türen erblicken: rechts eine zum Kabinett, welches die Gräfin niemals betritt, links eine, die in einen Korridor mündet, wo sich eine schmale Wendeltreppe befindet, und diese führt in mein Zimmer.«

Hermann, der die festgesetzte Zeit nicht erwarten konnte, lechzte wie ein Tiger. – Um zehn Uhr abends stand er bereits vor dem Hause der Gräfin. Das Wetter war schauderhaft. Der Wind heulte, feuchter Schnee fiel in großen Flocken; trübe schimmerten die Laternen. Die Straßen waren leer, selten nur trieb ein Kutscher seinen mageren Klepper auf der Suche nach einem verspäteten Passagier vorüber. Hermann hatte nur seinen Überrock an. Doch er fühlte weder Wind noch Schnee. Endlich fuhr die Kalesche der Gräfin vor. Hermann sah, wie Lakaien die in einen Zobelpelz dicht eingewickelte Gräfin hinaustrugen, und sah, wie hinter ihr in einem leichten Mäntelchen und bloßem Kopfe, der aber ganz mit frischen Blüten geschmückt war, ihr Pflegekind hinauseilte. Die Wagentüren wurden zugeschlagen. Schwerfällig rollte die Kalesche durch den lockeren Schnee. Der Portier schloß die Tür. Die Fenster verdunkelten sich. Hermann ging vor dem verlassenen Hause auf und ab; er trat an eine Laterne heran und sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor halb zwölf. Er blieb unter der Laterne stehen, seine Augen folgten dem Uhrzeiger, er wartete auf die bestimmte Stunde. Als es genau halb zwölf war, schritt Hermann die gräfliche Freitreppe hinauf und trat in den lichten hellen Flur. Der Portier war nicht da. Hermann eilte die Treppe hinauf, öffnete die Tür zum Vorzimmer und erblickte dort einen Diener, der in einem altertümlichen, nicht mehr sauberen Armsessel unter einer Lampe eingeschlafen war. Mit leichtem aber sicheren Schritt ging Hermann an ihm vorüber. Saal und Empfangszimmer waren dunkel. Die Lampe aus dem Vorzimmer erleuchtete sie nur schwach. Hermann trat in das Schlafgemach. Vor einem mit alten Heiligenbildern angefüllten Schrank leuchtete ein goldenes Lämpchen. Sessel, die mit verblichenen Stoffen bezogen waren und Diwans mit flaumigen Kissen und längst geschwundener Vergoldung standen in trauriger Symmetrie vor den mit chinesischen Tapeten bedeckten Wänden. An der einen Wand hingen zwei Porträts, die Madame Lebrun in Paris gemalt hatte. Das eine von ihnen stellte einen Mann von etwa vierzig Jahren dar, der in seiner hellgrünen, ordengeschmückten Uniform voll und blühend aussah; das andere, eine junge Schönheit mit einer Adlernase, mit elegant gekräuseltem Haar über den Schläfen und einer Rose in den gepuderten Haaren. Überall standen Schäferinnen aus Porzellan herum, Tischuhren von der Hand des Meisters Leroy, Schächtelchen, Roulettes, Fächer und anderes Damenspielzeug, das etwa gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gleichzeitig mit dem Ballon Montgolfiers und dem Magnetismus Mesmers erfunden worden war. Hermann trat hinter die spanische Wand. Dort stand ein kleines eisernes Bett; rechts befand sich eine Tür, die in das Kabinett ging; links eine andere, die in den Korridor mündete. Hermann öffnete sie und sah eine schmale Wendeltreppe, die in das Zimmer der armen Pflegetochter führte. Doch er kehrte zurück und betrat das andere Kabinett.

Langsam verstrich die Zeit. Rings war alles still. Im Empfangszimmer schlug die Uhr Mitternacht; in allen Zimmern schlugen die Uhren, eine nach der andern, gleichfalls zwölf – und wieder wurde es still. Hermann lehnte sich an den kalten Ofen. Er war ruhig; sein Herz schlug regelmäßig wie bei einem Menschen, der sich zu etwas Gefährlichem aber Unumgänglichem entschlossen hat. Die Uhr schlug die erste und dann die zweite Morgenstunde und er vernahm das ferne Rollen eines Wagens. Eine unwillkürliche Aufregung erfaßte ihn. Der Wagen fuhr vor und hielt. Er hörte wie der Wagentritt herabgelassen wurde. Im Hause wurde es lebendig. Menschen eilten, Stimmen wurden laut, das Haus erhellte sich. Drei alte Zofen eilten ins Schlafgemach und halbtot folgte ihnen die Gräfin und ließ sich schwer in einen Voltairesessel sinken. Hermann sah das alles durch eine Ritze. Lisaweta Iwanowna ging an ihm vorüber. Hermann hörte ihre eiligen Schritte auf den Stufen der Wendeltreppe. In seinem Herzen regte sich etwas wie Gewissensbisse und verstummte wieder. Er blieb reglos stehen.

