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Fragment aus einem längeren Essay.
Im Zimmer herrscht Dämmerung. Auf dem Tische liegt Gindelys Geschichte des Mittelalters, die Physik von Solezki, etliche lateinische und griechische Bücher, ein paar Bände Slowazki. Ich bin wie im Fieber. Ich bemühe mich zu schreiben, bestimmte Bilder schweben vor meiner Phantasie, aber ich kann mir keinen Rat schaffen mit den Ottaverime. Ich suche nach Worten, von denen ich wünsche, sie möchten so hell und klar sein, wie Kristall; aber es fehlen mir drei Silben aus der Ottave.
Ich quäle mich, fühle ein eigentümliches Fiebern, es ist, als zöge mich Etwas in eine höhere Region. Ich bin ganz einfach nicht imstande, das herauszubringen, was ich schreiben will.
Im Zimmer herrscht Dämmerung; eine Kerze brennt. Alle sind ausgegangen – ruhig ist es in der stillen Gasse unweit der Auen. Vor mir liegt ein altes Buch in schwarzem Einband: das »Tagebuch der Reise in die Tatra« von Severin Goszczynski.Zu lesen: Goschtschinski, alter polnischer Dichter, Freund von Mizkiewicz, einer der letzten polnischen Soldaten, der erste Dichter, der die Tatra besuchte und über dieselbe ein höchst interessantes Buch geschrieben hat.
Seliges Schauen, seliges Schreiten
Im Lande der Nymphen, der wundersüßen,
Wo alabastern Felsen sich breiten
Und leuchtend Edelsteine zu Füßen.
Hoch zum Himmel die Berge ragen,
Wie Perlen der Tau auf unsern Feldern,
Kristallene Fluten die Bäche tragen,
Wie Nacht lind die Luft in den Wäldern.
Unser, das Land der Wunderfrauen,
Wo all die quellenden Bäche erwachen,
Weil sie der Heimat Wunderauen
In verborgenen Tiefen hüten, bewachen.Aus der »Sobotka« von Goszczynski.
Ich bin wie in einer Halluzination, einem phantastischen Traume. Ich kann die Ottave nicht herausbringen, bin aber doch erfüllt von Poesie, von Bildern und Licht. Und im Zimmer ist es dunkel bei der einen Kerze, und die Wolskagasse ist so still, und niemand ist zu Hause. Ich fühle, daß ich die Tatra liebe bis zum Selbstvergessen, daß ich sie zum Leben brauche, daß ich ihr Sohn bin, und daß sie ganz anders ist, als sie mir bisher erschienen, daß man dort nicht nur klettern und über Abgründen hängen kann, nicht nur die WysokaEin Berg. besteigen und dem lauten Gesang des WalaBerühmter Bergführer in der Tatra. horchen:
»Es hat mich mein Vater geprügelt.
Daß ich nicht heim kam zur Nacht –
Schlief im Wald bei 'ner kleinen
Stute mit zwei Beinen« –
sondern daß dort auch ein riesiger Zauber lebt, etwas unsagbar Schönes. Goszczynski eröffnete mir diese Welt, öffnete mir die Augen.
Es mögen zwanzig Jahre her sein.
Ich begann damals Verse zu schreiben.
Bei uns in LudzimierzLudzimierz, ein Dorf, 2½ Meilen von der Tatra entfernt. Geburtsort des Autors. war es herrlich. Der Dunajec floß durch das Dorf, knapp an dem Gehöft vorbei. Da waren stille Felder, leeres Gerölle, am Abend ging über das Dorf eine Rauchwolke vom Torffeuer und das Geläute der großen Glocke zum Ave-Maria; da waren breite Wasserflächen, ruhige, schauerlich tiefe und drohende Wirbel; da waren Moräste, Wasserlachen und Wassertiefen, und grundlose Torffelder, mit Krummholz bewachsen. Da stand auch ein Fichtenwald, ein düsterer, schweigsamer Wald, wo nur der Wind rauschte. Da war Gestrüpp und geheimnisvoll unheimliches Gesträuch, wo sich der Mond verbarg und dann hervorblickte, wie ein Gespenst, das aus dem Wasser kroch, aus den geisterhaften Tiefen des Dunajec. Und dann lag noch auf der einen Seite das Beskiden-Gebirge, auf der anderen die Tatra, eine ununterbrochene Gebirgskette wie eine Mauer aus Erz.
Im Abenddämmer, im Nebelgrauen
Geht über Wiesen und Auen
Über Weide und Flur
Auf verlorner Spur
Die Trauer der Felder, die Sehnsucht . . .
Über Ufer an Teichen
Stille Schatten schleichen . . .
Zum Avegesang der Glocken Klang . . .
Grauer Rauch zieht über
Graue Dächer hinüber . . .
