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An diesem Tage hatte Saint-Loup, wie an den vorhergehenden, nach Doncières gehn müssen, wo man nun immer, bevor er endgültig dorthin zurückkehrte, bis zum Nachmittagende seiner bedürfen würde. Mir tat leid, daß er nicht in Balbec war. Ich hatte junge Frauen, die mir von weitem entzückend erschienen waren, aus einem Wagen steigen und teils in den Tanzsaal des Kasinos, teils zum Konditor hereingehn sehn. Ich stand gerade in einer von jenen Perioden der Jugend, die keine besonderen erotischen Bindungen kennen, unbesetzt sind, in denen man – wie ein Liebender die Frau, in die er verliebt ist – überall die Schönheit selber sucht, ersehnt und sieht. Wenn nur ein einziges Motiv der Wirklichkeit – das Wenige, was man von einer Frau, die man von Weitem oder nur im Rücken sieht, erkennen kann – es uns gestattet, vor uns hin die Schönheit selbst zu projizieren, so glauben wir sie schon erkannt zu haben, uns schlägt das Herz, wir gehen schneller zu und werden immer halb und halb davon durchdrungen bleiben, daß sie es gewesen sei, wenn die Frau uns entschwindet: unsern Irrtum erkennen wir erst, wenn wir sie einholen können.
Da ich zudem immer leidender wurde, war ich geneigt, die simpelsten Vergnügen, der Schwierigkeiten wegen, die für mich an sie geknüpft waren, zu überschätzen. So glaubte ich denn, elegante Frauen überall zu sehen, weil ich, war es am Strande, zu müde, war es in dem Kasino oder der Konditorei, zu schüchtern war, sie irgendwo anzusprechen. Und dennoch hätte ich, wenn ich bald sterben müßte, gern gewußt, wie denn von Nahem, in Wirklichkeit die hübschen jungen Mädchen aussahen, die das Leben darzubieten hatte; sollte es selbst ein anderer als ich oder sogar überhaupt keiner sein, dem dieses Dargebotene zugute käme (wirklich gab ich mir nicht davon Rechenschaft, daß ein Besitzwunsch auf dem Grunde meiner Neugier lag). Wäre Saint-Loup mit mir gewesen, so hätte ich in den Ballsaal einzutreten gewagt. Da ich allein war, blieb ich einfach vor dem Grand-Hôtel und wartete den Augenblick, wieder zu meiner Großmutter zurückzugehn, ab; da sah ich, fast noch am äußersten Ende der Mole, auf der sie einen seltsamen, bewegten Fleck bildeten, fünf oder sechs junge Mädchen sich vorwärtsbewegen, die in Anblick und Auftreten so verschieden von allen Leuten, die man in Balbec gewohnt war, erschienen, als es nur – von weiß Gott woher gekommen – eine Möwenschar hätte sein können, die Schritt für Schritt – wobei die Zurückgebliebenen fliegend die anderen einholen – auf ein Ziel zu promeniert, das den Badenden, die wohl gar nicht von ihnen gesehen werden, ebenso dunkel vorkommt, wie ihrem Vogelgeiste es klar und bestimmt ist.
Eine von diesen Unbekannten stieß mit der Hand ihr Fahrrad vor sich her; zwei andere hielten »Klubs« zum Golfspielen; und alle stachen in ihrer Ausstaffierung von den übrigen jungen Mädchen in Balbec ab; denn unter diesen widmeten sich freilich einige dem Sport, ohne aber darum ein besonderes Kostüm zu tragen.
Es war die Zeit, um welche Damen und Herren ihren alltäglichen Spaziergang auf der Mole unternahmen und dabei dem unbarmherzigen Funkeln der Lorgnette sich aussetzten, welche auf sie, als hafte irgend ein Gebrechen ihnen an, das bis in die geringsten Einzelheiten wolle untersucht werden, die Frau des Präsidenten richtete; stolz saß sie vor dem Musikpavillon mitten in jener gefürchteten Stuhlreihe, auf der alsbald sie selber, die aus Akteuren damit zu Kritikern wurden, Platz nehmen sollten, um ihrerseits über die zu Gericht zu sitzen, die vor ihnen vorbeidefilieren würden. All die Leute schwankten so sehr beim Gang über die Mole, als gingen sie auf Deck (unmöglich war ihnen, das Bein zu heben ohne zu gleicher Zeit den Arm zu bewegen, die Augen zu verdrehen, mit einem Ruck ihre Schultern zurückzuwerfen, und wenn sie sich in einer Richtung bewegten, nicht durch eine Bewegung in einer andern das auszugleichen, ja, sie bekamen notgedrungen einen roten Kopf), auch taten sie, als sähen sie niemanden, damit man meine, daß sie nach niemand fragten, doch von der Seite gaben sie wohl acht auf die Leute, die neben ihnen hergingen oder ihnen entgegenkamen, stießen sogar gegen sie und klammerten an ihnen sich fest, weil sie von deren Seite unterm gleichen Anschein von Verachtung Gegenstand derselben geheimen Aufmerksamkeit gewesen waren; ist doch die Liebe zur Masse, beziehungsweise der Haß gegen sie, in allem menschlichen Verhalten eine der wichtigsten Triebfedern; und dabei ist es ganz gleichgültig, ob man versucht, andern zu gefallen, sie in Erstaunen zu setzen oder ihnen Verachtung deutlich zu machen. Bei dem, der einsam lebt, liegt oft selbst völliger bis ans Lebensende währender Abschließung von den andern ausschweifende Leidenschaft für die Masse zugrunde; sie kann über alle sonstigen Gefühle in dem Grade Herr werden, daß einer, weil ihm beim Ausgehen nicht die Bewunderung der Portierfrau, der Passanten, des wartenden Kutschers folgt, lieber nie mehr den Menschen unter die Augen kommt und aller Tätigkeit entsagt, die ein Ausgehn erfordern würde.
Unter all diesen Leuten, von denen zwar die einen oder andern mit einem Gedanken beschäftigt waren, in welchem Falle aber ihr labiles Gleichgewicht in abgehackten Gesten und unsteten Blicken zum Ausdruck kam, die ebenso unharmonisch wirkten wie das umsichtige Hin- und Herschwanken derer, die neben ihnen waren, gingen die jungen Mädchen, die ich bemerkt hatte, gerad vor sich hin, sie beherrschten ihre Bewegungen so, wie ein restlos geschmeidigter Körper und völlige Verachtung für den Rest der Menschheit das mit sich bringt; nichts Zögerndes oder Steifes war an ihnen, gänzliche Unabhängigkeit eines jeden ihrer Glieder allen andern gegenüber erlaubte ihnen, ganz genau sich zu bewegen, wie sie es wollten, und der größere Teil ihres Körpers hatte die Unbeweglichkeit, die bei den guten Walzertänzerinnen so auffällt. Sie waren nicht mehr weit von mir entfernt. Schön waren sie, obwohl sich eine jede im Typ von allen andern durchaus unterschied, sämtlich; doch hatte ich, die Wahrheit zu gestehen, sie seit verschwindend kurzer Zeit vor Augen und ohne daß ich wagte, sie genauer zu fixieren; daher hatte ich noch keine von ihnen mir individualisiert. Bis auf eine, die mit der geraden Nase, ihrem braunen Teint aus den übrigen sowie auf einem Gemälde der Renaissance einer von den drei Königen aus Morgenland mit arabischen Zügen herausfiel, waren sie mir nicht anders bekannt: als eine mit unbarmherzigen, lachenden Augen, eine andere mit Wangen, auf denen das Rosenfarbene so ins Kupferne sich wandte, daß man ganz unwillkürlich an Geranien denken mußte; und selbst mit diesen Merkzeichen erging es mir so, daß ich noch nicht unwiderruflich ihrer eines dem einen oder andern dieser jungen Mädchen zum Unterschied von allen übrigen zugeschrieben hatte; die Rhythmik aber, in dem dieses unvergleichliche Ensemble sich erschloß, blieb, weil in ihr sich die verschiedensten Aspekte nah berührten und alle Farbenskalen eng sich in ihr drängten, verworren, wie Musik es sein kann, wenn man die Motive nicht herauszuheben und die Passagen, wenn sie kommen, nicht zu erkennen weiß, so daß man sie wohl hört, jedoch umgehend wieder vergißt; sah ich denn also in dem Ablauf dieser Rhythmik ein weißes Oval, schwarze Augen und grüne Augen herauftauchen, so wußte ich nicht sicher: waren es dieselben, die mich soeben schon beglückt hatten, und konnte sie nicht in Verbindung mit irgend einem bestimmten jungen Mädchen bringen, die ich von allen andern zu unterscheiden und wiederzuerkennen vermocht hätte. Und jener Ausfall von Demarkationslinien, wie ich sie bald genug unter ihnen abstecken sollte, tat, daß in meiner Vision ein Wogen von Harmonie die ganze Gruppe durchpulste und als ein reges kollektives Fluidum Schönheit unabgesetzt von einer auf die andern sich übertrug.
Es hatte vielleicht nicht der Zufall allein, wie er im Leben spielt, so schöne Mädchen, um sie freundschaftlich hier zu vereinen, ausgewählt; und vielleicht hatten sie (aus ihrer Haltung sah man zur Genüge, wie kühn, frivol, gehärtet sie alle waren) mit dem geschärften Sinn für alles Lächerliche, alles Häßliche und ihrer Stumpfheit gegen das, was intellektuell und sittlich andere zueinander zieht, unter allen übrigen ihres Alters ganz von selbst durch die Abneigung gegen die sich zusammengefunden, bei denen träumerisches, zartes Wesen in Schüchternheit, Befangenheit und Unbeholfenheit, mit einem Wort in dem, was sie wohl »unsympathisches sich Haben« nennen mochten, sich verriet, und dergestalt sie links liegen lassen; dagegen hatten sie sich umso näher an andere angeschlossen, zu denen ein gewisses Ensemble von Anmut, von Geschmeidigkeit und körperlicher Eleganz sie zog; denn das war die einzige Form, unter der sie freimütigen, bestrickenden Charakter und die Verheißung angenehmer Stunden in gegenseitiger Gemeinschaft sich vorstellen konnten. Vielleicht stand auch die Klasse, zu der sie gehörten – ich hätte nicht näher angeben können, welche es war – an einem Punkte ihrer Entwicklung, an dem ein soziales Milieu jenen harmonischen, fruchtbaren Schulen der Plastik ähnelt, die noch keinem gekünstelten Ausdruck nachjagen und ganz von selber schöne Leiber mit schönen Beinen, schönen Hüften, gesunden, ausgeruhten Mienen, die Leben und Schlauheit atmen, im Überflusse hervorbringt. Das mochte nun das Werk zunehmenden Reichtums oder der Muße, vielleicht auch neuer sportlicher Gepflogenheiten sein, wie sie selbst in gewissen mittleren Bevölkerungsschichten verbreitet sind, oder das Werk einer Körperkultur, zu der die des Geistes noch nicht hinzugetreten ist. In jedem Falle – waren es nicht wirklich edle, geruhige Urbilder der menschlichen Schönheit, die ich da vor dem Hintergrund des Meeres wie Statuen sah, die man an einer Küste von Griechenland in der Sonne aufgestellt hat?
Es war, als herrsche unter ihnen dort, in dem Verband, der auf der Mole wie ein leuchtender Komet vorrückte, die Überzeugung, die Menge um sie her bestünde aus Geschöpfen einer andern Rasse, die sogar, wenn sie litten, kein Gefühl der Solidarität in ihnen wecken könnten; und sie schienen sie gar nicht zu sehen; die Leute, die da standen, wurden von ihnen genötigt, beiseite zu treten, als ständen sie einer Maschine, welche man abgelassen, im Wege: man konnte nicht von ihr erwarten, daß sie den Fußgängern ausweicht; und höchstens konnte es geschehen, daß sie untereinander lachend sich ansahen, wenn etwa einer von den alten Herren, deren Existenz sie nicht anerkannten und deren Kontakt sie vermieden mit schüchternen Bewegungen oder Gebärden der Wut, überstürzten, auf jeden Fall, oder lächerlichen, geflohen war. Sie trugen denen gegenüber, die nicht zu ihnen gehörten, keinerlei affektierte Verachtung zur Schau; es war genug an der, die ihnen von Herzen kam. Aber sie konnten kein Hindernis sehen, ohne sich eine Freude daraus zu machen, mit einem Satze oder mit geschlossenen Füßen es zu nehmen; denn es erfüllte bis zum Bersten jene Jugendfrische sie, die sogar, wenn man traurig oder unwohl ist, unwiderstehlich einen drängt, sie auszuleben: so fügt man sich der Notwendigkeit des Lebensalters eher als der Stimmung eines Tages und läßt zum Springen oder Schlittern Gelegenheit nie kommen, ohne höchst gewissenhaft sie auszunutzen und seinen langsamen Gang – wie Chopin es mit seinen traurigsten Passagen tut – andauernd mit graziösen Arabesken zu unterbrechen, in denen Virtuosität und Caprice sich mengen. Da war ein alter Bankier; seine Frau hatte unter mehreren Stellen, um ihren Mann unterzubringen, geschwankt, und schließlich auf einem Faltstuhl, der Mole gegenüber, an einen Ort ihn gesetzt, wo der Musikpavillon ihm Schutz gegen Sonne und Wind bot. Als sie nun sah, er sei gut untergebracht, ging sie fort, um ihm eine Zeitung zu kaufen, die sie zu seiner Zerstreuung ihm vorlesen wollte; in solchen kurzen Augenblicken ihrer Abwesenheit blieb er allein; doch dehnte sie sie niemals über fünf Minuten aus, und schon das erschien ihm sehr lange; aber das tat sie denn auch ziemlich häufig, damit ihr alter Mann, dem sie ihre Obhut zugleich zuwandte und verbarg, den Eindruck erhalte, er könne immer noch existieren wie alle Welt und habe keinerlei Schutz nötig. Ihm zu Häupten bildete die Tribüne der Musikanten ein verlockendes natürliches Sprungbrett, auf das die älteste der kleinen Bande, ohne sich lange zu besinnen, hinaufgelaufen war: sie sprang dem entsetzten alten Mann übern Kopf und streifte mit ihren hurtigen Füßen seine Marinemütze; das machte den andern jungen Mädchen viel Freude, der mit den grünen Augen im niedlichen Gesicht besonders; die verrieten für dieses Vorgehen die froheste Bewunderung, in der ich etwas Schüchternheit, verschämte, ostentative Schüchternheit, zu erkennen glaubte, die bei der andern nicht vorkam. »Der alte Kerl tut mir leid, er ist ja halbtot«, sagte mit heiserer Stimme und halb ironisch eines der Mädchen. Sie taten noch einige Schritte, dann blieben sie einen Augenblick, um eine Art Verschwörung abzuhalten, mitten auf dem Wege als ein unregelmäßiges, kompaktes, schreiendes Etwas stehen; sie waren wie Vögel, wenn sie im Augenblick des Aufflugs sich versammeln; dann setzten sie von neuem ihre langsame Promenade der Mole längs fort über dem Meere.
Jetzt waren ihre bezaubernden Züge nicht undeutlich mehr miteinander vermischt. Ich hatte sie verteilt und (mangels des Namens von einer jeden, den ich nicht wußte) um die Große gruppiert, die über den alten Bankier hinweggesprungen war, um die Kleine, an der von dem Horizonte des Meeres die riesigen Pausbacken und die grünlichen Augen sich abhoben; um die mit dem gebräunten Teint, der geradlinigen Nase, die aus den andern herausfiel; um eine andere mit dem Gesicht, das weiß wie ein Ei war (und bogenförmig sprang eine kleine Nase daraus wie der Schnabel von einem Kücken hervor), ein Gesicht, wie es bei sehr jungen Menschen vorkommt; weiter um eine andere, die groß war und eine Pelerine umhatte (das ließ sie so armselig erscheinen und strafte ihre elegante Haltung so energisch Lügen, daß man nur eine einzige Erklärung fand: die Eltern des jungen Mädchens müßten eine ziemlich glänzende Stellung behaupten und in der Einschätzung ihrer selbst hoch genug über die Badegäste von Balbec und die Eleganz ihrer eigenen Kinder erhaben sein, um ganz gelassen auf der Mole sie in einer Toilette sich ergehen zu lassen, die kleinen Leuten zu bescheiden vorgekommen wäre); um ein Mädchen mit strahlenden Augen, die lachten, und festen, mattgetönten Wangen, die eine schwarze Samtmütze auf dem Kopf trug und vor sich her ein Fahrrad schob, wobei sie so schlendrig in den Hüften sich wiegte, ein freches Gesicht zur Schau trug und, als ich an ihr vorbeikam, freche Worte im Argot so laut herausschrie (leider vernahm ich immerhin die peinliche Wendung »sein eigenes Leben leben« darunter), daß ich die Hypothese fallen ließ, die auf die Pelerine ihrer Kameradin sich in mir geformt hatte, und eher zu dem Schluß kam, all diese Mädchen müßten zu den Schichten gehören, die regelmäßig auf den Radrennbahnen sind, und die sehr jugendlichen Geliebten von Rennfahrern sein. Wie dem auch sei, unter all diesen Annahmen fand eine sich nicht ein: daß sie tugendhaft seien. Auf den ersten Blick – an der Art und Weise, mit der sie unter Lachen einander ansahen, – dem beharrlichen Blick von der mit den mattgetönten Wangen – hatte ich begriffen, sie seien es nicht. Und zudem hatte meine Großmutter von jeher mit so tief besorgtem Zartgefühl auf mich geachtet, daß ich's nicht anders wußte: der Komplex der Dinge, welche man nicht tun darf, sei unteilbar; junge Mädchen, welche dem Alter den Respekt verweigerten, würden auf keinen Fall plötzliche Skrupel empfinden, wenn Freuden, die verführerischer wären, als über einen Achtzigjährigen zu springen, an sie heranträten.
Sie hatten sich nun individualisiert; aber Blicke, die sie untereinander wechselten, Blicke, die Lebensfreude und kameradschaftliche Gesinnung spiegelten – von Zeit zu Zeit blitzte in ihnen immer wieder ein Interesse oder unverschämte Gleichgültigkeit auf, je nach dem, ob es um eine Freundin oder um jemanden sich handelte, der vorbeikam, – und abgesehen von ihren Blicken das Bewußtsein, einander nah genug zu kennen, um immer zusammen promenieren und dabei eine Gruppe für sich bilden zu können, stellten, wie sie so langsam vorangingen, zwischen ihren selbständigen, voneinander getrennten Leibern eine unsichtbare, jedoch harmonische Verbindung, gewissermaßen einen warm getönten Schatten, eine identische Atmosphäre her; und so wurden sie zu einer Gesamtheit, die ebenso homogen in ihren Teilen wie von der Menge unterschieden war, in deren Mitte sie langsam vorüberzogen.
Als ich an der Brünetten mit den derben Backen, die vor sich her ein Zweirad schob, vorbeikam, begegnete ich kurz ihren lachenden Blicken, die schräg auf mich zukamen aus dem, was Tiefstes dem entmenschten Kosmos innewohnen mochte, wie er das Leben dieser kleinen Gruppe umschloß; aus unbekannten, niemals zu erreichenden Regionen kam er herauf, aus Bereichen, zu denen sicher der Gedanke von dem, was ich war, nicht dringen, in denen er gewiß nicht Platz finden konnte. Hatte dies junge Mädchen mit der Polomütze, die sie so tief in die Stirn trug, ganz hingenommen, wie sie war, von dem, was ihre Kameradinnen besprachen, mich in dem Augenblick gesehen, wo der schwarze Strahl aus ihren Augen mich getroffen hatte? Und hatte sie mich gesehen, was hatte ich wohl für sie darstellen können? Vom Grunde welchen Universums her erkannte sie mich? Das anzugeben wäre mir nicht weniger schwer gefallen, als, wenn gewisse Einzelheiten eines Sterns, der uns benachbart ist, in einem Teleskope uns er, scheinen, es schwierig ist, aus ihnen zu schließen – ob menschliche Wesen da wohnen, ob sie uns sehen und welche Gedanken unser Anblick in ihnen wohl hat wachrufen können.
Würden wir denken, daß die Augen so eines Mädchens nur eine schillernde Scheibe aus Glimmer wären, wir würden nicht begierig sein, ihr Leben kennen zu lernen und mit unserm es zu vereinen. Wir spüren aber: was in diesem spiegelnden Diskus schimmert, geht nicht auf seine materielle Beschaffenheit allein zurück; es sind, von unserm Geiste nicht gekannt, die schwarzen Schatten der Gedanken, welche dieses Wesen von Menschen und von Orten, die es kennt, sich macht – von den Rasenflächen der Hippodrome, vom Sand der Wege, auf denen bei der Fahrt durch Felder und Wälder diese kleine Peri, die mir verführerischer war als die der persischen Paradiese, mich nach sich gezogen hätte – die Schatten des Hauses ferner, in welches sie heimkehren wird, und der Projekte, die sie gemacht oder die man für sie gemacht hat; und vor allem ist sie es selbst mit ihren Trieben, ihren Sympathien, ihren Abneigungen, ihrem dunklen, unermüdlichen Wollen. Ich wußte, daß ich diese junge Radfahrerin nicht besitzen würde, besäße ich nicht auch das, was in ihren Augen war. Und so war es infolgedessen ihr ganzes Leben, das meine Begierde erregte; eine Begier, die schmerzlich war, weil sie, ich fühlte es, nicht zu befriedigen war, doch auch berauschend, weil das, was so lange mein Leben gewesen, mit einem Schlage aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, und nicht mehr als ein kleiner Teil der Fläche, welche sich da vor mir dehnte, war – der Fläche, die ich ungeduldig brannte zu durchmessen, denn sie war aus dem Leben dieser jungen Mädchen gemacht, und sie versprach mir jene mögliche Verlängerung, Vervielfältigung seiner selbst, die das Glück ist. Und sicherlich mußte für mich es desto schwieriger werden, mit ihnen mich zu verbinden und ihr Gefallen zu finden, als es nicht eine Angewohnheit – wie auch nicht einen Gedanken – gab, die uns gemeinsam gewesen wären. Daß aber in mir einer Sättigung der Durst – ein Durst, wie nur verschmachtende Erde ihn kennt – nach einem Leben folgte, das meine Seele, weil sie bis hierhin nie auch einen Tropfen nur davon empfangen hatte, um so gieriger, in langen Zügen bis zum völligen Durchtränktsein in sich saugen würde, das kam vielleicht von diesen Unterschieden her und dem Bewußtsein, in der Zusammensetzung dessen, was diese Mädchen waren und was sie taten, befände sich kein einziges Element, daß ich, sei's kennte, sei's selbst besäße.
Ich hatte die Radfahrerin mit den leuchtenden Augen so lange angesehen, daß sie es bemerkt zu haben schien und zu der Größten ein Wort sagte, das ich nicht verstand, worüber die aber lachte. In Wirklichkeit war nicht diese Brünette es, die mir am besten gefiel, gerad weil sie eben brünett war und weil (seit dem Tage, wo ich Gilberte auf dem kleinen Hügelweg bei Tansonville gesehen hatte) ein junges, rothaariges Mädchen mit golden getönter Haut mein unerreichbares Ideal geblieben war. Aber hatte ich nicht Gilberte selber wiederum vor allen Dingen deswegen geliebt, weil sie im Glanz der Aureole, Freundin von Bergotte zu sein, mit ihm die Kathedralen zu besuchen, mir erschienen war? Und kennte ich denn so nicht froh darüber sein, daß ich gesehen, wie die Brünette mich anguckte (das gab mir Hoffnung, daß es leichter sein werde, zu ihr in Beziehung zu treten), denn sie würde der andern mich vorstellen: der Herzlosen, die über den Alten hinübergesprungen war, der Grausamen, die gesagt hatte: »Der alte Kerl tut mir leid«, allen der Reihe nach, von denen ihr ja das Prestige herkam, mit ihnen unzertrennlich verbunden zu sein.
Und dennoch: die Annahme: ich könne eines Tages der Freund von diesem oder jenem der jungen Mädchen werden, und diese Augen, deren neue Blicke mich bisweilen trafen und, ohne es zu wissen, auf mir spielten wie Sonnenreflexe auf einer Mauer, könnten jemals kraft wundertätiger Alchimie durch ihre unbeschreiblichen Partikel ein Bild von meiner Existenz, einige Neigung zu meiner Person sich eindrängen lassen, und ich könne eines Tages meinen Platz in ihrer Mitte bei der Prozession, die sie am Meer entlang ziehen ließen, finden – diese Annahme schien einen ebenso unlöslichen Widerspruch mir einzuschließen, als wenn ich, der Betrachtende, angesichts eines antiken Frieses oder eines Fresko, auf welchem ein Geleitzug dargestellt ist, für möglich gehalten hätte, als Götterliebling unter den Gottheiten der Prozession einen Platz zu finden.
Das Glück, diese jungen Mädchen zu kennen, ließ sich mithin nicht in die Wirklichkeit umsetzen. Es war gewiß das erste der Art nicht, auf das ich Verzicht geleistet hätte. Ich hatte mich ja nur so vieler Unbekannter zu erinnern, von denen ich, sogar in Balbec, weil der Wagen in voller Fahrt sich entfernte, auf immer mich hatte trennen müssen. Sogar in diesem Falle kam die Lust, die ich an dieser kleinen Bande fand, die edel wie von hellenischen Jungfrauen gebildet war, daher, daß sie vom flüchtigen Vorüberschreiten von Mädchen, die ich unterwegs traf, etwas hatte. Und jene flüchtige Natur der Wesen, welche wir nicht kennen, die vom täglichen gewohnten Leben, in dem die Frauen, mit denen wir es zu tun haben, zuletzt ihre Fehler vor uns enthüllen, abzustoßen uns nötigen, bringt uns in die bekannte Stimmung des Verfolgers, in welcher nichts mehr unsere Phantasie in Schranken hält. Und wenn wir die von unseren Freuden abziehn, so reduzieren wir sie auf sich selbst, das heißt auf nichts. Wären sie bei einer dieser Kupplerinnen, deren Dienste im übrigen, wie man gesehen hat, ich nicht verschmähte, mir angeboten worden und aus der Aura, welche sie nuanciert und unbestimmt erscheinen ließ, herausgelöst gewesen, so hätten diese jungen Mädchen nicht in der gleichen Weise mich bezaubert. Immer muß die Phantasie durch einen Zweifel, ob sie ihren Gegenstand erreichen könne, wachgehalten werden und sich ein Ziel schaffen, welches das andere vor uns verbirgt; sie muß der Sinnenlust die Neigung unterschieben, uns in ein fremdes Leben einzumengen, damit uns hindern, diese Sinnenlust als solche zu erkennen, ihren wahren Geschmack zu verspüren und sie auf ihre wirkliche Bedeutung einzuschränken.
Es muß zwischen uns und jenem Fisch, der nicht die tausend Listen und Verfahrungsweisen, die zu seinem Fang gehören, zu verlohnen scheint, wenn wir zum ersten Male ihn serviert sehn, an den Nachmittagen, an denen wir angeln, sich die Wellenbewegung geschoben haben, an deren Oberfläche, ohne daß wir recht zu sagen wüßten, was wir damit wollen, schimmerndes Fleisch, eine sehr rege Form im Hin- und Widerströmen eines schwankenden durchsichtigen Azur herantreten.
Es kam den jungen Mädchen, von denen wir hier reden, auch jene Veränderung in den gesellschaftlichen Verhältnissen zugute, wie sie charakteristisch für das Badeleben ist. Alle Vorzüge, die unsern Einfluß in der gewohnten Umgebung verstärken, uns größer in ihr erscheinen lassen, sind dort so unsichtbar geworden, daß es ihrer Abschaffung gleichkommt; auf der anderen Seite aber sind die, denen man solche Vorzüge zu Unrecht zuschreibt, nur dank einer künstlichen Steigerung zu solcher Geltung gekommen. Die ließ es leicht geschehn, daß Unbekannte – an jenem Tage diese jungen Mädchen – in meinen Augen ungeheure Wichtigkeit bekamen, und machte es unmöglich, sie von der zu informieren, welche ich selber etwa hätte haben können.
Wenn aber die Promenade der kleinen Bande dies für sich hatte, nur ein Auszug aus jener unermeßlichen Abflucht vorüberziehender Schönheit zu sein, die mich von jeher hingerissen hatte, so war hier diese Flucht auf eine derart langsame Bewegung reduziert, daß sie dem Reglosen nahe kam. Und gerade, daß bei derart retardiertem Tempo, da die; Gesichter nicht mehr wie in einem Wirbel davongetragen, sondern in Ruhe, deutlich von einander abgehoben wurden, sie mir immer noch schön erschienen, bewahrte mich vor der Vermutung, die so oft mir gekommen war, wenn mich der Wagen von Frau von Villeparisis entführte, es würden in der Nähe, hätte ich nur einen Augenblick angehalten, in dem Gesicht, dem Frauenkörper, an Stelle der Details, wie ich mir sie ohne Zweifel vorgestellt, Pockennarben, fehlerhaft gebaute Nasenflügel, einfältiger Ausdruck der Augen, verzerrtes Lächeln, eine häßliche Figur sich zeigen; denn eine hübsche Linie in der Silhouette eines Körpers, ein frischer Teint, so flüchtig ich ihrer ansichtig geworden war, hatten mir genügt, im besten Glauben eine bezaubernde Schulter, einen berauschenden Blick, wie ich sie immer als Erinnerung oder vorgefaßtes Bild in meinem Innern trug, hinzuzutun; so setzt man denn mit dem beschleunigten Entziffern eines Wesens, das man nur gleichsam im Vorüberfliegen sieht, denselben Irrtümern sich aus wie bei allzu geschwindem Lesen, wo man auf eine einzige Silbe hin, ohne zum Ansehen der übrigen sich Zeit zu nehmen, an Stelle des Worts, welches dasteht, ein ganz anderes setzt, wie uns unser Gedächtnis es zur Verfügung stellt. So konnte es jetzt nicht sein; ich hatte mir ihre Gesichter gut angesehn; ich hatte eine jede von ihnen zwar nicht in allen Profilansichten und selten en face gesehen, doch immerhin unter zwei oder drei Aspekten, die verschieden genug untereinander waren, um, sei's die Richtigstellung, sei's die Verifikation und den ›Beweis‹ der verschiedenen hypothetischen Linienzüge und Farbstellungen, wie der erste Blick sie riskiert, liefern und in den wechselnden Ausdrucksbildern ein unveränderliches Stoffliches in ihnen erfassen zu können. Und so konnte ich denn mit Gewißheit mir sagen, nie haben in Paris noch in Balbec, und wäre es auch unter den günstigsten Konstellationen, die man nur hätte ersinnen können, ja hätte ich auch bleiben und mit ihnen sprechen können, Passantinnen meine Augen auf sich gelenkt, die ihre Erscheinung und anschließendes Verschwinden, ohne daß ich sie kennen lernte, mich mehr hätten bedauern lassen, als die hier es tun würden, noch mir den Gedanken, ihre Freundschaft könne solch ein Rausch von Glück sein, eingegeben. Weder unter den Schauspielerinnen noch unter den Bauernmädchen noch unter den jungen Mädchen des geistlichen Pensionats hatte ich etwas so Schönes, etwas so durch und durch Unbekanntes, etwas so unschätzbar Köstliches, etwas aller Wahrscheinlichkeit nach so Unerreichbares angetroffen. Sie waren von dem unbekannten Glück, das es im Leben geben konnte, ein so bezauberndes Exemplar in derart vollendetem Zustand, daß ich beinah aus rationalen Gründen gleichsam irr vor Angst war, mir möchte nicht vergönnt sein, unter einzigartig günstigen Bedingungen und so, daß für den Irrtum kein Raum mehr bleiben konnte, aus Erfahrung kennen zu lernen, was uns die Schönheit, welche man begehrt, Geheimnisvollstes zu bieten hat (die man begehrt und doch nie zu besitzen sich tröstet und sich Lust – wie Swann dies immer, vor Odettes Zeit, abgelehnt – bei Frauen, die man nicht begehrt hat, sucht, so daß es dann zu guter Letzt geschehn kann, daß man stirbt, ohne jemals gewußt zu haben, was es um jene andere Lust ist). Möglich zwar war es gewiß, daß sie in Wirklichkeit keine unbekannte Lust sei, daß ihr Geheimnis in der Nähe sich verflüchtige, daß sie nur eine Projektion, nur eine Spiegelung des Wunsches sei. Doch, diesen Fall gesetzt, hätte ich einzig und allein mich über ein Naturgesetz beklagen können – das, wenn es diesen jungen Mädchen gegenüber galt, von allen gelten mußte – nicht über ein Versagen des Gegenstandes. Denn es war der, den ich vor allen andern erwählt haben würde, wobei ich mir, nicht ohne die Genugtuung des Botanikers, darüber klar war, seltenere Arten vereint zu finden, sei nicht möglich, als die jener jugendlichen Blüten, die gerade jetzt vor mir den Linienzug der Wogen mit ihrer schwanken Hecke unterbrachen, einem Boskett pennsylvanischer Rosen gleichend, wie es einen Garten an der Klippe schmückt und in sich die ganze Ozeanstrecke faßt, die ein Dampfschiff durchmißt, wenn es so langsam auf dem blauen, horizontalen Streifen voranrückt, der sich von einem Stiele zum andern zieht, daß ein träger Falter, der noch im Innern einer Blüte sich versäumt, über die schon längst der Schiffsrumpf hinaus ist, abwarten kann, bis nur ein winziges azurnes Stückchen noch den Rumpf des Schiffs vom ersten Blumenblatt der Blüte trennt, auf die es zuschwimmt, um abzufliegen, und doch sicher zu sein, noch vor dem Schiffe dort anzulangen.
