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In einem unserer entlegenen Gouvernements befand sich das Gut Iwan Petrowitsch Berestows. In seiner Jugend hatte er in der Garde gedient, aber zu Beginn des Jahres 1797 seinen Abschied genommen und war auf sein Gut gezogen, das er seitdem niemals verließ. Er war mit einer armen Adligen verheiratet gewesen, die im Wochenbett starb, gerade zu einer Zeit, als er sich auf der Jagd befand. In der Bewirtschaftung seines Gutes fand er bald Trost. Er baute sich ein Haus nach eigenem Plan, richtete eine Tuchfabrik ein, sicherte sich ein Einkommen und begann sich für den klügsten Mann in der ganzen Gegend zu halten, und die Nachbarn, die ihn in Begleitung ihrer Familien und ihrer Hunde zu besuchen pflegten, widersprachen dem nicht. An Wochentagen trug er eine Plüschjacke, an Feiertagen aber einen Rock aus hausgewebtem Tuch; er schrieb selbst alle Ausgaben auf und las nichts außer den »Senatsnachrichten«. Im allgemeinen war er beliebt, obwohl ihn viele für hochmütig hielten. Nur sein nächster Nachbar Grigorij Iwanowitsch Muromskij konnte mit ihm nicht auskommen. Dieser war ein echter russischer großer Herr. Nachdem er in Moskau den größten Teil seines Vermögens verpraßt hatte und zugleich Witwer geworden war, zog er sich auf das einzige ihm noch gebliebene Gut zurück, wo er seine tollen Streiche fortsetzte, wenn sie auch jetzt anderer Art waren. Er legte einen englischen Park an, der fast alle seine Einnahmen verschlang. Seine Stallknechte waren wie englische Jockeys gekleidet. Seine Tochter hatte eine englische Erzieherin. Die Felder werden auf englische Manier bestellt, aber:
»Auf fremde Art kann russisch' Korn nicht wachsen.«
Trotz der bedeutenden Einschränkung der Ausgaben, nahm das Einkommen Grigorij Iwanowitschs nicht zu; er fand auch auf dem Lande Mittel, neue Schulden zu machen; dabei galt er für gar nicht dumm, denn er war als erster von allen Gutsbesitzern des Gouvernements darauf gekommen, sein Gut beim Vormundschaftsgericht zu verpfänden, – ein Unternehmen, das damals für außerordentlich kompliziert und kühn galt. Unter allen, die ihn tadelten, urteilte Berestow strenger als alle. Eine Abneigung gegen alle Neuerungen war der auffallendste Zug seines Charakters. Von der Anglomanie seines Nachbarn konnte er gar nicht gleichgültig sprechen und fand jeden Augenblick Gelegenheit, ihn zu kritisieren. Wenn er einem Gast seinen Besitz zeigte, so antwortete er auf das Lob, das jener seinen wirtschaftlichen Anordnungen spendete, mit ironischem Lächeln: »Jawohl, bei mir ist es nicht so wie bei meinem Nachbar Grigorij Iwanowitsch. Was soll ich mich auf englische Manier zugrunde richten; ich will lieber auf russische Art satt werden.« Solche und ähnliche Scherze kamen dank den Bemühungen der Nachbarn auch Grigorij Iwanowitsch zu Ohren, sogar mit Ergänzungen und Kommentaren. Der Anglomane konnte die Kritik ebenso schwer vertragen wie unsere Journalisten. Er wütete und nannte seinen Kritiker einen Bären und einen Provinzialen.
Solcher Art waren die Beziehungen zwischen den beiden Gutsbesitzern, als der Sohn Berestows zu seinem Vater aufs Gut kam. Er war an der Universität *** erzogen worden und hatte die Absicht, in den Militärdienst zu treten, allein sein Vater wollte es ihm nicht erlauben. Für den Zivildienst fühlte der junge Mann nicht die geringste Befähigung. Sie wollten einander nicht nachgeben; der junge Alexej begann das Leben eines reichen Landjunkers zu führen und ließ sich für jeden Fall einen Schnurrbart stehen.
Alexej war in der Tat ein strammer Bursche. Es wäre wirklich schade gewesen, wenn es seiner schlanken Figur versagt bliebe, von einer Militäruniform umspannt zu werden, und wenn er, statt hoch zu Roß zu stolzieren, seine Jugend über Kanzleiakten gebückt verbringen müßte. Wenn die Nachbarn sahen, wie er bei einer Jagd immer allen voran, ohne auf Weg und Steg zu achten, dahersprengte, sagten sie einstimmig, daß aus ihm niemals ein ordentlicher Amtsvorstand werden würde. Die jungen Mädchen beobachteten ihn und vergafften sich sogar in ihn; aber Alexej schenkte ihnen wenig Beachtung, und sie sahen den Grund seiner Gefühllosigkeit in einem geheimen Liebesbunde. Und in der Tat ging die Abschrift der Adresse eines seiner Briefe von Hand zu Hand: »An Akulina Petrowna Kurotschkina, in Moskau, gegenüber dem Alexej-Kloster, im Hause des Kupferschmiedes Ssaweljew, und Sie werden höflichst gebeten, diesen Brief abzugeben an A. N. R.« Diejenigen meiner Leser, die noch nie auf dem Land gelebt haben, können sich keine Vorstellung davon machen, wie entzückend die jungen Mädchen in der Provinz sind! In der reinen Luft, im Schatten ihrer Apfelbäume aufgewachsen, schöpfen sie die Kenntnis des Lebens und der Welt aus Büchern. Vereinsamung, Freiheit und Lektüre zeitigen in ihnen früh Gefühle und Leidenschaften, die unseren an Zerstreuungen gewöhnten Schönen unbekannt sind. Für so ein junges Mädchen ist schon der Ton einer Postwagenschelle ein Erlebnis; eine Reise nach der nächsten Stadt wird als eine wichtige Epoche ihres Lebens angesehen, und der Besuch eines Fremden hinterläßt eine lange, zuweilen eine ewige Erinnerung. Es ist natürlich einem jeden erlaubt, sich über einige ihrer Eigenheiten lustig zu machen; aber die Scherze eines oberflächlichen Beobachters vermögen ihre tatsächlichen Vorzüge nicht zu vernichten, von denen die Eigentümlichkeit des Charakters, die »Individualität«, die vornehmste ist, ohne die es nach Jean Pauls Ansicht keine menschliche Größe geben kann. In den Hauptstädten genießen die Frauen vielleicht eine bessere Erziehung; aber der gesellschaftliche Verkehr schleift bald die Eigentümlichkeiten des Charakters ab und macht die Seelen ebenso einförmig wie den Kopfputz. Dies soll weder als Vorwurf noch als Tadel ausgesprochen werden, aber »nota nastra manet«, wie ein alter Kommentator schreibt.