Zum Avegesang der Glocken Klang . . .Aus einem Gedichte des Autors.
An jenem stillen Abend in der Wolskagasse entflammte meine Seele. Vor kurzem kam der schlanke, magere Wojtek Topor aus Hrube, mit langen, auf die Schultern wallenden Haaren und einem breiten Gurt in die Kunstakademie; er war im Sommer in Zakopane als Modell bestellt worden. Er erzählte »Haj,Haj – goralisch: ja, so. haj, sehr schöne Dinge!« z. B. wie einmal Räuber auf die Alm kamen und drei Dudelsäcke spielten, als sie anmarschierten. Oder wie im Wirchcicha-Tal ein Bär mit Steinen warf. Oder vom Adler, der am Muran den JuhasenSchafhirten. die Schafe stahl.
Es fanden sich auch Photographien der Nowobilskis aus Bialka; darunter jene des berühmten Josek Nowobilski, vielleicht des letzten Räubers in großem Stile auf dem Hochland, in einer alten, sehr alten, heute schon nicht mehr getragenen Tracht.
Und noch früher verlebte ich eine wunderliche Nacht.
Ich bin einmal mit meinem Bruder und dem seligen Staszek Walczak aus Skibowka – nun, ganz einfach auf Böcke zu wildern – gegangen. Als es Nacht wurde kamen wir bei der Mala LonkaEin Ort in der Tatra. an. Dort lauschten wir die ganze Nacht hindurch den Erzählungen des alten, heute auch schon verstorbenen Budz aus Gronie. Er trug noch Zäpfchen bei den Ohren, wie man sie im achtzehnten Jahrhundert hatte. Er erzählte, daß wenn der »Böse« im Walde ruft, man ihm nicht antworten darf; er ruft dreimal, und wenn du antwortest, so kommt er. Da muß man den SerdakKurzer Schafpelz ohne Ärmel. mit dem Fell nach außen wenden, die Flinte unter das Knie nehmen mit dem Hahn nach unten und abfeuern. Aber wer den »Bösen« hört, für den ist's ein schlechtes Omen. Einmal ging Staszek Walczak im Herbste, als man schon die Herden von den Bergen herabtrieb, nach Ungarn auf Arbeit. Er übernachtete in einem Walde bei Pyszna. Da ertönte es im Dickicht wie Uhuschrei, aber es war kein Uhu. – »Haj, wir wissen, daß es keiner war.« »O, haj!«
Da rief's zum zweitenmale. Er antwortete nicht. Als er am nächsten Tage an dieser Stelle vorbeikam, da standen ihm die Haare zu Berge. Hätte er geantwortet, so würde es zum drittenmal gerufen haben und »es« wäre gekommen.
Wir übernachteten auf der Mala Lonka. Das war im August. Im Oktober nahm man den Staszek zum Militär. Im Dezember erschoß er sich.
Wie viele Jahre ist's schon her . . . Da war ein riesiges Feuer und irgend eine dicke KaskaKäthe., die uns beim Lachen ihre weißen Zähne zeigte. Sie wollten sie mir leihen, meinten sie lachend. Ich war ungefähr sechzehn Jahre alt.
Und später fiel mir ein Buch in die Hand, das für mich einen wirklichen Reiz hat: das Tagebuch der Reisen in die Tatra von Goszczynski.
Der damalige Aberglaube, oder richtiger gesagt, der frühere Glaube der Bewohner des Podhale, war schon dem Aussterben nahe, aber lange noch nicht so verblaßt, wie heute, man »sah« noch Mönche, man sah auf den Feldern von Lopuszna einen Totenkopf, der daherrollend den Menschen auf ihren Wegen nachjagte, man glaubte an den Schlangenkönig. Vor allem gab es noch solche, die nicht nur davon »gehört«, sondern es auch »mit eigenen Augen gesehen« hatten. Goszczynski kannte also Schafhirten, die den Fisch mit dem Katzenkopfe gesehen hatten, welcher die Schafe am Meerauge-See wegschnappte, besonders die schwarzen. Er kannte Leute, welche die Zaubernymphen gesehen hatten.
Die Bauern erzählten ihm damals auch Wunder von den Bergen, von den darin vergrabenen Schätzen, von Grotten, die von Gold und Diamanten glänzten. Die Tatra war zu jener Zeit noch nicht so »abgetreten« wie jetzt. Sie hatte noch etwas Finsteres an sich, etwas Geheimnisvolles, sogar für Leute, die sie gut kannten, so wie ein alter heidnischer Tempel oder ein alter, geweihter heidnischer Hain einen geheimnisvollen Schauer auf die Menschen ausgeübt haben muß, so lange noch das Heidentum blühte. Die Fähigkeit des Glaubens an Wunder und übernatürliche Dinge schafft ihn und ruft ihn hervor.