Die Gräfin entkleidete sich vor einem Spiegel. Man zog die Nadeln aus der Ballhaube, die mit Rosen geschmückt war; man nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen und glattrasierten Kopfe. Wie ein Regen fielen die Haarnadeln rings um sie herum zu Boden. Das gelbe, mit Silber ausgenähte Kleid fiel zu ihren aufgeschwollenen Füßen nieder. Hermann wurde zum Zeugen der monströsen Geheimnisse ihrer Toilette; endlich zog sie Nachtkleid und Nachthaube an: in diesem ihrem Alter mehr angemessenen Kostüme war sie weniger grauenhaft und mißgestaltet.

Die Gräfin litt wie fast alle alten Leute an Schlaflosigkeit. Als sie ausgekleidet war, setzte sie sich ans Fenster in ihren Voltairesessel und schickte die Zofen weg. Die Kerzen wurden fortgetragen, das Zimmer wieder nur von dem Lämpchen erhellt. Die Gräfin sah ganz gelb aus, ihre herabhängenden Lippen bewegten sich und ihr gebrechlicher Körper schwankte nach rechts und links. Ihre trüben Augen drückten die Abwesenheit jeglichen Gedankens aus. Wer sie anschaute, konnte glauben, daß das Schwanken der unheimlichen Greisin nicht durch ihren Willen, sondern durch die Wirkung eines verborgenen Mechanismus hervorgerufen worden sei.

Jählings veränderte sich der Ausdruck des toten Gesichtes ganz unerklärlicherweise. Die Lippen bewegten sich nicht mehr, in ihre Augen kam Leben: vor der Gräfin stand ein unbekannter Mann.

»Erschrecken Sie nicht, um Gottes willen, erschrecken Sie nicht!« sprach er mit vernehmlicher, gedämpfter Stimme. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Böses zuzufügen; ich kam in der Absicht, Sie um eine Gunst zu bitten.«

Die Greisin sah ihn schweigend an und schien ihn nicht zu hören. Hermann meinte, sie sei schwerhörig, neigte sich zu ihrem Ohr und wiederholte ihr das vorher Gesagte. Die Greisin aber schwieg wie zuvor.

»Sie können«, setzte Hermann fort, »das Glück meines Lebens begründen, es kostet Sie nichts: ich weiß, daß Sie drei Karten nacheinander erraten können.«

Hermann hielt inne. Die Gräfin schien zu begreifen, was er von ihr wollte; es war, als ringe sie nach Worten für die Antwort.

»Das war nur ein Scherz,« sagte sie schließlich, »ich schwöre Ihnen, daß es nur ein Scherz war.«

»Damit ist nicht zu scherzen,« entgegnete Hermann ärgerlich. »Denken Sie doch an Tschaplitzki, dem Sie alles Verlorene wiedergewinnen halfen.«

Die Gräfin wurde augenscheinlich unruhig. Ihre Züge drückten starke seelische Erregung aus; doch bald überkam sie die frühere Empfindungslosigkeit.

»Können Sie mir,« fuhr Hermann fort, »die drei Glückskarten nennen?«

Die Gräfin schwieg. Hermann fuhr fort:

»Wem zuliebe wollen Sie das Geheimnis hüten? Ihren Enkeln? Sie sind ohnehin reich; sie kennen nicht einmal den Wert des Geldes. Einem Verschwender werden Ihre drei Karten wenig nützen. Wer das Erbe seiner Väter nicht zu bewahren weiß, wird immer im Elend sterben, ungeachtet aller Geisterhilfe. Ich bin kein Verschwender; ich kenne den Wert des Geldes. Ihre drei Karten können mir helfen. Nun! . . .«

Er verstummte; bebend erwartete er ihre Antwort. Die Gräfin schwieg; Hermann fiel vor ihr auf die Knie.

