Stanislaw Przybyszewski
Epipsychidion / Introibo
Stanislaw Przybyszewski

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Am Meer

Und wieder kam die blaue Stunde, die Stunde der großen Sehnsucht, da das Meer mir das hohe Lied von Dir und Mir, das düstere Leid unseres Gramgeschickes singt.

Und wieder lebe ich durch die große Nacht des Wunders, da zuerst Dein langer, schwerer Blick sich in die dunkelsten Tiefen meiner Seele senkte und ihr die tiefsten Rätsel meines Uranfangs entschleierte.

 

Nacht über dem Meer!

Der Dampfer stampfte ächzend durch den Sturm, und gegen die Scheiben der Kajütenfenster klatschten die Sturmwogen.

Ich dachte an meine ferne Heimat, an ihre öden Stoppelfelder in dem Zauberglanz der herbstlichen Mondnächte; dachte an das kahle Storchnest, das ich einst als Knabe auf die höchste Spitze der Pappel gebaut, und das nie ein Storch bezogen hat; ich dachte an die schaurigen Märchen, die mir unsere alte Magd erzählte, wenn sie an den endlosen Winterabenden Flachs spann ...

Der Dampfer stampfte und ächzte. Mir gegenüber spielten ein paar Passagiere Karten, rings auf den Polsterbänken schliefen Menschen; ich horchte auf den heulenden Sturm da draußen, horchte auf das eintönige Gepolter der Maschine und – schrak plötzlich zusammen.

Ich sah starr auf mich hergerichtet ein kleines mondlichtblasses Frauengesicht, mit Augen – Augen ...

Ich sah nicht ihre Form, auch nicht ihre Farbe; ich fühlte nur, wie sie mit weichen, flehenden Händen sich um mein Herz legten, wie sie es lockten und in ein fiebriges Klopfen küßten.

Einen Augenblick sah ich es um ihre Lippen zucken, als wollte sie mir Etwas sagen, als müßte ich ihr etwas sagen; aber nur einen Augenblick lang. Ihr Gesicht wurde wieder stumm und kalt.

Nur ihre Augen glühten sich noch tiefer in mein Herz hinein. Es riß mich aufzustehen und dem Blick zu folgen. Und ich wußte: würde ich aufstehn, würde er vor mir, dicht vor mir wie ein Stern dahinschweben und mich über alle Meere, alle Stürme führen.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns anstarrten. Ich weiß nicht, war ich wach? Träumte ich? Aber da brach schon das Licht in ihren Augen, sie schlossen sich, und ihr Gesicht sank wieder auf das Polster zurück.

*

In dem Menschengewühl auf der Landungsbrücke habe ich sie verloren.

Und ich suchte sie – O! wie ich sie suchte! Nie früher hatte ich sie gesehen, aber von Urbeginn an waren wir zusammengewesen.

Und vom Morgen bis in die späte Nacht hinein suchte ich ratlos auf allen Straßen der großen Stadt. Tage lang. In jedem Weibe glaubte ich sie zu sehen, durch jedes Fenster sah ich sie nach mir ausspähen, immer den Blick mit der brennenden Frage, ob ich nicht kommen, nicht folgen würde.

Und ich sah diese Augen, wie sie weit und licht wurden; ich sah sie rotglühen wie glimmende Kohlen, sah sie strahlen wie das weiße Licht elektrischer Lampen, und oft am nächtlichen Strand sah ich regenbogne Farbenringe um sie kreisen, wie man sie um Gaslichtflammen durch bereifte Scheiben sieht.

Und je länger ich suchte, wuchs die Strahlenglorie um die verglühenden Blicke des Doppelgestirns. Über den ganzen Himmel hin sah ich zwei ungeheure Flammenscheiben erblühen und an dem Saum der Erde im roten Dunst verzittern, bis endlich die zwei Augen wie zwei Blutsonnen ins Meer tauchten – unerreichbar ...

*

Ich ging in schweren Träumen. Vielleicht würde ich gesunden, wenn ich diese Augen töten könnte!

Ich ging und dachte an ein andres Augenpaar. Zwei Menschenaugen auf einer goldenen Schüssel starrten mich an: das war Johannes der Täufer.

Oh, mit welcher Lust stach sie hinein, die Königstochter mit einer goldenen, spitzen Nadel! Jäh schossen zwei dünne Fäden Blut hervor, die Augen weiteten sich im Schmerzenskrampf, schrien auf und brachen. Wild jauchzte die Königstochter auf, denn nun brach der Liebesbann.