Ich kehrte heim, denn ich sollte mit Robert in Rivebelle dinieren und meine Großmutter verlangte, daß vor dem Fortgehn ich an solchen Abenden mich eine Stunde aufs Bett lege; eine Ruhepause, die der Arzt von Balbec gleichfalls auf alle andern Abende auszudehnen, mir bald verordnen sollte.
Man brauchte übrigens, um das Hotel zu betreten, nicht einmal die Mole zu verlassen und durch den hall, das heißt von hinten zu kommen. Kraft eines Zeitgewinnes, wie in Combray ähnlich der Sonnabend ihn immer gebracht hatte, an dem man eine Stunde früher zu Mittag aß, waren jetzt, mitten im Sommer, die Tage so lang geworden, daß die Sonne noch, wie zur Teestunde, hoch am Himmel stand, wenn man im Grand-Hôtel in Balbec die Gedecke fürs Diner auflegte. Die Schiebefenster mit den großen Scheiben, die auf derselben Höhe wie die Mole waren, blieben daher offen. Ich brauchte nur über eine schmale hölzerne Einfassung zu steigen, um mich im Speisesaal zu befinden, den ich sofort verließ, um den Fahrstuhl zu nehmen.
Ich kam am Büro vorbei, lächelte dem Direktor zu, und ohne eine Spur von Widerwillen nahm ich ein Lächeln, das mir galt, auf seinem Gesichte entgegen. Seit ich in Balbec war, hatte meine eindringliche Aufmerksamkeit dieses, wenn ich so sagen darf, in Spiritus gesetzt und allmählich wie ein naturhistorisches Präparat verändert. Seine Züge waren mir geläufig geworden – wenig Bedeutendes sprach daraus, aber sie waren verständlich wie eine Schrift, die man lesen kann, und in nichts mehr erinnerten sie an jene ausgefallenen, unleidlichen Schriftzeichen, wie sein Gesicht sie mir am ersten Tage gewiesen hatte. Damals hatte ich eine Person mir gegenüber gefunden, die nun vergessen war oder, falls mir gelang, sie mir zurückzurufen, gar nicht zu erkennen und nur schwer mit jener belanglosen, zuvorkommenden Erscheinung zu identifizieren war, von der sie nur in großen Zügen die abscheuliche Karikatur darstellte. Weder traurig noch auch befangen, wie ich am Abend meiner Ankunft es gewesen war, klingelte ich dem Liftboy; und er verhielt sich nicht mehr schweigsam, wenn ich neben ihm im Aufzug wie in einem beweglichen Brustkasten, der da in einer ansteigenden Säule hinaufglitt, mich in die Höhe erhob. Vielmehr wiederholte er mir:
»Es sind nicht mehr so viele Leute hier wie vor einem Monat. Allmählich reisen sie ab, die Tage werden auch kürzer.« Er sagte dies nicht, weil es der Wahrheit entsprochen hätte, sondern weil er ein Engagement für eine wärmere Gegend der Küste hatte und es gern gesehen hätte, wenn wir alle so schnell wie möglich abgereist wären; dann wäre das Hotel geschlossen worden, und vor Antritt seiner neuen Stelle hätte er einige freie Tage für sich behalten. Das Einzige aber, was mich interessierte, war, zu erfahren, ob meine Großmutter im Hotel sei. Hier kam der Liftboy meiner Frage zuvor und sagte: »Die Dame ist eben aus Ihrem Zimmer gekommen.« Ich fiel immer darauf herein und meinte, es sei meine Großmutter. »Nein, die Dame, die, glaub ich, bei Ihnen angestellt ist.« Da nach dem alten bürgerlichen Sprachgebrauch, der ja wohl abgeschafft sein mochte, eine Köchin nicht Angestellte genannt wird, so dachte ich mir einen Augenblick: »Er muß sich irren, wir haben weder eine Fabrik noch Angestellte.« Mit einem Mal erinnerte ich mich, der Name ›Angestellte‹ ist dasselbe, was für die Kellner im Café der Schnurrbart; er schmeichelt nämlich der Eitelkeit bei den Dienstboten; die Dame, die aus dem Zimmer gekommen sei, müsse offenbar Françoise sein (die wahrscheinlich einen Besuch bei dem Cafetier machte, oder zusah, wie das Zimmermädchen der belgischen Dame nähte). Solch Schmeicheln aber war dem Liftboy noch nicht genug, denn er sagte, wenn er dem Mitleid mit der Klasse, der er angehörte, freien Lauf ließ, mit Vorliebe »beim Arbeiter oder beim Kleinen«, wandte mithin denselben Singular an wie Racine, wenn er sagt ›Der Arme ...‹. Gewöhnlich aber sprach ich, weil mein Eifer wie die Befangenheit vom ersten Tag geschwunden waren, mit dem Liftboy nicht. Jetzt war er es, der ohne Antwort blieb, wenn wir die kurze Fahrt quer durchs Hotel machten, das wie ein Spielzeug ausgeräumt dalag, und Stockwerk für Stockwerk vor uns das Gezweig seiner Gänge auslegte, in deren Tiefen schwächerer Lichtschein samten lag und die Verbindungstüren oder die Stufen des inneren Treppenbaues winziger werden ließ, weil er in goldenen Bernstein sie verwandelte, der so geheimnisvoll und flüchtig wie ein Dämmern war, aus welchem Rembrandt bald eine Fensterbrüstung, bald den Kolben eines Brunnens herausschneidet. Und auf jeder Etage sagte ein goldenes Leuchten auf dem Teppichbelag den Sonnenuntergang und das Fenster des Kabinetts an.
Ich fragte mich, ob die jungen Mädchen, die ich soeben gesehen hatte, in Balbec wohnten und wer sie wohl sein könnten. Wenn Wunsch und Wille so auf eine kleine Gruppe Menschen sich gerichtet haben, die sie sich erwählten, wird alles, was auf sie Bezug gewinnen kann, Anlaß erst der Erregung, dann der Träumerei. Ich hatte eine Dame auf der Mole sagen hören: ›Sie ist eine Freundin der kleinen Simonet‹, und dabei sah es aus, als bringe sie so vorteilhafte, so genaue Einzelheiten bei wie jemand, der da sagt: ›Er ist der ständige Kamerad der kleinen La Rochefoucauld.‹ Und unverzüglich hatte man auf dem Gesicht derjenigen Person, der das mitgeteilt wurde, den neugierigen Drang beobachten können, sich die Bevorzugte näher anzusehen, welche die ›Freundin der kleinen Simonet‹ war. Ganz offenbar ein Privileg, über das nicht jeder verfügte. Denn Aristokratie ist etwas Relatives. Und es gibt kleine Winkel, wo es nicht teuer ist und der Sohn eines Möbelhändlers arbiter elegantiarum ist und einen Hofstaat wieder junge Prinz von Wales beherrscht. Oft habe ich seitdem mir Mühe gegeben, mich zu erinnern, wie der Name Simonet mir dort am Strande geklungen hat; es war damals noch etwas Unbestimmtes an seiner Gestalt, die ich nicht genau aufgefaßt hatte, und an seiner Bedeutung desgleichen: war diese oder vielleicht jene andere Person mit ihm gemeint? Noch war er ganz von jenem vagen Charakter des Neuen erfüllt, der uns dann späterhin so rührend wird, wenn der Name, dessen Lettern mit jeder Sekunde durch unablässige Beachtung sich tiefer in uns eingegraben haben, zu dem geworden ist (es sollte das für mich im Hinblick auf die kleine Simonet erst einige Jahre später der Fall sein), was wir als erstes Wort im Augenblicke des Erwachens oder auch nach einer Ohnmacht in uns vorfinden; es stellt sich noch vor dem Bewußtsein von der Stunde, die wir haben, dem Ort, an dem wir uns befinden, beinahe vor dem Worte ›ich‹ ein, als sei das Wesen, welches er benennt, mehr als wir selber ›wir‹ und als liefe nach einigen Momenten bewußtlosen Daseins am schnellsten, vor allen andern, die Frist ab, in der man nicht an ihn denkt. Ich weiß nicht, warum ich schon am ersten Tage mir sagte, der Name Simonet müsse der von einem der jungen Mädchen sein; ich fragte mich unablässig, wie ich die Bekanntschaft der Familie Simonet machen könne; und dies durch Leute, welche sie als über sich gestellt betrachte, damit sie sich keinen abschätzigen Begriff von mir machten – schwer konnte das ja nicht sein, wenn sie nur kleine Dirnen aus dem Volke waren. Denn man kann den von Grund aus nicht kennen lernen und restlos in sich aufnehmen, der einen verachtet, es sei denn, daß man diese Verachtung vorher besiegt habe. Und nun verhalt es sich ja so: ein jedes Mal, wenn das Bild von so fremdartigen Frauen in uns eindringt und nicht durch das Vergessen oder durch die Konkurrenz von andern Bildern in uns ausgeschieden wird, finden wir keine Ruhe, ehe wir nicht diese fremden Erscheinungen in etwas umgesetzt haben, das ähnlich uns selbst ist; denn unserer Seele eignet in diesem Sinne genau die gleiche Reaktionsart und Verhaltungsweise wie unserem physischen Organismus; er kann das Eindringen eines Fremdkörpers in seinen Bau nicht dulden, ohne sofort Anstalten zu treffen, den Eindringling zu verdauen und sich zu assimilieren. Die kleine Simonet mußte die hübscheste von allen und zudem die sein, die, wie mir schien, am leichtesten meine Geliebte hätte werden können, denn sie war die einzige, die zwei- oder dreimal hintereinander den Kopf halb nach mir umgewandt hatte und meinen unverwandten Blick bemerkt zu haben schien. Ich fragte den Liftboy, ob er nicht eine Familie Simonet in Balbec kenne. Da er nicht gern sagte, er wisse etwas nicht, erwiderte er, ihm sei so, als ob er von dem Namen habe reden hören. Im obersten Stockwerke angekommen, bat ich ihn, die letzten Kurlisten mir bringen zu lassen.
Ich stieg aus dem Fahrstuhl; anstatt aber auf mein Zimmer zu gehen schritt ich den Korridor weiter hinauf, denn der Etagendiener hatte, seiner Furcht vor Zugluft zum Trotz, das Fenster am Ende des Ganges geöffnet, welches statt aufs Meer, auf den Hügel und das Tal hinausging, diese aber nie sehen ließ, weil seine Milchglasscheiben fast immer geschlossen waren. Ich blieb auf einen kurzen Augenblick, die Zeit, der Aussicht meine Devotion zu erweisen, davor stehen; heut, für dies eine Mal war sie jenseits des Hügels frei, an den das Hotel gelehnt stand; sie wies nichts auf als ein einziges Haus, das nicht weit entfernt stand, jedoch die Perspektive und das Abendlicht verliehen ihm, ohne sein Volumen zu verändern, die feinste Ziselierung, dazu einen samtenen Schrein, wie Email- oder Goldschmiedearbeit, jenen Miniaturbauten, Tempelchen oder Kapellchen, die als Reliquienbehälter verwendet und nur ein seltenen Tagen den Andächtigen zur Schau gestellt werden. Doch hatte diese flüchtige Anbetung schon zu lange gedauert, denn der Etagendiener, in einer Hand den Schlüsselbund und mit der anderen zum Gruße sein Sakristanskäppchen berührend (denn aufzuheben wagte er es der frischen, kalten Abendluft wegen nicht) kam und wollte die beiden Fensterflügel wie die eines Reliquienkästchens schließen, und so entzog er meiner Adoration das verkleinerte Bauwerk und die goldene Reliquie. Ich trat in mein Zimmer ein. Dem Grade nach, in welchem das Jahr vorrückte, änderte sich das Bild, das ich im Fenster sah. Zuerst war es ganz hell und finster nur, wenn schlechtes Wetter war: dann stand in der blaugrünen Scheibe – und trieb mit seinen runden Wogen sie auf – das Meer, und in die Eisenrahmen meines Fensters wie in das Blei der alten Kirchenfenster eingefaßt, belegte es den tiefeingeschnittenen felsigen Saum der Bucht mit ausgefransten Dreiecken, deren Seiten Schaum in Linienzügen, so fein, wie eine Feder oder eine Daune, wenn Pisanello sie zeichnet, unbeweglich überzog und die mit jenem weißen, unveränderlichen, sahnigen Email befestigt waren, das auf Gallégläsern eine Schneedecke darstellt.
Bald begannen die Tage kürzer zu werden, und im Augenblick, da ich ins Zimmer trat, sah es aus, als sei der violette Himmel stigmatisiert vom starren geometrischen, kurzlebigen und blendenden Sonnenball (er glich der Gegenwart von einem Wunderzeichen, einer mystischen Erscheinung), er senkte sich gegen 's Muschelschloß des Horizontes auf dem Meere nieder gleich einem Andachtsbilde überm Hochaltar, während die verschiedenen Ansichten des Sonnenuntergangs in den Scheiben der niedrigen Bücherschränke aus Mahagoni, die an den Wänden entlang liefen, mich an die wunderbare Malerei, von welcher sie gelöst worden waren, denken machten und wie verschiedene Szenen waren, die ein alter Meister für eine Brüderschaft auf einen Reliquienschrein gemalt hatte, dessen getrennte Flügel man einen neben dem andern im Saale eines Museums aufstellt, wo nun allein die Phantasie des Beschauers auf den Predellen des Altars den rechten Platz ihnen anweist. Einige Wochen später war, wenn ich heraufkam, die Sonne schon untergegangen. Dann stand in seiner Röte ein Streifen Himmel – dem ähnlich, den ich in Combray über dem Kalvarienberge vor mir hatte, wenn ich vom Spaziergang zurückkam und mich anschickte, vor dem Diner in die Küche hinunterzugehen – über dem Meere, das schneidend und kompakt wie Fleischgelee aussah; bald aber wurde es kalt, blau wie der Fisch, den man Seebarbe nennt, und der Himmel nahm das Rosa von einem Lachs an, wie wir ihn gleich in Rivebelle serviert bekommen sollten; wenn ich das vor mir hatte, zog ich mich um so froher gestimmt zum Essen um. Dicht an der Küste suchten eine über der andern, in immer breiteren Staffeln, rußige schwarze Schwaden sich zu erheben, aber sie waren geglättet und dicht wie Achat, man schien es ihnen anzusehen, wie schwer sie waren, so kam es, daß die obersten weit über den unförmigen Stiel und über den Schwerpunkt derer, die sie bislang gehalten hatten, hinaus, sich vornüberlegten und dieses ganze Gerüst, das schon die halbe Höhe des Himmels erreichte, ins Meer schienen hinabstürzen zu wollen. Wenn ich ein Schiff sah, welches sich wie einer, der die Nacht durch reist, entfernte, so kam mir das Gefühl, das ich im Eisenbahnwaggon erfahren hatte: dem Zwang des Schlafs wie der Gefangenschaft in einem Zimmer überhoben zu sein. In dem jedoch, in welchem ich gerade weilte, kam ich mir nicht als Gefangener vor, denn in einer Stunde sollte ich es verlassen, um in den Wagen zu steigen. Ich warf mich aufs Bett; und rings hatte ich Bilder vom Meer um mich, als sei ich auf dem schmalen Lager eines jener Schiffe ausgestreckt, die man mit Staunen langsam des Nachts wie düstere stille Schwäne, die nicht schlafen, sich vorwärtsbewegen sieht.
Oft aber waren das um mich wirklich nur Bilder; ich dachte nicht mehr daran, daß unter ihrem Farbenglanze die leere Muschelschale der Küste sich dehne, über welche rastlos der Abendwind hinfegte, den ich bei meiner Ankunft in Balbec mit solcher Beklemmung verspürt hatte; ich war auch, selbst auf meinem Zimmer völlig mit den jungen Mädchen, die ich hatte vorbeigehen sehen, beschäftigt und innerlich nicht mehr ruhig und freischwebend genug, um einem wirklich tiefen Eindruck von Schönheit offenzustehen. Und da ich das Diner in Rivebelle vor mir hatte, stimmte mich das noch frivoler; in solchen Augenblicken hielt mein ganzes Denken sich an der Oberfläche meines Körpers, den ich anzog, auf, um auf die Frauenblicke, die in dem hellerleuchteten Restaurant auf mir verweilen sollten, ihn einen möglichst gefälligen Eindruck machen zu lassen; es konnte daher nicht die Dinge hinter farbiger Schicht vertieft erscheinen lassen. Wäre nicht unter meinem Fenster gleich einem Springbrunnen, einem Feuerwerk von Leben, der unablässige und sanfte Flug der Segler und Schwalben zu mir aufgestiegen (die Pausen zwischen den steilrechten Flügen, die aufschössen, verband die regungslose weiße Folge wagrechter Schwärme) – ohne den zauberischen und berückenden Vorgang, wie ihn, der mit der Wirklichkeit die Landschaft, die ich vor mir sah, verband, Natur und Ort bedingten, hätte mir der Gedanke kommen können, es seien jene Landschaften nichts als eine alltäglich erneuerte Auslese von Gemälden, die man nach Willkür und Gefallen an dem Orte, wo ich war, ausstellte, ohne daß sie einen notwendigen Zusammenhang mit ihm gehabt hätten. Das eine Mal war es eine Ausstellung japanischer Holzschnitte: neben dem winzigen Ausschnitt, in dem die Sonne, rot und rund wie der Mond, sich zeigte, erschien eine gelbe Wolke als See, gegen den schwarze Schwerter sich abhoben, wie auch die Bäume an seinem Ufer; ein Streifen zartes Rosa, wie ich seit meinem ersten Tuschkasten es nicht wieder gesehen, schwoll wie ein Strom daher, an dessen beiden Ufern Schiffe im Trockenen zu warten schienen, daß einer käme und sie ins Wasser zöge. Und mit einem Blick, in dem Verachtung, Langeweile und Frivolität sich spiegelten, dem Blick eines Amateurs oder einer Dame, die zwischen zwei Besuchen in der großen Welt schnell eine Galerie durchquert, sagte ich mir: »Interessant, wie anders wieder dieser Sonnenuntergang ist; aber schließlich: ich habe schon ebenso feine, ebenso erstaunliche gesehen wie diesen.« Noch mehr Freude hatte ich an Abenden, an denen ein Schiff vom Horizont, der ganz genau die gleiche Farbe hatte wie es selber, dermaßen eingesogen und verflüssigt ward, daß es wie auf einem Gemälde impressionistisch und so, als sei es aus demselben Stoffe wie er, sich machte; es war dann stets, als habe man sein Vorderteil sowie die Taue, in die es auslief, wie in Filigran aus der dunstigen Bläue des Himmels geschnitten. Manchmal füllte der Ozean mir beinahe das ganze Fenster, ein kleiner Streifen Himmel allein hob es heraus, und oben wurde er von einer Linie begrenzt, die ganz genau von gleichem Blau wie das Meer war, daher ich auch meinte, das sei immer noch Meer und nur der verschiedenen Beleuchtung wegen so anders gefärbt. An einem anderen Tage war das Meer nur in die untere Hälfte des Fensters hineingemalt, im übrigen war es bis an den Rand so mit Wolken erfüllt, die in zarten, wagrechten Schichten aneinander sich stießen, daß die Scheiben aussahen, als stellten sie mit Vorbedacht oder als Spezialität des Künstlers eine ›Wolkenstudie ‹ vor; die verschiedenen Scheiben der Bücherschränke zeigten indessen ähnliche Wolken, doch lagen sie in einem andern Teil des Horizonts und waren vom Licht ganz verschieden durchdrungen; sie sahen daher wie Reprisen ein und desselben Effekts aus, wie sie zeitgenössische Meister so lieben; sie alle schienen in verschiedenen Tageszeiten gemacht, konnten nun aber dank der Reglosigkeit von Kunstwerken alle auf einmal in ein und demselben Zimmer wie Pastelle unter Glas betrachtet werden. Und manchmal trat auch bei gleichmäßig grauem Himmel und Meer mit erlesenem Raffinement eine Spur von Rosa hinzu, und ein kleiner Schmetterling, der da am Fensterrande eingeschlafen war, schien mit den Flügeln auf diese ›Harmonie in Grau und Rot‹ im Genre Whistlers ganz unten die Lieblingssignatur des Meisters von Chelsea anzubringen. Das Rosa verschwand, es gab nichts mehr zu sehen. Ich stand einen Augenblick auf und zog, bevor ich von neuem mich hinlegte, die großen Vorhänge zu. Vom Bette aus sah ich oberhalb von ihnen den Streifen Helle, der noch verweilte, dunkler werden und immer schmäler; doch ohne Bedauern, ohne traurig ihr nachzuhängen, ließ ich so in den Vorhängen oben die Stunde absterben, in der ich gewöhnlich bei Tische saß; denn ich wußte, daß dieser Tag nicht wie die andern, sondern länger war, wie solche am Pol, die von der Nacht nur auf Minuten unterbrochen werden; ich wußte, daß die Dämmerung nur das verpuppte Strahlen war, wie es dank einer blendenden Metamorphose in den hellen Lichtern des Restaurants von Rivebelle heraustreten sollte. Ich sagte zu mir: »Es ist Zeit.« Ich reckte mich auf dem Bett, stand auf, machte mich vollkommen fertig; und ich gefiel mir in diesen müßigen, aller Bürden entledigten Augenblicken, da ich, während unten alle andern beim Essen saßen, die Kräfte, die der untätig verbrachte Tagesausgang in mir aufgespeichert hatte, nur darauf verwandte, meinen Körper abzutrocknen, einen Smoking anzulegen, die Krawatte zu binden, kurz all die Bewegungen auszuführen, die schon von der ersehnten Lust geleitet wurden, irgendeine Frau wiederzusehen, die mir beim letztenmal in Rivebelle aufgefallen war, mich scheinbar angesehen hatte und vielleicht einen Augenblick vom Tisch nur in der Hoffnung aufgestanden war, ich möchte ihr folgen; mit Freude suchte ich durch all das meine Erscheinung zu heben, um ungeteilt, aus vollem Herzen einem neuen, freien, sorglosen Leben mich anheimgeben zu können, in dem ich meine zögernde Natur auf die Gelassenheit Saint-Loups zu stützen und unter den Produkten aller Lande und den Gattungen der Naturgeschichte, wie sie die ungebräuchlichsten Gerichte, die uns mein Freund alsbald bestellen würde, uns vorführten, diejenigen auszuwählen dachte, die meine Gourmandise oder meine Phantasie versuchen würden.
Und ganz zuletzt kamen die Tage, an denen ich von der Mole nicht mehr durch den Speisesaal heimkehren konnte, denn seine Fenster standen geschlossen; draußen war Nacht; und angelockt vom unerreichbaren Gefunkel drinnen hing der Haufe der Neugierigen und Armen in schwarzen, vor Kälte zitternden Schwärmen an den glatten, strahlenden Wandungen des gläsernen Bienenkorbes.
Es klopfte; Aimé trat ein. Er hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, mir selbst die letzten Kurlisten zu überbringen.
Aimé hielt darauf, bevor er sich zurückzog, mir mitzuteilen, daß Dreyfus bestimmt schuldig sei: »Man wird alles erfahren,« sagte er mir, »dies Jahr nicht, aber nächstes Jahr: ein Herr hat es mir gesagt, der sehr intim mit dem Generalstab steht.« Ich fragte ihn, ob man sich nicht entschließen werde, umgehend noch vor Jahresende alles aufzudecken. »Da hat er seine Zigarette fortgelegt«, – Aimé machte nach, wie das gewesen war, er schüttelte den Kopf und den erhobenen Zeigefinger, wie sein Gast es getan, der hatte sagen wollen: man muß nicht zuviel auf einmal verlangen. – »›Nicht dies Jahr, Aimé,‹ sagt er und tippt mir dabei auf die Schulter, ›das ist nicht möglich. Aber Ostern, jawohl!‹« Und Aimé gab mir einen leichten Schlag auf die Schulter und sagte: »Sie sehn, ich zeige Ihnen ganz genau, wie er's gemacht hat«, – mochte nun diese Vertraulichkeit von Seiten einer derartig hochgestellten Persönlichkeit ihm geschmeichelt haben, oder mochte er bezwecken, daß ich in voller Kenntnis des Sachverhalts den Wert des Argumentes und den Grund zu neuer Hoffnung würdige.
Nicht ohne einen leichten Chok in der Herzgegend bemerkte ich auf der ersten Seite der Kurliste die Worte: ›Simonet und Familie‹. Es waren in mir alte Träume am Leben, die bis in meine Kindheit zurückgingen: in ihnen kam mir alle Zärtlichkeit, die ich im Herzen fühlte (die aber, wenn ich sie verspürte, sich von ihm nicht unterschied), von einem Wesen, welches so verschieden wie irgend denkbar von mir selber war. Dies Wesen konstruierte ich mir nun ein weiteres Mal und nahm dabei den Namen Simonet zu Hilfe sowie meine Erinnerung an die Harmonie, die die Gemeinschaft jener jungen Leiber beseelt hatte, wie sie, in einer sportartigen Prozession, antiker Meister und Giottos würdig, am Strande sich vor mir entfaltet hatte. Ich wußte nicht, welches von diesen jungen Mädchen Fräulein Simonet war, doch wußte ich, daß ich von Fräulein Simonet geliebt werde, daß ich mit Hilfe von Saint-Loup versuchen würde, ihre Bekanntschaft zu machen. Leider mußte er alle Tage nach Doncières zurück, da er nur unter dieser Bedingung seinen Urlaub hatte verlängern können: doch hatte ich, um seinen militärischen Verpflichtungen ihn abspenstig zu machen, mehr noch als auf seine Freundschaft für mich, auf eben jene Neugier des menschenkundlichen Naturforschers zählen zu dürfen gehofft, die ich so oft – auch ohne die Person, von der die Rede war, gesehen zu haben, und auf das bloße Hörensagen hin, bei einem Obsthändler säße ein hübsches Fräulein an der Kasse – in mir verspürt und die mich hatte wünschen lassen, mit einer neuen Varietät weiblicher Schönheit Bekanntschaft zu machen. Doch diese Neugier in Saint-Loup mit meiner Rede von den jungen Mädchen zu erwecken, hatte ich mir zu Unrecht erhofft. Denn schon längst war sie bei ihm durch die Liebe zu jener Schauspielerin paralysiert, deren Geliebter er war. Und wäre sie ihm selbst von ungefähr gekommen, so hätte er sie aus dem abergläubischen Gefühle unterdrückt, von seiner eignen Treue könne die seiner Geliebten abhängen. Und so fuhren wir denn zum Diner nach Rivebelle, ohne daß ich sein Versprechen besaß, tatkräftig sich um meine jungen Mädchen zu kümmern.
In den ersten Zeiten war, wenn wir hinkamen, die Sonne vor kurzem schon untergegangen, doch war es noch hell; im Garten des Restaurants, das noch nicht seine Lichter entzündet hatte, senkte Tageshitze sich nieder, setzte sich ab, als ginge das auf dem Boden von einem Gefäß vor sich, an dessen Wandungen die finstere, transparente Luft im frostigen Gerinnen so kompakt erschien, daß ein großer Rosenstrauch, der an der dunklen Mauer, die er rosenfarbig äderte, sich emporzog, aussah wie die Verzweigungen, die man im Innern eines Onyx gewahr wird. Bald stiegen wir dann erst, wenn es schon Nacht war, aus dem Wagen, oft sogar, wenn es schlechtes Wetter war und wir in der Hoffnung auf ein Nachlassen den Moment der Abfahrt hinausgeschoben hatten, bei Nacht erst in Balbec ein. Aber an solchen Tagen konnte ich ohne Trauer dem Rauschen des Windes zuhören, ich wußte, es bedeute nicht, ich müsse meinem Vorhaben entsagen und mich aufs Zimmer bannen lassen, wußte vielmehr, im großen Speisesaal des Restaurants, aus dem beim Eintritt die Musik einer Zigeunerbande uns entgegenschlagen werde, würden spielend die unzähligen Lichter des Dunkels und der Kälte Herr werden, wenn sie die großen goldenen Fontanellen ihnen applizierten. Und daher nahm ich froh neben Saint-Loup im Wagen Platz, der in dem strömenden Regen auf uns wartete. Seit einiger Zeit hatte Bergotte, durch die Versicherung, die er mir erneuerte, ich sei, was immer ich behaupten möge, geschaffen, um vor allen anderen die Freuden des geistigen Daseins zu kosten, in mir eine Hoffnung auf Dinge, die ich späterhin zustande bringen könne, erweckt, eine Hoffnung, die tagtäglich mein Verdruß Lügen strafte, mich an den Tisch zu setzen, um einen kritischen Essay oder einen Roman zu beginnen. »Aber«, so sagte ich zu mir selbst, »vielleicht ist schließlich das Vergnügen bei ihrer Abfassung kein unfehlbarer Maßstab für den Wert einer schönen Seite, es ist vielleicht nur ein beiläufiges Moment, das oft hinzutritt, dessen Fehlen aber nichts besagt. Vielleicht sind manche Meisterwerke unter Gähnen geschrieben worden.« Meine Großmutter beschwichtigte diese Zweifel mit der Erklärung, ich würde gut arbeiten und es würde mir Freude machen, wenn ich erst wohl wäre. Und unserm Arzte war es angezeigt erschienen, mich von den ernsten Gefahren zu verständigen, die mein Gesundheitszustand zur Folge haben konnte; er hatte mir alle hygienischen Vorsichtsmaßnahmen, die nötig waren, um ein Unglück zu vermeiden, angegeben, und daher hielt ich seit meiner Ankunft in Balbec mich selber unablässig unter ziemlicher Kontrolle. Alle Genüsse stellte ich hinter jenem Ziel zurück, das mir unendlich wichtiger erschien als sie: stark genug zu werden, um das Werk zustande zu bringen, welches ich vielleicht in mir trug. Nichts hätte mich veranlassen können, die Tasse Kaffee anzurühren, die mir die Nachtruhe genommen hätte, wie ich sie brauchte, um am folgenden Tage nicht müde zu sein. Kaum aber waren wir in Rivebelle angekommen, so wurde durch die neue lustvolle Erregung und durch den Eintritt in sehr besondre Region, in welche uns das, was da ausnahmsweise ist, versetzt – der Faden, der zur Weisheit mich geleiten sollte und so viel Tage lang geduldig ausgesponnen war, durchschnitten, und es verschwand der präzise Mechanismus hygienischer Vorsorge so durchaus, als gäbe es den nächsten Morgen nicht, noch jene hohen Ziele, welchen er diente. Während ein Lakai um meinen Überzieher bat, sagte Saint-Loup:
»Wird Ihnen nicht kalt sein? Sie sollten ihn vielleicht lieber anbehalten, es ist nicht sehr warm.«
»Nein, nein«, erwiderte ich und vielleicht fühlte ich die Kälte wirklich nicht, in jedem Falle aber wußte ich nichts mehr von der Furcht vor Krankheit, dem Gebote, nicht zu sterben, der Tragweite des Arbeitens. Ich gab meinen Paletot ab; beim Klange irgendeines kriegerischen Marschs, den die Zigeuner spielten, betraten wir den Saal und bewegten zwischen den Reihen der Tische, an denen man speiste, uns wie auf einer mühelosen Bahn des Ruhmes vorwärts. Wir spürten unsern Körper, wie unter den Rhythmen des Orchesters, das ihm militärische Ehren erwies, ihn warm die Freude durchpulste, und um den unverdienten Triumph geheimzuhalten, trugen wir ernste ungerührte Mienen und eine sehr lässige Gangart zur Schau; (wollten wir es doch nicht machen wie die Mädchen im Café-Chantant, die, ein gepfeffertes Couplet auf einen Militär marsch singend, in der Haltung eines siegreichen Generals auf die Szene stürmen).