»Wenn jemals,« sagte er, »Ihr Herz das Gefühl der Liebe gekannt hat, wenn Sie sich an Ihre Entzückungen erinnern, wenn Sie einmal beim Weinen Ihres neugeborenen Sohnes gelächelt haben, wenn Sie je einmal eine menschliche Regung gefühlt haben, so flehe ich Sie bei den Gefühlen der Gattin, der Geliebten, der Mutter, bei allen Gefühlen, die im Leben heilig sind, an, mir meine Bitte nicht abzuschlagen, und mir das Geheimnis zu enthüllen, – was kann Ihnen daran liegen? . . . Vielleicht ist es mit einer furchtbaren Sünde verknüpft, mit dem Verluste der ewigen Seligkeit, einem teuflischen Vertrage . . . bedenken Sie nur: Sie sind alt; Sie haben nicht lange mehr zu leben – ich nehme gern Ihre Sünde auf meine Seele. Enthüllen Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie, daß das Glück eines Menschen in Ihren Händen liegt, daß nicht nur ich, sondern auch meine Kinder, Enkel und Urenkel Ihr Andenken segnen und Sie verehren werden wie eine Heilige . . .«

Die Greisin antwortete nichts.

Hermann erhob sich.

»Alte Hexe,« sagte er und biß die Zähne zusammen, »so will ich dich denn zwingen, mir zu antworten . . .«

Bei diesen Worten fuhr er in die Tasche und zog eine Pistole hervor. Als die Gräfin die Pistole erblickte, zeigte sich in ihrem Gesicht zum zweiten Male die starke seelische Erregung. Sie reckte den Kopf und erhob die Hand, als ob sie den Schuß von sich abwehren wollte . . . dann fiel sie rücklings um . . . und regte sich nicht mehr.

»Lassen Sie doch diese Kindereien,« sagte Hermann und ergriff ihre Hand; »ich frage Sie nun zum letzten Male – wollen Sie mir Ihre drei Karten nennen? Ja oder nein?«

Die Gräfin antwortete nicht. Hermann sah, daß sie tot war.

 

IV

Homme sans mœurs et sans religion!
Aus einem Briefwechsel

 

7. Mai 18..

Lisaweta Iwanowna saß noch in Balltoilette im Zimmer, tief in Gedanken versunken. Nach Hause zurückgekehrt, beeilte sie sich, das verschlafene Mädchen, welches ihr ohnehin nicht gerne zu Diensten war, mit der Begründung fortzuschicken, daß sie sich selber auskleiden würde – und begab sich dann zitternd in ihr Zimmer, wo sie Hermann zu finden hoffte und zugleich wünschte, ihn nicht vorzufinden. Auf den ersten Blick überzeugte sie sich von seiner Abwesenheit und dankte dem Schicksal für das Hindernis, welches die Zusammenkunft vereitelt hatte. Ohne sich auszukleiden, setzte sie sich und dachte über all das nach, was in so kurzer Zeit geschehen war und sie so weit fortgerissen hatte. Noch waren keine drei Wochen seit jenem Tage vergangen, an dem sie zum ersten Male durchs Fenster den jungen Mann gesehen hatte und schon stand sie mit ihm im Briefwechsel, und er hatte es vermocht, eine nächtliche Zusammenkunft von ihr zu erbitten. Seinen Namen kannte sie nur durch einige Briefe, die er unterzeichnet hatte; noch nie hatte sie mit ihm gesprochen, nie seine Stimme gehört und auch von ihm noch nie sprechen gehört . . . bis zum heutigen Abend. Wie eigentümlich! gerade an diesem Abend hatte sich Tomski auf dem Balle über die junge Fürstin Pauline *** geärgert, weil sie nicht wie gewöhnlich mit ihm kokettierte, und beschlossen, sich durch gleichmütiges Verhalten zu rächen; er forderte Lisaweta Iwanowna auf und tanzte mit ihr eine endlose Mazurka. Die ganze Zeit über neckte er sie mit ihrer Vorliebe für Ingenieuroffiziere, behauptete, daß er viel mehr wisse, als sie auch nur ahnen könnte, und einige dieser Scherze waren so geschickt angebracht, daß Lisaweta Iwanowna zu glauben begann, daß ihm ihr Geheimnis bekannt sei.

»Woher wissen Sie das alles?« fragte sie mit gezwungenem Lachen.

»Von dem Freunde eines Ihrer Bekannten,« antwortete Tomski, »von einem sehr merkwürdigen Menschen.«

»Und wer ist denn dieser merkwürdige Mensch?«

»Er heißt Hermann.«

Lisaweta Iwanowna antwortete nichts; ihre Hände und Füße wurden eiskalt . . .