Seit undenkbaren Zeiten suchte man in der Tatra nach Schätzen. Öffentlich in den Gold- und Silberminen im KrywanEin Berg der Tatra. und in KoscieliskoEin Tal in der Nähe von Zakopane. und auch anderswo, heimlich auch mit Zauberbüchern in der Hand. Es sind noch Formeln und Vorschriften aus dem XVIII. Jahrhundert zum Beschwören der Schätze vorhanden. Eine dieser alten Formeln lautet:
»Ich . . . beschwöre und bezwinge dich durch den unbesiegbaren immerwährenden Gott, daß alle Geister und Unholde, die sichtbaren und unsichtbaren, von diesem Schatze, der Gabe Gottes, zurückweichen, daß mich keines von ihnen zurückhält oder stört, im Namen der Heiligsten Dreieinigkeit, Gott des Vaters, Gott des Sohnes, Gott des Heiligen Geistes. Amen.«
So sprach man, wenn man in die Höhle trat, nachdem man zuerst bei Gott erfleht hatte, daß er den Eingang in dieselbe zeige. Wenn man aber wieder heraustrat, beschwor man:
»Ich beschwöre dich, ich . . . und verberge dich, du Schatz in der wahren Gottheit, so wie sich Christus im Brote verbarg, welches Er seinen Jüngern zum Verspeisen gab am heiligen Tage Seiner Anwesenheit, als Er die Hölle besiegte; so sollen auch diese Höhlen beschworen und versorgt sein, wie der Kelch und der Wein, als sich Gott in ihn verwandelte, so beschwöre und verschließe ich dich durch Gott den Vater, Gott den Sohn, Gott den Heiligen Geist, ich beschwöre dich mit dem Spruche, mit welchem Christus die Hölle überwunden und besiegt hat.«
Man beschwor auch die Geister, »die ihr unter dem Himmel die Gewalt über diese Gaben besitzet, sei es Gold, Metall oder edle Steine, zeiget sie mir im Namen Gottes,« u. s. w.
Es waren die Monate, Tage und Stunden vorgeschrieben, in welchen man die Schätze suchen sollte.
Mit Büchern und solchen Formeln und mit Beschreibungen des Weges versehen, kamen Leute aus fernen Gegenden in die Tatra; ja sogar aus fremden Ländern sollen sie gekommen sein.
Und wie dies alles von einem gemeinsamen Ursprung ausging, davon zeugen am besten ähnlich lautende Formeln, die die Obhut und die Hilfe Gottes beim Beschwören der von Geistern gehüteten Schätze in den Bergen Süd-Europas, ja selbst Asiens anrufen.
. . . Das Volk bewahrte das Lied im wahren Sinne des Wortes. Bei ihm ist das Lied nicht deklamatorische Poesie, es ist der Ausdruck seiner innersten Seele und Gefühle. Und dieses Lied verknüpft sich mit dem Leben, ja es ist das Leben selbst.
Schaut diesen alten Goralen an. Man hat ihm eine alte Melodie vorgespielt, eine breite, üppige kühne Weise, an der sich der Geist erhebt. Er steht also auf, denn er hatte ein wenig getrunken und sich hingelegt, um seinen siebzigjährigen Beinen Ruhe zu gönnen. Er steht auf und horcht. »Herr, saget mir – so spricht er – was ist das für ein Blut in dem Menschen?! Ich, wenn ich Musik höre, so wachse ich dabei!« – und er hebt die Hände, wie ein alter Adler seine Schwingen. Schon ist er vor den Musikanten, schon tanzt er. Und Längstvergangenes fällt ihm ein – diese Melodie, die altertümliche, alte, hat ihn an Etwas erinnert.
Der Tanz ist nicht unbedingt der Beweis und der Ausfluß der Freude. Der Tanz kann auch etwas Trauriges bedeuten, und ich habe alte Bauern gesehen, die sehr traurig getanzt haben. Der Tanz der Goralen ist nicht so sehr die Äußerung überschäumender Freude, als vielmehr das Bedürfnis, den Überfluß an Energie, Temperament und Üppigkeit der Natur und sinnlichen Lust zu entladen. Er freut sich nicht beim Tanze, er vergißt sich bloß, betäubt sich damit. Es ist dies ein uralter Tanz, urwüchsig, ähnlich dem Tanze der wilden Völker; er hat seine »Kriegsform« wie bei den Indianern und solche Formen und Melodien, daß er die größte Trauer ausdrücken kann. Diese Tanzweisen erinnern an klagende Lieder. Ich spreche hier natürlich nicht von dem Tanze, der den Sommergästen in Zakopane vorgetanzt wird, sondern von dem alten, echten, aus früheren Zeiten.