So träumte ich und ging und suchte.

 

Da hörte ich am nächtlichen Strande eine lange, lauernde Stimme, voll lockender Rätsel und schmeichelnder Heimlichkeiten. Eine Stimme war es, deren Klang mir keinen Anfang hatte und ohne Ende in die Ewigkeit strömte; eine Stimme, die im Ewigkeitsringe in sich selbst zurückfloß.

Nun erst wußte ich!

Das war die Stimme, die aus den Augen blutete, nach denen ich suchte.

Das Meer war es: Das hatte damals seinen Blick in meine Seele gesungen. Und diese Stimme, die jetzt mein Herz in alle Fernen lockte, die hatte auch in ihre Seele den Sternenblick hineingesungen, die Stimme des Meeres – den Blick ins Paradies der Ewigkeit ...

Denn dieses Paradies singt nur das Meer!

 

Nie früher hatte ich es gesehen, obgleich mein Herz oft auf der Sintflut seiner Nebel träumte; nun wußte ich, daß es seit Urbeginn mit mir zusammengewesen war, Blut von meinem Blute, Wesen von meinem Wesen, mein Kind, meine Schwester, mein Weib: – das Meer.

Kein Sterblicher hat es geliebt, wie ich es liebe.

Oh, dieses Wunder über alle Wunder, das meergewordene Wort der Schöpfung.

 

Ich liebe es im witternden Zwielicht des werdenden Tages, wenn es still und glatt sich in zwei Meere teilt. Ich sehe, wie die stille Fläche sich am Horizont emporschiebt, wie sie sich mit dem Himmel vermählt; mit breiten purpurnen Zungen an seinem Dunkel sich emporleckt, weit empor – ich sehe über dem himmelgewordenen Meere rote Paläste und Wundergärten erblühn, zu allen Seiten phantastische Formen sprießen: zerfetzte riesige Farenkräuter, kristallklar gegliederte Palmenblätter, Orchideenkelche, die den ganzen Osten mit glühenden Schweifen peitschen.

 

Ich liebe es an den stillen Mittagen, wenn die Sonne über das Wellengekräusel ihren Diamantstaub schüttet, wenn Milliarden und Abermilliarden winziger Kristalle in tollem Geflimmer mit stechenden Lichtern über den großen Mutterschoß tanzen.

 

Ich liebe es, wenn die Windsbraut es aufwühlt und seine Wogen über den Horizont hochbuchtet und schwer wie Steingeröll in wildem Ringkampf ans Ufer wälzt.

 

Aber über Alles lieb ich es, wenn die Ewigkeit die schwere Trauer des Abendrotes über seine brütende Schwermut blutet:

Da lieb ich es am meisten und sitze stundenlang und horche:

*

Um ewig stille, schneebewachsene Höhen wälzt die Nacht in schwarze Tiefen ihre dunkle Last.

Die Felswand hinab, in tauber Ruhe, behüten Schatten das stille Sonnengrab.

Schon glüht das Schweigen um die Felsengründe, schon spinnen Sterne über dem Wasser ihre ersten Träume, schon buchtet sich das Meer mit leuchtenden Nebeln die Himmelssäume hinauf:

 

Vergiß, Herz, vergiß!

 

Und aus der Blume der Ewigkeit, die auf dem Schnee der gipfelhehren Berge wächst, blüht ein dunkles Lied über das Meer. Tastend strömt es über die Flut, gleitet mit leisen Fingern über ihr Gekräusel wie über Perlen eines Rosenkranzes, schon glänzt es über alle Weiten:

 

In hundert Jahren ist alles vergessen!

 

Und die Andacht des Meeres, das Licht, das seinen Gründen entquillt und sich vom Himmel aus Sternenkelchen ergießt, das Lied der Berge, das seine Kränze von Ewigkeit zu Ewigkeit flicht, dies Alles nur Ein Ton, Ein Traum, Ein Glück:

 

Alles vergessen!

 

Und nun breitet meine Seele ihre traumschweren Flügel, – von einem Himmelssaum zum andern umfängt sie das Meer mit schlaftrunkenen Armen, und Herz an Herz ruhen wir Beide, Ich und das Meer.