Man kann sich wohl vorstellen, welchen Eindruck Alexej auf unsere jungen Mädchen machen mußte. Er war der erste, der finster und enttäuscht vor ihnen erschien; der erste, der ihnen von verlorenen Freuden und von seiner verwelkten Jugend sprach; außerdem trug er einen schwarzen Ring mit einem Totenkopfe. Das alles war in jenem Gouvernement noch neu. Die jungen Mädchen waren alle in ihn vernarrt.
Am meisten interessierte sich aber für ihn die Tochter meines Anglomanen, Lisa (oder Betsy, wie Grigorij Iwanowitsch sie gewöhnlich nannte). Die Väter verkehrten nicht mit einander, und sie hatte Alexej noch nicht gesehen, während alle jungen Nachbarinnen nur von ihm sprachen. Sie war siebzehn Jahre alt. Ihr dunkles, sehr anmutiges Gesicht wurde von schwarzen Augen belebt. Sie war das einzige Kind und darum verhätschelt. Ihre Lebhaftigkeit und die Streiche, die sie jeden Augenblick anstellte, entzückten den Vater und brachten ihre Erzieherin, Miß Jackson, zur Verzweiflung. Diese war eine vierzigjährige affektierte alte Jungfer, die sich die Wangen weiß und die Brauen schwarz malte, zweimal im Jahre die »Pamela« las, dafür zweitausend Rubel Gehalt bekam und in diesem barbarischen Rußland vor Langeweile verging.
Lisas Zofe hieß Nastja; sie war etwas älter, aber ebenso leichtsinnig wie ihre Herrin. Lisa liebte sie sehr, vertraute ihr alle ihre Geheimnisse an, beriet sich mit ihr über jeden Streich, – mit einem Worte, Nastja war auf dem Gute Prilutschino eine viel wichtigere Person als jede »Vertraute« der Heldin einer französischen Tragödie.
»Erlauben Sie mir heute einen Besuch zu machen,« sagte einmal Nastja, während sie ihre Herrin ankleidete.
»Gerne; wohin willst du denn?«
»Nach Tugilowo, zu den Berestows. Die Frau ihres Koches hat Namenstag und war gestern hier, um uns zum Essen zu bitten.«
»Da sieht man es!« sagte Lisa. »Die Herrschaften sind verfeindet, und die Diener laden einander ein.«
»Was gehen uns die Herrschaften an?« entgegnete Nastja. »Außerdem gehöre ich Ihnen und nicht Ihrem Papa. Sie sind doch nicht mit dem jungen Berestow verzankt; mögen nur die Alten streiten, wenn es ihnen Spaß macht.«
»Nastja, gib dir Mühe, Alexej Berestow zu sehen, und sage mir dann, wie er aussieht und was für ein Mensch er ist.«
Nastja versprach es ihr, und Lisa wartete einen ganzen Tag mit Ungeduld auf ihre Rückkehr. Nastja kam gegen Abend. »Nun, Lisaweta Grigorjewna,« sagte sie, ins Zimmer tretend, »ich habe den jungen Berestow gesehen; ich konnte ihn lange genug betrachten; den ganzen Tag waren wir zusammen.«
»Wie kam es nur? Erzähle, erzähle alles der Reihe nach.«
»Bitte sehr: wir gingen hin; ich, Anissja Nenila, Dunjka...«
»Gut, ich weiß es. Nun und weiter?«
»Erlauben Sie, ich will es der Reihe nach erzählen. Wir kamen also gerade zum Essen. Das Zimmer war voll von Menschen. Es waren welche aus Kolbino, aus Sacharjewo da, die Verwaltersfrau mit ihren Töchtern, aus Chlupino ...«
»Nun, und Berestow?«
»Warten Sie. Wir setzten uns zu Tisch. Die Verwaltersfrau auf den ersten Platz, und ich neben sie. Ihre Töchter taten so stolz, aber ich pfeif' auf sie ...«
»Ach, Nastja, wie du mich mit allen diesen Einzelheiten langweilst!«
»Wie ungeduldig Sie doch sind. Nun, wir standen vom Tisch auf ... drei Stunden hatten wir gesessen, und das Essen war so fein: zum Nachtisch gab es blaues, rotes und gestreiftes Gelee ... Wir standen also vom Tische auf und gingen in den Garten, um Fangen zu spielen, – und da kam auch der junge Herr herbei.«
»Nun, ist es wahr, daß er so hübsch ist?« »Wunderhübsch. Man kann wohl sagen, daß er ein schöner Mann ist. Schlank, groß, mit roten Wangen ...« »Wirklich? Und ich hatte mir gedacht, daß er blaß sein muß. Nun, wie kam er dir vor? Traurig, nachdenklich?«
»Was glauben Sie? Einen solchen Wildfang habe ich noch nie gesehen. Es fiel ihm ein, mit uns Fangen zu spielen ...«
»Mit euch Fangen zu spielen! Unmöglich!«
»Es ist sogar sehr möglich. Und was er sich dabei erlaubte! Wenn er nur eine fing, küßte er sie gleich ab.«
»Du magst sagen, was du willst, Nastja, aber es ist nicht wahr.«
»Sie können sich denken, was Sie wollen, aber es ist wahr. Mit Mühe hielt ich ihn mir vom Leibe. Den ganzen Tag gab er sich mit uns ab.«
»Aber man sagt doch, er sei verliebt und sehe keinen Menschen an?«
»Ich weiß es nicht, mich hat er aber schon zu sehr angesehen; auch Tanja, die Verwalterstochter; auch Pascha aus Kolbino; die Wahrheit zu sagen: er hat niemand verschmäht, so ein lustiger Herr!«
»Das ist merkwürdig. Und was sagt man im Hause von ihm?«
»Man sagt, er sei ein lieber Herr, so gut und so lustig. Aber eines ist nur nicht schön: er läuft den Mädchen nach. Ich würde es noch für kein großes Unglück halten: mit der Zeit wird er gesetzter werden.«
»Wie gerne möchte ich ihn sehen!« sagte Lisa mit einem Seufzer.