Da war eine schöne, zauberhafte Dirne. Irgendwo bei der Scheune mußten sie einander begegnet sein, oder sie hatten gemeinsam das Vieh zur Weide getrieben und sich dort liebgewonnen. Denn sie war seine »Freirka«Um die er gefreit; ein Wort vom Militärdienst gebracht., seine Geliebte.
»Ej, sag meinem Mädel, sag ihr doch, sag!
Ej, sie soll freien! Ej, wen sie mag.«
Sicher war sie ihm untreu geworden und er hat es erfahren. Vielleicht kam er vom Militär auf Urlaub, war vielleicht zwei, drei Tage da, ging wohl in die Schenke oder zu einer Hochzeit und erfuhr es dort, daß sie ihm untreu gewesen.
»Ej, du mein Schätzlein, ej, rasch aus dem Haus,
Daß dir meine Rechte nicht mach den Garaus!«
Es ist das ein Knirschen, ein Stöhnen, der alte, siebzigjährige Bauer hat in diesem Augenblick das Herz eines zwanzigjährigen Burschen in seiner Brust, hat eine solche Kraft des Gedächtnisses, eine solche Frische des Blutes, noch so viel Feuer in den Adern.
Er richtet sich auf, seine Finger krümmen sich in der Luft wie die Krallen eines Adlers. Die Melodie ist so düster und so wild wie ein Fichtenwald, der Tanz so düster und so wild wie ein Herbstwind, der Eindruck teilt sich allen mit. Der alte Tomek Gadeja tanzt seine Vergangenheit, seine Jugend, er scharrt sie mit seinen Füßen aus dem Boden, entreißt sie der Zeit und dem Tode, er tanzt seine tolle jugendliche Frische und seine alte, siebzigjährige Trauer nach ihr.
»Ej, du Gipfel, du Gipfel, ej, ich faßt' dich in Gold,
Ej, wenn nur meine Jugend mir wiederkehren wollt'.«
Er schluchzt beinahe. Er taumelt – denn er ist ein bißchen »beduselt« – zu dem Musikanten hin, legt beide Hände um seinen Hals, umarmt uns alle, drückt uns an sich und sagt zu mir: »Ej, Herr, um meine Jugend ist's mir leid!«
Es wird sehr traurig in der Stube. Erstens erinnern wir uns daran, daß auch »wir nach einer kleinen Weile verschwinden werden«Aus einem Volkslied., und dann, daß uns leid ist, oder leid sein wird um das, was wir nicht erlebt haben, und diesem Tomek Gadeja ist es leid um das, was er erlebt hat. Wir erleben wenig, wir stellen uns nur vor, was wir erleben könnten oder gekonnt hätten, er aber hat gelebt! Er lebte so, wie es ihm zu leben am zweckmäßigsten und geeignetsten schien. Er hat geliebt, er ging nach Liptau und ArvaUngarische Komitate. um zu rauben, er hat gerauft, gesungen, getanzt und Abenteuer gesucht, denn er war leidenschaftlich, stark, mutig und übersprudelnd.
»Ej, ich trinke zwei Tage, ej, ich trinke drei Tag,
Ej, ums Geld soll sich scheren, ej, zum Teufel, wer mag.«
Dabei noch das, was die berühmten Räuber der ganzen Welt kennzeichnet: große vornehme Würde, Ehrgefühl und jene stolze Erhabenheit, die im Menschen durch das Gefühl erwacht, sich nicht vor dem Tode zu fürchten, Kühnheit zu besitzen und dieser Kühnheit sich bewußt und sicher zu sein.
»Ej, wenn sie mich fangen, so werde ich hangen,
Droben werd ich mich wiegen an der Tanne, der langen.
Ej, Henker, mein lieber, wend mit den Äuglein mich hin
Zum Weg, den zu räubern ich stets gangen bin.«
So ein alter Bauer, so ein Mensch »im Absterben« schaut mit Verachtung auf das ihn umgebende junge Geschlecht. Zu seiner Zeit gab's Jungen! Es war da irgend ein »Gevatter«, der so gewandt war, daß er im Tanze dem Geiger die Fidel mit den KyrpceOpanken. berührte, ohne daß dieser zu spielen aufgehört hätte; auf dem Wege nach KuzniceEisenhütten in Zakopane, heute nicht mehr vorhanden. war er einem Herrn, der des Weges gefahren kam, über sein Zweigespann gesprungen, und einmal, bei einer Hochzeit »hüpft« er so, daß ihm jemand »Fürchte doch Gott, was machst denn?!« – aus der Ecke zurief.
»Ej! hab' ihn nicht einmal verspürt!« – antwortet das Weib, dem er den gesegneten Leib mit den Kyrpce so wie ehemals die Fidel berührt hatte.