Augenblicklich war ich ein neuer Mensch, nicht mehr Enkelkind meiner Großmutter (erst beim Herausgehen sollte ich von neuem ihrer denken), sondern für Augenblicke Bruder jener Kellner, die uns servieren sollten.
Das Maß an Bier, geschweige an Champagner, auf das ich es in Balbec nicht im Laufe einer Woche hätte bringen mögen (und doch war dort das Schätzbare dieser kräftigen Getränke mit aller Deutlichkeit als ein Vergnügen – aber eins, das leicht sich opfern ließ,– mir unverstellt, in aller Ruhe, bewußt), hier war es nach einer Stunde erreicht, und es traten noch ein paar Tropfen Portwein hinzu, auf deren Geschmack zu kommen ich viel zu zerstreut war; und dem Geiger, der eben gespielt hatte, gab ich zwei Louis, an denen ich seit einem Monat zu einer Anschaffung gespart, die mir jetzt nicht mehr einfiel. Einige Kellner, welche servierten, waren losgelassen zwischen den Tischen und hasteten davon, so schnell es ging; auf der flachen Hand hielten sie einen Gang, der angerichtet war, und ihn nicht fallen zu lassen, schien der einzige Zweck solcher Rennen. Und in der Tat, der Schokoladenauflauf kam, ohne gestürzt zu sein, an seinen Bestimmungsort, und die Kartoffeln à l'anglaise lagen, dem Trab zum Trotz, der sie erschüttert hatte, wie vor dem Ablaufen um die Lammkeule à la Pauilhac geschichtet. Mir fiel unter den Servierkellnern einer auf; er war sehr groß, mit wundervollem schwarzen Haar befiedert, sein Gesicht, als sei es mit Schminke, überdeckt von einem Teint, der mehr an gewisse Vogelarten als ans Geschlecht der Menschen denken ließ; er rannte unaufhörlich, und – man fühlte sich versucht zu sagen: ziellos von einem Ende des Saales zum andern, man mußte an einen von den »Ära« denken, wie sie die großen Vogelhäuser der Zoologischen Gärten mit ihrem glühenden Kolorit und ihrer unverständlichen Aufregung erfüllen. Bald aber ordnete sich dieses Schauspiel, für meine Augen wenigstens, auf eine edlere, gemessenere Weise. Es legte sich die ganze schwindelerregende Betriebsamkeit und wandelte sich in gesetzte Harmonie. Ich blickte auf die runden Tische, die ohne Zahl versammelt standen und das Restaurant wie ebensoviele Planeten erfüllten, wie man ehemals auf allegorischen Darstellungen sie zeichnete. Es fand auch eine unwiderstehliche Anziehung zwischen diesen verschiedenen Gestirnen statt, und die Speisenden hatten an jedem Tische Augen nur für die Tische, wo sie selbst nicht saßen, wenn man von einem oder anderen reichen Gastgeber absieht, dem es gelungen war, einen berühmten Schriftsteller herbeizuholen, und der nun das Erdenkliche versuchte, um dank der Wunderkraft des rotierenden Tisches belanglose Bemerkungen aus ihm zu ziehen, die das Entzücken der Damen machten. Die Harmonie dieser astralen Tische war nicht der unablässigen Revolution der zahllosen Bedienten im Wege, die, weil sie aufrecht waren, nicht saßen wie die Speisenden, in einer höheren Sphäre ihren Gang nahm. Gewiß lief einer, um Hors d'œuvres heranzuholen, den Wein zu wechseln, neue Gläser zu bringen. Aber dieser speziellen Ursachen unbeschadet, ging doch zuletzt aus dem ununterbrochenen Laufe zwischen den runden Tischen das Gesetz dieser wohlgeordneten schwindelnden Kreisbahn hervor. Hinter einem kompakten Aufbau aus Blumen saßen zwei schauerliche Kassiererinnen über nicht enden wollenden Berechnungen; es war, als seien das zwei Magierinnen, die dabei waren, mittels astrologischer Berechnungen im voraus Katastrophen zu ermitteln, wie sie in dieser nach Gesetzen mittelalterlicher Wissenschaft entworfenen Himmelskuppel manchmal sich ereignen konnten.
Mir taten all die anderen Gäste etwas leid, denn ich fühlte, für sie waren die runden Tische nicht Planeten, sie hatten an der Dingwelt keine Zerlegung vorgenommen, die uns von ihrem altgewohnten Augenschein befreit und Analogien uns wahrzunehmen gestattet. Sie meinten, sie säßen mit dem oder jenem bei Tisch, das Essen könne ungefähr soundso viel kosten, und morgen würden sie von vorn anfangen. Und sie schienen ganz ohne Verständnis für einen langsam daherkommenden Zug jungen Personals, das wohl im Augenblick nicht dringend benötigt wurde und Brot in Körben wie bei einer Prozession trug. Einige, die zu jung und abgestumpft von den Kopfnüssen waren, die im Vorübergehen die Oberkellner ihnen versetzten, ließen ihr Auge melancholisch einem fernen Traum nachhängen und fanden nur Trost, wenn irgendein Gast vom Hotel Balbec, wo sie früher in Dienst gestanden hatten, sie wiedererkannte, das Wort an sie richtete und ihnen persönlich Auftrag gab, den Champagner, der ungenießbar sei, abzuräumen – eine Verrichtung, auf die sie stolz waren.
Ich hörte auf das dumpfe Summen meiner Nerven; es durchzog sie ein Wohlsein, das nichts mit den äußeren Dingen zu tun hatte, welche es einem mitteilen können; die leiseste Veränderung, die ich meiner Körperlage, der Richtung meiner Aufmerksamkeit gab, genügte, es mir bemerkbar zu machen, wie dem geschlossenen Auge leichter Druck die Wahrnehmung von einer Farbe gibt. Ich hatte schon viel Portwein getrunken, und wenn ich noch mehr haben wollte, geschah es weniger wegen des Behagens, das ich mir von den weiteren Gläsern versprach, als des Behagens wegen, das die schon genossenen Gläser in mir erweckt hatten. Ich überließ es ganz der Musik, mein lustvolles Genießen jeder Note zuzuführen, auf die es dann gelehrig sich niederließ. Und wenn dies Restaurant in Rivebelle darin einer chemischen Fabrik glich, die in großen Mengen Körper zur Verfügung hält, welche man in der Natur nur durch Zufall und sehr selten antrifft –, daß es in einem Augenblick in sich mehr Frauen, aus denen mir ein fernes Glück entgegen winkte, vereinigte, als je das Glück des Flanierenden mir hätte in einem Jahre begegnen lassen, so war auch das Potpourri von Walzern, deutschen Operetten, Café-Chantant-Liedern, die ich nicht kannte, war diese Musik an sich selbst wie ein Lustort in Wolken, der höher als der andere lag und mehr berauschte. Jedwedes Motiv nämlich, ein Wesen ganz für sich, wie eine Frau es ist, hielt doch nicht, wie eine solche es getan hätte, die geheime Wollust, die in ihr lag, für irgendeinen Bevorzugten zurück: sie trug es mir an und blinzelte mir zu, kam elegant oder gemein auf mich zu, ging mich an und streichelte mich, als sei ich mit einem Schlage verführerischer, einflußreicher oder vermögender geworden; ich aber fand dann doch an diesen Weisen etwas Quälendes; das kam daher, daß alles selbstlose Gefühl für Schönheit, aller Reflex des Verstandes ihnen fremd war; es gab für sie nur sinnliche Lust. Und die erbarmungsloseste, ausgangloseste Hölle sind sie dem Unseligen, der da eifersüchtig ist, wenn sie ihm diese Lust – die Lust der Frau, welche er liebt, bei einem andern – als die einzige Sache vor Augen stellen, die auf der Welt für die, die ihn ganz ausfüllt, existiert. Während ich aber halblaut die Töne dieser Weise wiederholte und ihren Kuß ihr zurückgab, wurde die ihr allein eigene Wollust, die sie mich kosten ließ, mir so teuer, daß ich von meinen Eltern fortgegangen wäre, um dem Motiv in jene seltsame Welt zu folgen, die es im Unsichtbaren mit Linien, die abwechselnd schmelzend und lebhaft waren, erbaute. Mächtiger und fast unwiderstehlich kam ich mir dabei vor, obwohl an solcher Lust nichts ist, was dem, welchem sie zuwächst, höheren Wert verliehe; denn niemand als er selbst wird ihrer inne, und jedesmal im Leben, Wenn wir einer Frau mißfallen haben, der wir auffielen, wußte sie gar nicht, ob wir im Augenblick solch innere subjektive Glückseligkeit empfanden oder nicht; sie hätte mithin nichts an ihrer Einschätzung unserer Person geändert. Mir aber schien, meine Liebe sei nichts Mißfälliges mehr, man könne nicht über sie lächeln, sie sei vielmehr genau so rührend schön und verlockend wie diese Musik, sei wie ein sympathetisches Medium, in welchem die, der meine Liebe galt, und ich uns plötzlich als innige Vertraute begegnen müßten.
Das Restaurant wurde nicht nur von Frauen der Halbwelt frequentiert, sondern auch von elegantestem Publikum aus der Gesellschaft, das hier den Fünf-Uhr-Tee nahm oder große Diners veranstaltete. Der Tee wurde in einer langgestreckten verglasten Galerie serviert, die sich als enger Korridor vom Vestibül zum Speisesaal erstreckte; die eine Seite lief am Garten entlang, von dem sie, wenige steinerne Säulen abgerechnet, allein durch Scheiben, die man hin und wieder geöffnet hatte, abgetrennt war. So gab es, außer recht häufigem Zugwind, unvermittelten, jähen Einfall von Sonne, die wieder verschwand, und von neuem blendende Helle, die fast unmöglich machte, Damen, die da saßen, zu erkennen; das hatte zur Folge, daß die, die dort an je zwei Tischen längs des ganzen engen Halses gepfercht saßen, bei jeder Bewegung, unterm Teetrinken, oder wenn sie Grüße untereinander tauschten, derartig schillerten, daß man an ein Reservoir, an eine Reuse denken mußte, wo der Fischer die blitzenden Fische, die er gefangen hat, gestapelt hält: sie sind nur halb im Wasser, und unterm Sonnenlicht schillern sie irisierend vor unsern Augen.
Einige Stunden später wurden, indes es noch hell war, während des Abendessens, das natürlich im Speisesaale aufgetragen wurde, die Lichter entzündet, und vor sich hatte man sodann im Garten neben den Pavillons, die da im Schein des Zwielichts wie die fahlen Gespenster des Abends erschienen, Buchengänge, in deren meergrünem Laub die letzten Strahlen spielten, von dem erhellten Raume aus, in dem man zu Nacht aß, wirkten sie jenseits der Scheiben – nicht mehr wie man es von den Damen hätte sagen können, die am ausgehenden Nachmittag längs des blaugolden schimmernden Korridors ihren Tee genommen hatten, wie eingefangen in ein feuchtes glänzendes Netz, sondern – wie Vegetation eines blaßgrünen Riesenaquariums unter künstlicher Beleuchtung. Man erhob sich von Tische; und wenn die Gäste während der Dauer der Mahlzeit zwar unablässig nach den Gästen des benachbarten Diners sich umgeschaut, sie wiederzuerkennen sich bemüht und ihre Namen sich hatten nennen lassen, doch schließlich lückenlose Kohäsion an ihrem eignen Tisch sie festgehalten hatte, verlor die Attraktion, die sie um den, der diesen Abend für sie Wirt war, kreisen ließ, sehr viel von ihrer Kraft, sowie sie, um den Kaffee einzunehmen, sich in den Korridor verfügten, der dem Nachmittagstee gedient hatte; oft kam es vor, daß im Momente der Passage eine Dinergesellschaft unterwegs eines oder mehrere ihrer Korpuskeln einbüßte; sie lösten, weil sie allzu intensiv die Anziehungskraft des rivalisierenden Diners verspürt hatten, für einen Augenblick sich los und wurden durch Herren oder Damen ersetzt, die gekommen waren, um Freunde zu begrüßen, bevor sie wieder ihrem Kreis sich zuwandten mit den Worten: »Ich muß machen, daß ich zu Herrn X ... komme, dessen Gast ich für heute abend bin.« Und einen Augenblick lang hätte man vermeinen können, zwei Blumensträuße, die gesondert sind, haben einige ihrer Blumen untereinander ausgetauscht. Dann wurde auch der Korridor allmählich leer. Weil selbst nach dem Diner oft noch ein heller Schein am Himmel war, beleuchtete man diesen langen Korridor nicht, und weil die Bäume, welche außen hinter den Scheiben sich vorbeugten, ihn so dicht streiften, schien es, als sei er die Allee eines finsteren, waldigen Gartens. Manchmal versäumte dort im Schatten eine Frau sich bei Tische. Als ich hindurchkam, um herauszugehen, erkannte ich dort eines Tages inmitten eines Kreises, der mir nicht bekannt war, die schöne Prinzessin von Luxembourg. Ich grüßte, ohne stehenzubleiben. Sie erkannte mich wieder und neigte lächelnd den Kopf; in einer anderen, hoch über diesem Gruße gelegenen Sphäre ließ sie einige melodische Worte an meine Adresse ihrem Munde entsteigen; sie mochten ein etwas ausgedehntes »Guten Abend« darstellen, wollten aber nicht sagen, ich solle stehenbleiben, sondern den Gruß nur vervollständigen, einen gesprochenen Gruß aus ihm machen. Aber die Worte blieben so unvernehmlich und der Tonfall, der allein zu mir drang, hielt auf so süße Weise an und dünkte mich so melodisch, daß es war, als habe im finstern Geäste der Bäume eine Nachtigall begonnen zu schlagen. Manchmal beschloß Saint-Loup, ins Kasino eines benachbarten Badeortes zu fahren, um den Abend mit einer befreundeten Gesellschaft zu beenden, auf die wir gestoßen waren; wenn er dann, ehe er mit ihnen fortging, mich allein in einen Wagen setzte, gab ich dem Kutscher auf, zu fahren so schnell es nur ginge, damit ich minder lange Zeit ohne die Hilfe eines andern zu verbringen hatte, der mich der Mühe überhob, gewissermaßen Gegendampf zu geben und die Passivität fallen zu lassen, in die ich mich wie in ein Triebwerk verfangen hatte, und selber meiner Sensibilität die Reize zur Verfügung zu stellen, die mir seit meiner Ankunft in Rivebelle von anderen kamen. Ein möglicher Zusammenstoß mit einem Wagen, der uns auf diesen Pfaden, wo nur für einen Platz war, in der stockfinstern Nacht hätte entgegenkommen können, der unzuverlässige, oft aufgelockerte Boden der Klippe, ihr naher, steilrechter Absturz ins Meer – nichts von alledem stieß in mir auf den kleinen Kraftaufwand, der nötig gewesen wäre, das Bild von der Gefahr und Furcht vor ihr meinem Verstande vorzuhalten. So wenig es der Wunsch nach Ruhm, vielmehr die Gewohnheit zu arbeiten ist, was uns dazu bringt, ein Werk zu vollführen, so wenig ist es das Beschwingtsein im gegebenen Augenblick, vielmehr der kluge Vorbedacht in den vergangenen, was uns hilft vorm Kommenden uns zu schützen. Hatte ich schon, in Rivebelle angekommen, die Krücken des Verstandes und der Selbstkontrolle, die unserer hinfälligen Natur auf geradem Wege forthelfen, fortgeworfen und damals schon gewissermaßen im Zustande moralischer Ataxie mich befunden, so hatte der Alkohol vollends meine Nerven aufs äußerste gespannt und den gerade gegenwärtigen Augenblicken den tiefsten Reiz gegeben; aber das hatte die Wirkung nicht, zu ihrer Verteidigung mich fähiger, ja auch nur entschlossener zu machen, denn da ich in meiner Exaltation sie tausendmal mehr als den Rest meines Lebens schätzte, hob ich sie draus hervor und isolierte sie; ich war ins Gegenwärtige eingeschlossen wie Helden und Betrunkene; für den Augenblick lag mein vergangenes Dasein im Dunkeln, warf nicht jenen Schatten seiner selbst mehr vor sich hin, den wir Zukunft nennen; meinen Lebenszweck setzte ich nicht mehr in die Verwirklichung von Träumen aus dem vergangenen Dasein, sondern ins vollste Glücksgefühl des gegenwärtigen, und über dieses sah ich nicht hinaus. Ein Widerspruch, der doch nur scheinbar war, ließ mich im Augenblick der intensivsten Lust, in dem ich spürte, daß mein Leben glücklich sich gestalten könne und es in meinen Augen höheren Wert hätte haben müssen, nun, da ich von Besorgnissen ganz befreit war, die es bisher mir hatte einflößen können, – ohne Besinnen es jedem Unglücksfall, der sich von ungefähr ereignen konnte, preisgeben. Doch damit schloß ich, nebenbei gesagt, nur in die kurze Spanne eines Abends die Fahrlässigkeit ein, wie sie bei andern im ganzen Dasein aufgelöst ist, einem Dasein, in dessen Ablauf sie jeden Tag ohne Not das Risiko einer Seereise, einer Spazierfahrt im Aeroplan oder im Auto laufen, während zu Hause auf sie das Geschöpf wartet, das an ihrem Tode zerbrechen würde oder noch der Hinfälligkeit ihres Hirns das Buch verhaftet ist, dessen bevorstehende Abfassung ihr einziger Lebenszweck war. Und nicht anders war es im Restaurant zu Rivebelle an den Abenden, an denen wir dort blieben; ich sah nur noch in einer Ferne, die nichts Wirkliches mehr hatte, meine Großmutter, meine künftige Existenz, die Bücher, die ich zu schreiben hatte; ganz ungeteilt war ich an den Geruch der Frau, die sich am Nachbartisch befand, an die Aufmerksamkeiten der Oberkellner, an die Melodienführung des Walzers, den man spielte, hingegeben; ich haftete an jeder gerade gegenwärtigen Empfindung, war nicht ausgedehnter als sie und hatte kein anderes Ziel, als nicht von ihr mich trennen zu lassen, und wäre jemand mit der Absicht eingetreten, mich zu töten, wäre ich an ihr klammernd umgekommen, hätte mich ohne den leisesten Versuch einer Verteidigung, ja, ohne mich zu rühren, massakrieren lassen wie eine Biene, der, von Tabakrauch betäubt, nichts mehr daran liegt, den Vorrat der in ihr aufgespeicherten Bemühungen, die Hoffnung ihres Bienenvolkes, zu bewahren.
Es muß übrigens gesagt werden, daß die offenkundige Belanglosigkeit, der die gewichtigsten Dinge durch den Kontrast zu meiner heftigen Exaltation verfielen, zuletzt sogar Fräulein Simonet und ihre Freundinnen einbegriff. Sie kennen zu lernen, schien mir jetzt leicht, aber unwichtig, denn nur die augenblickliche Empfindung besaß dank ihrer ungewöhnlichen Kraft, der Freude, die ihre geringsten Veränderungen, ja selbst ihre schlichte Fortdauer mir verursachte, für mich Bedeutung; alles übrige: Verwandte, Arbeit, Zerstreuungen, junge Mädchen aus Balbec, war nicht gewichtiger als eine Flocke Schaum in starkem Wind, der sie nicht dazu kommen läßt sich abzusetzen, und existierte nicht mehr, es sei denn in Beziehung auf jene Gewalt im Innern: der Rausch macht ein paar Stunden lang den subjektiven Idealismus, den absoluten Phänomenalismus wahr; alles ist nur noch Erscheinung und existiert nur noch als Funktion unseres hohen, erhabenen Selbst. Nicht etwa – dies sei nebenbei gesagt –, daß nicht eine wahre Liebe, wenn wir eine haben, in solchem Zustand in uns erhalten bleiben könnte. Doch es entgeht uns nicht, daß neue Druckverhältnisse die ursprünglichen Dimensionen dieses Gefühls so verändert haben, als sei es in ein neues Milieu verbracht, wir können es nicht mehr ansehn wie vordem. Wohl finden wir diese selbe Liebe wieder, jedoch sie steht an einem anderen Orte, sie lastet nicht mehr auf uns, läßt sich an dem Gefühl, das ihr der Augenblick entgegenbringt, genügen; und uns tut es genug, weil wir um alles, was nicht aktuell ist, uns nicht kümmern. Doch leider wirkt der Faktor, welcher so die Werte verändert, auf sie verändernd nur in der Stunde der Trunkenheit. Die Leute, die so gleichgültig waren, daß wir wie Seifenblasen sie vor uns bliesen, werden am andern Morgen ihre kompakte Gestalt wiederhaben; man wird von neuem sich an Arbeiten begeben müssen, die nichts mehr zu bedeuten hatten. Noch mehr fällt ins Gewicht, daß, was in diesen Stunden uns regiert, jene Mathematik des Morgen ist, die da dieselbe ist wie des Gestern, mit Aufgaben, die uns unerbittlich weiter behelligen werden. Das wird für alle andern, nur für uns selbst nicht, deutlich. Wenn in unserer Nähe eine anständige oder uns feindlich gesinnte Frau ist, scheint jene Sache – die noch am Vorabend so schwer schien – will sagen, es dahin zu bringen, daß wir ihr gefallen – uns jetzt millionenfach leichter, ohne es im geringsten geworden zu sein, denn nur vor unserm eignen Auge, vor unserm eignen inneren Auge sind wir anders geworden. Und sie ist augenblicklich ebenso verstimmt darüber, daß wir uns eine Vertraulichkeit gegen sie herausgenommen, wie wir am folgenden Tag es sein werden, weil wir dem Chasseur hundert Franken gegeben haben; und auch der Grund (nur ist er bei uns selbst verspätet eingetreten) ist derselbe: Das Nicht-berauscht-sein.
Ich kannte keine von den Frauen, die in Rivebelle waren; weil sie zu meinem Rausche gehörten, wie die Reflexe zum Spiegel gehören, schienen sie mir tausendmal wünschbarer als das weniger und weniger existente Fräulein Simonet. Eine junge Blonde, welche betrübt allein saß, sah einen Augenblick unter ihrem Strohhut, der mit Feldblumen besetzt war, mich träumerisch an; und sie schien mir angenehm. Dann kam die Reihe an eine andere, an eine dritte, endlich an eine Brünette mit strahlendem Teint. Fast alle waren zwar nicht mir, aber Saint Loup bekannt. Bevor er die Bekanntschaft seiner jetzigen Geliebten gemacht hatte, hatte er in der Tat soviel in dem beschränkten Kreis der Lebewelt verkehrt, daß unter all den Frauen, die an solchen Abenden in Rivebelle zu Nacht aßen und deren viele zufällig dasaßen – manche von ihnen waren an die See gekommen, um dort ihren Geliebten zu treffen, andere, um zu versuchen, einen zu finden –, kaum eine war, die er nicht kannte, mit der nicht er selber oder einer seiner Freunde zum wenigsten eine Nacht verlebt hatte. Wenn sie mit einem Mann zusammen waren, grüßte er sie nicht, und wenn sie ihrerseits ihn auch mehr als einen andern beachteten, weil in ihren Augen seine bekannte Gleichgültigkeit gegen jedwede Frau, die nicht seine Aktrice war, ihm eine besondere Note verlieh, so taten sie doch, als kennten auch sie ihn nicht. Und eine flüsterte: »Der kleine Saint-Loup. Er soll immer noch seine Hure lieben. Die große Liebe. Was für ein hübscher Kerl! Ich finde ihn jedenfalls fabelhaft; und wie chik! Es gibt doch immer noch Frauen, die ein verdammtes Glück haben. Eine chike Nummer, alles in allem. Ich kenne ihn gut aus der Zeit, wo ich mit d'Orleans zusammen war. Sie sind ganz unzertrennlich gewesen. Und damals hat er gelebt! Aber das ist jetzt vorbei; er macht ihr keine Geschichten. Ja, sie kann wirklich von Glück sagen. Und ich frage mich, was er nur an ihr findet. Er muß trotz allem doch ein kolossaler Idiot sein. Füße hat sie wie Kähne, einen Schnurrbart à l'américaine und schmutzige Dessous! Ich glaube, nicht mal eine kleine Arbeiterin würde ihre Hosen tragen wollen. Guck mal, was für Augen er hat, man würde durchs Feuer für so einen Mann gehn. Still, sei ruhig, er hat mich wiedererkannt, er lacht! oh! er hat mich genau wiedererkannt. Man braucht ihm von mir nur zu reden.« Zwischen ihnen und ihm fing ich einen Blick des Einverständnisses auf. Mir wäre lieb gewesen, er hätte mich diesen Frauen vorgestellt, damit ich mir ein Rendezvous hätte erbitten und sie es mir hätten gewähren können, auch wenn es unannehmbar für mich gewesen wäre. Denn sonst mußte ihr Gesicht in meinem Gedächtnis jenes Teils seiner selbst – als sei er unter einem Schleier verborgen – entbehren, der bei allen Frauen verschieden ist, den wir bei keiner, wenn wir ihn nicht selbst gesehen haben, ersinnen können, der nur im Blick erscheint, der zu uns geht, unseren Wunsch gelten läßt und ihm Gewährung verspricht. Und doch galt, selbst so gemindert, ihr Gesicht mir mehr als das von Frauen, welche mir als sittsam bekannt gewesen wären; es kam mir nicht, wie das von solchen glatt, aus einem Stück, wie ohne Hintergründe, ohne Dichte vor. Natürlich war es für mich nicht, was es für Saint-Loup sein mußte, den das Gedächtnis unter der ihm transparenten Gelassenheit der unbewegten Züge, welche ihn nicht zu erkennen schienen, oder unter dem banalen Gruße, den man auf gleiche Art an jeden andern hätte richten können, das Bild eines wollüstigen Mundes zwischen gelöstem Haar und halbgeschlossenen Augen sehen ließ, ein schweigendes Gemälde, wie jene, welche die Maler mit einer dezenten Darstellung verdecken, um sie der Masse der Besucher zu entziehen. Dagegen blieben natürlich für mich, der da fühlte, daß nichts von meinem Wesen in die eine oder andere jener Frauen gedrungen war, um auf den unbekannten Bahnen, welchen sie in ihrem Leben folgen sollte, mitgeführt zu werden, jene Gesichter verschlossen. Doch mir genügte schon zu wissen, daß sie sich öffnen ließen, um sie so hoch einzuschätzen, wie ich es nicht getan haben würde, wenn sie nichts als schöne Medaillen gewesen wären, indes sie nun Medaillons waren, die in sich Liebesandenken bargen. Sah ich dann Robert näher an, der sich kaum ruhig zu verhalten wußte, wenn er saß, und unterm Lächeln des Höflings seine wilde Begier, als Krieger zu handeln, verhehlte, so sagte ich mir, wie sehr der energische Knochenbau seines dreieckigen Gesichts dem seiner Vorfahren gleichen mochte, wieviel mehr er für einen wilden Bogenschützen denn für einen zarten Literaten geschaffen war. Unter der feinen Haut trat die gewagte Konstruktion, die feodale Architektur hervor. Sein Kopf gemahnte an die Türme alter Zwingburgen, deren unbenutzte Schießscharten sichtbar bleiben, die im Innern aber als Bibliothek eingerichtet sind.
Wenn ich nach Balbec zurückkehrte, so sagte ich von mancher unter jenen Unbekannten, der er mich vorgestellt hatte, im stillen bei mir selber, ohne eine Sekunde innezuhalten und doch wieder fast ohne es zu merken: »Was für eine entzückende Frau!« wie man eben einen Refrain singt. Gewiß waren diese Worte eher von einer bestimmten Verfassung als von einem Urteil, welches Bestand hätte, eingegeben. Dem ungeachtet: hätte ich tausend Franken bei mir gehabt und noch um diese Zeit ein Juwelierladen offen gestanden, so hätte ich der Unbekannten einen Ring gekauft. Wenn derart die Lebensstunden uns auf allzu verschiedenen Ebenen abrollen, so kann es einem geschehen, daß man an Menschen, die am nächsten Tage ohne Interesse scheinen, sich selber viel zu weitgehend vergibt. Aber man fühlt sich für das, was man am Vorabend ihnen sagte, verantwortlich und will seinem Versprechen Ehre machen.
An solchen Abenden kam ich später nach Hause und war dann froh, in meinem Zimmer, das nicht mehr feindlich auf mich wirkte, das Bett zu erblicken, von dem ich am Tag meiner Ankunft gemeint hatte, ich würde mich nie darin ausruhen können; und nun suchten meine Gliedmaßen in ihrer Ermattung dort ihre Stütze; Schenkel, Hüften und Schultern, eines nach dem andern, versuchten nun, ihrem ganzen Schwergewicht nach, an das Leinen sich anzulegen, das die Matratze umgab, als sei die Müdigkeit in mir ein Plastiker und wolle von einem ganzen menschlichen Körper den Abguß herstellen. Aber einschlafen konnte ich nicht; ich fühlte, wie der Morgen herannahte; in mir wohnten nicht mehr die Ruhe, die gute Gesundheit. In meiner Hinfälligkeit vermeinte ich, nie werde ich sie wiederfinden. Ich würde lange schlafen müssen, um sie zurückzugewinnen. Doch wäre ich auch eingeschlafen, hätte mich unter allen Umständen das Sinfoniekonzert zwei Stunden später geweckt. Mit einemmal schlief ich ein, ich verfiel jenem schweren Schlummer, in dem sich uns die Rückkehr eigener Jugend, die Wiedergegenwart verlebter Jahre, entschwundener Gefühle, die Desinkarnation, die Seelenwanderung, die Beschwörung der Toten, die Wahngebilde des Irrsinns, der Regreß auf frühere Naturstufen darstellen (sagt man doch, daß wir im Traume häufig Tiere sehen, dabei vergißt man aber beinahe stets, daß wir selber als Tier in ihm vorkommen, dem jene Vernunft fehlt, welche die Dinge in den hellen Schein der Gewißheit rückt; wir stellen vielmehr dort im Schauspiel des Lebens nur eine zweifelhafte Vision dar, die jeden Augenblick von dem Vergessen in das Nichts dahingerafft wird; was eben Wirklichkeit gewesen ist, vergeht vor dem, was nach ihm kommt, wie eine Projektion der Laterna magica vor der nächstfolgenden, wenn eine neue Platte eingesetzt wird), so also stellen sich alle die Mysterien uns dar, von denen wir nichts zu wissen vermeinen, indessen wir in Wirklichkeit fast jede Nacht in sie so gut wie in jenes andere große Mysterium des Unterganges und der Wiederauferstehung initiiert werden. Unsteter war die schichtenweise, schweifende Belichtung der verfinsterten Zonen meines vergangenen Seins durch die Verdauung des schweren Abendessens in Rivebelle geworden, und so wurde aus mir ein Wesen, das kein größeres Glück als die Begegnung mit Legrandin wußte, den ich soeben im Traume gesprochen hatte.