»Warum sollte das so schwierig sein? Tugilowo ist ja nicht weit von uns, – nur drei Werst; gehen Sie mal in die Gegend spazieren oder reiten Sie aus; Sie werden ihm gewiß begegnen. Er geht jeden Tag am frühen Morgen mit seiner Flinte auf die Jagd.«
»Nein, das geht nicht. Er könnte glauben, daß ich ihm nachlaufe. Außerdem sind unsere Väter verzankt, und ich kann gar nicht seine Bekanntschaft machen. – Ach, Nastja: weißt du was? Ich will mich als Bäuerin verkleiden!« »Ja, wirklich: ziehen Sie ein grobes Hemd und einen Sarasan an und gehen Sie ohne Bedenken nach Tugilowo; ich wette, Berestow wird Sie nicht an sich vorbeigehen lassen.« »Ich verstehe auch ausgezeichnet wie die hiesigen Bauern zu sprechen. Ach, Nastja, liebe Nastja! Welch ein herrlicher Einfall!« Und Lisa ging zu Bett mit der Absicht, ihren lustigen Plan auch wirklich auszuführen. Gleich am anderen Tag machte sie sich an die Ausführung: sie schickte auf den Markt, ließ grobe Leinwand, blauen Baumwollstoff und Messingknöpfe holen, schnitt sich mit Nastjas Hilfe ein Hemd und einen Sarafan zu, ließ die ganze Gesindestube arbeiten, und am Abend war schon alles fertig. Lisa probierte ihr neues Kleid vor dem Spiegel und mußte sich gestehen, daß sie sich selbst noch nie so hübsch gesehen hatte. Sie repetierte ihre Rolle. Sie verbeugte sich im Gehen, schüttelte dann einigemale den Kopf wie ein Porzellankater, sprach die Bauernsprache, lachte, das Gesicht mit dem Ärmel bedeckend, und Nastja zollte ihr volle Anerkennung. Eines machte ihr nur Schwierigkeiten: sie versuchte barfuß durch den Hof zu gehen, aber der Rasen stach ihre zarten Sohlen, und der Sand und die Steinchen kamen ihr unerträglich vor. Nastja kam ihr auch hier zu Hilfe: sie nahm von Lisas Fuß Maß, lief aufs Feld zum Hirten Trofim und bestellte ihm ein Paar Bastschuhe nach diesem Maße. Am nächsten Tage war Lisa schon beim ersten Morgengrauen wach. Das ganze Haus schlief noch. Nastja erwartete vor dem Tore den Hirten. Die Flöte ertönte, und die Dorfherde zog am Herrenhause vorbei. Trofim gab Nastja im Vorbeigehen die winzigen bunten Bastschuhe und bekam dafür einen halben Rubel als Lohn. Lisa kleidete sich leise als Bäuerin an, gab Nastja flüsternd ihre Anordnungen in bezug auf Miß Jackson, ging durch die Hintertreppe in den Gemüsegarten und lief ins freie Feld.
Im Osten leuchtete das Morgenrot, und die goldenen Reihen der Wolken schienen die Sonne zu erwarten, wie die Höflinge ihren Herrscher erwarten; der heitere Himmel, die Morgenfrische, der Tau, der leise Wind und das Zwitschern der Vögel erfüllten Lisas Herz mit Fröhlichkeit; da sie jemand Bekanntem zu begegnen fürchtete, flog sie buchstäblich dahin. Als sie sich dem Wäldchen an der Grenze des väterlichen Besitztums näherte, verlangsamte sie die Schritte. Hier mußte sie auf Alexej warten. Heftig pochte ihr Herz, sie wußte selbst nicht warum; aber die Furcht, die unsere jugendlichen Streiche begleitet, bildet doch ihren Hauptreiz. Lisa trat in den Schatten des Wäldchens. Dumpfes, wiederhallendes Rauschen begrüßte hier das Mädchen. Ihre lustige Stimmung wurde etwas gedämpft. Allmählich versank sie in süße Träumerei. Sie dachte ... kann man aber mit Sicherheit bestimmen, was sich so ein siebzehnjähriges junges Mädchen allein, im Walde, in der sechsten Morgenstunde denkt? So ging sie nachdenklich auf einem an beiden Seiten von hohen Bäumen beschatteten Wege, als sie plötzlich von einem schönen Jagdhunde angebellt wurde. Lisa erschrak und schrie auf. Im gleichen Augenblick rief eine Stimme: »Tout-beau, Sogar, ici...,« und ein junger Jäger kam hinter einem Gebüsch hervor. – »Hab' keine Angst, meine Liebe,« sagte er zu Lisa, »mein Hund beißt nicht.« Lisa hatte sich schon von ihrem Schrecken erholt und verstand, sich die Umstände zunutze zu machen. »Aber nein, gnädiger Herr,« sagte sie, indem sie sich halberschrocken und halbschüchtern stellte, »ich habe solche Angst, der Hund ist so böse, gleich wird er wieder losspringen.« Alexej (der Leser hat ihn natürlich schon erkannt) musterte indessen genau die junge Bäuerin. »Ich begleite dich, wenn du dich fürchtest,« sagte er: »Du erlaubst mir doch, neben dir zu gehen?« – »Wer kann's dir wehren?« antwortete Lisa. »Jeder hat seine Freiheit, und die Landstraße gehört allen.« – »Woher bist du?« – »Aus Prilutschino. Ich bin die Tochter des Schmiedes Wassilij und gehe Pilze sammeln.« (Lisa trug an einem Schnürchen einen Bastkorb.) »Und du, Herr, du bist doch aus Tugilowo, nicht?« – »Gewiß,« antwortete Alexej, »ich bin Kammerdiener des jungen Herrn.« Alexej wollte seine Stellung der ihrigen anpassen, Lisa sah ihn aber an und lachte. »Du lügst,« sagte sie, »ich bin nicht so dumm und sehe, daß du der Herr selbst bist.« – »Woran erkennst du das?« – »An allem.« – »Doch wie?« – »Wie soll man den Herrn vom Diener nicht unterscheiden können? Du trägst dich anders und redest anders und rufst auch den Hund in einer fremden Sprache.« Lisa gefiel Alexej immer mehr. Da er nicht gewohnt war, bei den hübschen Bauernmädchen Umstände zu machen, wollte er sie umarmen; aber Lisa sprang zurück und nahm plötzlich eine strenge und kalte Miene an, die Alexej zwar amüsierte, aber von weiteren Angriffen abhielt. »Wenn Sie wollen, daß wir auch ferner gute Freunde bleiben,« sagte sie wichtig, »so wollen Sie sich nicht wieder vergessen.« – »Wer hat dich diese Weisheit gelehrt?« fragte Alexej lachend. »Vielleicht meine Bekannte Nastja, die Zofe eures gnädigen Fräuleins? Auf solchen Wegen wird jetzt die Aufklärung verbreitet!« – Lisa fühlte, daß sie aus ihrer Rolle gefallen war, und verbesserte sich sofort. »Was denkst du dir denn?