»Dieser Hermann,« setzte Tomski fort, »ist wirklich eine romantische Persönlichkeit: das Profil Napoleons und die Seele Mephistos. Ich denke, daß er zum mindesten schon drei Verbrechen auf dem Gewissen hat. Wie bleich Sie geworden sind! . . .«

»Mein Kopf schmerzt . . . Was sagte Ihnen denn dieser Hermann . . . oder wie hieß er doch gleich? . . .«

»Hermann ist über seinen Freund sehr ungehalten: er meint, daß er an dessen Stelle ganz anders vorgehen würde . . . Ich glaube sogar, daß Hermann selbst auf Sie ein Auge geworfen hat; zum mindesten hört er die verliebten Ausbrüche seines Freundes nicht gleichmütig an.«

»Ja, wo kann er mich denn gesehen haben!«

»In der Kirche vielleicht; beim Spazierengehen! . . . Weiß Gott! vielleicht in Ihrem Zimmer, während Sie schliefen: von ihm kann man . . .«

Drei hinzutretende Damen unterbrachen mit der Frage »Oubli ou regret?« das Gespräch, das für Lisaweta Iwanowna von quälendem Interesse war.

Die von Tomski gewählte Dame war eine Fürstin ***. Es gelang ihr, sich mit ihm auszusprechen, indem sie eine Tour mehr mit ihm tanzte und noch einmal an ihrem Stuhle vorüberkam. Als Tomski auf seinen Platz zurückkehrte, dachte er weder an Hermann, noch an Lisaweta Iwanowna. Sie wollte das abgebrochene Gespräch unbedingt wieder aufnehmen, allein die Mazurka war zu Ende und bald darauf fuhr die Gräfin fort.

Die Worte Tomskis waren nichts anderes als ein harmloses Ballgespräch; sie waren aber tief in die Seele der jungen Träumerin gefallen. Das von Tomski gezeichnete Porträt entsprach völlig dem Bild, das sie sich selbst gemacht hatte und dank der Lektüre einiger moderner Romane ängstigte diese schon etwas abgeschmackte Persönlichkeit ihre Einbildungskraft und fesselte sie. So saß sie da, die nackten Arme übereinandergekreuzt und das noch mit Blumen gekränzte Haupt auf die entblößte Brust gesenkt . . . Plötzlich öffnete sich die Türe und Hermann trat ein. Sie erzitterte . . .

»Wo waren Sie?« fragte sie in erschrecktem Flüstertone.

»Im Schlafgemache bei der alten Gräfin,« entgegnete Hermann: »ich komme soeben von ihr. Die Gräfin ist gestorben.«

»O Gott! . . . was sagen Sie da? . . .«

»Und mir scheint,« setzte Hermann fort: »daß ich die Ursache ihres Todes bin.«

Lisaweta Iwanowna sah ihn an; die Worte Tomskis widerhallten in ihrer Seele: dieser Mensch hat zum mindesten drei Verbrechen auf dem Gewissen! Hermann setzte sich auf das Fensterbrett neben sie und erzählte alles.

Voller Entsetzen hörte ihm Lisaweta Iwanowna zu. Und diese glühenden Briefe, diese flammenden Wünsche, diese kühne beharrliche Verfolgung – waren alles nicht Liebe! Geld – also danach brannte seine Seele! Nicht sie war es, die sein Verlangen und ihn beglücken konnte. Das arme Pflegekind war nichts anderes als die blinde Genossin eines Räubers, des Mörders ihrer alten Wohltäterin! . . . In später quälender Reue weinte sie bittere Tränen. Schweigend sah Hermann sie an: Auch sein Herz brannte: doch weder die Tränen des armen Mädchens, noch die unerhörte Lieblichkeit ihres Grames bewegten seine starre Seele. Er fühlte keine Gewissensbisse beim Gedanken an die tote Greisin. Eines nur entsetzte ihn: das unwiederbringlich verlorene Geheimnis, von dem er Reichtümer erwartet hatte.

»Sie sind ein Ungeheuer!« sagte Lisaweta Iwanowna endlich.

»Ich wollte ihren Tod nicht,« antwortete Hermann, »meine Pistole war nicht geladen.«

Beide schwiegen.

Der Morgen brach an. Lisaweta Iwanowna löschte die niedergebrannte Kerze aus. Bleiches Licht fiel in ihr Zimmer. Sie trocknete die rotgeweinten Augen und sah Hermann an; er saß auf dem Fensterbrett, seine Arme waren übereinander gekreuzt, er war voll drohender Düsterkeit. So wie er dasaß, erinnerte er eigentümlich an ein Porträt Napoleons. Diese Ähnlichkeit setzte sogar Lisaweta Iwanowna in Erstaunen.