*

Denn nie noch hat das Meer je einen Sterblichen geliebt, so wie es mich liebt.

Denn meine Seele ist das Meer. Dieselben uferlosen Formen, dieselbe schäumende Freiheitspracht, derselbe Aufruhr und Überschwang.

Und das Meer verlangte nach mir, und lange Jahre lebte ich mit ihm allein zusammen, und träumte mein Herz mit seinen Melodien in den Schlaf und wuchs erwachend mit seinem Morgenrot in den Himmel hinauf.

 

Aber Einmal, als die Abendstunde kam und das Meer seine heilige Nachtmesse zu singen begann, sah ich sie kommen, das Weib mit den Sternenblicken, das Weib mit der Stimme des Meeres, das Weib, nach dem ich einst gesucht hatte.

Wie eine Sturmtaube kam sie, eine verirrte Möwe, die endlich ihre Heimat findet.

Über Tausende Meilen, über Flüsse und Berge war sie gekommen, dem Abendsterne folgend, der im Osten des Meeres scheint.

Und als sie aus dem Walde trat, der an den Ufern des Meeres wächst, stürzte sie langhin auf ihr Gesicht und weinte lautlos:

Das warst Du!

Und ich nahm Dich auf meine Arme und trug Dich in meine Hütte.

Deine Füße waren von der harten Wanderung wund und bluteten.

Und ich wusch Deine Füße und küßte die heiligen Wundmale.

Wir blieben zusammen.

 

Um uns schrien lautlos die Blitze ...

 

Aber das Meer grollte. Denn in den Stürmen unseres Glückes vergaßen wir seine Schönheit.

Und Einmal in einer dunklen Herbstnacht, als wir in unsrer Hütte mit heißen Lippen lachten, hörten wir das Meer aus allen Schlünden aufbrüllen.

Unsere Hände lösten sich jäh, und mit Entsetzen starrten wir durchs Fenster.

Höher als höchste Tannengipfel wuchsen zwei Sturzwellen aneinander empor, überschlugen sich, und bäumten von Neuem hoch, und wie das Todesgewimmer verreckender Tiere scholl durch den Donner des Meeres ein Lärm von Notpfeifen und Nebelhörnern ... Wir stürzten hinaus.

Auf der Gipfelspitze einer Woge sahen wir ein Boot aufwirbeln und verschwinden.

Wir standen und starrten ... ein paar Trümmer von Menschenleichen, zerbrochenen Planken tanzten auf dem Getose.

Und über dem Aufruhr des Meeres, wie ein verglimmender Span, stand fern im schwarzen Nebel der dünne Strahl des Leuchtturms ...

Wir kehrten stumm in unsre Hütte zurück. Die ganze Nacht lang sprachen wir kein Wort. Aber ich fühlte Deine Augen mit kranker Trauer durch die Finsternis glühen ...

 

Seit dieser Nacht wurde unsere Liebe scheu und siech. Und einmal in einem schweren Wintersturm, als der Zorn des Meeres mit Schwefelblitzen und Donnerkeilen auf unsre Hütte regnete, da flog meine Sturmtaube weit hinaus, weit, allein und tauchte ins Meer.

Und da glättete sich das Meer zu alter Schönheit und alter Versonnenheit von einem Pol zum anderen, denn es hatte sein Herz wiederbekommen.

 

Denn Dein Herz war das Herz des Meeres.

Das hat mir das Meer selbst gesagt.

Denn als Einmal meine Seele sich in Trauer über dem Meere auflöste, fühlt ich plötzlich ein Herz um mich flattern, gegen meine Brust klopfen. Ich sah es, wie es über dem Meere flog und untertauchte, wie es sich hochwarf, und wieder fühlte ich sein fiebriges Klopfen, wie den Flügelschlag eines Vogels im Todeskampf.

Entsetzt fing ich an zu pfeifen, schreien, lachen, um die Angst zu betäuben, aber immer stärker fühlte ich es um mein Gesicht schlagen und gegen meine Brust klopfen.

Und das Herz wächst, wächst, springt, zerreißt die Nacht und taucht jäh ins Meer.

Jetzt klopft es: die ganze Erde und bebt und schüttert, das Herz wühlt in der Erde. Breit öffnet sich der Meeresgrund, und alles Blut der Erde, alle Flüsse und Seen und Ozeane strömen zum Erdenherzen zurück.