« sagte sie: »Komme ich denn nie ins Herrenhaus? Sei unbesorgt: ich habe gar manches gehört und gesehen. Aber,« fuhr sie fort, »wenn ich mit dir plaudere, finde ich keine Pilze. Herr, geh du deinen Weg und ich gehe den meinen. Leben Sie wohl...« Lisa wollte weitergehen, aber Alexej hielt sie bei der Hand zurück. – »Wie heißt du, mein Herz?« – »Akulina,« antwortete Lisa, indem sie sich bemühte, ihre Finger aus der Hand Alexejs zu befreien: »Laß mich, Herr, es ist Zeit, daß ich nach Hause komme.« – »Nun, liebe Akulina, ich werde ganz gewiß deinen Vater, den Schmied Wassilij, besuchen.« – »Was fällt dir ein?« entgegnen Lisa lebhaft. »Um Christi willen, komme nicht. Wenn man zu Hause erfährt, daß ich mit dem jungen Herrn im Wäldchen geschwatzt habe, geht es mir schlecht; mein Vater, der Schmied Wassilij, wird mich totschlagen.« – »Aber ich will dich unbedingt wiedersehen.« – »Nun, dann komme ich einmal wieder her, um Pilze zu sammeln.« – »Liebe Akulina, ich möchte dich küssen, aber ich wage es nicht. Also morgen um diese Zeit, nicht wahr?« – »Ja, ja.« – »Und du wirst mich nicht betrügen?« -. »Nein.« – »Schwöre es mir.« – »Nun, dann schwöre ich es beim heiligen Freitag, daß ich kommen werde.«
Die jungen Leute trennten sich. Lisa kam aus dem Walde, durchschritt das Feld, schlich sich in den Garten und stürzte Hals über Kopf auf die Meierei, wo Nastja sie erwartete. Hier zog sie sich um, gab auf die Fragen der ungeduldigen Vertrauten zerstreute Antworten und eilte ins Wohnzimmer. Der Tisch war gedeckt, das Frühstück fertig, und Miß Jackson, die bereits fertig geschminkt und so eng geschnürt war, daß ihre Taille an ein Likörglas gemahnte, schnitt dünne Brotscheiben ab. Der Vater lobte sie wegen ihres frühen Spazierganges. »Nichts ist gesünder,« sagte er, »als beim Sonnenaufgang aufzustehen.« Er zitierte mehrere Beispiele langer Lebensdauer, die er aus englischen Zeitschriften geschöpft hatte, und bemerkte, daß alle Menschen, die über hundert Jahre gelebt, keinen Branntwein zu sich genommen hätten und immer, wie im Sommer, so auch im Winter, beim Sonnenaufgang aufgestanden wären. Lisa hörte ihm nicht zu. Im Geiste durchlebte sie von neuem alle Umstände der heutigen Zusammenkunft, die ganze Unterhaltung Akulinas mit dem jungen Jäger, und empfand Gewissensbisse. Vergebens hielt sie sich selbst vor, daß die Unterhaltung die Grenzen des Anstandes nicht überschritten habe und daß ihr Streich keinerlei Folgen haben könne, – ihr Gewissen war lauter als die Stimme der Vernunft. Das Versprechen, das sie für den nächsten Tag gegeben hatte, beunruhigte sie mehr als alles: sie war schon entschlossen, den feierlichen Eid nicht zu halten. Aber Alexej könnte ja, nachdem er auf sie vergebens gewartet, im Dorfe die Tochter des Schmiedes Wassilij, die wirkliche Akulina, ein dickes pockennarbiges Mädel, aufsuchen, – und so würde er hinter ihren leichtsinnigen Streich kommen.
Dieser Gedanke erschreckte sie, und sie entschloß sich, am nächsten Morgen wieder als Akulina ins Wäldchen zu kommen. Alexej war seinerseits entzückt; den ganzen Tag dachte er nur an die neue Bekannte, und nachts wollte das Bild der dunklen Schönen nicht aus seiner Phantasie weichen. Kaum tagte es, als er schon fertig angekleidet war, ohne sich Zeit zu lassen, sein Gewehr zu laden, ging er mit seinem treuen Sbogar ins Feld und eilte nach dem Orte der verabredeten Zusammenkunft. Gegen eine halbe Stunde verging in einer für ihn unerträglichen Erwartung; endlich sah er den blauen Sarafan im Gebüsch schimmern und stürzte der lieben Akulina entgegen. Sie lächelte über sein Entzücken und seine Dankbarkeit; aber Alexej bemerkte sofort in ihrem Gesicht Spuren von Traurigkeit und Unruhe. Er wollte die Ursache wissen. Lisa gestand, daß ihr Schritt ihr leichtsinnig erscheine, daß sie ihn bereue, daß sie dieses Mal das gegebene Versprechen nicht hätte brechen wollen, daß aber diese Begegnung die letzte sein müsse, und sie ihn bitte, die Bekanntschaft, die zu nichts Gutem führen könnte, abzubrechen. Das alles wurde natürlich in der Bauernsprache gesagt; aber die für ein einfaches Mädchen so ungewöhnlichen Gedanken und Empfindungen setzten in Erstaunen. Er wandte seine ganze Beredsamkeit an, um Akulina von ihrer Absicht abzubringen; er beteuerte ihr die Unschuld seiner Absichten, versprach, ihr niemals Grund zur Reue zu geben und ihr in allen Dingen zu folgen, und beschwor sie, ihn dieser einzigen Freude – sie, und wenn auch nur jeden zweiten Tag oder nur zweimal in der Woche, allein zu sehen, nicht zu berauben. Er redete die Sprache der wahren Leidenschaft und war in diesem Augenblick wirklich verliebt. Lisa hörte ihn schweigend an. »Gib mir dein Wort,« sagte sie endlich, »daß du mich niemals im Dorfe suchen und niemals nach mir fragen wirst. Gib mir dein Wort, keine anderen Zusammenkünfte mit mir zu suchen, als die, die ich selbst bestimme.« Alexej fing schon an, beim heiligen Freitag zu schwören, aber sie hielt ihn lächelnd zurück: »Ich brauche keine Schwüre,« sagte Lisa, »mir genügt dein bloßes Versprechen.« Dann gingen sie freundschaftlich plaudernd durch den Wald, bis Lisa ihm sagte: »Es ist Zeit.« Sie schieden, und Alexej konnte, als er allein geblieben, nicht begreifen, wie das einfache Bauernmädchen es verstanden habe, nach zwei Begegnungen eine solche Macht über ihn zu erlangen. Seine Beziehungen zu Akulina hatten für ihn den Reiz der Neuheit, und obwohl die Vorschriften des sonderbaren Bauernmädchens ihm als eine Last erschienen, kam ihm nie der Gedanke, sein Wort nicht zu halten. Die Sache war die, daß Alexej trotz seines unheimlichen Ringes, der geheimnisvollen Korrespondenz und seiner finsteren Blasiertheit dennoch ein braver, begeisterungsfähiger Jüngling war und ein reines Herz hatte, das sich noch an Unschuld erfreuen konnte.