Darauf verbarg sich mir sogar mein eigenes Leben völlig hinter einem neuen Dekor, der hart am Bühnenrande niederhing wie der, vor dem die Schauspieler eine Einlagegeben, während dahinter die Kulissen gewechselt werden. Das Intermezzo, in welchem ich nun zu spielen hatte, war im Geschmack der orientalischen Geschichten; ich wußte darin nichts von meinem vergangenen Leben noch von mir selber – das tat der Vorhang, welcher dazwischen, dicht hinter mir, niederhing; ich war nur irgendwer, der Stockprügel bekam und mannigfache Züchtigungen einer Verfehlung wegen durchzumachen hatte, die mir entging, aber darin bestand, daß ich zuviel Portwein getrunken hatte. Mit einem Male wachte ich auf; ich merkte, daß ich dank meinem langen Schlummer das Sinfoniekonzert nicht gehört hatte. Es war schon Nachmittag; dessen vergewisserte ich mich auf meiner Uhr, nachdem ich mich mehrfach angestrengt hatte, mich aufzurichten; diese Versuche waren zuerst vergeblich und unterbrochen vom Zurückfallen auf das Kopfkissen; aber es war ein kurzes Zurückfallen, wie es dem Schlummer ebensowohl wie den anderen Arten des Rausches folgt, mag nun der Wein oder eine Rekonvaleszenz sie verursachen; im übrigen war ich, noch ohne die Uhr zu befragen, gewiß, daß Mittag vorüber sei. Gestern abend war ich zuletzt nichts weiter als ein ausgeleertes Geschöpf ohne Eigengewicht; und da man gelegen haben muß, um sich setzen zu können, und geschlafen haben, um schweigen zu können, so konnte ich nicht aufhören, mich zu bewegen und zu reden, ich hatte keinerlei Dichte, keinerlei Schwerpunkt mehr, war nun einmal im Gange und hatte den Eindruck, bis auf den Mond hätte ich meine düstre Bahn fortsetzen können. Wenn aber, während ich schlief, meine Augen nicht den Stunden gefolgt waren, hatte doch der Leib sie zu berechnen gewußt; er hatte nicht auf einem oberflächlich hingeworfenen Zifferblatt die Zeit gemessen, sondern durch das zunehmende Gewicht meiner sich wiederherstellenden Kräfte, die er wie ein solider Regulator Zahn für Zahn vom Gehirn in die Tiefe meines übrigen Körpers hatte hinabsteigen lassen, und dort häufte sich jetzt bis über meine Knie der unberührte Überfluß ihrer Reserven. Wenn es wahr ist, daß früher das Meer die Welt war, in der wir gelebt haben und daß wir unser Blut, um die verlorenen Kräfte wiederzugewinnen, mit ihm in Berührung bringen müssen, so ist es mit dem Vergessen nicht anders; man scheint vom Zeitverlaufe einige Stunden lang abwesend; aber die Kräfte, welche indessen sich eingestellt haben, ohne vergeben zu werden, sind durch ihre Menge für ihn ein ebenso genauer Maßstab wie die Gewichte des Regulators oder die stürzenden Häufchen der Sanduhr. Man entringt sich, nebenbei gesagt, solchem Schlummer nicht leichter als einem übermäßig ausgedehnten Zustande des Wachseins – so groß ist die Beharrungstendenz aller Zustände, und wenn es wahr ist, daß gewisse Narkotika den Schlaf befördern, so ist »lang schlafen« ein noch weit stärkeres Narkotikum, welches das Erwachen später sehr schwer macht. Wie ein Matrose wohl die Mole sieht, an der er seinen Kahn festmachen will, und dennoch weiter von den Wellen hin und her geworfen wird, so kam mir zwar wohl der Gedanke, nach der Uhr zu sehen und aufzustehen, aber mein Leib ward jeden Augenblick von neuem in den Schlummer zurückgeworfen; Landen war schwierig, und bevor ich mich aufsetzen und nach meiner Uhr greifen konnte, um ihre Zeitangabe mit der zu vergleichen, die die aufgestapelten Kräfte in meinen vor Müdigkeit zerbrochenen Beinen mir lieferten, fiel ich noch zwei- oder dreimal auf mein Kissen zurück.
Endlich konnte ich klar sehn: »zwei Uhr nachmittag!«; ich klingelte, verfiel aber sogleich in einen Schlummer; der mußte diesmal unermeßlich viel länger gedauert haben, wenn ich aus dem Gefühl beim Erwachen, dem Ausgeruhtsein und der Vision einer endlosen Nacht, die ich durchzogen haben mußte, hätte schließen wollen. Da aber das Erwachen durch den Eintritt von Françoise kam, den seinerseits mein Klingeln veranlaßt hatte, so hatte dieser neue Schlummer, der mir länger als der andere erschienen und mir so wohltuend gewesen war, nur eine halbe Minute gedauert.
Meine Großmutter öffnete die Tür meines Zimmers, und ich stellte ihr einige Fragen, die die Familie Legrandin betrafen.
Zu sagen, Ruhe und Gesundheit hätte ich wieder erreicht, wäre nicht ausreichend gewesen; denn was am Abend vorher sie von mir entferntgehalten hatte, war nicht schlechthin nur Abstand gewesen: die ganze Nacht über hatte ich gegen eine Gegenströmung anzukämpfen gehabt; zudem befand ich mich nicht nur in ihrer Nähe –, sie waren in mich selber eingedrungen. An ganz bestimmten Stellen meines leeren Kopfes, der eines Tages zerbrochen sein und meine Gedanken auf immer ausfahren lassen würde, an Stellen, wo es noch ein wenig weh tat, waren sie nun noch einmal ein ihren Platz zurückgekehrt, um jene Existenz wieder aufzunehmen, aus der sie; bisher leider noch keinen Nutzen zu ziehen verstanden hatten.
Ein weiteres Mal war ich der Unmöglichkeit einzuschlafen, dem Überflutetwerden und dem Scheitern in den Nervenkrisen entgangen. Ich hatte ganz, und gar keine Furcht mehr vor dem, was mir am Abend vorher, als ich keine Ruhe finden konnte, drohte. Ein neues Leben tat sich vor mir auf; ohne auch nur die leiseste Bewegung zu machen – denn, obschon ausgeruht, war ich von Müdigkeit noch immer wie gerädert –, genoß ich diese Müdigkeit mit einem Gefühl der Erleichterung; sie hatte mir die Bein- und Armknochen gelöst und zerbrochen, und ich fühlte sie vor mir versammelt, bereit, zueinander zu finden; ich konnte ihren Aufbau durch bloßen Gesang vonstatten gehen lassen wie der Architekt der Mythe.
Plötzlich fiel mir die junge Blonde ein, die Traurige, die ich in Rivebelle gesehen und die flüchtig nach mir geblickt hatte. Wieviel andere waren nicht den ganzen Abend über mir reizvoll vorgekommen; jetzt aber war sie allein aus der Tiefe meiner Erinnerung gestiegen. Mir schien, sie habe mich bemerkt, ich war gefaßt, es würde ein Kellner aus Rivebelle kommen, um mir ein Wort von ihr auszurichten. Saint-Loup kannte sie nicht, er glaubte, sie sei comme il faut. Es würde sehr schwierig sein, sie zu sehen, sie unausgesetzt zu sehen. Aber ich war zu diesem Zwecke zu allem bereit, ich dachte nur noch an sie. In der Philosophie ist oft von freien und unfreien Willensakten die Rede. Vielleicht sind wir unfrei niemals mehr, als wenn durch die zunehmende Intensität eines Gefühls, das verdrängt war, während wir handelten, eine Erinnerung, die durch die Pressionskraft der Zerstörung mit allen anderen zwangsweise nivelliert wurde, nun, wenn einmal unser Denken ruht, emporsteigt und gewaltsam sich aufschwingt, weil, ohne daß wir es wußten, ein Zauber ihr innewohnt, den wir erst vierundzwanzig Stunden später bemerken. Und vielleicht sind wir auch niemals freier, weil noch im Banne der Gewohnheit nicht, jener Manie unseres Geistes, die in der Liebe immer wieder ausschließlich die Neugeburt des Bildes eines einzigen Menschen begünstigt.
Dieser Tag folgte gerade auf den, da ich vorm Hintergrund des Meeres das schöne Geleite der jungen Mädchen hatte vorüberziehen sehen. Ich fragte mehrere Hotelgäste, die fast jedes Jahr in Balbec waren, nach ihnen. Sie konnten mir keine Auskunft geben. Später erklärte mir eine Photographie, warum. Wer hätte jetzt in ihnen, die da, zwar eben erst, doch unbestreitbar, eine Altersstufe hinter sich gelassen hatten, in der man so von Grund aus sich verändert, die reizende, amorphe, durch und durch kindliche Masse von jungen Mädchen wiederzuerkennen vermocht, die man noch vor wenigen Jahren am Strand im Kreise um ein Zelt hatte sitzen sehen können, eine weiße undeutliche Gruppe, aus der zwei helle glänzende Augen, ein schalkhaftes Gesicht, Blondhaar nur sich herausgehoben hätten, um alsbald sie wieder zu verlieren und in dem undeutlichen milchigen Nebelflecken mit den andern verschmelzen zu lassen.
In jenen Jahren, die ja noch gar nicht lange zurücklagen, war aber gewiß nicht wie am Vorabend, als sie zum ersten Male vor mir erschienen, das Bild ihrer Gruppe, sondern sie selber etwas gewesen, das es an Deutlichkeit und Klarheit fehlen ließ. Damals standen die allzu jugendlichen Geschöpfe noch auf einer Stufe der Formenbildung, auf der die Persönlichkeit noch nicht einem jeden Gesicht ihr Siegel aufgedrückt hat. Wie jene primitiven Organismen, in denen das Individuum als solches kaum existiert, sondern eher durch das große Polypengehäuse als durch den einzelnen Polyp, der es besiedelt, dargestellt wird, waren sie eines ans andere gedrängt. Manchmal brachte eine die, welche neben ihr ging, zu Fall, und dann wurden sie alle auf einmal von tollem Gelächter geschüttelt; das schien aber das einzige Symptom individueller Lebensregung bei ihnen zu sein, und sie ließ die unbestimmten Gesichter, die Fratzen in einem einzigen Schillern und Zittern vergehen, das wie ein Haufe Gelee wirkte. Auf einer alten Photographie, die sie später eines Tages mir gaben (ich habe sie aufbewahrt), zeigt dieser Kindertrupp bereits die gleiche Anzahl Figurantinnen wie später der Zug, den sie als Frauen darstellten; man fühlt bereits, sie mußten schon damals am Strande ein Fleck gewesen sein, der sich von niemandem übersehen ließ. Als Individuen aber konnte man sie nur durch verstandesmäßige Überlegung darauf wiedererkennen und mußte dabei für alle denkbaren Verwandlungen die Möglichkeit offen lassen, Verwandlungen, die während der Jugend bis zu dem Augenblick eintreten, da diese wiedererschaffenen Formen Besitz von einer anderen Individualität ergreifen, die nun ihrerseits auch wieder identifiziert sein will und bei der das schöne Gesicht einige Chancen hat, früher einmal das kümmerliche verschrumpfte Gesicht gewesen zu sein, welches das Bild aus dem Photographie-Album uns darstellt; die unterschiedliche Entwicklung, wie die äußeren physiognomischen Kennzeichen dieser Mädchen in kürzester Zeit sie genommen hatten, machte aus ihnen ein sehr unzuverlässiges Kriterium, und auf der anderen Seite war, was sie Gemeinsames gewissermaßen in Kollektivbesitz hatten, schon damals sehr ausgesprochen gewesen; kein Wunder also, daß es manchmal ihren besten Freundinnen vorkam, daß sie sie auf der Photographie miteinander verwechselten, so daß den Zweifel erst irgendeine Besonderheit in der Kleidung beseitigte, deren eine als ihrer eigenen zum Unterschied von allen übrigen sich entsann. Auch jetzt noch, da ich zum ersten Male auf der Mole ihnen begegnet war, fand bei ihnen, – wie ich am Vortage hatte feststellen können – sich jenes Lachen der früheren Tage, die so ganz verschieden von ihm und dabei so nahe in der Zeit war; dies Lachen aber war nicht mehr wie Kinderlachen, abgehackt und automatisch, es unterschied sich sehr von dem krampfartig ausgelösten, das ehemals diese Köpfe alle Augenblicke untertauchen ließ, so daß man an die Scharen von Ellritzen in der Vivonne denken mußte, wie sie auseinanderfahren, um sich augenblicks darauf von neuem zu bilden; jetzt war ihre Physiognomie Herrin über sich selbst, und ihre Blicke ruhten stetig auf dem Ziel, das sie ins Auge faßten; es hatte durchaus der Unsicherheit, des Oszillierens meiner ersten Wahrnehmung bedurft, um die individualisierten, nun voneinander wohlgesonderten Sporaden der bleichen Steinkoralle für Eines zu nehmen, wie das verflossene Ausgelassensein und die alte Photographie es taten.
Wenn ich hübsche junge Mädchen hatte vorbeikommen sehen, hatte ich selbstverständlich oft mir im stillen die Zusage gegeben, sie wiederzusehen. Gewöhnlich kamen sie aber nicht wieder; auch vergißt das Gedächtnis ihr Dasein geschwind und würde nur mit Mühe ihre Züge wiederfinden; das Auge würde sie vielleicht nicht wiedererkennen, und schon sind andere junge Mädchen an uns vorbeigekommen, die wir ebensowenig wiedersehen werden. Andere Male jedoch, und so sollte es mit der kleinen unverschämten Bande mir gehen, führt sie der Zufall beharrlich immer von neuem uns über den Weg. Dann halten wir ihn für schön, denn wir vermeinen in ihm gewissermaßen eine beginnende Organisation, eine Tendenz im Sinne einer Schicksalskonstruktion für uns zu sehen; und dann macht er getreues Beharren der Bilder uns unvermeidlich, leicht und manchmal – nach Unterbrechungen, die uns die Hoffnung nähren ließen, unsere Erinnerung werde verschwinden – auch außerordentlich schmerzhaft; diese Bilder in uns zu tragen, werden wir uns dann später für prädestiniert halten; und doch, am Anfang hätten wir sie, ohne solchen Zufall, ganz leicht, wie soviel andere vergessen können.
Bald ging der Aufenthalt von Saint-Loup seinem Ende entgegen. Ich hatte die jungen Mädchen am Strande nicht wieder gesehen. Er blieb an den Nachmittagen nicht lange genug in Balbec, um sich mit ihnen abgeben zu können und den Versuch zu unternehmen, um meinetwillen ihre Bekanntschaft zu machen. An den Abenden war er freier und fuhr fort, mich häufig mit nach Rivebelle zu nehmen. Es gibt in solchen Restaurants wie in den öffentlichen Parks und den Eisenbahnzügen Personen, die äußerlich nichts Auffallendes haben, deren Namen jedoch uns aufhorchen macht, wenn wir zufällig ihn erfragt haben, um zu erfahren, daß sie nicht der harmlose Niemand sind, den wir in ihnen zu sehn glaubten, sondern nichts Geringeres als der Minister oder der Herzog, von dem wir so oft haben reden hören. Zwei- oder dreimal schon hatten Saint-Loup und ich im Restaurant zu Rivebelle, wenn alles sich zu entfernen begann, gesehen, wie ein sehr hochgewachsener, muskulöser Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen, ergrauendem Barte und einem träumerischen Blick, der intensiv ins Leere starrte, sich an einen Tisch setzte. Als wir eines Abends den Wirt fragten, wer der rätselhafte, vereinzelte Nachzügler sei, erhielten wir zur Antwort: »Wie, Sie kennen nicht den berühmten Maler Elstir?« Swann hatte einmal in meiner Gegenwart seinen Namen genannt; es war mir ganz entfallen, bei welcher Gelegenheit; aber der Ausfall einer Erinnerung kann bisweilen, wie der eines Satzglieds, nicht Ungewißheit, vielmehr das Aufschießen einer vorschnellen Sicherheit zur Folge haben. »Er ist ein Freund von Swann, ein sehr namhafter, hervorragender Künstler«, sagte ich zu Saint-Loup. Und ihn und mich überlief im Augenblick wie ein Schauer der Gedanke, Elstir sei ein großer Künstler, sei ein berühmter Mann, und gleich darauf, er werde mit den andern Gästen uns auf eine Stufe stellen und gar nicht ahnen, wie die Vorstellung von seinem Talent uns begeistere. Selbstverständlich hätte der Umstand, daß er von unserer Bewunderung und der Tatsache, daß wir Swann kannten, nichts wußte, uns niemals aufgeregt, wenn wir nicht im Seebad gewesen wären. Da wir jedoch noch in einem Lebensalter waren, in dem sich Enthusiasmus nicht für sich behalten läßt, und unter Umständen lebten, in denen das Inkognito beklemmend empfunden wird, schrieben wir Elstir einen gemeinsam unterzeichneten Brief, in dem wir ihm zu wissen gaben, die beiden, die da wenig Schritt von ihm entfernt beim Essen saßen, seien Kunstfreunde, die leidenschaftlich sein Talent verehrten, Freunde von seinem großen Freunde Swann; wir bäten um die Ehre, ihm unsere Bewunderung persönlich aussprechen zu dürfen. Ein Kellner nahm es auf sich, dieses Schreiben an den berühmten Mann gelangen zu lassen.
Berühmt war Elstir zu dieser Zeit vielleicht noch nicht in dem Grade, wie der Besitzer des Etablissements es behauptete und wie er dann sehr wenige Jahre danach es wirklich sein sollte. Aber er war einer der ersten gewesen, die in diesem Restaurant gewohnt hatten, als es nur erst eine Art Bauernhof war, und er zuerst hatte eine Künstlerkolonie dorthin gezogen (die waren übrigens alle sezessioniert, sobald einmal das Bauernhaus, vor dem man im Freien unter einem bloßen Schutzverdeck aß, ein Zentrum mondänen Lebens geworden war; Elstir selbst kam im Augenblick nach Rivebelle nur der Abwesenheit seiner Frau wegen, mit welcher er nicht weit von dort wohnte). Um eine große Begabung herum aber stellen zwangsläufig – mag sie auch noch nicht anerkannt sein – gewisse Erscheinungsformen von Bewunderung sich ein, und solche hatte der Besitzer des Hofes in den Fragen erkannt, wie mehr als eine Engländerin auf der Durchreise sie stellte, die nach Einzelheiten über die Lebensführung von Elstir lechzte, und ebenso in der Anzahl der Briefe, die aus dem Ausland ihm zugingen. Bei solchen Gelegenheiten war es dem Wirt noch mehr aufgefallen, daß Elstir nicht liebte bei der Arbeit gestört zu werden, daß er nachts sich erhob und mit einem kleinen Modell hinausging, das ihm nackt, wenn der Mond schien, am Strande der See stehen mußte; und bei sich selber hatte er gesagt, so viele Anstrengungen seien nicht verloren, noch die Bewunderung der Passanten ungegründet, als er auf einem Gemälde von Elstir ein hölzernes Kreuz wiedererkannt hatte, das am Eingang von Rivebelle stand.
»Tatsächlich, das ist es«, wiederholte er stur. »Die vier Teile sind drauf. Ja! und was für Mühe er sich dabei auch gegeben hat!«
Und er wußte nicht, ob ein kleiner ›Sonnenaufgang am Meer‹, den ihm Elstir gegeben hatte, nicht ein Vermögen wert war.
Wir sahen, wie er unsern Brief las, ihn in die Tasche steckte, im Essen fortfuhr, allmählich seine Sachen sich geben ließ und sich erhob, um zu gehen; wir waren dermaßen überzeugt, durch unser Vorgehen Anstoß bei ihm erregt zu haben, daß wir jetzt (mit der gleichen Heftigkeit, mit der wir es zuvor gefürchtet hatten) gewünscht hätten, fortzugehen, ohne von ihm bemerkt zu werden. Nicht einen Augenblick kam etwas uns in den Sinn, was doch das Wichtigste uns hätte scheinen sollen: daß unser Enthusiasmus Elstir gegenüber, an dessen Aufrichtigkeit wir keinen Zweifel geduldet hätten – wie wir denn in der Tat mit unserer atemlosen Erwartung, dem Wunsche, etwas Schwieriges, Heroisches für den berühmten Mann zu tun, Zeugnis für sie ablegten –, nicht Bewunderung sein konnte, wie wir es uns einbildeten, da wir niemals etwas von Elstir gesehn hatten; Gegenstand unserer Gefühle konnte nur die hohle Vorstellung von einem »großen Künstler« sein, nicht ein Werk, welches uns unbekannt war. Im besten Falle war es eine Bewunderung ins Unbestimmte, der sensitive Rahmen, die emotionale Armatur einer Bewunderung, die keinen Inhalt hatte, mit anderen Worten, ein Zustand, der ebenso wesensmäßig an die Kindheit gebunden ist wie gewisse Organe, die beim Erwachsenen nicht mehr existieren; wir waren noch Kinder. Elstir war an der Tür beinahe angelangt, als er plötzlich kehrtmachte und auf uns zukam. Ein süßer Schrecken durchschauerte mich, wie ich ihn wenige Jahre später nicht mehr hätte empfinden können, weil ebenso, wie das zunehmende Alter die Disposition zu derartigen Erregungen mindert, Gewöhnung an den hergebrachten Lauf der Welt jede Vorstellung vernichtet, es könnte die Gelegenheit für sie eintreten.
Unter den wenigen Worten, die Elstir, als er sich an unsern Tisch gesetzt, uns sagte, war kein Eingehen auf Swann, von welchem ich ihm mehrmals gesprochen hatte. Ich begann zu glauben, er kenne ihn nicht. Nichtsdestoweniger forderte er mich auf, in seinem Atelier in Balbec ihn zu besuchen, eine Einladung, die er an Saint-Loup nicht ergehen ließ. Und diese Aufforderung, welche vielleicht mir die Empfehlung durch Swann nicht würde eingebracht haben, wenn Elstir wirklich ihm sollte näher gestanden haben (uneigennützige Gefühle spielen im Leben des Menschen ja eine weit größere Rolle, als man gewöhnlich annimmt), sie wurde mir dank einiger Worte, die ihn auf den Gedanken brachten, ich liebe die Kunst. Er überhäufte mich mit Liebenswürdigkeiten, die ihrer Natur nach so hoch über denen Saint-Loups standen als dessen eigene über dem Entgegenkommen eines Kleinbürgers. Verglichen mit der Liebenswürdigkeit eines großen Künstlers hat die eines Grandseigneurs, sie sei so reizend wie immer, etwas Gespieltes, Theatralisches, Verstelltes. Saint-Loup bemühte sich zu gefallen, Elstir liebte zu geben, sich selbst zu geben. Alles, was er besaß, Ideen, Werke, zusamt dem übrigen, das er weit geringer anschlug, hätte er freudig jemandem gegeben, der ihn verstanden hätte. Doch da erträgliche Gesellschaft ihm fehlte, lebte er in so schroffer Abgeschlossenheit, daß die Weltleute von Pose und schlechter Erziehung, die Behörden von unzuverlässiger Gesinnung, die Nachbarsleute von Verrücktheit und die Familien von Egoismus und Hochmut sprachen.
Und ganz unzweifelhaft hatte er gerade in seiner Zurückgezogenheit in den ersten Zeiten mit Freude an dem Gedanken gehangen, wie er durch seine Werke aus der Entfernung an die sich wende, die ihn verkannt oder verletzt hatten, und ihnen einen höheren Begriff von sich gebe. So lebte er vielleicht damals nicht aus Indifferenz, sondern aus Liebe zu den andern Menschen allein, und wie ich einmal auf Gilberte verzichtet hatte, um eines Tages ihr in liebenswerteren Farben wieder zu erscheinen, so weihte er vielleicht sein Werk gewissen Menschen wie ein erneutes Aufsiezukommen, in dem man, ohne ihn selber wiederzusehen, ihn lieben, ihn bewundern, ihn im Gespräch festhalten könne; nicht immer ist ja ein Verzicht von Anbeginn ein absoluter, wenn wir mit unserer frühern Seele, bevor er noch, rückwirkend, uns beeinflußt hat, zu ihm uns entschließen, mag dies nun der Verzicht von einem Kranken, einem Mönche, einem Künstler oder einem Heros sein. Aber wenn er seine Werke für einige Menschen hatte schaffen wollen, so hatte, unterm Schaffen, er sich sich selbst gelebt, fern jeder Gesellschaft, die ihm gleichgültig geworden war; Übung im Einsamleben hatte ihn gelehrt, es zu lieben, wie es bei jeder großen Sache geht, vor der wir am Beginne uns gefürchtet haben, weil wir sie unvereinbar mit geringeren glaubten, an denen wir hingen, die sie uns dann jedoch nicht sowohl raubte als fremd werden ließ. Bevor wir sie kennen gelernt haben, besorgt uns nichts so sehr als zu erfahren, in welchem Maße sie mit gewissen Arten von Vergnügen sich vereinbaren lasse, die aufhören, es zu sein, haben wir sie erst einmal kennen gelernt.
Elstir blieb nicht lange mit uns im Gespräch. Ich versprach mir, an einem der zwei oder drei nächstfolgenden Tage ihn in seinem Atelier zu besuchen, aber am Tage, der diesem Abend folgte, geschah es, daß meine Großmutter und ich, wie wir vom äußersten Ende der Mole, da wo sie gegen die Klippen von Canapville sich vorschiebt, zurückkamen, an der Ecke von einer der kleinen Straßen, welche senkrecht auf sie hinauslaufen, am Strand den Weg eines jungen Mädchens kreuzten, das mit gesenktem Kopf wie ein Tier, das wider seinen Willen dem Stall zugeführt wird, mit Golfstäben in der Hand vor einer Respektsperson einherging, wahrscheinlich ihrer Gouvernante oder der von einer ihrer Freundinnen, die dem Porträt des Jeffries von Hogarth ähnelte, im Gesicht so rot war, als sei nicht Tee ihr Lieblingsgetränk, sondern Wacholderschnaps, und einen grauen, dichtgewachsenen Schnurrbart hatte. Das junge Mädchen, das vor ihr herging, ähnelte der aus der kleinen Bande, die unter ihrer schwarzen Samtmütze in einem regungslosen, pausbäckigen Gesicht lachende Augen hatte sehn lassen. Nun hatte die, die eben nach Hause ging, auch eine schwarze Samtmütze, aber sie schien mir noch hübscher zu sein als die andere, die Nase verlief bei ihr gradliniger, die Nasenflügel gerieten breiter und fleischiger. Und war die andere mir wie ein stolzes, bleichaussehendes junges Mädchen vorgekommen, so diese wie ein gebändigtes Kind mit rosigen Wangen. Da sie aber beide dasselbe Fahrrad vor sich herschoben und Handschuhe aus Renntierleder trugen, folgerte ich, die Unterschiede möchten vielleicht durch meine ungleiche Postierung und durch die begleitenden Umstände sich erklären lassen, denn es war wenig wahrscheinlich, daß in Balbec ein zweites junges Mädchen mit einem, trotz allem, jenem ersten so sehr ähnlichen Gesicht existiere, das die selben Besonderheiten in seiner Kleidung aufwiese. Sie sandte einen geschwinden Blick in der Richtung, in der ich stand, aus; wenn ich an den folgenden Tagen die kleine Bande am Strand wiedertraf, ja sogar später, als ich alle jungen Mädchen in ihr kannte, war ich mir niemals völlig sicher darüber, daß irgendeine von ihnen – sogar einschließlich deren, die ihr am meisten ähnelte, des jungen Mädchens mit dem Fahrrad – wirklich die sei, die ich an jenem Abend am Ende des Strands, an der Straßenecke gesehn hatte – ein Mädchen, das kaum, aber dennoch eben ein wenig verschieden von der war, die in dem Zuge der andern meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Von diesem Nachmittage an war für mich, dem an den Tagen vorher hauptsächlich die Große im Sinne gelegen hatte, es die mit den Golfstäben, die mich begann zu beschäftigen, in welcher nun auch Fräulein Simonet gemutmaßt wurde. Sie blieb, mitten unter den andern, oft stehen und zwang so ihre Freundinnen, die viel Respekt vor ihr zu haben schienen, ebenfalls im Gehen innezuhalten. Und so, wenn, sie haltmacht, sehe ich sie noch jetzt, mit den leuchtenden Augen unter der Samtmütze, ihre Silhouette steht vor der Rückwand, die ganz hinten das Meer für sie darstellt, und von mir selber trennt sie eine transparente Bläue, die Zeit, die seither verstrich: das ist das erste Bild, wie es ganz klein mir im Gedächtnis steht, wie es ersehnt, verfolgt, sodann vergessen, darauf wieder aufgefunden ward, das Bild von einem Antlitz, das ich oft seitdem in die Vergangenheit projiziert habe, um von einem jungen Mädchen, das sich auf meinem Zimmer befand, mir sagen zu können: »Sie ist es!«
Doch war es im Grunde vielleicht noch die mit dem geraniumfarbenen Teint und den grünen Augen, deren Bekanntschaft zu machen ich am meisten gewünscht hätte. Aber welche nun immer es sein mochte, die ich an irgendeinem Tage am liebsten sah – es war an den andern, auch ohne diese, genug, um mein Gefühl in Wallung zu bringen; denn wie am ersten Tag bei ihrer unbestimmteren Gesamterscheinung es getan hatte, so machte mein Begehren – wenn es auch einmal mehr die eine, dann die andere meinte – immer noch eine Einheit aus ihnen, nahm sie für jene kleine Welt beiseite, in der ein und derselbe Lebensstrom durch alle geht, wie sie im übrigen sie ohne Zweifel wirklich darzustellen den Ehrgeiz hatten; wenn ich von einer unter ihnen der Freund geworden wäre, hätte sich mir – wie einem überfeinerten Heiden oder einem von Gewissensskrupeln belasteten Christen – eine Gesellschaft erschlossen, die mit neuem Leben ihm winkte, weil in ihr Wohlergehen, unbewußtes Dasein, Wollust, Grausamkeit, Verstandesfremdheit und Freude regierten.
Meiner Großmutter hatte ich meine Begegnung mit Elstir erzählt, und sie freute sich über den intellektuellen Gewinn, den eine Freundschaft mit ihm mir eintragen könne; sie fand es unbegreiflich und wenig entgegenkommend, daß ich noch nicht zu Besuch bei ihm gewesen sei. Aber ich dachte an nichts als die Mädchenbande, und weil ich nicht wußte, um welche Zeit die jungen Mädchen auf der Mole vorbeikämen, wagte ich nicht, mich zu entfernen. Meine Großmutter verwunderte sich auch über meine Eleganz, denn ich hatte mich plötzlich der Anzüge entsonnen, die ich bisher zu unterst im Koffer gelassen hatte. Jeden Tag trug ich einen andern und hatte sogar nach Paris geschrieben, um mir neue Hüte und neue Krawatten schicken zu lassen.
Ein Badeleben, wie es in Balbec sich abspielte, bereichert es um einen großen Reiz, wenn das Gesicht eines hübschen jungen Mädchens, einer Muschelverkäuferin, einer, die Kuchen feilhält, eines Blumenmädchens, das uns mit seinen frischen Farben im Sinn steht, alltäglich und vom frühen Morgen an, für uns das Ziel von jedem der müßigen, durchleuchteten Tage, die man am Strande verbringt, ist. Sie werden dadurch, ob auch ohne Arbeit hingebracht, hurtig wie Arbeitstage, angestachelt, wie magnetisch affiziert, leicht gegen einen nächstfolgenden Moment hin angehoben: gegen den Augenblick, da man beim Kauf von Kuchen, Rosen oder Ammonshörnern zu seiner Lust auf einem Frauengesicht die Farben so rein wie auf einer Blume verteilt sieht.