Aus meinem Blute wachsen lange, zitternde Gespensterhände der Sehnsucht. Ich fliehe auf die höchsten Berge, und auf mein Machtwort stürzen von allen Höhen Schneelawinen in die Meeresgründe herab: bis dort, wo noch vor kurzem weit das Wasser glänzte, jetzt eine unendliche Schneefläche blaut.

Denn so hat mir meine Sehnsucht gesagt, daß ich in der schwarzen Nacht wenigstens ihren Schatten sehen müßte auf dem Schnee, wenn sie über die Welt schwebt.

Aber ich sah keinen Schatten.

Und auf mein Machtwort wälzen alle Gletscher der Erde ungeheure Eisfladen herab, und in trübem Opal grünt das Eis über dem Schnee.

Denn wieder hat mir die Sehnsucht gesagt, daß ich in der schwarzen Nacht sehen müßte, wie über dem leuchtenden Eise eine Flamme aufblüht, wenn noch ihr Herz für mich schlägt.

Und sieh: eine feine Feuerflamme züngelt auf, breitet sich; wie Lauffeuer wälzt sie sich über die Eisflächen – und Schnee und Eis in einem Nu ein Feuermeer; das Erdenherz erbebt von Neuem und wirft sein heiliges Blut empor.

Und wieder glänzen die Nebel, wieder glüht das Schweigen in Mondlichtstreifen um die Himmelssäume, und wieder tropft das Sternenlicht in zitternden, millionenfach verrinnenden Silberadern bis auf den Grund hinab.

 

Nie hat das Meer mich geliebt, wie seit jener Zeit.

Alle seine Heimlichkeiten hat es mir offenbart: seinen Blick, seine Stimme, sein Herz.

Nichts vertrug es mehr auf seinen Wogen; wie schlecht geleimte Kästchen zerriß es tausend Panzerschiffe Mir zum Opfer, und Abertausende von Menschengerippen bedeckten den Strand meiner Felseninsel.

Nur Ich, Ich allein, der Sohn des Meeres, der Sohn seiner Rätsel und Stürme durft es noch befahren.

Und in einer dunklen Nacht fuhr ich hinaus. Das lange, schmale Boot tanzte wie ein Kreisel um sich selbst herum. Von einer Woge zur andern sprang es über weite Abgründe, stürzte von Tiefe zu Tiefe, wie ein Tropfen von Berg zu Tal, wie Gischt von Tal zu Berg geschüttelt.

Ich schrie vor Entzücken über das herrliche Spiel, das das Meer mit seinem Sohne trieb.

Da wurde es still. Nur eine Sekunde lang. Das Meer lag spiegelglatt.

Und da sah ich mein Boot auswachsen; ich fühlte, wie es zu leben begann, ein warmer, blutdurchzuckter Tierkörper wurde. Zu beiden Seiten buchtete das Meer sich hoch, und die gebuchteten Meeresflächen wuchsen in den Körper hinein; zwei ungeheure Flügel entschwangen sich; ich saß auf dem Rücken eines Riesenvogels.

Ein Schwingenschlag – und langsam löste sich das fleischgewordene Meer vom Grunde. Noch ein Schwingenschlag und ich sah tief hinab auf einen verglühenden Stern: die Erde ...

 

Und wieder wälzt die Nacht um ewig stille, schneebewachsene Höhen in schwarze Tiefen ihre dunkle Last.

Die müde Glut der Sonne verlischt am Himmelsrand, kühl wölbt die Ruhe sich empor, und wie ein Ewigkeitsschauer kommt das Wetterleuchten.

Erdfern fliehen die Räume, die Seele wirkt auf dem Wasser aus Sternenstrahlen glitzerndes Gewebe, und durch alle Nähen und Weiten flammt ewigkeitswitternd mein Frühlichtstraum:

In hundert Jahren ist Alles vergessen.

Versprüht ist die Freude, versunken das Glück. Längst schon verwitterte das Leid. Nur das Meer bleibt, und meine Liebe bleibt, die aus der Tiefe ihrer dunklen Gramgeschicke flammende Traumbrände wirft.

Und wieder breit ich meine sturmsatten Flügel um seine Ufer; mit sehnsuchtseligen Armen umfasse ich sein Dunkel und sauge und trinke mein Ewigkeitsglück, mein schweres Glück –

Das Meer! Mein Meer!

 
Christianiafjord und Plaza dela Mera 1898/99.


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