Könnte ich ganz meinen eigenen Wünschen folgen, so würde ich mit aller Ausführlichkeit die Zusammenkünfte der jungen Leute, das Anwachsen der gegenseitigen Zuneigung und des Vertrauens, ihren Zeitvertreib und ihre Gespräche schildern, aber ich weiß, daß die Mehrzahl meiner Leser diese Freuden nicht teilen würde. Alle diese Einzelheiten müßten süßlich erscheinen, darum übergehe ich sie und bemerke nur ganz kurz, daß noch nicht zwei Monate vergangen waren, als Alexej bis zur Bewußtlosigkeit verliebt war, und auch Lisa, wenn auch schweigsamer als er, doch nicht gleichgültiger als er war. Sie waren beide in der Gegenwart glücklich und dachten wenig an die Zukunft.
Der Gedanke an unzertrennliche Bande kam ihnen recht oft in den Sinn; aber sie hatten noch nie darüber gesprochen. Die Ursache ist ja klar: wie zugetan Alexej seiner geliebten Akulina auch war, mußte er doch immer an den Abstand denken, der ihn von dem armen Bauernmädchen trennte; Lisa aber wußte, welche Feindschaft zwischen ihren Vätern bestand, und wagte es nicht, auf ihre Versöhnung zu hoffen. Außerdem wurde ihr Ehrgeiz heimlich durch die vage romantische Hoffnung aufgestachelt, den Gutsherrn von Tugilowo zu Füßen der Tochter des Schmiedes von Prilutschino zu sehen. Ein plötzlich eingetretenes wichtiges Ereignis hätte aber beinahe ihre gegenseitigen Beziehungen geändert.
An einem heiteren kalten Morgen (einem jener Morgen, an denen unser russischer Herbst so reich ist) ritt Iwan Petrowitsch Berestow aus und nahm für jeden Fall drei Paar Windhunde, einen Stallknecht und mehrere mit Klappern versehene Jungen mit. Um diese selbe Stunde ließ Grigorij Iwanowitsch Muromskij, vom schönen Wetter verführt, seine Stute mit dem englisch gestutzten Schwanz satteln und ritt im Trab durch seinen anglisierten Besitz. Als er sich dem Wäldchen näherte, erblickte er seinen Nachbar, der in einem mit Fuchspelz gefütterten Rock stolz auf seinem Pferde saß und den Hasen erwartete, den die Jungen durch Geschrei und Geklapper aus dem Gebüsch trieben. Hatte Grigorij Iwanowitsch diese Begegnung voraussehen können, so würde er sicher umgekehrt sein; er war aber ganz unerwartet auf Berestow gestoßen und stand plötzlich in der Entfernung eines Pistolenschusses von ihm. Es war nichts zu machen: Muromskij ritt als gebildeter Europäer auf seinen Feind zu und begrüßte ihn höflich. Berestow erwiderte den Gruß mit dem gleichen Anstand, mit dem ein zahmer Bär sich auf Geheiß seines Wärters vor den Herrschaften verbeugt. In diesem Augenblick sprang der Hase aus dem Walde und lief querüberfeld. Berestow und sein Stallknecht schrien aus vollem Halse auf, ließen die Hunde los und folgten im Galopp dem Hasen. Das Pferd Muromskijs, das noch nie auf der Jagd gewesen war, erschrak und begann wild zu rennen. Muromskij, der sich für einen guten Reiter hielt, ließ dem Pferde die Zügel und war innerlich über diesen Zufall froh, der ihn von der unangenehmen Gesellschaft befreite. Als aber das Pferd zu einem Graben gelangte, den es bisher nicht gesehen, warf es sich auf die Seite, und Muromskij fiel aus dem Sattel. Er stürzte schwer auf den hartgefrorenen Boden, lag da und verfluchte seine kurzschwänzige Stute, welche, als wäre sie plötzlich zur Besinnung gekommen, stehen blieb, sobald sie sich ohne Reiter fühlte. Iwan Petrowitsch sprengte auf ihn zu und erkundigte sich, ob er sich nicht wehgetan hätte. Inzwischen kam der Stallknecht mit dem schuldigen Pferd, das er am Zaume führte, zurück. Er half Muromskij in den Sattel und Berestow lud ihn zu sich ein. Muromskij konnte die Einladung nicht abschlagen, da er sich dem Nachbarn gegenüber für verpflichtet fühlte, und so kehrte Berestow mit Triumph nach Hause zurück, nachdem er einen Hasen erbeutet hatte und seinen Feind, verwundet, fast als Kriegsgefangenen mit sich führte.