»Auf welche Weise werden Sie nun das Haus verlassen?« sagte Lisaweta Iwanowna endlich. »Ich wollte Sie eigentlich über eine geheime Treppe hinausführen, doch muß man am Schlafgemach vorbei und ich fürchte mich.«

»Erklären Sie es mir nur, wie man die geheime Treppe findet; ich komme schon allein hinaus.«

Lisaweta Iwanowna erhob sich, nahm einen Schlüssel aus der Kommode, händigte ihn Hermann ein und gab ihm eine sehr genaue Erklärung. Hermann drückte ihre kühle und empfindungslose Hand, küßte ihr gebeugtes Haupt und ging.

Er schritt die Wendeltreppe hinunter und trat wieder in das Schlafgemach der Gräfin. Dort saß die tote alte Frau und war schon erstarrt; ihr Gesicht drückte tiefe Ruhe aus. Hermann blieb vor ihr stehen und sah sie lange an, als wolle er sich noch einmal von der grauenhaften Wahrheit überzeugen; dann schritt er ins Kabinett, tastete an den Tapeten nach der geheimen Tür und stieg, von seltsamen Gefühlen erregt, die dunkle Treppe hinab. »Über dieselbe Treppe« – dachte er – »schlich vielleicht vor etwa sechzig Jahren in dasselbe Schlafgemach um dieselbe Stunde ein junger Glückspilz in seinem gestickten Rock, frisiert à l'oiseau royal und seinen Dreimaster an die Brust drückend – und modert doch lang schon im Grabe; das Herz seiner alten Geliebten hat erst heut' aufgehört zu schlagen . . .«

Unten an der Treppe fand Hermann eine Tür, die er mit demselben Schlüssel öffnete und dann befand er sich in einem durchgehenden Korridor, der ihn auf die Straße führte.

 

V

In dieser Nacht erschien mir die verstorbene Baronesse von W***. Sie war ganz in Weiß und sagte mir: »Guten Tag, Herr Rat.«
Swedenborg

 

Drei Tage nach der verhängnisvollen Nacht fuhr Hermann um neun Uhr früh zum ***schen Kloster, wo die Totenmesse für die verblichene Gräfin gelesen werden sollte. Obgleich er keine Reue fühlte, konnte er doch die Stimme des Gewissens nicht völlig zur Ruhe bringen, die ihm beharrlich zurief: »Der Mörder der Greisin bist du!« Ohne eigentlichen Glauben war er doch voll Aberglauben. Er meinte, daß die tote Gräfin einen üblen Einfluß auf sein Leben haben könne und entschloß sich daher, bei ihrem Leichenbegängnis zu erscheinen, um ihre Verzeihung zu erlangen.

Die Kirche war gefüllt. Nur gewaltsam konnte sich Hermann durch die Volksmenge drängen. Unter einem Sammetbaldachin stand der Sarg auf einem reichen Katafalke. Mit übereinander gekreuzten Armen, mit einer Spitzenhaube und einem weißen Atlasgewande angetan, lag die Entschlafene im Sarge. Ringsum standen ihre Hausgenossen; in schwarzen Leibröcken, an deren Schultern Wappenbänder befestigt waren, die Diener, die in ihren Händen Kerzen trugen, in tiefster Trauer die Verwandten – Kinder, Enkel und Urenkel. Keiner weinte; die Tränen wären auch nur »une affectation« gewesen. So alt war die Gräfin geworden, daß ihr Tod niemanden zu überraschen vermochte und ihre Verwandten sie eigentlich längst schon als eine Verstorbene betrachteten. Ein noch junger ArchierejIn der russischen Kirche der Priester, der dem römisch-katholischen Bischof entspricht. hielt die Leichenrede. In einfachen und zu Herzen gehenden Ausdrücken betrachtete er das friedenvolle Hinscheiden dieser Gerechten, der all die langen Jahre nur eine stille tröstliche Vorbereitung auf ihr christliches Ende waren. »Der Engel des Todes überraschte sie,« sagte der Redner, »mitten in Gedanken an gute Werke und in der Erwartung des himmlischen Bräutigams.«