Aber mit diesen kleinen Verkäuferinnen steht es wenigstens so: einmal kann man mit ihnen reden und das erspart einem, in der Phantasie sich auszudenken, was das einfache Ansehen einen nicht lehrt, ihr Leben sich im Geist nachzuschaffen und ihren Charme sich zu übertreiben, wie man vor einem Porträt es tut; dann aber kann man vor allem, eben weil man sie spricht, erfahren, wo und zu welchen Stunden man sie wiederfindet. So stand es aber ganz und gar nicht für mich, was die jungen Mädchen der kleinen Bande betraf. Ich wußte von ihren Gewohnheiten nichts, und wenn ich sie an gewissen Tagen nicht sah, so forschte ich, da die Gründe ihres Ausbleibens mir unbekannt waren, ob darin etwas Gesetzliches läge, ob man nur einen Tag um den andern oder nur bei dem und dem Wetter sie sähe, oder ob es Tage gäbe, an welchen man sie überhaupt niemals zu Gesicht bekäme. Ich stellte mir vor, wie ich mit ihnen Freund sei und sage: »Aber an dem und dem Tage waren Sie nicht da?« »Ach ja, natürlich, weil Sonnabend war, Sonnabends kommen wir nie, weil ...« Und wenn es noch sich einfach darum nur gehandelt hätte, zu wissen, es sei fruchtlos, an jenem traurigen Sonnabend sich anzustrengen, und man könne den Strand nach allen Richtungen ablaufen, vor der Auslage des Konditors Platz nehmen und so tun, als äße man einen Eclair, beim Antiquitätenhändler eintreten, abwarten, bis die Badezeit gekommen sei, dann das Konzert, den Eintritt der Flut, den Sonnenuntergang und die Nacht abwarten, ohne die kleine Bande zu sehen, nach der man sich sehnte. Aber vielleicht kam der verhängnisvolle Tag nicht alle Wochen wieder. Er fiel vielleicht nicht notwendigerweise auf einen Sonnabend. Vielleicht waren Witterungsumstände von Einfluß auf ihn oder hatten mit ihm nicht das geringste zu tun. Wieviel geduldiger, jedoch durchaus nicht heiteren Gemüts angestellter Beobachtungen der allem Anschein nach unregelmäßigen Bewegungen in diesen unbekannten Welten bedarf es nicht, bevor man gewiß sein kann, man habe nicht durch zufällige Konstellationen sich irreführen lassen, unsere Voraussicht werde nicht enttäuscht werden, bevor man die gesicherten Gesetze dieser Astronomie der Passion um den Preis so vieler qualvoller Erfahrungen abnehmen kann! Ich entsann mich, an dem entsprechenden Tage der vergangenen Woche sie nicht gesehen zu haben, und ich sagte mir, am Strande zu bleiben sei nutzlos, sie würden heute nicht kommen. Und gerade in dem Augenblick bemerkte ich sie. Dafür kam dann ein anderer Tag, von dem (soweit ich hatte annehmen können, daß etwas Gesetzliches die Wiederkehr dieser Konstellationen regle) ich berechnet hatte, es müsse ein Glückstag sein, und da kamen sie nicht. Jedoch zu jener ersten Ungewißheit, ob ich sie an dem und dem Tage wiedersähe oder nicht, trat eine andere, ernstere: ob ich sie je wiedersehen werde, denn ich wußte, genau genommen, ja nicht, ob sie nicht nach Amerika abreisen oder wieder nach Paris zurückfahren müßten. Das genügte, damit ich begann, sie zu lieben. Man kann eine Neigung zu jemandem fühlen; doch um jene Traurigkeit auszulösen, jenes Gefühl von etwas Nichtwiedergutzumachendem, jene Beklemmungen, welche der Liebe vorangehen, dazu ist es nötig – und so ist es denn vielleicht nicht so sehr eine Person als ein Objekt, das Leidenschaft in heller Angst au sich zu reißen trachtet –, etwas Unmögliches zu riskieren. So begannen bereits die Kräfte zu wirken, die immer wieder im Laufe der Liebesaffären sich kundgeben (wie sie genau so – dies freilich eher in einem großstädtischen Leben, um einer Arbeiterin willen sich manifestieren können, von der man nicht weiß, wann sie Urlaub hat, und die man mit Schrecken am Ausgang der Fabrik vermißt), Kräfte, die zu mindest bei mir immer wieder vorkommen. Vielleicht, daß sie von Liebe nicht zu trennen sind; vielleicht auch findet alles, was der ersten Liebe eigentümlich war, sich zu den späteren durch Erinnerung, Suggestion, Gewohnheit und gibt im Laufe der verschiedenen Perioden unseres Lebens ihren verschiedenartigen Aspekten einen allgemeineren Charakter.
Es war mir jeder Vorwand recht, um in den Stunden, da ich sie zu treffen hoffte, an den Strand zu gehen. Da ich sie einmal während des Déjeuners bemerkt hatte, kam ich jetzt immer zu spät; ich blieb und blieb auf der Mole und wartete, daß sie vorbeikämen; die kurze Zeit über, die ich im Speisesaal saß, befragte ich mit den Augen den Azur der Scheiben, und lange vorm Dessert erhob ich mich, um sie nicht zu verfehlen, falls sie etwa zu ungewohnter Zeit eine Promenade machen sollten; und gegen meine Großmutter faßte mich Zorn, wenn sie, ohne es zu wissen, schlecht zu mir war und mich veranlaßte, über die Stunde hinaus zu bleiben, welche mir günstig schien. Ich suchte mir den Horizont zu erweitern, indem ich den Stuhl quer stellte; sah ich durch Zufall eines der jungen Mädchen, so war das, weil sie alle an demselben Fluidum teilhatten, als sei vor mir als rege, teuflische Halluzination ein Stück von jenem feindlichen und dennoch leidenschaftlich begehrten Traume erschienen, der eben noch nur erst in meinem Gehirn existierte, wo er ja dauernd, stagnierend sich aufhielt.
Ich liebte von ihnen keine, weil ich sie alle liebte, und doch war der Gedanke, ihnen zu begegnen, die einzige Süßigkeit meiner Tage, er allein rief in mir jene Hoffnungsschauer wach, in denen man alle Hindernisse zerbrechen würde – Schauer, denen oft Wut, wenn ich sie nicht gesehen hatte, folgte. Im Augenblick stellten für mich die jungen Mädchen meine Großmutter in den Schatten, und eine Reise hätte mir sofort gefallen, wenn sie mich an den Ort hätte führen sollen, an welchem sie weilten. An ihnen hingen aufs angenehmste meine Gedanken, wenn ich vermeinte an etwas anderes zu denken oder an nichts. Doch wenn ich, sogar ohne es zu wissen, an sie dachte, so waren, tiefer noch im Unbewußten, sie für mich die blauen hügeligen Wellungen der See und das Relief eines Vorbeiziehens vor der See. Die See hoffte ich wiederzufinden, wenn ich in Städte wollte, in denen sie sein sollten. Die ausschließendste Liebe zu einem Menschen ist immer noch Liebe zu etwas anderem.
Meine Großmutter bezeigte mir eine gewisse Verachtung, weil ich jetzt unmäßig mich für Golf und Tennis passionierte und die Gelegenheit versäumte, einen Künstler bei der Arbeit zu sehen und reden zu hören, von dem sie wußte, daß er zu den größten gehörte; mir schien das eine etwas beschränkte Art, die Dinge zu sehen. Es war mir seinerzeit in den Champs-Elysées der Gedanke gekommen, daß eine Frau lieben ganz einfach besagt: wir projizieren einen Zustand unseres Innern auf sie; und mittlerweile hatte ich mir das noch deutlicher gemacht. Infolgedessen wußte ich: worauf es ankommt, ist nicht der Wert der Frau, sondern die Intensität dieses Zustands, und die Gefühle, die ein junges Mädchen ohne besondere Bedeutung in uns erregt, können heimlichere, uns tiefer eigene, abgelegenere und wesenhaftere Teile unseres Selbst uns ins Bewußtsein rufen, als die Freude des Gespräches mit einem überlegenen Manne, ja selbst bewundernde Betrachtung seiner Werke es vermag.
Schließlich mußte ich meiner Großmutter den Willen tun, und mir war es um so verdrießlicher, als Elstir ziemlich weitab von der Mole in einer der jüngst erbauten Avenuen von Balbec wohnte. Es war an diesem Tag so heiß, daß ich die Trambahn nehmen mußte; sie ging durch die rue de la Plage, und ich gab mir Mühe, zu denken, ich befände mich im alten Königreich der Kimmerier, vielleicht im Vaterland des Königs Marke oder an dem Ort, wo einst der Wald von Broceliande gestanden hatte – Mühe, den wertlosen, gemeinen Prunk an Bauten, die an mir vorbeizogen, zu übersehen. Unter ihnen war Elstirs Villa in ihrer ungemeinen Häßlichkeit vielleicht die auffallendste, aber er hatte sie trotzdem gemietet, weil sie die einzige in Balbec war, in der er ein geräumiges Atelier fand.
Und so wandte ich die Augen auch ab, als ich den Garten durchmaß; da gab es eine Rasenfläche – man fand sie, nur in größerem Maßstab, so bei jedem ersten besten Hausbesitzer im Weichbilde von Paris – dann eine Statuette »Der galante Gärtner«, gläserne Kugeln, in denen man sich gespiegelt sah, Begonienrabatten und eine kleine Laube, in welcher Gartenstühle vor einem eisernen Tische aufgereiht waren. In alledem war jene Häßlichkeit, wie sie charakteristisch für die Stadt ist, als ich aber erst den Zugang hinter mir gelassen hatte und drinnen war, gab ich nicht mehr acht auf die schokoladefarbenen Plinthen des Ateliers; ich fühlte mich restlos beglückt, denn da ich nun all die Studien sah, die sich rings um mich befanden, ging mir die Möglichkeit auf, zu einer poetischen Erkenntnis zahlreicher Formen mich zu erheben, die ich bisher gesondert mir aus dem Gesamtschauspiel des Wirklichen niemals herausgehoben hatte. Und ich fühlte, welche Freuden sich mir damit erschließen mußten. So schien mir denn Elstirs Atelier dem Laboratorium einer neuen Weltschöpfung – wenn man so sagen darf – zu gleichen, in welchem er dem Chaos, das da alle Dinge sind, auf die wir blicken – indem er solche auf verschiedene rechteckige Leinwandflächen gemalt, die in allen Richtungen herumstanden –, hier eine Welle entnommen hat, die zornig auf dem Sande ihren fliederfarbenen Schaum bricht, dort einen jungen Mann in weißem Zwillich, der mit aufgestülpten Ellenbogen vom Deck eines Schiffes heruntersieht. Aber der Anzug des jungen Mannes und die schäumende Woge hatten einen neuen, bedeutenderen Charakter gewonnen, weil sie fortfuhren zu bestehen, ob wohl sie dessen, was man für ihr Wesen hielt, beraubt erschienen; konnte die Welle doch nicht mehr benetzen und der Anzug niemanden kleiden.
Im Augenblick, da ich eintrat, war der Schöpfer gerade dabei, mit dem Pinsel in seiner Hand die Gestalt der untergehenden Sonne fertig zu bilden.
Die Vorhänge waren beinahe auf allen Seiten geschlossen; im Atelier war es ziemlich kühl und bis auf eine Stelle, wo der helle Tag von draußen auf eine Mauer seinen glänzenden und unbeständigen Dekor legte, auch dunkel; offen stand nur ein kleines, rechteckiges Fenster in Geißblattumrahmung, das auf ein Beet und dann auf eine Avenue hinausging; so kam es, daß die Atmosphäre im größeren Teile dieses Ateliers dunkel, kompakt und transparent in ihrer Masse, an den Bruchstellen aber, wo Licht sie einfaßte, feucht und schimmernd erschien wie ein Block aus Bergkristall, den man auf einer Seite schon geschnitten und poliert hat, so daß er hier und da wie ein Spiegel aufstrahlt und irisiert. Während Elstir auf meine Bitte im Malen fortfuhr, ging ich im Helldunkel herum und machte vor dem einen und andern Bild halt.
Die meisten derjenigen, welche hier um mich waren, gehörten nicht zu denen, die ich von ihm am liebsten gesehn hätte, den Sachen aus seiner ersten und zweiten Periode, wie eine englische Kunstzeitschrift sagte, die auf dem Salontisch des Grand-Hôtel auslag, aus der mythologischen Periode und aus der, in welcher er unter japanischem Einfluß gestanden hatte, die, wie man erzählte, beide in der Sammlung von Frau von Guermantes wundervoll repräsentiert waren. Was er in seinem Atelier hatte, waren natürlich fast nur Seestücke, die er hier, in Balbec, gemalt hatte. Aber ich konnte erkennen, daß bei ihnen allem der Reiz in einer Art von Metamorphose der Dinge bestand, die jener ähnelt, welche in der Poesie Metapher genannt wird, und hatte Gott-Vater die Dinge geschaffen, indem er sie nannte, so mußte Elstir ihnen den Namen fortnehmen oder einen anderen ihnen geben, um sie neu zu erschaffen. Die Namen, mit denen Dinge bezeichnet werden, entsprechen stets irgendeinem Datum des Intellekts, das nichts mit unsern echten Eindrücken zu schaffen hat und uns in die Notwendigkeit versetzt, alles aus ihnen zu entfernen, was sich nicht darauf bezieht.
Wenn Françoise morgens die Vorhänge auseinanderzog, die das Licht abhielten, oder am Abend, wenn ich den Augenblick des Aufbruchs mit Saint-Loup erwartete, war es mir im Hotel zu Balbec des öfteren vorgekommen, in meinem Fenster, einer besonderen Sonnenstrahlung zufolge, eine dunklere Meeresfläche für eine entfernte Küste zu nehmen oder entzückt in eine wallende Bläue zu schauen, ohne zu wissen, ob es die vom Meere sei oder vom Himmel. Aber sehr schnell stellte die Intelligenz zwischen den Elementen wieder die Trennung her, welche die Impression aufgehoben hatte. So geschah es mir in Paris, daß ich auf meinem Zimmer einen Streit, beinahe einen Aufruhr vernahm, bis ich den Lärm auf seine Ursache, zum Beispiel Wagenrollen, das sich näherte, zurückgeführt hatte; und darauf schied ich daraus alles Geräusch von schrillen Stimmen aus, die miteinander stritten; Stimmen, wie mein Ohr sie wirklich vernommen hatte, von denen jedoch die Intelligenz mir sagte, daß Räder sie nicht hervorbringen können. Aus solchen seltenen Augenblicken, in welchen man die Natur so sieht wie sie ist, poetisch, war das Werk von Elstir gebildet. Und eine der Metaphern, die in den Seestücken, welche er in diesem Augenblick da hatte, am häufigsten vorkam, war gerade ein Vergleich der Erde mit dem Meer, der alle Demarkationslinien zwischen ihnen fallen ließ. Dieser wortlos und unablässig auf ein und demselben Bilde wiederholte Vergleich war es, der jene mannigfaltige, nachdrückliche Einheit ihm lieh, die, ohne daß sie immer klar darüber waren, den Enthusiasmus gewisser Liebhaber von Elstirs Malerei hervorrief.
Auf eine Metapher von dieser Natur hatte, um ein Beispiel zu geben, Elstir – in einem Bilde, das den Hafen von Carquethuit darstellte (es war erst vor wenigen Tagen vollendet worden, und ich sah es mir lange an) – den Beschauer geistig vorbereitet, indem er nur Termini des Seemannslebens für die kleine Stadt und für das Meer nur Termini des Stadtlebens anwandte. Wenn die Häuser einen Teil des Hafens, ein Kalfaterbassin oder vielleicht das Meer selber verdeckten, das golfartig, so wie es ständig in der Gegend von Balbec vorkam, ins Land sich hineinzog, so waren auf der anderen Seite der vorgeschobenen Zunge, auf welcher die Stadt erbaut war, die Häuser überragt (als sei es von Kaminen oder von Kirchtürmen) von Masten, die aus den Schiffen, welchen sie angehörten, etwas Stadthaftes, auf der Erde Errichtetes zu machen schienen, ein Eindruck, welchen andere Schiffe noch verstärkten, die längs des Hafendammes geblieben waren, doch in Reihen so dicht aneinanderlagen, daß Männer dort von einem Aufbau zum andern hinübersprachen, ohne daß man sehen konnte, sie seien getrennt und zwischen ihnen sei Wasser; und so schien diese Fischerflotte weniger der See zu gehören als beispielsweise die Kirchen von Criquebec, die in der Ferne, rings von Wasser umgeben, weil man sie ohne die Stadt sah, in einem Staubwirbel von Sonne und Meereswogen, sich aus den Wassern zu erheben schienen und, wie sie so in Alabaster oder Schaum hingehaucht standen, umgürtet von einem farbenreichen Regenbogen, ein unwirkliches, mystisches Bild machten. Im Vordergrunde des Strandes war es dem Maler gelungen, das Auge daran zu gewöhnen, die feste Grenze, die radikale Demarkation zwischen dem Lande und dem Ozean nicht mehr zu erkennen. Männer, die Schiffe ins Meer stießen, liefen so gut in den Fluten wie auf dem Sande, der naß war und den Schiffsrumpf so widerspiegelte, als sei er im Wasser. Sogar das Meer stieg nicht regelmäßig an, sondern folgte der zackigen Linie des Strandes, den die Perspektive noch zerrissener gestaltete, so daß ein Schiff auf hoher See, das zur Hälfte von den vorgeschobenen Werken des Arsenals verdeckt wurde, in der Mitte der Stadt dahinzuschwimmen schien. Frauen, die in den Felsen Krabben sammelten, sahen, weil Wasser sie umgab und weil die Küste hinter dem runden Felsentheater bis zum Meeresspiegel sich senkte, so aus, als seien sie in einer Meergrotte, über die Barken und Wellen dahinzögen, die offen und geschützt inmitten der Wogen stehe, welche ein Wunder um sie herum banne. Wenn das ganze Gemälde das Bild der Häfen gab, in denen das Meer in die Erde eindringt, die Erde schon meerisch, die Bevölkerung amphibisch ist, so brach das Element des Meeres überall gewaltsam durch; und in der Nähe der Felsen am Eingang des Hafendammes, wo das Meer bewegt war, fühlte man an dem Kraftaufwand der Matrosen und den schrägen Lagen der Barken, die im spitzen Winkel vor der ruhigen Vertikale des Bootsschuppens, der Kirche, der städtischen Häuser lagen, in welche die einen zurückkehrten, aus welchen die andern zum Fischfang herauskamen, – daß sie auf dem Wasser wild, wie auf einem feurigen schnellen Tier einher trabten, das sich bäumt und ohne ihre Geschicklichkeit sie würde zu Boden geworfen haben. Eine Anzahl Spaziergänger fuhren fröhlich in einer Barke aus, die wie ein Handwagen durchgeschüttelt wurde; ein lustiger, jedoch darum nicht weniger aufmerksamer Matrose lenkte sie mit Zügeln, bändigte das wilde Segel, und jeder blieb, richtig auf seinem Platz, um nicht auf eine Seite das Übergewicht zu legen und umzukippen; so fuhr man durch die besonnten Felder in schattige Gegenden und nahm die Abhänge in großen Sätzen. Es war ein schöner Morgen trotz des Gewitters, das niedergegangen war. Man konnte sogar noch die Einflüsse spüren, gegen welche die unbeweglichen Barken mit ihrem schönen Gleichgewichte anzukämpfen hatten; sie gaben der Sonne und der Kühle sich hin; dann gab es wieder Stellen, an denen das Meer so ruhig war, daß die Reflexe beinah solidere Wirklichkeit hatten als die Schiffsrümpfe, die ein Spiel der Strahlen dunstig erscheinen ließ und die einander perspektivisch überschnitten. Man konnte eigentlich nicht von anderen Stellen des Meeres sprechen, denn zwischen diesen Stellen gab es ebenso große Unterschiede wie zwischen einer von ihnen und der Kirche, die aus den Wassern sich erhob, oder den Schiffen hinter der Stadt. Erst die verständige Besinnung machte dann ein und dasselbe Element aus dem, was hier unter Gewitterwolken schwarz, weiterhin genau wie der Himmel gefärbt, ebenso firnisglatt wie er, dann wieder weiß von Sonne, Schaum und Nebel und so kompakt, so erdhaft und von Häusern rings umstellt war, daß einem eine steinige Chaussee oder ein beschneites Feld in den Sinn kam; dann erschrak man, daselbst ein Schiff steil und schräg auf dem Trocknen, wie einen Wagen sich erheben zu sehen, welcher aus einer Furt kommt und sich schüttelt; doch sah man dann im Augenblick danach auf der weiten unebenen Fläche des festen Plateaus Schiffe, die schaukelten, erkannte man, es sei dies, identisch unter so verschiedenen Aspekten, immer wieder nur Meer.
Mit Recht sagt man, es gäbe Fortschritt und Entdeckungen nur in der Wissenschaft, nicht aber in der Kunst; ein jeder Künstler beginne auf eigene Rechnung von vorn, und das Streben eines einzelnen könne durch das aller übrigen in diesem Bereich weder unterstützt noch beeinträchtigt werden; darum bleibt aber doch nicht weniger wahr, daß die Kunst, insoweit sie gewisse Gesetze ins Spiel bringt, die dann durch Industrien etwa allgemein verbreitet werden, von ihrer Originalität für die retrospektive Betrachtung etwas einbüßen kann. Seit Elstir zu malen begann, haben wir die Bekanntschaft mit »hinreißenden« – so nennt man sie jawohl – Städte- und Landschaftsphotographien gemacht. Sucht man nun näher festzustellen, was die Liebhaber in diesem Fall mit jenem Beiwort meinen, so wird man finden, es beziehe sich gewöhnlich auf irgendein merkwürdiges Abbild einer Sache, die an sich bekannt ist; ein Abbild, das sich von den Bildern, die wir gewöhnlich sehen, unterscheidet, merkwürdig, aber doch treu und doppelt fesselnd für uns aus dem Grunde ist, weil es uns in Erstaunen versetzt, aus dem Gewohnten herausreißt und gleichzeitig mit der Erinnerung an irgendeine frühere Apperzeption in unser Inneres uns zurückruft. So eine ›wundervolle‹ Photographie wird etwa ein Gesetz der Perspektive illustrieren und eine Kathedrale, die wir gewohnt waren, mitten in der Stadt sich erheben zu sehen, uns zeigen, die nun jedoch von einem Ort aus aufgenommen ist, von dem sie zwanzigmal so hoch als die Häuser und hart am Flußufer aufzusteigen scheint, von dem sie in Wahrheit abliegt. Elstir war durch sein Streben, die Dinge nicht so darzustellen, wie sie seinem Wissen nach waren, sondern jene optischen Illusionen an ihnen zu zeigen, aus denen die ursprüngliche Wahrnehmung sich zusammensetzt, dahin geführt worden, gerade gewisse dieser perspektivischen Gesetze ins Licht zu rücken, und sie waren damals noch überraschender, weil die Kunst als erste sie offenbarte. Ein Fluß erweckte durch seine Windungen, ein Golf durch scheinbares Aneinanderrücken der Klippen die Vorstellung, inmitten der Ebene oder der Anhöhen einen restlos von allen Seiten geschlossenen See zu bilden. Auf einem Bilde, das Balbec an einem glühenden Sommertag darstellte, schien ein Stück Meer, das ins Land hineinsprang, wie es von rosafarbnen Granitmauern umschlossen dalag, das Meer gar nicht zu sein, das weiter hinten begann. Die Stetigkeit der Ozeanfläche war nur durch Möwen angedeutet, denn wenn sie ihre Kreise über etwas zogen, was dem Betrachter als Stein erschien, so witterten sie in Wirklichkeit die Feuchte der Fluten. Am gleichen Gemälde ließen noch andere Gesetze sich abnehmen: zu Füßen der ungeheuren Klippen die liliputanische Anmut der weißen Segel auf dem spiegelnden Blau, auf dem sie saßen wie schlafende Schmetterlinge; ferner gewisse Kontraste von tiefen Schatten und matten Lichtern. Auch diese Spiele des Schattens, welche durch Photographie nun banal geworden sind, hatten Elstir in dem Grade interessiert, daß er früher sich darin gefallen hatte, ganz eigentlich Spiegelbilder zu malen, auf denen ein Schloß mit seinem Turme als ein kreisrundes Schloß erschien, das am Firste in einen Turm und unten an der Basis in einen umgekehrten Turm sich verlängerte; vielleicht hatte die selten reine Atmosphäre eines schönen Tages dem Schatten, der im Wasser sich widerspiegelte, die Härte und den Schimmer von Stein gegeben, vielleicht auch Morgennebel den Stein so dunstig wie die Schatten erscheinen lassen. In gleicher Weise begann jenseits des Meeres hinter einer Waldlinie ein anderes Meer, das der Sonnenuntergang rosa färbte. Das war der Himmel. Es war, als wenn das Licht von sich aus neue feste Körper erfände; einen Schiffsrumpf, auf dem es ruhte, ließ es hervortreten und einen andern verkürzt erscheinen, welcher im Schatten lag, und auf der in Wahrheit ebenmäßigen, doch in der Bestrahlung gebrochenen Oberfläche des Meeres am frühen Morgen brachte es gleichsam Stufen einer Kristalltreppe an. Ein Fluß, der unter den Brücken einer Stadt dahinfließt, war von einem Punkt aus gemalt, an dem er gänzlich auseinanderzufallen schien; hier lag er als breiter See, dort floß er als schmales Fädchen, anderswo unterbrach ihn das Auftauchen eines Hügels mit einem Wäldchen, in dem der Stadtbürger die Kühle des Abends sucht; sogar die Rhythmik der durcheinander gewürfelten Stadt selbst war nur durch die unbeugsame Vertikale der Kirchtürme gegeben, und die stiegen nicht in die Höhe, sondern schienen – Lote der Schwerkraft – wie in einem Triumphmarsche die Kadenz zu markieren und unterhalb ihrer selbst die ganze unübersichtliche Häusermasse, die im Nebel längs des zerbrochnen unzusammenhängenden Flusses sich staffelte, in der Schwebe zu halten. Und weil diese ersten Werke Elstirs aus der Zeit datierten, da man es liebte, Landschaften durch eine Person zu verzieren, so mußte – wie der Fluß oder der Ozean – der Weg auf der Klippe oder am Berge (jener halb menschliche Teil der Natur) das perspektivische Unsichtbarwerden hinnehmen. Und mochte nun ein Berggrat oder das Stäuben eines Wasserfalls oder das Meer hindern, die ungebrochene Linie des Wegs zu verfolgen, die sichtbar war für den Promenierenden, doch nicht für uns: das kleine altmodisch gekleidete Menschenkind, das sich in diese Einsamkeit verloren hatte, schien oft vor einem Abgrund haltzumachen, wo der Pfad wendete, den es verfolgte; dann aber sahen wir gerührten Auges und beruhigten Gemüts dreihundert Meter weiter oben in dem Tannenwäldchen das schmale Weiß seines Sandes wieder erscheinen, der den Schritten des Wandernden gastlich ist; es war der Bergabhang gewesen, der seine nicht enden wollenden Schleifen um den Wasserfall oder den Golf unseren Blicken entzogen hatte.
Elstirs Bestreben, im Angesicht des Wirklichen seinen Verstand sich aller Dinge, die er wußte, entäußern zu lassen, war um so mehr zu bewundern, als dieser Mann, der sich unwissend machte, bevor er ans Malen ging und alles bona fide vergaß (denn was einer weiß, das gehört ihm nicht), eine seltene, hervorragend kultivierte Intelligenz hatte. Als ich ihm die Enttäuschung gestand, welche ich vor der Kirche von Balbec empfunden hatte, erwiderte er: »Wie, dies Portal hat Sie enttäuscht? es ist doch die schönste Bilderbibel, die das Volk jemals hat lesen können. Die Jungfrau und all die Basreliefs, die ihr Leben erzählen, sind ein zartester, erleuchtetster Ausdruck des langen Gedichtes aus Verehrung und Lobgesang, das das Mittelalter zum Ruhm der Madonna durchzieht. Wenn Sie nur wüßten, wie, ganz abgesehen von der treuesten Illustration des heiligen Textes, der alte Bildner die glücklichsten und subtilsten Einfälle, eine Menge tiefer Gedanken von hinreißender Poesie gehabt hat!«
»Der Einfall von dem großen Schleier, in welchem die Engel den Leib der Jungfrau tragen, weil er ihnen zu heilig für ihre direkte Berührung vorkommt! (Ich sagte ihm, dasselbe sei an Saint-André-des-Champs dargestellt; er hatte Photographien vom Portal dieser Kirche gesehen, wies mich jedoch darauf hin, die Beflissenheit all dieser kleinen Bauern, die alle auf einmal um die Jungfrau herumlaufen, sei etwas anderes als der Ernst der beiden großen, beinahe italienischen Engel, die so hochgewachsen und sanft sind); der Engel, der die Seele der Jungfrau trägt, um sie mit ihrem Körper wieder zu vereinigen; in der Heimsuchung die Geste der Elisabeth, welche die Brust der Maria berührt und sich verwundert, daß sie geschwellt ist; und der verbundene Arm der Hebamme, die an das Wunder der unbefleckten Empfängnis ohne Berührung nicht glauben wollte; und der Gürtel, den die Jungfrau dem heiligen Thomas zuwirft, um ihm den Beweis für die Auferstehung zu geben; dann dieser Schleier, den die Jungfrau von ihrer Brust reißt, um die Nacktheit ihres Sohnes zu bedecken, an dessen einer Seite die Ecclesia das Blut sammelt, während auf der anderen mit verbundenen Augen und zerbrochenem Zepter die Synagoge steht, deren Reich nun zu Ende ist, und mit der Krone, die von ihrem Haupt gleitet, sich die Tafeln des Alten Bundes entfalten läßt; und der Gatte, der in der Stunde des Jüngsten Gerichts seiner jungen Frau hilft, aus dem Grabe zu steigen, ihr die Hand an sein eigenes Herz legt, um ihr Zuversicht zu geben und ihr zu zeigen, daß es wirklich schlägt – ist das als Einfall nicht reizend genug, nicht glücklich genug erfunden? Und der Engel, der Sonne und Mond fortträgt, weil sie unnütz geworden sind; denn es steht ja geschrieben, das Licht, das vom Kreuz ausgeht, wird siebenmal stärker sein als das von den Sternen; und der, der seine Hand in Jesu Badewasser taucht, um zu sehen, ob es warm genug ist; und der, der aus den Wolken herauskommt, um auf die Stirne der Jungfrau seine Krone zu setzen, und alle, die vom Himmelsgewölbe sich niederneigen und zwischen den Zinnen des himmlischen Jerusalem vor Schrecken oder Freude die Arme heben, wenn sie die Marter der Bösen und das Glück der Erwählten sehen! Denn es sind alle Himmelssphären, es ist ein ganzes riesenhaftes theologisch-symbolisches Gedicht, was Sie da vor sich haben. Wahnsinnig, göttlich ist es, tausendfach über all dem, was Sie in Italien sehen werden, wo übrigens dieses Tympanon buchstäblich von Bildhauern mit sehr viel geringerem Genie kopiert worden ist. Es hat keine Epoche gegeben, in welcher jedermann genial war, das alles sind Redensarten, das hieße mehr als das goldene Zeitalter. Der Kerl, der diese Fassade gemacht hat, war, das können Sie glauben, ebenso befähigt, hatte ebenso tiefe Ideen wie jene Heutigen, die Sie am meisten bewundern. Ich werde Ihnen das zeigen, wenn wir einmal zusammen hingehen sollten. Gewisse Worte aus der Auferstehungsliturgie sind dort mit einer Subtilität übertragen worden, die ein Redon niemals erreicht hat.«
Als aber meine Augen voller Erwartung vor der Fassade sich geöffnet hatten, da war es doch nicht diese ungeheure Himmelsvision, von der er mir sprach, das riesenhafte theologische Gedicht, das, wie ich wohl begriff, dort aufgezeichnet war, was mir sich erschlossen hatte. Ich sprach mit ihm von den großen Heiligenstatuen, die auf Sockeln eine Art von breiter Straße bilden.
»Sie kommt aus der Ferne der Zeiten her, um bei Jesus Christus zu münden«, sagte er. »Auf der einen Seite sind seine Vorfahren im Geiste; auf der anderen seine Vorfahren im Fleische, die Könige von Juda. Alle Jahrhunderte sind da. Und wenn Sie gerade ins Auge gefaßt haben, was Ihnen Sockel zu sein schienen, hätten Sie die beim Namen nennen können, die dort sich hinkauern. Unter den Füßen von Moses hätten sie das goldene Kalb erkannt, unter den Füßen von Abraham den Widder, unter denen von Joseph den Dämon, der der Frau des Potiphar seine Ratschläge einflüstert.«
Ich sagte ihm auch, ich hätte erwartet, einen Bau in beinahe persischem Stil zu finden, und zweifellos sei das einer der Gründe für meine Enttäuschung. »Aber nein,« erwiderte er, »daran ist viel Wahres.« Gewisse Teile sind ganz orientalisch; ein Kapital bildet so genau einen persischen Vorwurf nach, daß das Beharren orientalischer Tradition zu seiner Erklärung noch nicht ausreicht. Der Bildhauer hat offenbar irgendeinen Behälter kopiert, den Seefahrer mitgebracht haben. Und in der Tat sollte er später mir die Photographie eines Kapitäls zeigen, auf dem ich zwei beinah chinesische Drachen sah, die einander verschlangen; in Balbec jedoch war dieses kleine Stückchen Bildhauerarbeit im großen Ganzen dieses Baus mir unbemerkt geblieben, der dem nicht ähnlich sah, was mir das Wort von einer »fast persischen Kirche« im Geiste vorgestellt hatte.