Die Nachbarn kamen beim Frühstück in ein freundschaftliches Gespräch. Muromskij bat Berestow um eine Droschke, da er gestehen mußte, daß er nach dem Sturze nicht imstande war, nach Hause zu reiten. Berestow begleitete ihn vor die Haustür, und Muromskij fuhr nicht eher ab, als er von ihm das Versprechen abgenommen, daß er gleich am nächsten Tage (mit Alexej Iwanowitsch) nach Prilutschino kommen und bei ihm freundschaftlich zu Mittag speisen würde. So hatte es den Anschein, daß eine alte, tiefeingewurzelte Feindschaft dank der Scheu einer kurzschwänzigen Stute beigelegt werden sollte. Lisa eilte Grigorij Iwanowitsch entgegen. »Was ist das, Papa?« fragte sie erstaunt: »Warum hinken Sie? Wo ist Ihr Pferd? Wessen Droschke ist das?« – »Das wirst du nicht erraten, my dear,« antwortete ihr Grigorij Iwanowitsch, und erzählte ihr alles, was vorgefallen war. Lisa traute ihren Ohren nicht. Grigorij Iwanowitsch ließ sie gar nicht aus dem Erstaunen herauskommen, indem er ihr erklärte, daß morgen die beiden Berestows bei ihm speisen würden. »Was sagen Sie!« rief sie erbleichend: »Die Berestows, Vater und Sohn! Morgen sollen sie bei uns essen! Nein, Papa, tun Sie, was Sie wollen, aber ich werde mich um keinen Preis zeigen.« – »Was hast du, bist du von Sinnen?« versetzte der Vater: »Seit wann bist du so schüchtern? Oder nährst du eine Erbfeindschaft gegen sie wie eine romantische Heldin? Genug, sei nicht so albern ...« – »Nein, Papa, um nichts auf der Welt, für keine Schätze werde ich mich den Berestows zeigen.«
Grigorij Iwanowitsch zuckte die Achseln und stritt mit ihr nicht mehr, denn er wußte, daß man bei ihr durch Widerspruch nichts erreichen konnte; und er zog sich zurück, um nach diesem folgenschweren Ritte auszuruhen. Lisaweta Grigorjewna ging auf ihr Zimmer und rief Nastja herbei. Sie berieten sich lange wegen des morgigen Besuches. Was wird sich Alexej denken, wenn er im wohlerzogenen Fräulein seine Akulina wiedererkennt? Was für eine Meinung wird er von ihrem Betragen, von ihrem Anstand und von ihrer Vernunft haben? Anderseits wollte Lisa gerne sehen, welchen Eindruck auf ihn eine so unerwartete Begegnung machen würde... Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie teilte ihn Nastja mit; beide freuten sich, als hätten sie einen Schatz gefunden, und beschlossen, den Gedanken unbedingt zu verwirklichen. Am andern Tage fragte Grigorij Iwanowitsch seine Tochter beim Frühstück, ob sie noch immer die Absicht habe, sich vor den Berestows zu verstecken. »Papa,« antwortete Lisa, »wenn Sie wünschen, will ich sie empfangen, aber unter einer Bedingung: wie ich vor ihnen auch erscheine, wie ich mich auch benehme, Sie dürfen mich nicht schelten und auch auf keine Weise Erstaunen oder Unzufriedenheit äußern.« – »Du hast wohl wieder irgendeinen Streich vor!« sagte Grigorij Iwanowitsch lachend. »Also, gut, ich bin einverstanden, tu was du willst, mein schwarzäugiger Wildfang.« Mit diesen Worten küßte er sie auf die Stirn, und Lisa lief fort, um ihre Vorbereitungen zu machen. Punkt zwei Uhr erschien eine von sechs Pferden gezogene, im Hause gebaute Kutsche und machte eine Runde auf dem mit tiefgrünem Rasen eingefaßten Hof. Der alte Berestow stieg mit Hilfe von zwei livrierten Lakaien Muromskijs die Treppe hinauf. Gleich nach ihn kam auch sein Sohn zu Pferde an und betrat zugleich mit dem Vater das Speisezimmer, wo der Tisch schon gedeckt war. Muromskij empfing seine Gäste in der freundschaftlichsten Weise, machte ihnen den Vorschlag, vor dem Essen den Garten und den Tierpark anzusehen, und führte sie auf den sorgfältig gekehrten und mit Sand bestreuten Wegen. Der alte Berestow beklagte innerlich die für diese unnützen Dinge verschwendete Arbeit und Zeit, schwieg aber aus Höflichkeit. Sein Sohn teilte weder die Unzufriedenheit des berechnenden Gutsbesitzers, noch das Entzücken des eingebildeten Anglomanen; aber er erwartete mit Ungeduld das Erscheinen der Tochter des Hauses, von der er schon so viel gehört hatte; obwohl sein Herz, wie wir schon wissen, vergeben war, hatte die junge Schöne doch immerhin ein Anrecht auf sein Interesse.
Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, setzten sie sich zu dreien hin; während die Alten der früheren Jahre gedachten und sich Anekdoten aus ihrer Dienstzeit erzählten, grübelte Alexej über die Rolle, die er in Lisas Gegenwart spielen sollte. Er entschied sich dafür, daß eine kühle Zerstreutheit in jedem Falle am passendsten wäre, und traf danach seine Vorbereitungen. Die Tür ging auf; er wandte den Kopf mit einer solchen Gleichgültigkeit, mit einer so stolzen Nachlässigkeit, daß das Herz der verstocktesten Kokette unbedingt zusammengefahren wäre. Leider trat statt Lisa die alte Miß Jackson ein, gepudert, geschminkt, eng geschnürt, mit gesenkten Augen und einem kleinen Knicks, und so war die schöne militärische Gebärde Alexejs vergebens. Kaum hatte er seine Kräfte wieder gesammelt, als die Tür von neuem aufging; diesmal war es Lisa. Alle erhoben sich, der Vater fing schon an, ihr die Gäste vorzustellen, als er plötzlich stockte und sich aus die Lippen biß... Lisa, seine dunkle Lisa war bis an die Ohren gepudert und geschminkt, viel ärger als Miß Jackson selbst; die falschen Locken, viel heller als ihr eigenes Haar, waren wie eine Perücke aus der Zeit Ludwig XIV. aufgesteckt; die Ärmel à l'imbecile waren steif wie der Reifrock der Madame de Pompadour; die Taille war so eng geschnürt, daß sie einem X glich, und alle noch nicht verpfändeten Brillanten ihrer Mutter funkelten an ihren Fingern, Hals und Ohren. Alexej konnte in diesem lächerlichen und glänzenden Fräulein seine Akulina nicht wiedererkennen. Sein Vater küßte ihr die Hand, und er folgte ärgerlich seinem Beispiel; als er ihre weißen Finger berührte, kam es ihm vor, als zitterten sie. Indessen bemerkte er das absichtlich vorgestreckte und kokett beschuhte Füßchen. Das versöhnte ihn einigermaßen mit ihrem übrigen Aufzug. Und was ihre Schminke betrifft, so hatte er sie, offen gestanden, in seiner Herzenseinfalt auf den ersten Blick nicht bemerkt, wie er sie auch später gar nicht sah. Grigorij Iwanowitsch dachte an sein Versprechen und bemühte sich, kein Erstaunen zu zeigen, doch der Streich seiner Tochter kam ihm so amüsant vor, daß er sich kaum beherrschen konnte. Aber der steifen Engländerin war es gar nicht zum Lachen. Sie ahnte, daß Puder und Schminke aus ihrer Kommode entwendet worden waren, und die Röte des Ärgers leuchtete durch das künstliche Weiß ihres Gesichtes hindurch. Sie warf flammende Blicke der jungen Verbrecherin zu, welche alle Erklärungen auf eine andere Gelegenheit aufschob und so tat, als bemerkte sie nichts.