Der Trauergottesdienst war zu Ende. Die Verwandten nahmen zuerst von der Leiche Abschied. Dann näherte sich ihr die Schar der Gäste, die alle gekommen waren, um sich von ihr zu verabschieden, von der, die so lange Zeit die Gefährtin ihrer nichtigen Vergnügungen war. Nach ihnen kamen alle Hausgenossen. Als letzte trat auch ein altes Fräulein heran, das ihre Altersgenossin war. Zwei junge Mädchen führten sie am Arm. Sie war unfähig, sich bis zur Erde zu verneigen – nur sie allein vergoß Tränen, als sie die kalte Hand ihrer Herrin küßte. Da entschloß sich auch Hermann, an den Sarg zu treten. Er neigte sich bis zur Erde und lag einige Minuten auf den kalten Fliesen, die mit Tannenreisern bestreut waren; bleich wie die Verstorbene erhob er sich endlich, schritt die Stufen zum Katafalke hinauf und verneigte sich noch einmal . . . Und in demselben Augenblick war es ihm, als ob ihn die Tote mit dem einen Auge spöttisch anblinzelte. Hermann wollte eilfertig zurückweichen, trat fehl und schlug rücklings hin. Man hob ihn auf. Zu gleicher Zeit aber wurde auch Lisaweta Iwanowna ohnmächtig in die Vorhalle der Kirche getragen. Diese Episode störte für einige Augenblicke die Feierlichkeit der düsteren Zeremonie. Unter den Anwesenden erhob sich ein unterdrücktes Gemurmel und ein magerer Kammerherr, ein naher Verwandter der Verstorbenen, flüsterte einem neben ihm stehenden Engländer zu, daß der junge Offizier ein unehelicher Sohn von ihr wäre, worauf der Engländer nur mit einem kalten Oh? antwortete.

Hermann war den ganzen Tag über äußerst mißgestimmt. Er aß in einem entlegenen Gasthause und trank wider seine Gewohnheit sehr viel, in der Hoffnung, dadurch die Erregung seines Innern zu betäuben. Doch der Wein erhitzte seine Einbildungskraft noch mehr. Nach Hause zurückgekehrt, kleidete er sich nicht aus, sondern warf sich auf sein Bett und schlief sofort ein.

Nachts erwachte er; der Mond schien in sein Zimmer. Er blickte auf die Uhr; es war ein Viertel vor drei. Der Schlaf war ihm vergangen; er richtete sich im Bette auf und dachte an das Leichenbegängnis der alten Gräfin.

In diesem Augenblick sah jemand von der Straße aus in sein Fenster und trat sofort wieder zurück. Hermann beachtete das weiter nicht. Nach einer Minute hörte er, wie die Tür zum Vorzimmer aufging. Hermann glaubte, es sei sein Diener, der betrunken, wie gewöhnlich, von einem Nachtspaziergang heimkehre. Allein es war ein unbekannter Schritt, den er vernahm: Jemand kam, es war ein leises Schlürfen von Pantoffeln. Die Tür sprang auf; eine Frau im weißen Gewand trat ein. Hermann hielt sie für seine alte Amme und wunderte sich, was sie zu dieser Stunde zu ihm hergeführt haben könnte. Doch die weiße Frau glitt vorüber und stand plötzlich vor ihm – und Hermann erkannte die Gräfin!

»Ich komme gegen meinen Willen zu dir,« sagte sie mit fester Stimme, »aber mir wurde befohlen, deine Bitte zu erfüllen. Drei, Sieben und Aß gewinnen in dieser Reihenfolge, doch nur, wenn du am Tage nicht mehr als eine Karte setzest und dann dein ganzes Leben hindurch nicht mehr spielst. Ich verzeihe dir meinen Tod, wenn du mein Pflegekind Lisaweta Iwanowna heiratest . . .«

Mit diesen Worten wandte sie sich lautlos um, glitt zur Türe und verschwand, ihre Pantoffeln schlürften. Hermann hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde und fühlte, wie wieder jemand in sein Fenster hereinsah. Lange kam Hermann nicht zur Besinnung. Er ging ins andere Zimmer. Sein Diener lag schlafend auf dem Fußboden; Hermann konnte ihn nur mit vieler Mühe wecken. Wie gewöhnlich, war der Diener betrunken; von ihm konnte er daher nichts erfahren. Die Haustür war verschlossen. Hermann ging in sein Zimmer zurück, zündete das Licht an und notierte sich seine Vision.