Und welche Phantasie! Jasiek Nowobilski aus BialkaDorf in der Gegend von Zakopane., aus der berühmten Räuberfamilie der Nowobilski, welche noch im ersten Dezennium des vorigen Jahrhunderts »honorig« am Galgen gehenkt wurden, trinkt in einer Schenke und tanzt dabei, und die Gendarmen kommen, ihn einzufangen. »Jasku! flieh!« ruft man ringsum. Er tanzt weiter. Da schaut er auf: die Gendarmen sind schon in der Tür. In die eine Hand nimmt er die CiupagaEine Axt, die als Waffe, auch als Stütze dient., in die zweite eine Flasche Schnaps und singt:
»Ej, wenn auch von euch Kerlen hundert hier stehn –
Mit dem Schnaps da will ich grad mitten durch gehn.«
Die Gendarmen waren verblüfft – er ging an ihnen vorbei. Und jetzt fort! . . . Blitzschnell konnte er laufen. Und die Gendarmen sahen nichts mehr von ihm. Im ganzen saß er aber nahezu zwanzig Jahre im Gefängnis.
Sein Ende war tragisch. In seinen alten Jahren beschäftigte er sich mit Kurieren. Unser alter Freund verriet mir das Geheimnis, wie man die Taubheit heilt: Man sucht ganz junge, noch nackte Mäuse, direkt aus dem Neste. Die hackt man in ganz kleine Stückchen, mischt Fett daran, kocht und schmilzt es, macht eine Tüte aus Papier, steckt sie dem Kranken ins Ohr und schüttet dann das siedende Fett mit den Mäusen hinein. Die Wirkung ist unzweifelhaft, »die Taubheit läßt sofort nach«. Und ich glaub' auch fest daran!
Einmal erkrankte aber ein Weib aus SchaflaryDorf bei Zakopane. »im Leib«. Jasiek war Arzt für alles. Nur, – hatte er sich geirrt, oder ist was anderes geschehen – das Weib ist, nachdem sie die »Medizin« eingenommen, gestorben. Es kam eine Kommission: Das Weib ist vergiftet. »Zwanzig Jahre bin ich schon im Kriminal gesessen, soll ich denn dort noch bis ans Lebensende faulen?« – sagte sich Jasiek und nahm dieselbe »Medizin« ein, die er dem Weib gegeben. Er starb. »Was liegt denn ihm am Tode!«
Die Verachtung des Lebens, eine »Nonchalance«, wenn man sich so ausdrücken darf, angesichts des Todes, hat ihren eigenen, höchsten Reiz. Diese Bauern, die hier tranken und tanzten, wo dort zwei Schritte weit der Tod auf sie lauerte, oder sie ihm selbst entgegengingen, erkauften sich durch ihren Mut die Sympathien.
»Ich muß halt hangen, oder sie schlagen mich nieder,
Oder die Geier, sie tragen über den Fels meine Glieder.«
Es ist in diesen Leuten eine überschäumende, slavische Phantasie. Wenn so ein Räuber trinkt, so zahlt er dabei, »daß ihn die heiligen Engel selbst in den Himmel tragen werden«Aus einem Volkslied.. Er hat Geld – woher er's nahm, ist seine Sache – und er weiß, »was er wert ist«.
»Ej, wenn ich nur wüßt,
– so sagt er, die Galgen von ferne erblickend –
Wo mein Galgen ist,
Von oben bis unten er beschlagen sein müßt,
Ej, unten mit Talerlein
Und oben mit Dukaten fein.
Eine Goldkräh' an der Spitzen
Sollt's Köpflein mir stützen«.
Ein »Herr« wird gehenkt!
Die Erzählungen der Alten machen einen erschütternden Eindruck. Die Ruhe, mit welcher so ein Bauer vom Tode, von Getöteten, Zerstückelten, Erschossenen erzählt »ich weiß es, denn ich hatte oft damit zu tun«: läßt erraten, was der Mensch in seinem Leben erlebt hatte. Übrigens erzählt er immer sehr diskret. Er prahlt nie, ja er verbirgt stets den größeren Teil. »Unter sich, da wissen sie's« – und sonst, was geht's denn jemanden an?
Das sind Kämpfe der Stämme untereinander, der »Poláken mit den Luptáken«der Polen mit den Liptauern., das sind Kämpfe der Dörfer oder einzelner Rivalen untereinander. Es ist das bis vor kurzem erhalten gewesene Leben der Instinkte, der Urwald, der gefällt und in die Erde versenkt wurde, bedeckt von einer dünnen Sandschicht, die erst mit der Zeit vom Winde angetragen wird, so daß der Wald darunter ohne Spur verschwindet.
Und was wir uns als »schön und charakteristisch« vorstellen, das haben jene Leute getan.