Man setzte sich zu Tisch. Alexej fuhr fort, die Rolle des Zerstreuten und Nachdenklichen zu spielen. Lisa tat geziert, sprach in singendem Ton durch die Zähne und nur französisch. Der Vater sah sie jeden Augenblick an; er begriff nicht, welches Ziel sie dabei verfolgte, aber fand das alles sehr amüsant. Die Engländerin raste innerlich und schwieg; Iwan Petrowitsch allein fühlte sich wie zu Hause, er aß für zwei, trank soviel wie immer, lachte über sein eigenes Lachen und redete von Minute zu Minute freundschaftlicher und lustiger.
Endlich standen sie vom Tische auf; die Gäste empfahlen sich, und Grigorij Iwanowitsch machte seiner Lachlust und Neugier Luft. »Was fiel dir ein, sie zu Narren zu halten?« fragte er Lisa. »Weißt du aber, die weiße Schminke steht dir sehr gut; ich will nicht auf die Geheimnisse der Damentoilette eingehen, aber an deiner Stelle würde ich mich immer schminken, natürlich nicht zuviel, sondern ganz leicht.« Lisa war über den Erfolg ihres Einfalls entzückt. Sie umarmte den Vater, versprach, sich seinen Rat zu überlegen und lief hin, die erzürnte Miß Jackson zu besänftigen, die sie nur mit Mühe bewegen konnte, ihre Tür zu öffnen und ihre Rechtfertigung anzuhören: Lisa hätte sich geschämt, vor den Gästen mit so dunklem Teint zu erscheinen; sie hätte nicht gewagt, sie zu bitten ... sie sei überzeugt, daß die gute liebe Miß Jackson ihr verzeihen würde ... usw. usw. Miß Jackson überzeugte sich, daß Lisa gar nicht daran gedacht habe, sie lächerlich zu machen, beruhigte sich, küßte Lisa und schenkte ihr als Pfand der Versöhnung ein Töpfchen englische weiße Schminke, das Lisa mit dem Ausdrucke aufrichtigen Dankes annahm. Der Leser wird erraten, daß Lisa am folgenden Morgen nicht versäumte, im Wäldchen der Zusammenkünfte zu erscheinen. »Herr, warst du gestern bei unseren Herrschaften?« fragte sie sofort Alexej. »Wie gefiel dir unser gnädiges Fräulein?« Alexej antwortete, daß er sie nicht beachtet habe. »Schade,« entgegnete Lisa. – »Warum denn schade?« fragte Alexej. – »Weil ich dich fragen wollte, ob es wahr ist, was die Leute sagen ...« – »Was sagen die Leute?« – »Ist es wahr, daß ich dem gnädigen Fräulein ähnlich sehe?« – »Was für Unsinn! Im Vergleich zu dir ist sie ein Scheusal!« – »Ach, Herr, es ist Sünde, so zu sprechen; unser gnädiges Fräulein ist so weiß von Gesicht, so schön geputzt! Wie könnte ich [mich] mit ihr vergleichen!« Alexej schwur, daß sie schöner sei als alle die weißen gnädigen Fräuleins, und begann, um sie vollständig zu beruhigen, ihr ihre Herrin so lächerlich zu schildern, daß Lisa herzlich lachen mußte. »Aber,« sagte sie seufzend, »wenn unser Fräulein vielleicht auch lächerlich ist, so bin ich doch im Vergleich zu ihr eine ungebildete dumme Gans.« – »Ach!« sagte Alexej: »Ein großes Unglück! Wenn du willst, werde ich dich lesen und schreiben lehren.« – »Ja, wirklich,« antwortete Lisa, »warum sollte ich es nicht versuchen?« – »Gerne, meine Liebe; wir wollen gleich anfangen.« – Sie setzten sich. Alexej holte Bleistift und Notizbuch aus der Tasche, und Akulina lernte erstaunlich schnell die Buchstaben. Alexej konnte ihre Gelehrigkeit gar nicht genug bewundern. Am nächsten Morgen wollte sie schon zu schreiben versuchen; der Bleistift wollte ihr anfangs nicht gehorchen, aber nach wenigen Minuten malte sie schon die Buchstaben recht ordentlich. »Was für ein Wunder!« sagte Alexej. »Bei uns geht die Sache sogar schneller als nach dem Lancaster-System.« Und in der Tat, bei der dritten Stunde war Lisa bereits imstande, »Natalja, die Bojarentochter« zu lesen; sie unterbrach die Lektüre mit Bemerkungen, die Alexej in aufrichtiges Erstaunen versetzten, füllte auch ein ganzes Blatt Papier mit Sätzen aus der gleichen Erzählung. Nach einer Woche war zwischen ihnen schon ein Briefwechsel im Gange. Als Postbureau diente ihnen eine Höhlung in einer alten Eiche. Nastja versah im geheimen das Amt eines Briefträgers. Dorthin brachte Alexej seine mit großen Buchstaben geschriebenen Briefe und fand dort die auf einfaches blaues Papier gekritzelten Krähenfüße seiner Geliebten. Akulina eignete sich eine gute Ausdrucksweise an, und ihr Geist bildete und entwickelte sich zusehends.