VI

»Passen Sie auf!«
»Wie Sie schmunzeln, während Sie sagen: Passen Sie auf.«
»Euer Wohlgeboren, ich sagte: Passen Sie gefälligst auf!«

 

Zwei entgegengesetzte Gedanken können in der moralischen Welt nicht nebeneinander existieren. Ebensowenig wie in der physischen Welt zwei Körper nicht denselben Platz einnehmen können. In Hermanns Phantasie verdrängte die Drei, die Sieben und das Aß sehr bald schon das Bild der toten Greisin. Sie gingen ihm nicht aus dem Kopfe. Wenn er ein junges Mädchen sah, sagte er: »Wie schlank sie ist! Ganz wie eine Coeur Drei.« Man fragte ihn: »Wieviel Uhr ist es?« Und er antwortete: »Fünf Minuten vor der Sieben.« Jeder dicke Mann brachte ihm das Aß in Erinnerung. Alle möglichen Gestalten annehmend, verfolgten ihn die Drei, Sieben und Aß noch im Traume; die Drei blühte vor ihm als eine üppige, große Blume, die Sieben war ihm ein gotisches Portal, das Aß eine ungeheure Spinne. Alle seine Gedanken verschmolzen in einem: das Geheimnis sich zunutze zu machen, das ihm so teuer zu stehen gekommen war. Er wollte seinen Abschied nehmen und eine Reise machen. Wollte in den Spielhäusern von Paris der verzauberten Fortuna ihren Schatz abzwingen. Allein der Zufall enthob ihn aller Sorgen.

In Moskau hatte sich eine Gesellschaft reicher Spieler konstituiert unter dem Vorsitz des berühmten Tschekalinski, der sein ganzes Leben hinter den Karten zugebracht und einst Millionen eingenommen hatte, indem er Wechsel gewann und bares Geld verlor. Langjährige Erfahrungen erwarben ihm das Vertrauen seiner Genossen, während sein gastfreies Haus, seine vorzügliche Küche, seine Liebenswürdigkeit und Heiterkeit ihm die Achtung des Publikums sicherten. Er kam auch nach Petersburg. Die Jugend strömte ihm zu, vergaß über den Karten ihre Bälle und zog die Lockungen des Pharao den Betörungen der Wollust vor. Narumoff brachte Hermann dorthin.

Sie durchschritten eine Reihe prächtiger Zimmer, in denen es von höflichen Dienern wimmelte. Überall waren eine Menge Menschen. Einige Generäle und Geheimräte spielten Whist; junge Herren saßen lässig auf den weichen Diwans und rauchten Pfeifen. An einem langen Tisch im Saal, um den sich etwa zwanzig Spieler drängten, saß der Hausherr und hielt die Bank. Er war etwa sechzig Jahre alt und von höchst achtbarem Äußern; sein Kopf war silbergrau; aus seinem vollen und frischen Gesichte sprach Gutmütigkeit; von ewigem Lächeln belebt glänzten seine Augen. Narumoff stellte ihm Hermann vor. Tschekalinski drückte ihm freundschaftlich die Hand, bat ihn, keine Umstände zu machen und fuhr fort, die Bank zu halten.

Die Taille dauerte lange. Auf dem Tische lagen mehr als dreißig Karten. Nach jedem Wurfe ließ Tschekalinski einige Minuten verstreichen, um den Mitspielenden Zeit zu geben, ihre Anordnungen zu treffen, schrieb die Verluste auf, hörte höflich ihre Wünsche an, bog noch höflicher eine überflüssige Ecke zurecht, die eine zerstreute Hand eingebogen hatte. Endlich war die Taille beendet. Tschekalinski mischte die Karten und traf seine Vorbereitungen, abermals die Bank zu halten.

»Erlauben Sie auch mir eine Karte zu setzen«, sagte Hermann, indem er seine Hand hinter einem dicken Herrn, der ebenfalls dort setzte, hervorstreckte.

Tschekalinski lächelte und verbeugte sich schweigend, zum Zeichen ergebenen Einverständnisses. Lachend beglückwünschte Narumoff Hermann dazu, daß er sich von seinem langen Fasten entbunden hätte und wünschte ihm einen glücklichen Anfang.

»Einverstanden!« sagte Hermann, indem er einen Satz auf seine Karte schrieb.

»Wieviel?« fragte der Bankhalter blinzelnd; »verzeihen Sie, ich kann die Zahl nicht entziffern.«

»Siebenundvierzig Tausend!« entgegnete Hermann.

Aller Köpfe fuhren bei diesen Worten jählings herum, und aller Augen sahen Hermann an.

»Er ist verrückt!« dachte Narumoff.

»Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken,« äußerte Tschekalinski mit unverändertem Lächeln, »daß Ihr Spiel sehr hoch ist; noch keiner hat hier mehr gesetzt als zweihundertfünfundsiebzig simple

»Nun und?« entgegnete Hermann, »halten Sie den Einsatz oder nicht?«

Tschekalinski verneigte sich mit dem Ausdruck gleichen, friedsamen Einverständnisses.