Wenn so ein Räuber vor der Verfolgung der Gendarmen sich bei einem bekannten BacaVorgesetzter der Hirten. auf der Alm verbirgt, geht er nachts in die SalascheAlmhütte. und bei Tag nimmt er sich einen musikalischen Juhasen mit, geht irgendwo auf die Abhänge zwischen Cembraföhren oder in den Wald, legt sich hin und läßt sich vorspielen. Bald wieder schlägt er seine Ciupaga in die Erde und tanzt um sie herum.
Die Erzählungen der Bewohner des Podhale sind reich an Plastik. Bald siehst du so einen Räuber, der von der Türe her tanzend auf die Musik zugeht: seine weißen Hosen, eng wie Trikots, sind grün gestickt, der Serdak weiß, sein Hut mit einem kleinen Kranz von Muscheln, sein breiter Gurt, vollgestopft bis an die Achselhöhle, eine Tasche an einem Riemen über die Schultern gehängt, mit Messingnägeln beschlagen. Dazu hat er noch die Pfeife im Munde und die Ciupaga in der Hand. Die Bewohner von Koscielisko sind rüstige Kerle, dieser aber sprang über sie alle hinweg. Stark gewachsen war er, breitschulterig, und wenn er mit dem Fuße stampfte, so war es, als brächen die Dielen. So erschien ein Räuber aus Bialka dem damals noch jungen Bartek ObrochtaEin bekannter Geiger aus Zakopane. und so blieb er ihm im Gedächtnis haften. Es schritt so ein Riesenkerl an dem Jüngling vorbei wie ein Geist, wie ein Traum. Ging er einmal auf einen solchen Raubzug »nach Ungarn«, so konnte er hier in seinem Lande an dessen Seite zum letztenmale noch tanzen.
»Mikulas, schöne Stadt, wenn ich dein denk,
Draußen ist's mir so frei, drin, hej, so eng.«
so spricht ein altes Räuberlied von der Stadt Lipto-Szent-Miklos, wo ähnlich wie im Schlosse OrawaEin Schloß von Comes Thurzo in Arva im XVI. Jahrhundert erbaut., die Galgen mit den nächtlichen Gästen aus der polnischen Tatra behängt wurden.
Das Volkslied spricht sich über das alles aus. Wenn ein Bursche sich kräftig fühlte, so mußte er auf Raub ausziehen.
»Ihr schickt mich zur Schule, 's hat doch keinen Sinn,
Ich werd halt ein Räuber, und 's Geld ist dahin.
Kein Bauer, kein Landmann mag ich je sein –
Ein Räuberleben führ ich nur ganz allein.«
Übrigens ist das nur Grund zu Stolz und Freude.
»Ein Räuber, ein Räuber wird mein Janicek,
Nach Liptau, nach Liptau bahnt er sich den Weg.«
Man gibt ihm nur noch den guten Rat:
»Freu dich, mein Janicek, immer lustig und froh!
Will man dich fangen, auf die Berge – halloh!«
Und er freute sich, und die andern mit ihm: die Eltern und Tanten, die Ohms und die Schwestern und die Geliebte. Deshalb auch, wenn sich so ein alter Bauer an diese Zeiten erinnert und dabei noch ein bißchen angesäuselt ist, so weint er, und es weinen auch die mit ihm, die sich an diese Zeiten nur aus der frühesten Jugend erinnern können.
Das Volkslied weiß das alles, ja es regt sogar an:
»Fürcht nichts, mein Janicek, und sei nur nicht bang
Vor dem Schlosse in Orawa, noch vorm Liptauer Strang.«
übrigens bleibt dir ja der Ruhm
»Des Janicek Namen kennt im Land jeder Ort,
Ist Janicek gestorben, sein Name lebt fort.«
Es ist ja bekannt, daß Achill ein kurzes aber ruhmvolles Leben einem langen aber ruhmlosen vorzog. »Für einen Mann ist's nicht von besonderer Ehre, auf dem Bette zu sterben« – sagte der alte SabalaJohann Sabala Krzeptowski, ein »Gazda« (Bauer) von Koscielisko, Homer der Tatra, ein kühner Bärenjäger und wahres Volksgenie. Er ist vor ein paar Jahren in hohem Alter gestorben. Es gibt eine ganze Literatur über Sabala; selbst Sienkiewicz hat eine Sabala-Fabel festgehalten. . . .