Mich hinderte der geistige Genuß, dem ich in diesem Atelier mich hingab, nicht, das in mich aufzunehmen, was gewissermaßen von unserem Willen unabhängig uns umgab, die warme Lasur des Raums und sein blitzendes Helldunkel und dann ganz hinten in dem kleinen Fenster, das von Geißblatt umrahmt war, in der Allee von dörflichem Charakter die spröde Trockenheit der sonnverbrannten Erde, die einige Transparenz nur durch den Abstand und den Schatten der Bäume bekam. Und ohne daß ich es wußte, verstärkte vielleicht das Behagen an diesem Sommertag wie durch einen Zustrom die Freude, die ich beim Anblick des »Hafens von Carquethuit« empfand.
Ich hatte gemeint, daß Elstir anspruchslos sei, sah aber, wie ich mich getäuscht hatte; ich bemerkte, wie ein Schatten über sein Gesicht flog, als unter einigen Dankes Worten ich das Wort Ruhm fallen ließ. Die Großen, die ihre Werke für dauerhaft ansehen – und das war bei Elstir der Fall – gewöhnen sich, sie in einer Zeit sich zu denken, in der sie selbst schon längst zu Staub zerfallen sind. Daher macht der Gedanke an den Ruhm sie traurig, denn er zwingt sie, ihren Sinn auf das Nichts zu richten, und ist von dem des Todes nicht zu trennen. Ich wechselte das Thema des Gesprächs, um jenen Schatten stolzer Melancholie verschwinden zu machen, den ich auf Elstirs Stirn wider meinen Willen gesenkt. Und in Erinnerung an die Unterhaltung, die wir mit Legrandin in Combray gehabt hatten, bemerkte ich, um seine Meinung zu hören: »Man hat mir geraten, nicht in die Bretagne zu gehen, für jemand, der sowieso zum Träumen neige, sei das schädlich.« »Nein,« sagte er,»wenn einer durch seine Veranlagung zum Träumen neigt, so muß man dem nicht wehren, und darf ihm das Träumen nicht zumessen. Solange man sein Inneres von den Träumen abzieht, lernt es sie nicht kennen, man wird zum Spiel von tausend Illusionen, weil man ihre Natur nicht erfaßt hat. Und wenn ein wenig Träumen seine Gefahren hat, so ist es nicht: weniger Traum, was dagegen hilft, sondern: mehr Traum, der ganze ungebrochene Traum. Man muß seine Träume ganz und gar kennen, um nicht mehr unter ihnen zu leiden, und das ist wichtig; es besteht eine Scheidung von Traum und Leben, die man so oft mit Nutzen unternimmt, daß ich mich frage, ob man nicht auf alle Fälle als Präventivmittel sie vornehmen solle, wie ja manche Chirurgen behaupten, man müsse allen als Kindern den Blinddarm wegnehmen, um die Möglichkeit einer späteren Blinddarmentzündung zu verhindern.
Elstir und ich waren ans Ende des Ateliers gegangen und standen vor dem Fenster, das hinter dem Garten auf eine schmale Querallee, beinahe einen ländlichen Pfad hinauslief. Dort standen wir, um die frische Luft des vorgerückten Nachmittags zu atmen. Ich glaubte von der kleinen Bande junger Mädchen mich sehr entfernt, und nur weil ich für diesmal jede Hoffnung, sie zu sehen, aufgeopfert hatte, war ich zu dem Entschluß gekommen, der Bitte meiner Großmutter zu gehorchen und Elstir zu besuchen. Denn wo das sich befindet, was man sucht, das weiß man nicht und flieht oft lange Zeit den Ort, an welchen, aus anderen Gründen, einen jeder lädt. Aber wir ahnen gar nicht, daß wir gerade dort das Wesen sehen würden, an das wir denken. Ich sah versonnen auf den ländlichen Weg, der dort im Freien, dicht vorm Atelier, verlief, aber nicht Elstir gehörte. Plötzlich erschien dort, wie sie schnell ihn entlang schritt, die junge Radlerin aus meiner kleinen Bande mit dem Polo, das auf dem schwarzen Haar saß und schräg sich gegen die dicken Backen hin senkte, und den vergnügten, ein wenig forschenden Augen; und auf diesem Glückspfad, der nun durch ein Wunder mit süßen Versprechen sich füllte, sah ich sie unter den Bäumen an Elstir lächelnd einen freundschaftlichen Gruß richten; das war ein Regenbogen, der diese Welt für mich mit Sphären einte, die mir bis dahin unerreichbar gegolten hatten. Sie kam sogar heran und gab dem Maler, ohne sich aufzuhalten, die Hand; ich sah, daß sie ein kleines Schönheitsfehlerchen am Kinn hatte. »Sie kennen dieses junge Mädchen?« sagte ich zu Elstir, und dabei begriff ich, er könne mich ihr vorstellen, sie zu sich einladen. Und dieses idyllische Atelier mit seinem ländlichen Horizont ward nun von einer neuen Herrlichkeit durchzogen, und mit ihm ging es mir wie einem Kind mit einem Haus, in dem es schon ohnehin gern war und wo nun, wie es hört, dank jener Großmut schöner Dinge und edler Menschen, die ihre Gaben immer ins Unendliche vermehren wollen, ihm eine herrliche Kindergesellschaft vorbereitet wird. Elstir sagte mir, sie heiße Albertine Simonet und nannte mir auch ihre Freundinnen, die ich ihm so genau beschrieb, daß kein Zweifel aufkommen konnte. In Einschätzung ihrer sozialen Stellung hatte ich mich getäuscht, nicht aber in demselben Sinne, wie es mir gewöhnlich in Balbec geschah. Ich nahm dort, wenn sie nur zu Pferde saßen, leicht Kaufmannssöhne für Prinzen. Diesmal hatte ich Mädchen aus sehr reichen Kleinbürgerschichten, aus Industrie- und Handelskreisen, in Gedanken in ein zweideutiges Milieu eingeordnet. Das wahre interessierte mich auf den ersten Blick weniger, weil es weder das Geheimnisvolle des Volkes noch einer Gesellschaft wie der der Guermantes für mich hatte. Und wäre ihnen nicht in meinen geblendeten Augen von vornherein durch die glänzende Leere des Badelebens ein unverlierbarer Zauber verliehen worden, so wäre es mir vielleicht nicht gelungen, siegreich gegen den Gedanken anzukämpfen, daß sie Töchter von schwerreichen Kaufleuten seien. Ich konnte es nur bewundern, wie das französische Bürgertum das wunderbarste Atelier edelster, mannigfaltiger Statuarik ist. Wieviele unvermutete Typen, wie reich die Erfindung im Ausdruck der Köpfe, wie entschieden, unverbraucht und naiv die Gesichtszüge! Diese alten, geizigen Bürger, aus welchen jene Dianen und Nymphen hervorgegangen waren, erschienen mir als die größten Bildhauer. Bevor ich der sozialen Metamorphose der jungen Mädchen noch inne werden konnte (so sehr gleicht die Aufhellung eines Irrtums, die Richtigstellung der Auffassung, die man von jemandem hat, in der geschwinden Wirkung einer chemischen Reaktion), hatte schon hinter dem Gesicht der jungen Mädchen, welches so viel vom Gamin hatte, daß ich sie für Mätressen von Rennradlern oder Boxchampions gehalten hatte, der Gedanke sich festgesetzt, sie könnten sehr wohl mit der Familie irgendeines Notars aus unserer Bekanntschaft verwandt sein. Ich wußte kaum, wer Albertine Simonet war. Ihr war bestimmt unbekannt, was sie eines Tages für mich bedeuten sollte. Und sogar ihren Namen Simonet, den ich am Strande gehört hatte, hätte ich auf die Aufforderung hin, ihn niederzuschreiben, mit zwei n versehen, so wenig ahnte ich, wieviel Wert diese Familie darauf legte, nur ein einziges zu besitzen. Je tiefer nach unten man auf der sozialen Stufenleiter kommt, desto mehr klammert sich der Snobismus an Nichtigkeiten, die vielleicht nicht windiger sind als die Unterscheidungen bei den Aristokraten, aber privater, unbekannter und bei jedem andere, daher überraschender sind. Vielleicht hatte es Simonets gegeben, die schlechte Geschäfte gemacht hatten oder noch Schlimmeres. Feststeht, daß die Simonets, wie allgemein die Rede ging, immer wie über eine Verleumdung sich ereifert hatten, wenn man ihr n verdoppelte. Es machte den Eindruck, sie seien die einzigen Simonets mit nur einem n an Stelle von zweien, und leiteten daraus vielleicht denselben Stolz ab wie die Montmorency aus der Tatsache, die ersten Barone von Frankreich gewesen zu sein. Ich fragte Elstir, ob die jungen Mädchen in Balbec wohnten; für manche von ihnen bejahte er es. Die Villa der einen lag genau am Ende des Strandes, da wo die Klippen von Canapville beginnen. Da dieses junge Mädchen mit Albertine Simonet sehr befreundet war, so war das für mich ein Grund mehr, anzunehmen, es sei diese letztere gewesen, der ich begegnet war, als ich mit meiner Großmutter zusammen ging. Allerdings gab es so viele ähnliche kleine Straßen, die alle im rechten Winkel zum Strande verliefen, wo sie dann sämtlich im gleichen Winkel einmündeten, daß ich nicht genau hätte angeben können, welche von ihnen es war. Man würde gern eine genaue Erinnerung haben, aber schon in dem Augenblicke des Sehens selbst war getrübt, was man sah. Daß Albertine und jenes junge Mädchen, das bei ihrer Freundin eintrat, ein und dieselbe Person wären, war dennoch praktisch so gut wie gewiß. Und doch: während die anderen Bilder alle, die in der Folge die braune Golfspielerin mir darbot, so verschieden sie unter sich auch sein mochten, sich übereinander schichten (weil ich weiß, daß sie alle ihr angehören), wenn ich, am Faden der Erinnerungen mich zurücktastend, unter der Decke solcher Identität gleich wie auf einem inneren Verbindungswege all diese Bilder wieder passieren kann, ohne aus ein und derselben Person herauszutreten, so muß ich dagegen, will ich dem jungen Mädchen wieder begegnen, das ich kreuzte, als ich mit meiner Großmutter ging, ins Freie hinaustreten. Ich bin überzeugt, es ist Albertine, die ich da wiederfinde, dieselbe, die so oft im Kreise ihrer Freundinnen auf ihrem Spaziergange stehen blieb und den Meerhorizont überschnitt; aber all diese Bilder bleiben von diesem anderen geschieden, weil ich ihm rückschauend nicht eine Identität zu leihen vermag, die es nicht hatte, als meine Blicke darauf trafen; und was auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung mir zusichern mag, ich habe dieses junge Mädchen mit den dicken Backen, das an der Ecke, die die kleine Straße und der Strand bilden, so ungeniert nach mir sah, das, wie ich meine, mich hätte lieben können – nimmt man es mit dem Worte »wiedersehen« genau – nie wiedergesehen.
Sollte meine Unschlüssigkeit zwischen den verschiedenen jungen Mädchen der kleinen Bande, die für mich alle von dem kollektiven Zauber etwas behielten, der mich anfangs verwirrt hatte, vielleicht zu diesen Ursachen hinzugetreten sein, wenn mir später, selbst zur Zeit meiner großen – meiner zweiten – Liebe zu Albertine eine Art intermittierender, wenn auch sehr kurzer, Freiheit verblieb, sie nicht zu lieben? Meine Liebe, die unter all ihre Freundinnen umgeirrt war, ehe sie endgültig Albertinen sich zugewandt hatte, behielt gelegentlich zwischen sich selber und ihrem Bilde einen gewissen Spielraum, der, einer unzulänglichen Beleuchtung gleich, ihr gestattete, auf anderes sich niederzulassen, ehe sie wieder zurückkam und mit ihr sich befaßte; die Beziehung zwischen dem Weh, das ich im Herzen hatte, und der Erinnerung an Albertine erschien mir nicht notwendig, ich hätte es mit dem Bild einer anderen Frau in Verbindung denken können. Und das gestattete mir, in einer blitzartigen Erleuchtung die Realität zum Verschwinden zu bringen, nicht nur die äußere Realität wie in meiner Liebe zu Gilberte (die ich endlich für eine innere Verfassung erkannt hatte, in der ich aus mir selber die besondere Natur, den eigentümlichen Charakter des Wesens, das ich liebte und alles, was es meinem Glücke unentbehrlich machte, entwickelte), sondern die innere, schlechthin subjektive Realität.
»Es vergeht kein Tag, ohne daß die eine oder die andere von ihnen am Atelier vorbeikommt und zu einer kurzen Visite eintritt«, sagte Elstir zu mir, den der Gedanke zur Verzweiflung brachte, daß, wäre ich zu ihm gekommen, als damals meine Großmutter es wollte, ich wahrscheinlich schon längst Albertines Bekanntschaft gemacht haben würde. Sie hatte sich entfernt; vom Atelier aus sah man sie nicht mehr. Ich dachte mir, sie sei zu ihren Freundinnen auf der Mole unterwegs. Wenn ich mit Elstir dort hätte sein können, hätte ich ihre Bekanntschaft gemacht. Ich ersann tausend Vorwände, um ihn zu veranlassen, einen Strandspaziergang mit mir zu unternehmen. Ich war nicht mehr ebenso ruhig wie vor der Erscheinung des jungen Mädchens in dem Rahmen des kleinen Fensters, der bis dahin unter dem Geißblatt so reizend ausgesehen hatte und nun recht leer war. Elstir erfreute und marterte mich zugleich mit der Mitteilung, er werde einige Schritte mit mir machen, müsse aber erst die Sache, an der er gerade male, beendigen. Es waren Blumen, aber nicht solche, deren Porträt ich ihm lieber in Auftrag gegeben hätte als das einer Person, um durch die Enthüllungen seines Genius das zu erfahren, was ich so oft vergebens vor ihnen gesucht hatte – Weißdorn, Rotdorn, Kornblumen, Apfelblüten. Elstir sprach unterm Malen von Botanik, aber ich hörte ihm kaum zu; er war an sich selber nicht mehr genug und kaum mehr anderes als der notwendige Mittler zwischen diesen jungen Mädchen und mir; das Prestige, das wenige Augenblicke zuvor für mich sein Talent ihm gegeben hatte, war nur noch gut, mir selber in den Augen der kleinen Bande, der er mich vorstellen sollte, ein wenig von sich abzugeben.
Ich ging hin und her und konnte es nicht erwarten, seine Arbeit beendet zu sehen; unter den Studien, von denen viele gegen die Wand gekehrt, eine an die andere gelehnt, standen, griff ich einige heraus, um sie zu betrachten. So brachte ich auch ein Aquarell zum Vorschein, das aus einer sehr viel früheren Lebensperiode von Elstir stammen mußte und es erweckte in mir jenes ganz besondere Entzücken, das von Werken ausgeht, die herrlich nicht nur in der Ausführung sind, sondern auch gegenständlich so eigentümlich und verführerisch, daß wir dem Gegenstande einen Teil von ihrem Charme zuschreiben, als sei der wirklich schon in der Natur vorhanden und habe ihn der Künstler nur entdecken, beobachten, reproduzieren müssen. Daß dergleichen Gegenstände in ihrer Schönheit außerhalb der malerischen Wiedergabe existieren könnten, tut einem uns eingeborenen Materialismus Genüge, der, wenn auch die Vernunft ihn bekämpft, den Abstraktionen der Ästhetik ein Gegengewicht bietet. Dies Aquarell war das Porträt von einer jungen Frau, die nicht hübsch, jedoch von interessantem Typus war. Sie trug ein Kopftuch, das einigermaßen aussah wie ein runder Hut mit einem kirschroten Seidenbande als Borte; die eine ihrer Hände, über denen sie fingerlose Handschuhe trug, hielt eine brennende Zigarette, während die andere in Kniehöhe etwas wie einen großen Gartenhut hielt; einfach ein Strohschirm gegen die Sonne. Neben ihr stand auf einem Tisch eine Vase voll Rosen. Das Auffallende gewisser Werke rührt oft – und so war es auch hier – vor allem daher, daß sie unter besonderen Umständen zustande gekommen sind, von denen man sich gleich anfangs nicht Rechenschaft gibt; wie beispielsweise wenn die befremdliche Toilette eines weiblichen Modells eine Verkleidung zum Kostümfest oder im gegenteiligen Falle der rote Mantel eines alten Mannes, den der scheint umgenommen zu haben, um einer Laune des Malers sich zu fügen, sein Professoren- oder Ratsherrentalar oder sein Kardinalsumhang ist. Der zweideutige Charakter der Erscheinung, deren Porträt ich vor Augen hatte, lag, ohne daß ich dies verstanden hätte, darin, daß sie eine junge Schauspielerin aus früheren Zeiten halbmännlich transvestiert war. Aber ihr steifer Hut, unter dem das kurzgeschnittene Haar bauschig hervortrat, der Sammetrock ohne Revers, der ein weißes Plastron sehen ließ, machten mich über die Datierung der Mode und das Geschlecht des Modells so schwankend, daß ich nicht recht wußte, was ich vor Augen hatte, es sei denn das hellste Stück Malerei. Und die Lust, die ich daran hatte, wurde gestört allein durch die Befürchtung, durch immer weiteres Säumen möchte Elstir die jungen Mädchen mich verfehlen lassen; denn die Sonne stand in dem kleinen Fenster schon niedrig und schräg. Auf diesem Aquarell war nichts als pure Tatsache hingesetzt und nur seines Nutzens in dieser Szenerie wegen gemalt: das Kostüm, weil die Frau bekleidet sein mußte, die Vase der Blumen wegen. Das Glas der Vase war um seiner selbst willen geliebt und schien das Wasser, in dem die Stengel der Nelken standen, in etwas ebenso Durchsichtiges, ja beinahe Flüssiges zu schließen wie es selber war; das Kleid lag offen, frei und brüderlich der Frau an, und als könnten industrielle Erzeugnisse in ihrem Charme mit den Wunderwerken der Natur wetteifern, die so zart und ergiebig für den berührenden Blick, so frisch gemalt sind wie ein Katzenfell, wie die Blütenblätter einer Nelke, wie Taubenflügel. Das Weiße des Plastrons war fein wie Streuglas, und die frivole Plisseearbeit daran bildete kleine Glocken, wie sie an Maiglöckchen sind; die hellen Reflexe des Zimmers schimmerten darauf und waren selber so akzentuiert und so fein abgestuft wie in Wäsche gewirkte Blumen. Und der Sammet des glänzenden Rockes mit seinen Perlmuttlichtern lag hier und da so gesträubt, zerrissen, fellartig da, daß man an das zerzauste Aussehen der Nelken in der Vase denken mußte. Vor allem aber merkte man, Elstir habe sich um das Unmoralische nicht bekümmert, das in der Transvestierung einer jungen Schauspielerin liegen konnte, für die das Talent, das sie an ihre Rolle wenden wollte, sicher weniger ins Gewicht fiel als die beirrende Faszination, die von ihr ausging und auf die blasierten oder depravierten Sinne gewisser Zuschauer wirken mußte; er hatte vielmehr an diese zweideutigen Züge als ein ästhetisches Element sich gehalten, das die Betonung verlohne, und er hatte alles getan, um es herauszuarbeiten. Verfolgte man die Linie des Gesichts, so schien das Geschlecht im Begriff einzugestehen, das eines etwas jungenhaften Mädchens zu sein; doch dann verlor es sich und tauchte später von neuem auf, um eher den Gedanken an einen lasterhaften und verträumten Knaben, der ins Weibliche spielte, aufkommen zu lassen, dann entzog es sich wieder und blieb nicht mehr zu fassen. Und nicht zum wenigsten war jenes Niedergeschlagen-Träumerische in seinem Kontrast zu Requisiten, die der Lebewelt und dem Theater angehörten, das Beirrende an alldem. Von diesem Blick mußte man übrigens annehmen, er sei künstlich; dem jungen Geschöpf, das sich hier in derart provozierendem Kostüm Liebkosungen anbot, war es wahrscheinlich reizvoll erschienen, ein geheimes Gefühl, einen uneingestandenen Kummer romantisch seinem Ausdruck einzuverleiben. Am unteren Rande des Porträts stand zu lesen: Miß Sacripant, Oktober 1872. Ich konnte mit meiner Bewunderung nicht an mich halten. »Oh, das ist nichts, eine Jugendskizze, nur ein Kostüm für eine Variété-Revue. All das liegt weit zurück.« »Und was ist aus dem Modell geworden?« Auf dem Gesicht von Elstir ging ein Staunen, das meine Worte hervorgerufen hatten, einem gleichgültigen, zerstreuten Ausdruck vorauf, den er nach einer Sekunde darauf sich breiten ließ. »Schnell, geben Sie mir das Bild,« sagte er, »ich höre Madame Elstir kommen, und wenn auch die junge Person mit dem steifen Hut in meinem Leben, ich versichere es Ihnen, keinerlei Rolle gespielt hat, so ist es doch nicht nötig, daß dies Aquarell meiner Frau unter die Augen gerät. Ich habe es nur behalten, weil es ein interessantes Zeugnis für das Theater jener Epoche ist.« Und bevor Elstir, der vielleicht lange dies Bild nicht mehr gesehen hatte, es hinter sich versteckte, warf er einen aufmerksamen Blick darauf. »Ich kann nur den Kopf behalten,« murmelte er, »die untere Partie ist tatsächlich zu schlecht gemalt, die Hände sind wie von einem Anfänger.« Ich war außer mir über die Ankunft von Frau Elstir, die uns noch länger aufhalten würde. Der Fenstersims färbte sich bald rosig. Unser Ausgang mußte vergeblich sein. Es bestand nicht mehr die mindeste Chance, die jungen Mädchen zu sehen zu bekommen, mithin war es ganz ohne Belang, ob Frau Elstir uns früher oder später verlassen würde. Sie blieb übrigens nicht sehr lange. Ich fand sie sehr langweilig; sie hätte schön sein können, wenn sie zwanzig Jahre gezählt und einen Ochsen in der Campagna geleitet hätte; aber ihr schwarzes Haar wurde weiß; sie war gewöhnlich, ohne schlicht zu sein, weil sie glaubte, ihre plastische Schönheit verlange feierliche Manieren und majestätische Haltung; der Schönheit aber hatten die Jahre alles Verführerische genommen. Sie war höchst einfach gekleidet. Man war gerührt, aber überrascht, bei jeder Gelegenheit Elstir ehrerbietig und sanft, als wecke das bloße Sagen dieser Worte Zärtlichkeit und Verehrung in ihm, sie anreden zu hören: »Meine schöne Gabriele.« Später, als ich Elstirs mythologische Malerei kennen lernte, wurde Frau Elstir auch für mich schön. Ich begriff, daß er einem gewissen Idealtypus, der in bestimmten Linien, bestimmten Arabesken sich resümierte, die immer wieder in seinem Oeuvre vorkamen, einem gewissen Kanon nahezu göttlichen Charakter verliehen hatte, da er alle seine Zeit, alle geistige Konzentration, deren er fähig war, mit einem Worte, sein ganzes Leben, der Aufgabe geweiht hatte, diese Linien genauer zu erkennen und treulicher sie wiederzugeben. Und wirklich inspirierte dieses Ideal Elstir zu einem derart strengen, heischenden Kultus, daß es kein Befriedigtsein für ihn gab, dieses Ideal war sein innerstes Teil – so hatte er es denn auch nie interesselos betrachten oder seelische Erschütterungen daraus für sich gewinnen können, bis zu dem Tag, da er es in der Außenwelt in einem Frauenleib verwirklicht fand, im Leibe derer, die dann später Frau Elstir geworden war, und in der er – wie solches nur bei dem uns möglich, was nicht wir selber sind – es anerkennenswert, ergreifend, göttlich gefunden hatte. Und welch ein Ausruhn auch, die Lippen auf dieses schlechthin Schöne zu drücken, das bisher so qualvoll aus sich selber zu gewinnen es galt, nun aber, geheimnisvoll verfleischlicht, zu immer neuer wirkungskräftiger Vereinigung sich ihm darbot. Um diese Zeit stand Elstir nicht mehr in dem ersten Jugendalter, in dem man von Geisteskräften allein die Verwirklichung seines Ideals erwartet. Er näherte sich dem Alter, da man auf die Befriedigung körperlicher Ansprüche zählt, um die Spannkraft des Geistes zu steigern, und da seine beginnende Ermüdung in ihm materialistischen Anschauungen und einer Verminderung der Leistung, möglicherweise auch passiv hingenommenen Einflüssen uns geneigter macht, so daß wir nicht ungern annehmen mögen, daß es vielleicht gewisse Körper, gewisse Handwerksarten, gewisse besondere Rhythmen gibt, die so natürlich unser Ideal verwirklichen, daß man selbst ohne Genie durch bloßes Kopieren einer Schulterbewegung, einer Streckung des Halses ein Meisterwerk zuwege bringen könnte; das ist das Alter, in dem wir das Schöne außerhalb unser selbst, in unserer Nähe auf einem Wandteppich, in einer schönen Skizze von Tizian, die man bei einem Trödler gefunden hat, in einer Geliebten, die so schön ist wie die Skizze des Tizian, zu streicheln liebt. Als mir das klar geworden war, konnte ich Frau Elstir nicht ohne Freude mehr ansehn, und ihr Körper verlor das Schwerfällige, denn ich erfüllte ihn mit einer Idee, mit der Idee, sie sei ein immaterielles Wesen, ein Porträt von Elstir. Für mich war sie eins und für ihn zweifellos auch. Die Gegebenheiten des wirklichen Lebens zählen nicht für den Künstler, sie sind für ihn nur eine Gelegenheit, sein Genie zu bekunden. Sieht man zehn Porträts verschiedener Personen, die Elstir gemalt hat, nebeneinander, so erkennt man: vor allem sind es Elstirs. Nur kommt nach dieser steigenden Flut im Genie, die das Leben überdeckt, wenn das Gehirn müde geworden ist und allmählich das Gleichgewicht gestört wird, wie ein Fluß, der nach starker Gegenströmung seinen Lauf wieder aufnimmt, das Leben und gewinnt von neuem Oberhand. Solange nun die erste Periode währte, hat der Künstler allmählich Gesetz und Formel des ihm unbewußten Vermögens herausgestellt. Ist er Romancier, so weiß er, welche Situationen, ist er Maler, welche Landschaften ihm den in sich belanglosen Rohstoff geben, der aber für sein Vorgehn unentbehrlich ist, wie ein Laboratorium oder Atelier es wären. Er weiß, seine Meisterwerke hat er mit Effekten von abgedämpftem Licht, mit Gewissensbissen, welche das Bild von einem Fehltritt ummodeln, mit Frauen unter Bäumen oder halb, wie Statuen, im Wasser befindlichen zustande gebracht. Ein Tag wird kommen, da sein Gehirn so vernutzt sein wird, daß er vor diesen Materialien, deren sich sein Genius bediente, nicht mehr die Energie besitzen wird, den intellektuellen Kraftaufwand zu leisten, der allein sein Werk hervorbringen kann; aber er wird dann doch fortfahren, ihnen nachzugehen, und glücklich sein, in ihrer Nähe zu weilen, des geistigen Genusses, der Ermunterung zur Arbeit wegen, die sie ihm verschaffen; und noch dazu wird er einen gewissermaßen abergläubischen Kult mit ihnen treiben, als wären sie mehr wert als andere Dinge und hause in ihnen bereits ein gut Teil des Kunstwerks, das sie gewissermaßen fertig in sich bergen; aber über den Umgang mit den Modellen und die Verehrung für sie wird er nicht mehr hinausgehen. Er wird mit reuigen Verbrechern endlose Gespräche führen, deren Gewissensbisse und Wiedergeburt früher einmal Gegenstand seiner Romane waren, er wird ein Landhaus in einer Gegend kaufen, in der Nebel das Licht abdämpft; lange Stunden wird er in der Betrachtung badender Frauen zubringen; er wird schöne Stoffe sammeln. Und die Schönheit des Lebens, ein Wort, das in gewisser Hinsicht ohne Sinn ist, ein Stadium, das diesseits der Kunst liegt, und an dem ich Swann hatte haltmachen sehen, sie war die Stelle, auf welche eines Tages allmählich durch langsame pulsierende Schöpferkraft, Idolatrie der Formen, die ihr günstig gewesen waren, und Wahl der Linie des geringsten Widerstandes Elstir sich zurückbegeben sollte.