»Ich wollte Ihnen nur sagen,« sagte er, »daß, da Ihre Freunde mich ihres Vertrauens würdigen, ich nicht anders als nur mit barem Gelde die Bank halten kann. Ich bin ja davon überzeugt, daß Ihr Wort völlig genügt, aber weil die Ordnung des Spieles und der Berechnung es so verlangen, so bitte ich Sie dennoch, das Geld auf Ihre Karte zu legen.«

Hermann nahm eine Banknote aus der Tasche und überreichte sie Tschekalinski, der sie seinerseits nur flüchtig besah und auf Hermanns Karte legte.

Dann begann er die Karten auszuspielen. Rechts kam eine Neun zu liegen, links – eine Drei.

»Gewonnen!« sagte Hermann und wies seine Karte vor.

Unter den Spielern erhob sich ein Gemurmel. Tschekalinski zog die Stirne kraus; allein sofort kehrte das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurück.

»Soll ich Sie sofort auszahlen?« fragte er Hermann.

»Bitte!«

Tschekalinski zog einige Banknoten aus der Tasche und machte seine Berechnungen. Hermann empfing das Geld und verließ den Tisch. Narumoff war fassungslos. Hermann stürzte ein Glas Limonade hinunter und ging nach Hause.

Am Abend des andern Tages erschien er wieder bei Tschekalinski. Der Hausherr hielt die Bank. Hermann näherte sich dem Tisch; die Spieler machten ihm sofort Platz. Tschekalinski verneigte sich liebenswürdig. Hermann wartete auf die neue Taille, setzte alsdann eine Karte und legte auf diese seine siebenundvierzig Tausend wie auch den Gewinn von gestern. Tschekalinski spielte aus. Valet kam rechts zu liegen, links aber eine Sieben. Hermann wies seine Sieben vor.

Alles geriet außer sich. Tschekalinski war sichtlich erregt. Er zählte vierundneunzig Tausend ab und überreichte sie Hermann. Der aber empfing sie kaltblütig und entfernte sich in derselben Minute.

Am nächsten Abend erschien Hermann wieder am Tische. Alles erwartete ihn: die Generäle und Geheimräte verließen ihren Whist, um sich ein so außergewöhnliches Spiel anzusehen. Die jungen Offiziere sprangen von ihren Diwans auf, und sogar die Diener versammelten sich im Salon. Alles umringte Hermann. Die übrigen Spieler setzten keine Karten, denn sie waren voll Ungeduld über den Ausgang des Spieles. Und so stand Hermann am Tisch und war bereit, ganz allein gegen den bleichen, doch noch immer lächelnden Tschekalinski zu setzen. Jeder von beiden entsiegelte je ein Spiel Karten. Tschekalinski mischte und Hermann hob ab, setzte seine Karte und bedeckte sie mit einem Haufen von Banknoten. Es war wie ein Zweikampf. Tiefes Schweigen herrschte ringsum.

Tschekalinski spielte aus und seine Hände zitterten. Rechts kam eine Dame zu liegen, links ein Aß.

»Aß hat gewonnen!« sagte Hermann und wies seine Karte vor.

»Ihre Dame ist geschlagen«, sagte ihm Tschekalinski liebenswürdig.

Hermann erbebte: tatsächlich es war kein Aß, was er gesetzt hatte, es war eine Pique-Dame. Er wollte seinen Augen nicht trauen und begriff nicht, wie er eine falsche Karte hatte ziehen können.

Aber im selben Augenblick war es ihm, als blinzelte die Pique-Dame und lächelte spöttisch. Eine ungewöhnliche Ähnlichkeit überraschte ihn . . .

»Die Alte!« schrie er entsetzt auf.

Tschekalinski nahm das verlorene Geld. Hermann stand reglos. Als er den Tisch verließ, fingen alle auf einmal zu sprechen an.

»Glänzend gesetzt!« riefen die Spieler.

Tschekalinski mischte von neuem; das Spiel nahm seinen Fortgang.

 

Schluß

Hermann wurde irrsinnig. Er befindet sich im siebzehnten Zimmer des Obuchowschen Krankenhauses, antwortet auf keine Frage und murmelt sehr schnell vor sich hin: »Drei, Sieben, Aß! Drei, Sieben, Dame!«

Lisaweta Iwanowna hat sich mit einem sehr liebenswürdigen jungen Manne vermählt. Er ist irgendwo angestellt und bezieht ein anständiges Gehalt; er ist der Sohn des ehemaligen Verwalters der verstorbenen Gräfin. Lisaweta Iwanowna erzieht eine arme Verwandte.

Tomski ist zum Rittmeister befördert worden und hat die Fürstin Pauline geheiratet.

 


 


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