Das abscheuliche Stadtleben macht uns zu kranken Maschinen, tötet in uns den gesunden Menschen! Es wäre gut, wenn uns der Regen durchnäßte, unsere Füße sich im Grase verwickeln würden, uns Blöcke und Bäche den Weg hemmten, Zweige uns ins Gesicht schlügen, der Wind uns mit Hagel und Gewitter peitschte! Es täte uns gut, die Natur kennen zu lernen, damit wir vor ihr keine Angst haben, damit sie uns nicht fern und fremd erscheint. Wir haben uns von der Natur losgerissen wie Hirsche, die aus den Wäldern in Gemüsegärten und Treibhäuser ziehen. Krank sind wir. Mir wäre lieber, daß man uns an den Galgen hängt, denn wir sind zu kräftig und zu abenteuerlustig, als daß man uns zu Krafft-Ebing und nach Kaltenleutgeben führt.
Wir sind schon verloren, aber in den Generationen, die folgen, müssen wir Stärke, Kraft, »Natur und Sinnenlust« pflegen, denn »einem Manne ziemt es nicht, im Bette zu sterben«.
Die Griechen waren das kulturellste und civilisierteste Volk der Welt und doch haben sie physische Eigenschaften so hoch geschätzt. Die Ironie, mit welcher die Bewohner des Podhale die »Gäste« empfangen, stammt hauptsächlich daher, daß diese ihren physischen »Bettelstand« mitbringen, Schwäche, Feigheit, Ungeschicklichkeit und Unbeholfenheit – ebenso wie auch den Mangel jeglicher Fähigkeit, sich in der Natur zu bewegen. Einen Menschen, der die entgegengesetzten Eigenschaften besitzt, wird der Goral zwar manchmal auch nicht gerne haben, er wird ihn aber nie verhöhnen.
Anders waren die ersten Herren, die ersten »Gäste«, welche vor siebzig Jahren in die Tatra kamen. Das waren noch solche, die auf dem Pferde aufgewachsen sind, denen die Hand mit dem Säbel zusammenwuchs, deren Blut noch kochte, die mit Napoleon gezogen warenDer Autor meint die letzten Soldaten aus der »Fremdenlegion« Napoleon I. und der Revolution der Jahre 1830/31 (gegen Rußland zur Zeit des Zar Nikolaus I.), zu denen Goszczynski gehörte. und durch ihre Kämpfe die Welt in Staunen versetzten. Mit diesen alten Bauern, welche, wenn es an Pferden mangelte, »zu zwei sich vor den Pflug spannten, der dritte den Pflug führte, und so allein das Feld bearbeiteten«: mit diesen fühlten sich jene Leute verwandt, verstanden und empfanden sich vorzüglich.
Sie hatten Feuer in sich, hatten Seele in sich, Eifer, waren kräftig und mutig; das waren nicht die »Unbeholfenen« von heute. Dazu kamen sie vom Kriege. Manchmal waren sie erst sechzehn, vierzehn Jahre alt und waren schon verwundet – von Bombensplittern oder Bajonettstichen.
Zur damaligen Zeit begegneten sich die einen, die »am Aussterben« waren, mit den anderen ebenfalls »Aussterbenden«: die letzten polnischen Soldaten begegneten den letzten »altertümlichen Bauern« vom Podhale.
Aus dieser Zeit stammt auch Severin Goszczynskis »Tagebuch aus der Reise in die Tatra« – das alte Buch.
Jetzt steht die Tatra groß, grau und traurig im Herbstnebel und Regen da. Dort ist der Liliowa-Sattel, von wo aus ich so oft nach dem Wierchcicha-Tal blickte, dem Tale da unten, das mir wie ein zauberhafter goldener Traum erschien . . . Dort sind auch diese öden Stellen beim Eisernen Tor, wo sich nichts findet, als nur der FelsschmetterlingEin kleiner Gebirgsvogel, von den Goralen »Felsschmetterling« genannt. und Felsblöcke. Dort hausen auch die Adler, die in den Lüften schweben, mit ihren ausgespannten Schwingen Kreuzen mit riesigen halbrunden Armen ähnlich. Aber ich kam schon mit einer anderen Seele unter diesen Bergen zur Welt.
Alljährlich kehre ich dorthin zurück, immer mit Sehnsucht, wie der Strandbewohner an das Meer. Ich kehre zu ihnen zurück – und sie sind für meine Seele wie ein Prüfstein für Metall, wie ein Beichtstuhl. Es scheint mir, als blickten und schauten sie in meine Seele hinein.
Meine Freuden und meine Trauer, meine Träume und meine Wünsche, meine Enttäuschungen und meine Niederlagen, Liebe und Sehnsucht, meine riesige, unermeßliche, wahnsinnig wilde Sehnsucht – sahen sie und kennen sie. Wie oft entflog nicht hier die Seele meiner Brust, gleich einem beschwingten Vogel, um weite Kreise zu ziehen, dem Regenbogen ähnlich, plötzlich, wie der Bergwind, stolz, wie die zum Himmel getürmte Wolke . . . Und wie oft bin ich nicht hier zusammengebrochen, ohne Bewußtsein, ohne Gefühl fast, getötet durch die Erkenntnis meiner Nichtigkeit, meiner grenzenlosen Ohnmacht, meiner menschlichen Sklaverei . . . Wie oft brach sich hier mein Geist am Fluche des physischen Seins! . . .