Endlich tat er an seinen Blumen einen letzten Pinselstrich; ich hielt mich einen Augenblick bei ihrer Betrachtung auf; es war nichts Verdienstliches dabei, da ich wußte, daß die jungen Mädchen nicht mehr am Strande sein würden; aber hätte ich selbst geglaubt, sie seien noch dort und hätten diese verlorenen Minuten sie mich verfehlen lassen – ich hätte sie dennoch mir angesehen, denn ich hätte mir gesagt, Elstir interessiere sich mehr für seine Blumen als für meine Begegnung mit den jungen Mädchen. Die Natur meiner Großmutter – eine Natur, die ganz das Gegenteil meiner durch und durch egozentrischen war – reflektierte sich doch in der meinen. Angenommen jemand, der mir gleichgültig war, dem gegenüber ich aber stets Liebe oder Respekt hätte, habe nur eine Unannehmlichkeit zu riskieren, ich selber aber liefe irgendwie Gefahr, so hätte ich mich dennoch nicht erwehren können, seinen Verdruß als etwas Erhebliches zu beklagen und meine Gefahr als ein Nichts zu behandeln, weil ich der Anschauung wäre, in diesem Verhältnis müßten sich ihm die Dinge darstellen. Um die Dinge beim rechten Namen zu nennen, so war es sogar etwas mehr als das: nicht nur nicht über die Gefahr, in der ich selber schwebte, zu klagen, sondern diese Gefahr heraufzubeschwören und, was die andern anging, selbst dann sie von ihnen abzuhalten, wenn größere Chancen, daß ich selbst von ihr ereilt würde, bestanden. Das hat mehrere Gründe, die nicht weiter zu meiner Ehre gereichen. Einer von ihnen ist, daß ich zwar über alles am Leben zu hängen glaubte, wann immer ich verstandesmäßig darüber nachdachte; aber jedesmal, wenn ich im Lauf meines Daseins mir über höhere Dinge Sorge machte oder auch nur von krankhaften Befürchtungen besessen war (so kindischen oft, daß ich nicht wagen würde, sie hier mitzuteilen), und es trat dann ein unvorhergesehener Umstand ein, der mich Gefahr laufen ließ, getötet zu werden, so war diese neue Besorgnis so leicht im Verhältnis zu jener früheren, daß ich mit einem Gefühl der Entspannung, das bis zur Erleichterung ging, sie empfing. Und dergestalt habe ich, der am wenigsten tapfere Mensch von der Welt, in meinem Leben mehrmals das kennengelernt, was meiner Natur so fremd, so unfaßlich schien, wenn ich nachdachte: den Rausch der Gefahr. Aber selbst wäre ich im Augenblick, da sie – und zwar als tödliche – eintritt, in einer gänzlich friedlichen und glücklichen Periode – ich könnte, wäre ich mit jemand anderm, nicht anders handeln, als ihn in Sicherheit zu bringen und selbst den gefährlichen Platz einzunehmen. Als eine hinreichend große Zahl von Erfahrungen mich gelehrt hatte, daß ich immer so handele, und dies mit Freuden, entdeckte ich zu meiner großen Beschämung, daß es geschah, weil ich im Gegensatze zu dem, was ich immer geglaubt und angegeben hatte, sehr empfindlich gegenüber der Meinung von Fremden war. Diese Art uneingestandener Eigenliebe hat jedoch nichts mit Hochmut oder Eitelkeit zu tun. Denn was ihn oder sie befriedigen könnte, würde mir keine Freude machen, und ich habe mich immer fern davon gehalten. Aber bei den Menschen, denen gegenüber es mir am vollendetsten gelang, die kleinen Vorzüge zu verhehlen, die ihnen vielleicht einen weniger erbärmlichen Begriff von mir hätten geben können, habe ich mir niemals das Vergnügen versagen können, ihnen zu zeigen, daß ich mit größerer Achtsamkeit den Tod von ihrem Weg fernhalte als von dem meinen. Da mein Motiv in diesem Fall Eigenliebe, nicht Tugend, war, so finde ich es sehr natürlich, daß sie in entsprechenden Umständen anders handeln. Ich bin weit entfernt, sie deswegen zu tadeln, was ich vielleicht tun würde, wenn ich von der Vorstellung einer Pflicht bestimmt worden wäre, die in diesem Falle mir für sie ebenso verbindlich erschienen wäre wie für mich. Ich finde es im Gegenteil sehr weise von ihnen, ihr Leben in acht zu nehmen, indessen ich dennoch mich nicht enthalten kann, das meine zurückzustellen; und das empfinde ich ab besonders sinnwidrig und schuldhaft, seitdem ich zu erkennen glaubte, daß das von vielen anderen, vor die ich mich stelle, wenn eine Bombe explodiert, geringeren Wert hat. Am Tage, da ich diesen Besuch bei Elstir machte, waren die Zeiten aber noch fern, in denen mir dieser Wertunterschied zum Bewußtsein kommen sollte, und nicht um Gefahr ging es, sondern ganz einfach – ein Zeichen, welches die verhängnisvolle Eigenliebe vorverkündete – darum, nicht den Anschein zu geben, als läge mir an jener Freude, die ich so glühend begehrte, mehr als an der Arbeit des Aquarellisten, mit der er noch nicht fertig war. Endlich war sie es. Als wir einmal im Freien waren, bemerkte ich, daß – so lang waren die Tage in dieser Jahreszeit – es nicht so spät war, wie ich geglaubt hatte. Wir gingen auf die Mole. Welche Listen bot ich nicht auf, um Elstir an der Stelle verweilen zu lassen, wo meiner Ansicht nach die jungen Mädchen noch vorbeikommen konnten. Ich zeigte ihm die Klippen, die neben uns aufstiegen, und forderte ihn unaufhörlich auf, mir von ihnen zu sprechen, um ihn die Stunde vergessen zu lassen und zum Bleiben zu bringen. Mir schien, wir hätten größere Chancen, der kleinen Bande den Weg abzuschneiden, wenn wir dem äußersten Ende des Strandes zugingen. »Ich hätte gern ein klein wenig aus der Nähe mit Ihnen diese Klippen gesehen«, sagte ich, denn ich hatte bemerkt, daß eines der jungen Mädchen oft nach dieser Seite ging. »Und unterdessen erzählen Sie mir von Carquethuit. Ach, wie gern würde ich nach Carquethuit gehen,« setzte ich hinzu, ohne mir zu sagen, daß das Neue, das so machtvoll aus dem »Hafen zu Carquethuit« von Elstir sprach, vielleicht mehr Vision dieses Malers als ein besonderes Verdienst dieser Küste war. »Seitdem ich dieses Bild gesehen habe, ist das vielleicht mit der Pointe-du-Raz, wohin es übrigens von hier eine ganze Reise ist, der Ort, den ich am liebsten kennen lernen würde.« »Und selbst wenn es nicht näher läge, würde ich Ihnen vielleicht dennoch eher zu Carquethuit raten«, antwortete mir Elstir. »Die Pointe-du-Raz ist wundervoll, aber schließlich bleibt es immer die große normannische oder bretonische Klippenlandschaft, die Sie kennen. Carquethuit mit seinen Felsen auf niedrigem Strand ist etwas ganz anderes. Ich kenne in Frankreich nichts Ähnliches, eher erinnert es mich an gewisse Partien von Florida. Es ist sehr merkwürdig und übrigens auch außerordentlich wild. Es liegt zwischen Clitourps und Nehomme, und Sie wissen. wie trostlos diese Gegenden und wie hinreißend ihre Strandlinie. Hier verläuft die Strandlinie ganz beliebig; aber wie zart und graziös sie da unten ist, das kann ich Ihnen gar nicht sagen.«
Der Abend brach herein; man mußte zurück; ich geleitete Elstir seiner Villa zu, als mit einem Male – wie Mephistopheles vor Faust auftaucht – am Ende der Allee – wie die schlichte, unwirkliche, diabolische Objektivation eines Temperaments, das dem meinen entgegengesetzt ist, einer gewissermaßen barbarischen, grausamen Vitalität, wie sie meiner Schwäche, meiner übersteigerten, schmerzhaften Sensibilität und Geistigkeit so sehr fehlte – einige Flecken der mit nichts anderem zu verwechselnden Essenz, einige Sporaden der Zoophytenbande junger Mädchen auftauchten, die zwar aussahen, als bemerkten sie mich nicht, aber nichtsdestoweniger sicher im Begriffe standen, etwas Ironisches von mir zu sagen. Weil ich merkte, die Begegnung zwischen ihnen und uns müsse unvermeidlich zustande kommen und Elstir werde mich rufen, so wandte ich mich um, wie einer, der beim Baden die Welle empfangen will; ich blieb auf der Stelle stehen und ließ meinen berühmten Begleiter allein seinen Weg fortsetzen; ich selber blieb zurück und beugte mich, als gewänne ich plötzlich Interesse für sie, über die Vitrine eines Antiquitätenhändlers, vor dem wir gerade vorbeikamen; es war mir nicht unlieb, so aussehen zu können, als dächte ich an anderes als diese jungen Mädchen, und ich wußte schon unbestimmt, wenn Elstir mich rufen würde, um mich vorzustellen, so würde ich jenen fragenden Ausdruck haben, der nicht Erstaunen, sondern den Wunsch, erstaunt zu scheinen, zum Ausdruck bringt – ein so schlechter Schauspieler ist ein jeder und ein so guter Physiognomiker der Nebenmensch; – ich würde sogar so weit gehen, mit dem Finger mir auf die Brust zu tippen, um zu fragen: »Haben Sie wirklich mich gerufen?« und dann schnell angelaufen kommen, mit gelehrig-gehorsam gesenktem Haupt, im kühlen Ausdruck aber den Verdruß verhehlend, der Betrachtung alter Fayencen entrissen zu sein, um Leuten vorgestellt zu werden, die ich nicht kennen zu lernen begehre. Indessen betrachtete ich die Auslage und wartete auf den Augenblick, da der Ruf meines Namens aus Elstirs Munde, wie eine unschädliche Kugel, auf die man gefaßt ist, mich treffen würde. Die Gewißheit, den jungen Mädchen vorgestellt zu werden, hatte zur Folge gehabt, mich im Hinblick auf sie Gleichgültigkeit nicht nur spielen, sondern empfinden zu lassen. Das nunmehr unvermeidliche Vergnügen, sie kennen zu lernen, ward eingeschränkt, vermindert, schien mir geringer als das an einem Gespräch mit Saint-Loup oder einem Abendessen mit meiner Großmutter oder an Ausflügen in der Umgebung, von denen ich schon jetzt bedauerte, sie wahrscheinlich infolge der Beziehungen zu diesen Leuten vernachlässigen zu müssen, die vermutlich sich wenig für historische Monumente interessieren würden. Was übrigens mein bevorstehendes Vergnügen verminderte, war nicht nur, daß es bevorstand, sondern wie unvermittelt es sich verwirklichte. Gesetze, so exakt wie die der Hydrostatik, regeln die Schichtung der Vorstellungsbilder, die wir in einer gegebenen Reihenfolge anordnen, um durch die Nähe des Ereignisses sie umstürzen zu lassen. Elstir sollte mich rufen. Es war ganz und gar nicht in dieser Art gewesen, daß ich so oft am Strand und in meinem Zimmer die erste Bekanntschaft mit diesen jungen Mädchen mir vorgestellt hatte. Was stattfinden sollte, war ein anderes Geschehnis, auf das ich nicht vorbereitet war. Ich erkannte weder meinen Wunsch wieder noch seinen Gegenstand; fast bedauerte ich, mit Elstir ausgegangen zu sein. Aber vor allem war die Schrumpfung der Freude, die ich im Vorhergehenden zu empfinden glaubte, durch die Gewißheit bedingt, daß nichts sie mir nehmen könne. Und wie kraft einer Elastik gewann sie ihre ganze Ausdehnung zurück, als sie nicht mehr den Druck jener Gewißheit fühlte: im Augenblick, da ich mich entschloß, den Kopf zu wenden, sah ich Elstir ein paar Schritte weiter bei den jungen Mädchen stehen und ihnen Adieu sagen. Das Gesicht von der, welche ihm zunächst stand, war dick und durch ihre Blicke erhellt; es sah aus wie ein Kuchen, in dem man Platz für ein wenig Himmel gelassen hatte. Ihre Augen gaben, selbst wenn sie etwas fixierte, den Eindruck, sie bewegten sich, wie an sehr windigen Tagen die Luft, obwohl man sie nicht sehen kann, spüren läßt, wie schnell sie vor dem Azur vorbeizieht. Einen Augenblick kreuzten ihre Blicke die meinen, wie diese reisenden Stücke von Himmel an Gewittertagen: sie kommen einer langsameren Wolke nahe, streifen, berühren, überholen sie. Aber sie kennen sich nicht und entfernen sich weit voneinander. So standen unsere Blicke einen Moment einander gegenüber, keiner wußte, was der himmlische Kontinent, der da vor ihm lag, an Versprechen und Drohungen für die Zukunft verhielt. Nur gerade, als ihr Blick genau an dem meinen, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, vorbeizog, verschleierte er sich leicht. So zieht in einer klaren Nacht der Mond im Windstrom unter einer Wolke dahin und verschleiert einen Augenblick seinen Glanz, dann erscheint er schnell wieder. Aber Elstir hatte die jungen Mädchen schon verlassen, ohne mich gerufen zu haben. Sie schlugen eine Querstraße ein, er kam auf mich zu. Es war alles verfehlt.
Ich habe gesagt, daß Albertine mir an diesem Tage nicht wie an den vorhergehenden erschienen war und daß sie jedesmal mir anders vorkommen sollte. Aber in diesem Augenblick fühlte ich, daß Abweichungen im Anblick, in der Bedeutung, in der Größe eines Menschen ebensowohl an der Wandelbarkeit gewisser Verfassungen liegen können, die gerade zwischen uns und ihm herrschen. Eine von ihnen, die in dieser Hinsicht die größte Rolle spielt, ist das Vertrauen. (An diesem Abend hatte das Vertrauen, sodann das Hinfälligwerden des Vertrauens, ich werde Albertine kennen lernen, im Zeitraum weniger Sekunden sie in meinen Augen beinahe gleichgültig und dann wieder unendlich kostbar erscheinen lassen; einige Jahre später führte das Vertrauen, dann das Verschwinden des Vertrauens, daß Albertine mir treu sei, ähnliche Veränderungen herbei.)
Gewiß hatte ich auch in Combray schon je nach den Tageszeiten, je nachdem ich in den einen oder den anderen der beiden Modi eintrat, die in mein Fühlen sich teilten, den Gram, nicht bei meiner Mutter zu sein, größer und kleiner werden sehen; am ganzen Nachmittage war er so unmerklich gewesen wie Mondlicht, solange die Sonne scheint, und war die Nacht gekommen, herrschte er allein in meiner geängsteten Seele, wo alles Jüngstvergangene in der Erinnerung verlöscht war. Als ich jedoch damals sah, wie Elstir die jungen Mädchen verließ, ohne mich herangerufen zu haben, begriff ich, daß die wechselnde Bedeutung, die etwas, was uns freut oder bekümmert, in unsern Augen gewinnen kann, bisweilen nicht nur davon kommt, daß zwei innere Zustände einander ablösen, sondern daß unsichtbare Überzeugungen in uns sich verlagern; die lassen uns beispielsweise den Tod als etwas Gleichgültiges erscheinen, weil sie ein unwirkliches Licht über ihn verbreiten, und sie gestatten uns dergestalt, großes Gewicht unserer Anwesenheit auf einer musikalischen Soirée beizumessen, die jeden Reiz verlieren würde, wenn sich die innere Überzeugung, in welche diese Soirée getaucht ist, bei der Mitteilung verflüchtigen würde, wir sollten guillotiniert werden; etwas in meinem Innern wußte das freilich, und das war mein Wille; aber der weiß es umsonst, wenn Verstand und Gefühl fortfahren, nichts davon zu wissen; die sind durchaus bona fide, wenn sie annehmen, uns stünde der Sinn darauf, eine Geliebte zu verlassen, von der nur unser Wille weiß, wie fest wir an ihr halten. Sie sind blind in dem Glauben, daß wir die Geliebte alsbald wiederfinden werden. Aber wenn diese innere Überzeugung zergeht und sie ganz plötzlich erfahren, daß diese Geliebte auf immer fort ist, so haben Verstand und Gefühl verspielt und geberden sich wie von Sinnen.
Wechselndes inneres Überzeugtsein und auch Gegenstandslosigkeit des Liebens, das, wie es in der Seele schweifend präexistent ist, beim Bilde einer Frau ganz einfach deshalb verweilt, weil diese Frau fast unerreichbar ist! Und dann denkt man weniger an eine Frau, die man nicht ohne Mühe sich vergegenwärtigt, als an die Mittel und Wege, sie kennen zu lernen. Es tut sich eine lange Abflucht von Befürchtungen auf, und das ist schon genug, um unser Lieben an sie, als dessen kaum gekannten Gegenstand, zu binden. Die Liebe wird unermeßlich, und daran denken wir nicht, wie wenig Raum in ihr die wirkliche Frau behauptet. Und wenn wir dann – so ging es mir, als Elstir bei den jungen Mädchen stehen blieb – mit einem Male nicht mehr unruhig und besorgt sind, dann scheint, weil darin unser ganzes Lieben besteht, plötzlich dies im Augenblick, da wir die Beute, deren Wert wir nicht genug bedachten, in Händen halten, sich verflüchtigt zu haben. Was kannte ich von Albertine? Ein oder zwei Profile gegen einen Hintergrund von Meer und ganz gewißlich weniger schöne als von Frauen Veroneses, die ich nach rein ästhetischen Gesichtspunkten ihnen hätte vorziehen müssen. Konnte ich aber andere Gesichtspunkte haben, da nach dem Schwinden dieses Angstgefühls ich nur diese stummen Profile wiederzufinden vermochte und nichts anderes besaß? Seitdem ich Albertine gesehen, hatte ich tagtäglich tausend Überlegungen, die sie betrafen, angestellt und im Innern mit dem, was ich ›sie‹ nannte, eine regelrechte Unterhaltung gepflogen, in der ich sie fragen, antworten, denken und handeln ließ, und in der unabsehbaren Reihe von vorgestellten Albertinen, die allstündlich in mir sich ablösten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande gesehen habe, nur am Anfang vor, wie die eigentliche Darstellerin einer Rolle, der Star, nur in den allerersten einer langen Reihe wiederholter Vorstellungen auftritt. Und diese Albertine war kaum mehr als eine Silhouette; alles, was sich darüber geschichtet hatte, war mein eigen; derart ist in der Liebe, was wir selber beibringen – selbst wenn man nur die Menge in Betracht zieht – dem überlegen, was von dem geliebten Geschöpf herrührt. Und das gilt selbst für die allerrealsten Liebesverhältnisse. Auch unter ihnen kommen solche vor, die um fast nichts sich nicht allein haben bilden, sondern sogar sich behaupten können – und sogar unter solchen, die fleischlich erhört wurden, findet sich das. Ein ehemaliger Zeichenlehrer meiner Großmutter hatte von einer belanglosen Mätresse eine Tochter. Die Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt des Kindes, und den Zeichenlehrer grämte das so, daß er sie nicht lange überlebte. In den letzten Monaten seines Lebens gingen meine Großmutter und einige andere Damen aus Cornbray mit der Absicht um, die Zukunft des kleinen Mädchens sicherzustellen und zu einer laufenden Rente für sie zusammenzuschießen. Vor ihrem Lehrer hatten die Damen niemals auf diese Frau anspielen mögen, mit der er nie offiziell gelebt und überhaupt nur wenig Beziehungen unterhalten hatte. Meine Großmutter brachte die Sache in Vorschlag, einige Freundinnen ließen sich lange bitten: war das kleine Mädchen wirklich so wichtig? war sie auch nur die Tochter dessen, der sich für ihren Vater hielt? bei Frauen wie ihrer Mutter könne; man niemals wissen. Endlich entschloß man sich doch. Das kleine Mädchen kam und bedankte sich. Es war häßlich und sah dem alten Zeichenlehrer so ähnlich, daß jeder Zweifel fortfiel; da ihre Haare das einzig Nette an ihr waren, sagte eine Dame zum Vater, der sie hergebracht hatte: »Wie schönes Haar sie hat.« Und aus dem Gedanken heraus, nun, da die schuldige Frau tot und der Professor mit einem Fuß auch schon im Grabe stehe, sei eine Anspielung auf die Vergangenheit, von der man immer so getan, als kenne keiner sie, ohne Folgen, fügte meine Großmutter hinzu: »Das muß in der Familie liegen. Hatte ihre Mutter dies schöne Haar?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Vater naiv. »Ich habe sie immer nur im Hut gesehen.«
Ich mußte Elstir wieder einholen. Da erblickte ich mich in einem Spiegel. Und nun bemerkte ich – daß – nicht genug an dem Unglück, daß ich nicht war vorgestellt worden – meine Krawatte schief saß und mein Hut die langen Haare hervorkommen ließ; das stand mir schlecht, aber doch blieb, daß sie mich – selbst in diesem Zustand – mit Elstir getroffen hatten und mich nicht mehr vergessen konnten, eine Chance; eine weitere war, daß ich auf den Rat meiner Großmutter meine hübsche Weste angezogen (während wenig gefehlt hatte, und ich hätte meine abscheulichste getragen), und daß ich meinen hübschesten Spazierstock mitgenommen hatte; denn ein Ereignis, das wir uns wünschen, geht niemals vor sich, wie wir es uns gedacht haben; an Stelle günstiger Momente, auf welche wir glaubten zählen zu können, haben sich andere, die nicht von uns erhofft wurden, eingefunden, und im ganzen gleicht es sich aus; vor dem Schlimmsten hatten wir solche Angst, daß wir zum Schluß geneigt sind, anzunehmen, alles in allem sei uns das Glück eher noch günstig gewesen.
»Ich hätte sie so gerne kennen gelernt«, sagte ich Elstir, als ich bei ihm ankam. »Warum sind Sie dann meilenweit zurückgeblieben?« So sagte er – aber das war nicht etwa sein Gedanke. Hätte er nämlich den Wunsch gehabt, dem meinigen Gehör zu schenken, so wäre es ihm sehr leicht gewesen, mich zu rufen. Er sagte das, weil er vielleicht derartige Sätze früher gehört hatte. (Man kennt sie bei gewöhnlichen Leuten, wenn man bei falschem Benehmen sie ertappt.) Und vielleicht entnehmen selbst große Männer bei gewissen Gelegenheiten alltägliche Entschuldigungen demselben Repertorium wie die gewöhnlichen Leute, wie sie ja auch das tägliche Brot von demselben Bäcker beziehen; vielleicht sind aber auch solche Bemerkungen, die in gewissem Sinne von hinten gelesen sein wollen, da ihre buchstäbliche Bedeutung das Gegenteil von der Wahrheit sagt, der negative graphische Niederschlag von einem Reflex. »Sie hatten es eilig.« Ich sagte mir, sie hätten vor allem ihn wohl verhindert, jemanden zu rufen, der ihnen wenig sympathisch war; andernfalls hätte er es nicht unterlassen nach all den Fragen, die ich ihm ihretwegen gestellt hatte, und dem Interesse, das ich an ihnen, wie ihm nicht entgangen war, nahm. »Ich sprach Ihnen von Carquethuit«, sagte er mir, bevor ich ihn an seiner Tür verließ. »Ich habe eine kleine Skizze gemacht, auf der man die Küstenlinie viel besser sieht. Das Bild ist nicht allzu schlecht, aber es ist etwas anderes. Wenn Sie gestatten, so möchte ich Ihnen zur Erinnerung an unsere Freundschaft meine Skizze geben,« setzte er hinzu, denn die Leute, die uns abschlagen, was wir wollen, geben uns etwas anderes.
»Ich hätte sehr gern eine Photographie von dem kleinen Porträt von Miß Sacripant, wenn Sie eine besitzen. – Aber was ist das für ein Name?« »Der einer Person, die in einer törichten kleinen Operette mir das Modell lieferte.« »Aber Sie wissen, daß ich sie durchaus nicht kenne? Es macht den Eindruck, daß Sie das Gegenteil annehmen.« Elstir schwieg. »Es ist doch jedenfalls nicht Frau Swann vor ihrer Heirat?« sagte ich und stieß, wie das bisweilen geht, ganz plötzlich auf die Wahrheit. Dergleichen geschieht, alles in allem, recht selten, ist aber, wenn es einmal vorkommt, genug, der Theorie von den Vorahnungen ein gewisses Fundament zu leihen, vorausgesetzt man vergißt alle Irrtümer, die sie entkräften würden. Elstir erwiderte mir nicht. Es war wirklich ein Porträt von Odette de Crécy. Sie hatte es aus vielen Gründen nicht behalten wollen, deren einige allzu klar auf der Hand liegen. Aber es gab noch andere. Das Porträt lag vor dem Zeitpunkte, da Odette ihre Züge in Zucht genommen und aus Gesicht und Gestalt die Schöpfung zuwege gebracht hatte, wie in den Jahren, die folgten, ihre Friseure, ihre Schneider, sie selber – in Haltung, Sprechweise, Lächeln, Stellung der Hände, Blick und Gesinnung – in großen Zügen sie zu respektieren hatten. Die Verderbtheit des übersättigten Liebhabers war vonnöten, um für Swann reizvoller als die zahlreichen Photographien der Odette ne varietur (wie seine entzückende Frau sie war) die kleine Photographie zu machen, die in seinem Zimmer stand und unter einem Strohhut, den Stiefmütterchen zierten, eine schmächtige junge Frau zeigte, die ziemlich häßlich war, bauschige Locken und etwas Abgespanntes im Ausdruck hatte.
Aber auch wenn dies Porträt nicht, wie die Photographie, welche Swann die liebste war, vor der erwähnten Systematisierung von Odettes Zügen in einem neuen Typ gelegen hätte, der sie majestätisch und anziehend zugleich werden ließ, wäre sie selbst aus späterer Zeit gewesen, so hätte Elstirs Vision genügt, um diesen Typ zu zersetzen. Künstlerisches Genie wirkt wie die übermäßigen Hitzegrade, die Atomverbindungen auflösen können, um deren Bestandteile in genau gegenteiliger Ordnung zu gruppieren, die einem anderen Modell entspricht. Die ganze künstliche Harmonie, welche die Frau ihren Zügen aufzwang und nun alltäglich vor dem Ausgang auf ihre Dauer vor dem Spiegel kontrolliert, wo sie den Hut zurechtrückt, ihre Haare glatt streicht und freundlicher blickt, um ihren Fortbestand zu sichern – in der Sekunde macht ein Blick des großen Malers diese Harmonie zunichte und stellt an deren Statt die Züge dieses Frauenbildes um, derart dem ganz bestimmten malerischen Frauenideal, das er im Innern trägt, Genüge zu tun. In gleicher Weise kommt es häufig vor, daß von einem gewissen Alter an ein Auge, welches das Forschen gewöhnt ist, zu jeder Zeit die Elemente findet, deren es bedarf, um die Verhältnisse zu schaffen, welche ihm allein am Herzen liegen. Wie Arbeiter und Spieler, die keine Umstände machen und mit dem, was ihnen in die Hände fällt, vorlieb nehmen, könnten sie von jedwedem sagen: das ist, was ich brauche. So hatte eine Kusine der Prinzessin von Luxembourg, eine der unnahbarsten Schönheiten, früher einmal für eine Kunst sich begeistert, die damals neu war, und einen der größten naturalistischen Maler gebeten, sie zu malen. Umgehend hatte das Auge des Künstlers das, was es überall suchte, gefunden. Und auf der Leinwand sah man an Stelle der großen Dame ein Laufmädchen vor einem großen schräg nach vorn geneigten violetten Hintergrund, bei dem einem die Place Pigalle einfallen mußte. Soweit aber braucht man nicht zu gehen. Denn in einem Frauenporträt wird ein großer Künstler auf keine Weise versuchen, irgendwelchen Bedürfnissen der Frau zu willfahren – etwa solchen, aus denen heraus sie, wenn das Alter herankommt, sich sozusagen in Backfischkleidern photographieren läßt, weil so ihre noch jugendliche Figur besser zur Geltung kommt und sie als Schwester oder gar als Tochter ihrer Tochter erscheint (die dann wenn nötig aus diesem besonderen Anlaß sich in geschmacklosem Aufputz neben ihr sehen läßt). – Unvorteilhaftes, was sie zu verbergen sucht, wird er vielmehr herausstellen, weil beispielsweise ein fiebriger, ja selbst grünlicher Teint ihm als ›charaktervoll‹ anziehend ist; auf die Masse der Betrachter aber wirkt es ohne weiteres enttäuschend; für sie zerstößt es nämlich zu Krummen das Ideal, dessen Armatur die Frau mit ihrem ganzen Stolze aufrecht erhielt, weil sie in ihr erblickt, was einzig, unwiederholbar, außerhalb und über allem Menschenwesen sonst an ihrer Form ist. Herabgestürzt und ihrem eignen Typ, auf dem sie unverletzlich thronte, entfremdet, ist sie nun nichts als eine gewöhnliche Frau, zu deren Überlegenheit wir alles Zutrauen verloren haben. Und in einem Typ von der Art hat für uns nicht nur die Schönheit einer Odette, sondern selbst ihre Persönlichkeit, ja ihre Identität so sehr bestanden, daß wir vor einem Porträt, das ihn ihr nimmt, uns versucht fühlen, nicht nur: ›Wie häßlich er sie macht!‹ zu rufen, sondern ›Wie schlecht getroffen!‹ Es fällt uns schwer, anzunehmen, sie sei gemeint. Wir erkennen sie nicht. Und doch haben wir es mit einem Geschöpf zu tun, von dem etwas uns sagt: wir haben es schon gesehen. Aber dieses Geschöpf ist nicht Odette; das Antlitz dieses Geschöpfs, sein Körper, seine Erscheinung sind uns wohlbekannt. Sie erinnern uns – nicht an die Frau, die einmal sich so gehalten hat, deren übliche Erscheinung durchaus keine so auffallende, provozierende Arabeske zeichnet, sondern an andere Frauen, an all die, welche Elstir gemalt hat und die er immer, wie verschieden sie unter sich sein mögen, so en face vor einen hat hinstellen wollen, so den geschweiften Fuß unterm Jupon hervorschauend, so mit dem breiten Hute in der Hand, der in der Höhe des Knies, das er bedeckt, symmetrisch jenem anderen Diskus dort en face, dem Gesicht entspricht. Und schließlich: ein geniales Porträt renkt nicht nur einen Frauentyp, wie Koketterie und ein privater egoistischer Begriff von Schönheit ihn umschrieben haben, aus, sondern begnügt, im Falle, daß er alt ist, sich nicht einmal, das Original in gleicher Art, als wäre es photographiert, alt erscheinen zu lassen, indem es nämlich in altmodischem Staat es vorstellt. Von einst ist am Porträt nicht nur die Art, in der die Frau sich kleidete, sondern auch die Art, in welcher der Maler gemalt hat. Diese Art, Elstirs erste Manier, ergab für Odette den niederschmetterndsten Auszug aus dem Geburtenregister, weil Elstir aus ihr nicht nur, wie ihre Photographien aus jener Zeit, eine Jüngste unter den damals bekannten Kokotten machte, sondern ihr Bild zum Zeitgenossen eines der zahlreichen Porträts, wie Manet oder Whistler sie nach so vielen entschwundenen Modellen gemalt haben, die bereits dem Vergessen oder der Geschichte angehören.
In solche Gedanken, wie ich sie schweigend in mir hin und her bewegte, indes ich Elstir zurückbegleitete, hatte mich die Entdeckung versetzt, die ich soeben in bezug auf die Identität seines Modells gemacht hatte, als diese erste Entdeckung auf eine zweite mich führte, die noch erregender für mich war und die Identität des Künstlers betraf. Er hatte das Porträt von Odette de Crécy gemacht. Sollte es denkbar sein, daß dieser geniale Mann, dieser Weise und Einsiedler, dieser Philosoph, mit dem man so wundervoll sprechen konnte, der so hoch über allen Dingen stand, der lächerliche, verderbte Maler war, mit dem früher die Verdurin verkehrt hatten. Ich fragte ihn, ob er sie gekannt habe und ob sie ihn nicht etwa damals immer Herrn Biche genannt hätten. Er erwiderte mir, dem sei so, ohne Verlegenheit, als handle es eich um eine schon etwas zurückliegende Epoche seines Daseins und als ahne er nichts von der ungeheuren Enttäuschung, die er mir damit verursachte; aber als er die Augen aufhob, las er sie auf meinem Gesicht. Das seine nahm einen unzufriedenen Ausdruck an. Und da wir schon fast bei ihm angelangt waren, so hätte einer mit geringeren Gaben des Verstandes und Herzens mir vielleicht einfach ein wenig trocken »Auf Wiedersehen« gesagt und danach es vermieden, mich wiederzusehen. Aber so verfuhr Elstir nicht mit mir; als wahrer Meister – und vielleicht war es unter dem Gesichtspunkt der reinen Schöpfung sein einziger Fehler, in diesem Sinne des Wortes einer zu sein, denn um ganz in der Wahrheit des geistigen Daseins zu leben, muß ein Künstler allein sein und darf von seinem Ich, sogar an Schüler, nichts verschwenden – zeigte er sich bemüht, aus jeder Konstellation, mochte sie auf ihn oder andere Bezug haben, zu besserer Belehrung der jungen Leute, den Teil vom Wahren, welcher in ihr steckte, herauszustellen. So gab er vor Worten, die seiner Eigenliebe hätten genug tun können, solchen den Vorzug, die mich belehren konnten. »Es gibt keinen Mann, er sei so überlegen, wie er wolle,« sagte er, »der nicht in irgendeiner Epoche seiner Jugend Worte gesprochen oder sogar ein Leben geführt habe, woran zu denken ihm nicht peinlich wäre, und die er nicht ungeschehn wünschen würde. Doch ohne Einschränkung darf er das nicht bedauern, denn er kann nicht sich versichert halten, ein Weiser geworden zu sein – in dem Maße, in welchem das möglich ist – es sei denn, er wäre durch alle lächerlichein oder schmählichen Inkarnationen gegangen, welche dieser letzten vorhergehen. Ich weiß, es gibt junge Leute, Söhne und Enkel hervorragender Männer, denen ihre Lehrer schon von der Schulbank auf geistigen Adel und moralische Eleganz beigebracht haben. Sie haben vielleicht nichts aus ihrem Leben zu streichen, sie könnten alles, was sie je gesagt haben, veröffentlichen und mit ihrem Namen zeichnen, aber es sind ärmliche Geister, Abkommen kraftloser Doktrinäre, deren Weisheit negativ und steril ist. Weisheit gibt einem keiner, man muß sie selber entdecken, und es bedarf dazu einer Reise, die niemand an unserer Statt übernehmen, uns keiner ersparen kann, denn sie ist eine Art und Weise, die Dinge zu betrachten. Die Lebensläufe, die man bewundert, die Haltungsweise, die man vornehm findet, sind nicht vom Vater oder Lehrer arrangiert worden, im Beginn vielmehr sind sie sehr anders gewesen, und sie waren ursprünglich beeinflußt von allem, was Banales oder Schlechtes in der Umwelt lebte. Sie stellen einen Kampfund einen Sieg dar. Ich verstehe, daß das Bild dessen, was wir in einer früheren Periode gewesen sind, nicht mehr zu erkennen und in jedem Falle verstimmend ist. Verleugnet darf es dennoch nicht werden, denn es zeugt dafür, daß wir wahrhaft gelebt haben, und daß nach den Gesetzen des Lebens und des Geistes wir aus den durchgängigen Elementen des Lebens, des Lebens der Ateliers, der Künstlerkreise, wenn es um einen Maler sich handelt, etwas herausdestilliert haben, was mehr wert ist.« Wir waren vor seiner Tür angelangt. Ich war enttäuscht, die jungen Mädchen nicht kennen gelernt zu haben. Aber nun endlich würde es eine Möglichkeit geben, in meinem Leben sie wiederzufinden; sie hatten aufgehört, nur flüchtig an einem Horizonte vorüberzuziehen, vor dem ich gemeint hatte, nie wieder sie erscheinen zu sehen. Es war um sie nicht mehr die große Wellenbewegung, die uns trennte und nur die Übersetzung jenes rastlos bewegten, regsamen, drängenden Wunsches war, den die Besorgnis über ihr unerreichbares Dasein, ihre vielleicht auf immer drohende Flucht nährte. Nun konnte ich das – meinen Wunsch nach ihnen – auf sich beruhen lassen und an der Seite so vieler anderer ihn in Reserve halten, deren Realisierung, da ich erst einmal sie gesichert wußte, ich aufschob. Ich verließ Elstir und fand mich allein. Da sah ich nun plötzlich, trotz meiner Enttäuschung im Geiste vor mir all die Zufälle, von denen ich nicht geahnt hätte, daß sie je eintreten könnten: daß Elstir gerade mit diesen jungen Mädchen bekannt war, daß die, welche am gleichen Morgen noch für mich Figuren auf einem Gemälde gewesen waren, dessen Hintergrund Meer war, mich gesehen, daß sie mit einem großen Künstler im Gespräch mich gesehen hatten, der von meinem Wunsche, sie kennen zu lernen, nun wußte und ohne Zweifel ihm zu Diensten sein würde. All das hatte mir Freude gemacht, aber diese Freude war mir verborgen geblieben; sie war wie jene Besucher, die, ehe sie uns von ihrer Anwesenheit verständigen lassen, abwarten, bis die anderen gegangen und wir allein sind. Dann bemerken wir sie, können ihnen sagen »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung« und ihnen Gehör schenken. Zwischen dem Augenblick, da solche Freude zu uns eingetreten ist, und dem, da wir selber zu uns heimkommen können, sind manchmal so viele Stunden vergangen, haben wir so viele Leute gesprochen, daß wir fürchten, sie möchten nicht auf uns gewartet haben. Aber sie sind geduldig, sie werden nicht müde, und sobald nur alle gegangen sind, finden wir uns ihnen gegenüber. Manchmal sind aber wir es, die sich so müde fühlen, daß wir glauben, wir möchten in unserem schwindenden Denkvermögen nicht mehr genügend Kraft haben, um jene Erinnerungen und Eindrücke festzuhalten, für die der einzig bewohnbare Ort und die einzige Verwirklichungschance unser Ich ist. Und das würde uns leid tun, denn das Dasein hat kaum ein Interesse, es sei denn an Tagen, wo der Staub der Wirklichkeit mit magischem Sande vermischt ist und irgend ein banaler Vorfall des Tages etwas romanhaft Bedeutungsvolles bekommt. Dann taucht in der Beleuchtung des Traumes ein ganzes Vorgebirge der unbetretbaren Welt auf und stellt sich in unser Leben, in unser Leben, wo wir wie der erwachte Träumer Personen sehen, von denen wir so lebhaft geträumt haben, daß wir glaubten, wir würden sie nie anders wiedersehen als im Traum.