Indessen festigte sich die vor kurzem geschlossene Bekanntschaft zwischen Iwan Petrowitsch Berestow und Grigorij Iwanowitsch Muromskij immer mehr; sie verwandelte sich bald in Freundschaft, und zwar aus folgenden Gründen: Muromskij hatte oft darüber nachgedacht, daß das ganze Gut Iwan Petrowitschs nach dessen Tode auf Alexej Iwanowitsch übergehen sollte, der in diesem Falle einer der reichsten Gutsbesitzer im Gouvernement werden würde; daher liege gar kein Grund vor, warum er Lisa nicht heiraten solle. Der alte Berestow seinerseits hielt zwar seinen Nachbarn für etwas verrückt (von der englischen Narrheit besessen, wie er sich ausdrückte), leugnete darum aber doch seine vielen Vorzüge nicht, z. B. seine seltene Tüchtigkeit; Grigorij Iwanowitsch war nahe verwandt mit dem Grafen Pronskij, einem angesehenen und einflußreichen Manne; der Graf könnte Alexej sehr nützlich sein, und Muromskij (so glaubte Iwan Petrowitsch), würde sich wahrscheinlich freuen, seine Tochter so gut verheiraten zu können. Die Alten überlegten sich die Sache, ein jeder bei sich, so lange, bis sie endlich ihre Ansichten austauschten; sie umarmten sich, versprachen, die Sache in Angriff zu nehmen, und begannen, ein jeder von seiner Seite, vorzuarbeiten. Muromskij hatte noch eine große Schwierigkeit zu bewältigen: seine Betsy zu überreden, Alexej, den sie seit jenem denkwürdigen Mittagessen nicht mehr gesehen hatte, näher kennen zu lernen. Es hatte den Anschein, als gefielen sie einander sehr wenig; Alexej hatte wenigstens seinen Besuch in Prilutschino nicht mehr wiederholt, und Lisa zog sich immer auf ihr Zimmer zurück, wenn Iwan Petrowitsch die Ehre seines Besuches machte. »Aber,« dachte sich Grigorij Iwanowitsch, »wenn Alexej jeden Tag zu mir kommt, wird Betsy sich in ihn verlieben müssen. Das ist in der Ordnung der Dinge. Die Zeit wird das ihrige tun.« Iwan Petrowitsch machte sich weniger Sorgen um den Erfolg seiner Absichten. Er ließ seinen Sohn noch am selben Abend zu sich ins Kabinett kommen, steckte sich eine Pfeife an und sagte nach einem Schweigen: »Warum sprichst du nicht mehr vom Militärdienst, Aljoscha? Oder lockt dich die Husarenuniform nicht mehr?« – »Nein, Väterchen,« antwortete Alexej respektvoll: »ich sehe, es ist Ihnen nicht gefällig, daß ich zu den Husaren gehe; meine Pflicht ist es, Ihnen zu gehorchen.« – »Gut,« antwortete Iwan Petrowitsch, »ich sehe, daß du ein gehorsamer Sohn bist; das ist für mich ein Trost, und ich will dich nicht zwingen, jetzt gleich ... in den Zivildienst zu treten; vorläufig möchte ich dich verheiraten.«
»Mit wem, Väterchen?« fragte Alexej erstaunt.
»Mit Lisaweta Grigorjewna Muromskaja,« antwortete Iwan Petrowitsch. »Die Braut ist doch nett?« »Väterchen, ans Heiraten denke ich noch nicht.«
»Du denkst noch nicht, aber ich habe statt deiner nachgedacht und mir alles überlegt.«
»Wie Sie wünschen, aber Lisa Muromskaja gefällt mir gar nicht.«
»Sie wird dir schon später gefallen. Wenn du dich an sie gewöhnst, wirst du sie auch lieb gewinnen.«
»Ich halte mich nicht für fähig, sie glücklich zu machen.«
»Ihr Glück geht dich nichts an. Wie? So achtest du den Willen des Vaters? Das ist ja schön!«
»Wie Sie wünschen, aber ich will nicht heiraten und werde auch nicht heiraten.«
»Du wirst heiraten, oder ich werde dich verfluchen und das Gut – das schwöre ich dir bei Gott! – verkaufen oder verschwenden und dir keinen Heller hinterlassen. Ich gebe dir drei Tage zum Nachdenken, inzwischen sollst du dich nicht unterstehen, mir vor die Augen zu kommen.«
Alexej wußte, daß, wenn sein Vater sich etwas in den Kopf setzte, man es ihm nicht mal mit einem Nagel, wie sich Taras Skotinin ausdrückte, wieder austreiben konnte. Aber Alexej war seinem Vater nachgeraten und ebenso starrköpfig wie er. Er ging auf sein Zimmer und begann zu grübeln über die Grenzen der väterlichen Gewalt, über Lisaweta Grigorjewna, über seines Vaters feierliches Versprechen, ihn zu einem Bettler zu machen, und endlich über Akulina. Zum ersten Male sah er ganz klar, daß er sie leidenschaftlich liebte; der romantische Gedanke, ein Bauernmädchen zu heiraten und von seiner Hände Arbeit zu leben, setzte sich in seinem Kopfe fest, und je mehr er über seinen entscheidenden Schritt nachdachte, um so vernünftiger erschien er ihm. Seit einiger Zeit hatten die Zusammenkünfte im Wäldchen infolge des regnerischen Wetters aufgehört. Er schrieb Akulina mit seiner leserlichen Handschrift und in einem ganz rasenden Stil einen Brief, teilte ihr das ihm drohende Unheil mit und bot ihr seine Hand an. Er trug den Brief sofort auf ihr Postamt in der Eiche und legte sich, überaus mit sich zufrieden, schlafen.
Am anderen Morgen ritt Alexej, fest entschlossen, zu Muromskij, um sich mit ihm offen auszusprechen. Er hoffte, seine Großmut zu erregen und ihn für sich zu gewinnen. »Ist Grigorij Iwanowitsch zu Hause?« fragte er, sein Pferd vor dem Herrenhause von Prilutschino anhaltend.
»Zu Befehl, nein,« antwortete der Diener. »Grigorij Iwanowitsch sind am frühen Morgen ausgeritten.« – »Wie ärgerlich!« dachte sich Alexej. »Ist wenigstens Lisaweta Grigorjewna zu Hause?« – »Sie ist zu Hause.« Alexej sprang vom Pferde, gab die Zügel dem Diener und ging unangemeldet ins Haus.
»Jetzt wird sich alles entscheiden,« dachte er sich, als er sich dem Wohnzimmer näherte. »Ich will mich mit ihr selbst aussprechen.« Er trat ein ... und erstarrte! Lisa ... nein, Akulina, seine liebe, braune Akulina, nicht in ihrem Sarafan, sondern in einem weißen Morgenkleidchen saß am Fenster und las seinen Brief; sie war so vertieft, daß sie ihn nicht eintreten hörte. Alexej konnte sich eines freudigen Ausrufes nicht enthalten. Lisa fuhr zusammen, hob den Kopf, schrie auf und wollte fortlaufen. »Akulina, Akulina! ...« Lisa versuchte sich von ihm zu befreien... »Mais laizzes-moi donc, monsieur: mais êtes vous fou!« rief sie, sich von ihm wegwendend. »Akulina! Meine liebe Akulina!« wiederholte er, ihr die Hände küssend. Miß Jackson, die Zeugin dieser Szene war, wußte nicht, was sie sich denken sollte. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Grigorij Iwanowitsch trat ein.
»Aha!« sagte Muromskij: »Es scheint, ihr habt die Sache schon selbst ins Reine gebracht...«
Die Leser werden mich der überflüssigen Verpflichtung entbinden, auch noch die Lösung zu beschreiben.