Hier schien es meiner Seele, daß ihr Puls einer der Pulse des großen Herzens der Welt sei; später irrte sie von Baum zu Baum, von Fels zu Fels, von Wolke zu Wolke, von Stern zu Stern und fühlte, daß sie dem allen fremd ist, mit nichts vereinigt und mit nichts verbunden, daß sie so ist, wie der Schimmer auf dem Wasser, der niemals mit der Welle verschmilzt, sondern nur auf ihr zittert – und erlischt – und verschwindet . . . Hier entfaltete sie sich auch ehemals, schon lange – in der Phantasie ihrer Wünsche und Gelüste.
Über den Bergkamm ziehen die Nebel dahin,
Sie wogen, wallen und steigen
Und sinken wie sehnender Menschen Sinn
In den Abgrund, in Todesschweigen.Aus der dritten Serie der Gedichte des Autors.
Ich erinnere mich an einen Morgen, an einen blassen Herbstmorgen. Ich ging ganz allein, und die Stawy GonsienitzoweEine Gruppe von Bergseen in der Tatra., die einer nach dem anderen meinem Blicke entschwanden, schienen mir zu sagen, daß ich sie nicht mehr als Jüngling wiedersehen werde. Und es rauschte der Wind . . .
Und da die Jugend streckte nach des Lebens Kränzen
Die Hand in kraftvoll feurigem Erbeben,
Erbraust ein Sturm und ließ der Knaben Augen glänzen
Und stählt die Arme, füllt die Brust mit jungen Wonnen
Und wie ein Füllen jagen sie zum Leben
Und wissen nicht, daß sie es längst begonnen.Aus der fünften Serie der Gedichte des Autors.
Das ist der riesige felsige Beichtstuhl, die riesige Beichte meiner Seele, diese Tatra.
Ich liebe sie, sie blickt immer gleichen Auges auf mich, sie ist immer gleich kalt und traurig – und immer treu. Ich liebe sie. Sie lehrte mich das Denken und das Fühlen, Worte in Rhythmen zu binden und ihnen Farbe zu verleihen, sie sendet mir auch Träume herab, sie legt mir ihre Zephirfinger auf die Augen und schließt meine Lider und dann beugt sie mein Haupt zurück, berührt mit ihren Fingern meinen Mund und flüstert leise: »Schweige . . .« Dann sehe ich das Leben der Gewalten und der Naturelemente, ich sehe, wie das Rauschen der Buchen und des Fichtenwaldes durch das Sonnenlicht schwebt, wie der Duft der Gebirgsblumen in die Felsen und das Wasser dringt, ich höre das Gespräch der Wolken mit den urewigen grauen Felstiefen. Abgerissene Felsgipfel, die in Gestrüpp und Morästen liegen, verkünden mir, daß Wind und Sonne dorten waren, Stürme und Mondnächte, Nächte mit Engelsfittichen, dort, dort hoch oben . . . Mir erscheint irgend ein Gott dieser Berge, der Wälder umstürzt und über die Gräser Spinnengewebe breitet, ein furchtbarer Gott, ein stolzer, und doch so ruhig, wie die Wassertiefe. Mir entschwingt sich die Seele und flieht zu den Gewalten und Elementen der Natur, die Seele, welche die Tragödie des physischen Daseins erkannte.
Ich liebe die Tatra. Ich liebe ihre Öde und ihr Schweigen, ihre Starre und ihre düstere Ruhe. In ihren Nebeln irrt mein Geist und sucht seinen entschwundenen Glauben und sein Lieben, seiner Jugend Gefühle und Kräfte. Über ihre Täler und Gipfel geht mein Gedanke und trauert, daß er nicht Feuer im Feuer sein kann, Sturm im Sturm, Licht im Licht; daß man nicht mit euch sein kann, euch angehören, ihr Geister der Elemente! An Bächen läßt sich mein Gedanke nieder und trauert, daß man nicht ein Bruchstück dieser Poesie der Welten sein kann und die Qual leiden muß, sie nur sehen und fühlen zu dürfen, die Unzugängliche, Weite, Heilige, unnahbar Erhabene.
Nie also, nie wird man sich dir einen können, ein Klang in deinem Hymnus sein, mit dir, in dir sein, Natur! Mutter! Ich erhebe zu dir die Hände wie ein Kind . . .
Aber auf meine Augen senkt sich nur der Gebirgsnebel herab, von dort, aus den Weiten, der herbstliche Bergnebel der Tatra.