Für mich war die Beruhigung, die mir durch die Wahrscheinlichkeit geworden war, die jungen Mädchen jetzt kennen zu lernen, wann ich es wollte, um so wertvoller als ich nicht weiterhin in den nächsten Tagen auf sie hätte lauern können, weil diese durch die Vorbereitungen zu Saint-Loups Abreise in Anspruch genommen waren. Meine Großmutter hatte den Wunsch, meinem Freund ihren Dank für so viel Freundlichkeit zu erzeigen, die er gegen sie und mich an den Tag gelegt hatte. Ich sagte ihr, er sei ein großer Bewunderer Proudhons, und legte ihr nahe, viele Autographen, Briefe dieses Philosophen, kommen zu lassen, die sie gekauft hatte; Saint-Loup kam am Tage, da sie eintrafen – das war der Tag vor seiner Abreise – ins Hotel, um sie zu besichtigen. Er ging ganz in ihrer Lektüre auf, ließ ehrfürchtig jedes Blatt durch die Hand gehen und versuchte, einzelne Sätze sich zu merken; dann stand er auf und entschuldigte sich schon bei meiner Großmutter, so lange geblieben zu sein, als er sie erwidern hörte:
»Aber nein doch! Nehmen Sie sie; sie gehören Ihnen; um sie Ihnen zu geben, ließ ich sie kommen.«
Da bemächtigte eine Freude sich seiner, die er nicht besser zu meistern vermochte als einen physischen Zustand, der unabhängig vom Willen eintritt, er wurde scharlachrot wie ein Kind, das man abgestraft hat, und der Anblick aller Anstrengungen, die er (erfolglos) unternommen hatte, um die Freude, die über ihn gekommen war, zu unterdrücken, rührte meine Großmutter viel mehr als alle Dankesworte, die er hätte vorbringen können. Er aber bat, in der Befürchtung, seine Erkenntlichkeit ungenügend bekundet zu haben, mich noch am nächsten Morgen vom Kupeefenster der kleinen Lokalbahn aus, mit der er nach seiner Garnison fuhr, ihn bei ihr zu entschuldigen. Die Garnison lag gar nicht weit ab. Er hatte ursprünglich im Wagen hinfahren wollen, wie er es oft tat, wenn er am gleichen Abend zurückkommen sollte und es sich nicht um endgültige Abreise handelte. Aber diesmal hätte er sein zahlreiches Gepäck doch im Zuge unterbringen müssen. So schien es ihm einfacher, auch selber den Zug zu nehmen und damit der Meinung des Direktors beizupflichten, der auf eine Frage danach erwidert hatte, Wagen oder Lokalbahn, das sei »ungefähr äquivok.« Er wollte sagen, es sei äquivalent. »Schön,« hatte Saint-Loup erklärt, »ich werde die kleine ›Bimmelbahn‹ nehmen.« Wäre ich nicht müde gewesen, so hätte auch ich sie genommen und meinen Freund bis Doncières begleitet; wenigstens versprach ich ihm, solange wir auf dem Bahnhof von Balbec uns aufhielten – will sagen, solange der Maschinist des kleinen Zuges noch auf Freunde, die in Verzug waren, wartete, um nicht ohne sie abzufahren, und solange wir einige Erfrischungen zu uns nahmen – ich würde ihn mehreremal die Woche besuchen. Da Bloch – zu Saint-Loups lebhaftem Mißvergnügen – auch an die Bahn gekommen war und dieser nun sah, daß unser Kamerad hörte, wie er mich bat, zum Dejeuner und zum Diner nach Doncières zu kommen, ja dort zu wohnen, wandte er sich mit einemmal außerordentlich kühl an ihn, um die erzwungene Liebenswürdigkeit der folgenden Einladung zu kompensieren und Bloch unmöglich zu machen, sie ernst zu nehmen: »Wenn Sie gelegentlich an einem Nachmittag in Doncières sind, an dem ich frei bin, so können Sie in der Kaserne nach mir fragen, aber frei bin ich so gut wie nie.« Vielleicht fürchtete Robert auch, ich werde allein nicht kommen und wollte in der Annahme, ich sei enger mit Bloch befreundet, als ich es sagte, mich so in die Lage setzen, einen Weggenossen und Trainer mir beizulegen.
Ich fürchtete, dieser Ton und diese Art und Weise, jemanden einzuladen mit dem Rate, nicht zu kommen, möchten Bloch verletzt haben, und fand, Saint-Loup hätte besser getan, gar nichts zu sagen. Jedoch ich hatte mich getäuscht, denn nach der Abfahrt des Zuges hörte Bloch nicht auf, solange wir gemeinsam unsern Weg bis zu der Kreuzung zweier Avenuen verfolgten, wo wir uns trennen mußten, der eine ins Hotel, der andere in die Villa von Bloch ging, sich bei mir zu erkundigen, wann wir nach Doncières gehen würden, denn ›nach all dem Entgegenkommen, das Saint-Loup ihm erwiesen habe‹, wäre es ›von seiner Seite zu ungezogen‹ gewesen, der Einladung nicht Folge zu leisten. Mir war es angenehm, daß er nicht gemerkt hatte – oder so wenig verstimmt war, daß er tun wollte, als habe er nicht gemerkt – wie die Einladung weniger als drängend, kaum mehr höflich vorgebracht worden war. In Blochs Interesse hätte ich nichtsdestoweniger gewünscht, er möge sich nicht durch einen sofortigen Besuch in Doncières lächerlich machen. Aber ich wagte nicht, ihm einen Rat zu geben, der ihm notwendig hätte mißfallen müssen, weil er ihm gezeigt hätte, daß Saint-Loup es weniger eilig habe als er. Denn er eilte in der Tat allzusehr und obwohl bei ihm alle Fehler in dieser Richtung durch bemerkenswerte Eigenschaften kompensiert wurden, die andere, reserviertere, nicht gehabt hätten, so trieb er die Indiskretion doch so weit, daß es einen aufbrachte. Die Woche durfte, wollte man ihm glauben, nicht vorbeigehen, ohne daß wir nach Doncières gefahren wären (er sagte wir, denn ich glaube, er rechnete mit meiner Anwesenheit etwas, um die seinige zu entschuldigen). Den ganzen Weg über, vor der Turnhalle, die hinter den Bäumen versteckt lag, vor dem Tennisplatz, vor dem Haus, vor dem Muschelhändler blieb er mit mir stehen und beschwor mich, einen Tag festzusetzen; als ich das nicht tat, verließ er mich ärgerlich mit den Worten: »Nach Ihrem Belieben, Signore. Ich für meine Person muß auf alle Fälle hinfahren, da er mich eingeladen hat.«
Saint-Loup hatte so große Angst, meiner Großmutter nicht richtig gedankt zu haben, daß er mich noch am übernächsten Tage damit betraute, ihr Dank zu sagen. Er tat es in einem Briefe, den ich von ihm aus der Stadt erhielt, wo er in Garnison war, und nun schien sie auf dem Kuvert, auf welches die Post den Namen gestempelt hatte, schnell auf mich zuzulaufen, um mir zu sagen, daß er in ihren Mauern, in der Kavalleriekaserne Louis XVI, an mich denke. Das Briefpapier zeigte das Wappen der Marsantes, in dem ich einen Löwen erkannte, über dem eine Krone sich erhob, die durch die Kappe eines Pairs von Frankreich dargestellt wurde.
»Nach einer Fahrt,« teilte er mir mit, »die unter der Lektüre eines Buches, das ich an der Bahn gekauft hatte, gut vonstatten ging (es ist von Arvède Barine, einem russischen Autor, wie ich mir denke, und für einen Fremden schien es mir recht anerkennenswert geschrieben, aber sagen Sie mir Ihr Urteil darüber, denn Sie müssen es ja kennen, Sie Bronn der Weisheit, der Sie alles gelesen haben), bin ich nun wieder hier, mitten in dem rohen Leben, in dem ich weiß Gott mir wie im Exil vorkomme, weil ich nicht habe, was ich in Balbec ließ; diesem Leben, in dem ich keine liebevolle Erinnerung, keinerlei geistigen Charme vorfinde; einem Leben, dessen Milieu Sie ohne Zweifel verachten würden, und das dennoch nicht ohne Charme ist. Seit ich fort war, scheint mir alles anders geworden, denn in der Zwischenzeit hat eine der wichtigsten Epochen meines Lebens, die, in der unsere Freundschaft entsprang, begonnen. Ich hoffe, sie wird nie enden. Von ihr, von Ihnen, habe ich nur zu einer einzigen Person, nur zu meiner Freundin gesprochen, die, um mich zu überraschen, auf eine Stunde zu mir gekommen ist. Sie würde Sie sehr gern kennen lernen, und ich glaube, Sie würden gut zueinander passen, denn auch sie interessiert sich außerordentlich für Literatur. Dafür habe ich, um an unsere Gespräche zu denken, um diese Stunden, die ich nie vergessen werde, noch einmal zu leben, mich von meinen Kameraden zurückgezogen: es sind ausgezeichnete Jungen, aber sie wären wohl kaum imstande gewesen, das zu verstehen. Beinahe hätte ich den ersten Tag die Augenblicke, die ich mit Ihnen verbracht habe, lieber ganz für mich allein, ohne Ihnen zu schreiben, mir in Erinnerung gerufen. Dann aber hatte ich Angst, daß Sie als Grübler und überempfindliches Wesen sich mit argwöhnischen Gedanken quälen möchten, wenn kein Brief käme – falls nämlich Sie überhaupt geruht haben, Ihre Gedanken sich zu dem rauhen Reitersmann herabneigen zu lassen, den feiner zu bilden, ein wenig subtiler und Ihrer würdiger zu machen, Sie noch sehr schwere Mühe kosten wird.«
Im Grunde ähnelte in seiner Zärtlichkeit dieser Brief denen, die ich in meiner Phantasie ihn schreiben ließ, als ich Saint-Loup noch nicht kannte und Träumereien nachhing, aus denen mich der kalte Empfang, den er zu Anfang mir bereitet hatte, erweckte und einer eisigen Wirklichkeit gegenüberstellte, die keine endgültige sein sollte. Und seit ich diesen Brief bekommen hatte, sah ich nun jedesmal beim Dejeuner, wenn man die Post brachte, sofort, wenn ein Brief von ihm gekommen war, denn er hatte immer jenes andere Gesicht, das ein Geschöpf uns zeigt, wenn es abwesend ist, und nichts spricht dagegen, daß wir in diesen Zügen (den Schriftzeichen) eine individuelle Seele zu fassen glauben so gut wie in der Kurve der Nase oder der stimmlichen Intonation.
Ich blieb jetzt gern noch bei Tisch, während man abräumte, und wenn nicht gerade ein Augenblick war, in dem die jungen Mädchen von der kleinen Bande vorüberkommen konnten, sah ich nicht mehr nur einzig aufs Meer hinaus. Denn nun – seit ich auf Elstirs Aquarellen sie gesehen hatte – suchte ich auch in der Wirklichkeit, liebte ich wie etwas Romantisches die kurz abgebrochene Geste des Messers, welches noch quer liegt, die bauschig entfaltete Serviette, in welche Sonne ein Stück gelben Sammet einlegt, das halb geleerte Glas, das derart deutlich die edel geschweifte Form zu erkennen gibt, und auf dem Grunde seiner durchsichtigen Substanz, die aussieht wie geronnene Tageshelle, einen Rest dunklen, doch von Lichtern flimmernden Weins, die Verlagerung der Konturen, die Verwandlung der Flüssigkeiten durch die Belichtung, die Veränderung der Pflaumen, die in der halbgeleerten Kompottschale vom Grünen ins Blau und vom Blauen ins Goldene spielen, die Promenade der altmodischen Stühle, die zweimal des Tages sich um das Tischtuch gruppieren, das über den Tisch sich breitet wie über einen Altar, auf dem die Feste der Feinschmeckerei zelebriert werden, wo dann im Innern der Austernschalen einige Tropfen reinigenden Wassers wie in kleinen, steinernen Weihwasserbecken zurückbleiben. Ich versuchte, Schönheit da zu entdecken, wo ich mir niemals eingebildet, daß sie wohnen könne, in den alltäglichsten Dingen, in der verschlossenen Natur der ›Stilleben‹.
Als einige Tage nach Saint-Loups Abreise es mir gelungen war, Elstir zu veranlassen, eine kleine Matinee zu geben, auf der ich Albertine treffen sollte, da tat es mir leid, den ganz vorübergehenden Charme, die flüchtige Eleganz, die man an mir bemerkte, als ich aus dem Grand-Hôtel heraustrat (Erträgnis einer ausgedehnteren Ruhezeit und ganz besonderer Sorgfalt bei der Toilette), wie auch das Prestige der Bekanntschaft mit Elstir mir nicht für die Eroberung irgendeiner anderen interessanteren Person aufsparen zu können, es tat mir leid, all das an das simple Vergnügen zu wenden, Albertines Bekanntschaft zu machen. In meinem Verstande schätzte ich dieses Vergnügen, seit ich seiner versichert war, als sehr wenig kostbar. Jedoch der Wille in mir teilte diese Illusion nicht einen Augenblick, der Wille, als welcher der treue, beständige, unwandelbare Diener unserer einander ablösenden Persönlichkeiten ist; er liegt im Schatten versteckt und verachtet, doch mit nie zu verändernder Treue arbeitet er ohne Unterlaß und ohne um die Variationen unseres Ich sich zu kümmern, auf daß es ihm niemals an dem Notwendigen fehle. Während im Augenblick, da man eine ersehnte Reise will Wirklichkeit werden lassen, Verstand und Gefühl beginnen, die Frage sich vorzulegen, ob es sich wirklich lohne, die Reise zu unternehmen, läßt der Wille in der Erkenntnis, daß diese müßigen Herren umgehend diese Reise wieder herrlich finden würden, wenn sie nicht stattfinden könnte, vor dem Bahnhof sie diskutieren und Bedenken häufen, nimmt aber selbst auf sich die Sorge fürs Billett und für unser pünktliches Einsteigen zur Abfahrtszeit. Er ist so unwandelbar, wie Verstand und Gefühl veränderlich, doch weil er schweigt und keine Gründe angibt, scheint er beinahe nicht zu existieren; seine festen Anordnungen werden von den anderen Teilen des Ich befolgt, doch ohne daß sie seiner inne werden, während sie sehr genau ihre eigenen Unsicherheiten bemerken. Also eröffneten in mir Gefühl und Verstand eine Diskussion über den Wert des Vergnügens an einer Bekanntschaft mit Albertine, während ich vor dem Spiegel eitle, hinfällige Zierden betrachtete, die sie für andere Gelegenheiten hätten unberührt aufsparen mögen. Aber mein Wille ließ die Stunde der Abfahrt nicht verstreichen, und die Adresse, welche er dem Kutscher gab, war Elstirs. Da die Würfel gefallen waren, hatten Verstand und Gefühl Muße, zu finden, das sei zu bedauern. Hätte mein Wille eine andere Adresse gegeben, sie wären ertappt worden.
Als ich etwas später bei Elstir ankam, glaubte ich zuerst, Fräulein Simonet sei nicht im Atelier. Es saß da zwar ein junges Mädchen in seidenem Kleide mit bloßem Kopf, aber ich kannte nicht ihren wundervollen Haarwuchs, noch ihre Nase oder ihren Teint, und ich fand in ihr nicht die Wesenheit wieder, die ich aus meiner jungen Radfahrerin mir gewonnen hatte, die mit einer Sammetmütze auf dem Kopf am Meere entlang spaziert war. Aber es war doch Albertine. Ich kümmerte mich dennoch nicht um sie, selbst als ich es wußte. Ist man jung, so stirbt man sich selber ab, sobald man in eine mondäne Gesellschaft eintritt, man wird ein ganz anderer Mensch, denn jeder Salon ist eine Welt, wo man in die Gesetze einer veränderten geistigen Perspektive sich fügt und die Aufmerksamkeit auf Personen, Tänze und Kartenspiele, die morgen vergessen sein werden, nicht anders richtet, als müßten sie uns dauernd wichtig bleiben. Um zum Gespräch mit Albertine vorzudringen, hatte ich einem Wege zu folgen, der unabhängig von meinem Willen vorgezeichnet war und bei Elstir die erste Station hatte, dann an anderen Gruppen von Gästen vorbei, denen ich vorgestellt wurde, am Büfett entlang führte, wo Erdbeertorten mir angeboten und von mir verspeist wurden, indes ich, ohne mich zu rühren, einer Musik lauschte, die eben begann. Und ich ertappte mich dabei, wie ich all diesen Episoden dieselbe Wichtigkeit wie meiner Vorstellung vor Fräulein Simonet beimaß, einer Vorstellung, die nun nur eine unter anderen Episoden war und mir als einziger Zweck meines Kommens, der sie noch einige Minuten vordem gewesen war, gänzlich entfallen war. Und steht es, nebenbei gesagt, nicht im tätigen Leben ganz ebenso mit unsere Augenblicken wahren Glücks und tiefen Unglücks? In einer Umgebung von Fremden erhalten wir von der, die wir lieben, die gewährende oder tödliche Antwort, auf welche wir ein Jahr gewartet haben. Aber man muß zu sprechen fortfahren, die Gedanken lösen in ihrer Folge einander ab und bilden eine Oberflächenschicht, unter welcher kaum hin und wieder ein dumpfes, unvergleichlich tieferes, aber sehr umgrenztes Erinnern daran auftaucht, daß das Unglück über uns hereingebrochen ist. Und wenn es nicht ums Unglück, sondern um Glück sich handelt, so kann es geschehn, daß wir erst mehrere Jahre nachher uns erinnern, daß das größte Ereignis unseres Gefühlslebens eintrat und wir nicht Zeit hatten, längere Aufmerksamkeit ihm zu schenken, ja, kaum seiner bewußt zu werden, weil beispielsweise es in eine mondäne Soiree fiel, zu der wir nur in der Erwartung dieses Ereignisses uns begeben hatten.
Als Elstir mich bat heranzukommen, um Albertinen mich vorzustellen, die etwas entfernter saß, aß ich zunächst einmal meinen Mokka-Eclair auf und bat einen alten Herren, dessen Bekanntschaft ich eben gemacht hatte, sehr interessiert, mir doch etwas Näheres über gewisse Jahrmarktsfeste in der Normandie zu sagen. Bei dieser Gelegenheit glaubte ich, ihm die Rose, die er in meinem Knopfloch bewunderte, anbieten zu dürfen. Es wäre nicht wahr, wenn ich sagen wollte, die Vorstellung, die nun folgte, wäre mir nicht irgendwie angenehm und in meinen Augen in gewissem Sinne etwas Bedeutungsvolles gewesen. Das Angenehme kam mir allerdings natürlicherweise erst etwas später zum Bewußtsein, als ich mich wieder im Hotel befand, allein und wieder ich selber geworden war. Mit den Freuden geht es wie mit Photographien. Was man in Gegenwart des geliebten Wesens abnimmt, ist nur das Negativ, das man später entwickelt, wenn man wieder bei sich zu Hause ist und jene schwarze innere Kammer einem wieder offen steht, die vermauert ist, solange man sich unter Menschen aufhält.
Wenn diese Vorstellung ein Bewußtsein von Freude erst einige Stunden später auftauchen ließ, so fühlte ich doch sogleich das Bedeutungsvolle an ihr. Was hilft es uns, wenn wir beim Vorgestelltwerden uns beschenkt fühlen und uns als Inhaber eines Gutscheins vorkommen, der für künftige Freuden gilt, denen wir seit Wochen schon nachjagen – wir wissen darum doch, daß ihn erhalten zu haben uns nicht nur eine Folge lästiger Nachforschungen beschließt – das könnte uns ja nur fröhlich stimmen – sondern zugleich auch das Dasein eines bestimmten Geschöpfes, desjenigen, das unsere Phantasie umgeformt, unsere beklemmende Angst, niemals mit ihm bekannt werden zu können, hatte wachsen lassen. Im Augenblick, da unser Name im Munde des Vorstellenden laut wird – und nun gar, wenn der Vorstellende ihn, wie Elstir es tat, mit lobenden Erklärungen begleitet – in diesem weihevollen Augenblick geschieht etwas, wie in den Feerien, wenn der Geist einer Person befiehlt, flugs sich in eine andere zu verwandeln: die, der wir sehnlichst näher zu kommen wünschen, verflüchtigt sich; und wie sollte sie auch sich selber gleichbleiben, da die Beachtung, welche die Unbekannte unserem Namen schenken und unserer Person bekunden muß, in Augen, die noch gestern im Unendlichen weilten (so daß wir glaubten, daß die unseren, mit ihrem irren, verzweifelten, unsteten Schweifen nie ihrer würden habhaft werden können), den höchst bewußten Blick, den unerforschlichen Gedanken, den wir suchen, durch Wunderkraft ganz einfach durch unser eigenes Bild ersetzt hat, das da wie auf dem Grunde eines Spiegels, der lächelt, gemalt liegt. Wenn die Inkarnation unser selbst in dem, was uns als das Verschiedenste von ihm erschien, am meisten die Person verwandelt, der man soeben uns vorgestellt hat, so bleibt doch ihre Gestalt noch einigermaßen unbestimmt; und wir können uns fragen: wird sie ›Gott, Tisch oder Waschbecken‹ sein? Aber wie ein Bildner in Wachs binnen fünf Minuten vor unseren Augen behend wird eine Büste vor uns erstehen lassen, so werden die wenigen Worte, die die Unbekannte jetzt aussprechen wird, diese Form näher bestimmen und ihr etwas Endgültiges geben, das alle Hypothesen ausschließt, denen noch am Vortag unser Wunsch und unsere Einbildungskraft sich überließen. Gewiß war Albertine, schon ehe sie zu dieser Matinee kam, für mich nicht lediglich mehr Phantom, das würdig ist, durch unser Leben zu streifen, wie eine Vorübergehende das bleibt, von der wir nichts wissen, ja, die wir kaum deutlich gesehen haben. Ihre Verwandtschaft mit Frau Bontemps hatte diese wundervollen Hypothesen schon eingeschränkt und einen der Wege, auf denen sie sich verbreiten konnten, verstopft. Je mehr ich mich dem jungen Mädchen näherte und sie kennen lernte, desto mehr vollzog sich diese Bekanntschaft in Subtraktionen, und jede Partikel von Vorstellung und von Wunsch ward durch eine Wahrnehmung ersetzt, welche sehr viel weniger wert war; eine Wahrnehmung, welcher freilich ein gewisses Äquivalent im Bereich des Lebens entsprach, etwas wie die Aktiengesellschaften nach Einlösung der ursprünglichen Aktie es geben und was sie Genußschein nennen. Ihr Name und ihre Verwandtschaft waren eine erste Schranke meiner Mutmaßungen gewesen. Eine andere Grenzmarkierung war ihre Liebenswürdigkeit, während ich in ihrer nächsten Nähe das Schönheitsfehlerchen auf der Backe unter dem Auge wiederfand; schließlich war ich erstaunt zu hören, wie sie das Adverbum ›durchaus‹ an Stelle von ›ganz und gar‹ anwandte; sie sprach von zwei Personen und sagte von der einen: »sie ist durchaus verrückt, aber trotzdem sehr nett« und von der andern: »er ist ein durchaus langweiliger, durchaus gewöhnlicher Kerl.« So wenig ansprechend dieser Gebrauch von »durchaus« sein mag, so bekundete er einen Grad von Zivilisation und Kultur, wie ich ihn für die radfahrende Bacchantin, die orgiastische Muse des Golfspiels nie für erreichbar gehalten hätte. Das hindert übrigens nicht, daß nach dieser ersten Metamorphose Albertine sich noch oft für mich verwandeln sollte. Fehler und Tugend, die einer ganz im Vordergrunde seines Gesichts zur Schau trägt, ordnen sich in ganz anderen Gruppierungen, wenn wir von einer anderen Seite an ihn herantreten – wie in einer Stadt die Baudenkmäler, die auf nur einer Linie sich der Ordnung nach aufgereiht zeigen, von einem anderen Blickpunkt aus in die Tiefe sich staffeln und ihre Größenbeziehungen ändern. Um hiermit anzufangen, fand ich Albertine im Ausdruck ziemlich verschüchtert statt unnahbar; sie schien mir eher sittsam als schlecht erzogen, aus der Glossierung zu schließen, die sie allen jungen Mädchen anhing, von denen ich ihr sprach: »Sie kann sich nicht benehmen – Sie benimmt sich komisch«; sie hatte schließlich im Gesicht als Zielpunkt eine ziemlich entzündete Schläfe, deren Anblick nicht angenehm war, und den seltsamen Blick, an den ich bisher immer hatte zurückdenken müssen, fand ich nicht mehr. Aber das war nur eine zweite Art, sie zu sehen, und sicher gab es noch andere, die ich der Reihe nach durchzumachen hatte. So könnte man denn zur genauen Kenntnis eines Wesens – wenn solche nämlich möglich wäre – nur kommen, nachdem man nicht ohne unsicheres Tasten die optischen Irrtümer vom Anfang durchschaut hat. Aber möglich ist solche Kenntnis nicht; denn während das Bild, das wir von ihm in Gedanken tragen, berichtigt wird, wandelt dies Wesen selber sich auf eigene Faust, denn es ist ja kein totes Ziel, welches vor uns steht; wir vermeinen es einzuholen, aber es wendet sich anderswohin, und wenn wir endlich glauben, es deutlicher wahrzunehmen, so sind das nur die alten Bilder, die wir von ihm abgenommen haben: die haben wir kenntlicher gemacht, aber sie stellen es nicht mehr dar.
Wieviel unvermeidliche Enttäuschungen er aber auch bringen mag, so ist doch dieser Gang auf dasjenige zu, was man nur eben flüchtig gesehen, was man sich auszudenken die Muße gehabt hat, der einzige, der den Sinnen gesund ist und sie bei gutem Appetit erhält. Welch trostlose Langweile liegt auf dem Leben der Leute, die aus Faulheit oder aus Schüchternheit im Wagen direkt bei Freunden vorfahren, die sie gekannt haben, ohne von ihnen geträumt zu haben und ohne während der Fahrt je gewagt zu haben, bei dem, was sie ersehnen, haltzumachen.
Als ich nach Hause ging, dachte ich an diese Matinee und sah den Mokka-Eclair wieder, den ich erst aufgegessen hatte, bevor ich mich von Elstir zu Albertine hatte führen lassen, die Rose, welche ich dem alten Herrn gegeben hatte, all jene Einzelheiten, wie die Umstände sie ohne unser Wissen bestimmen, und welche dann für uns als einmaliges, zufälliges Arrangement das Bild einer ersten Begegnung bestimmen. Dies gleiche Bild schien ich mir dann von einem anderen Punkte aus, der sehr weit von mir ablag, wiederanzusehen (und begriff, nicht für mich allein habe es existiert), als einige Monate später, da ich Albertine von dem Tage sprach, da ich sie kennen gelernt hatte, sie zu meinem großen Erstaunen an den Eclair mich erinnerte, an die Blume, die ich verschenkt hatte, an all das, was meiner Vermutung nach, ich kann nicht sagen, nur für mich von Wichtigkeit gewesen, aber nur von mir bemerkt worden sei und nun so überraschend mir in einer Übersetzung, deren Existenz ich nicht einmal vermutet hatte, in Albertines Geist entgegentrat. Und schon an diesem ersten Tage, da ich heimkehrend die Erinnerung, die ich mitbrachte, zu erkennen vermochte, sah ich, welch ein Taschenspielertrick da fehlerlos geglückt war, und wie ich da einen Augenblick lang mit einer Person gesprochen hatte, die dank der Gewandtheit des Zauberkünstlers, ohne irgend etwas von der zu haben, die ich so lange am Strande des Meeres verfolgt hatte, von ihm ihr war untergeschoben worden. Ich hätte das übrigens von vornherein erraten können, weil das junge Mädchen vom Strande mein Werk war. Da ich sie aber in meinen Gesprächen mit Elstir der Albertine identisch erklärt hatte, so fühlte ich nichtsdestoweniger in mir die moralische Verpflichtung, die Liebesversprechungen, die ich der imaginären Albertine gegeben hatte, der gegenwärtigen zu halten. Man verlobt sich durch Vollmacht und hält sich für verpflichtet, später die vermittelte Person zu heiraten. Und wenn nun auf der einen Seite, vorübergehend zumindest, aus meinem Leben eine Beklemmung geschwunden war, die zu beschwichtigen eine Erinnerung an die gesitteten Manieren, an die Redewendung »durchaus gewöhnlich« und an die entzündete Schläfe genug gewesen wäre, so kam mit dieser Erinnerung eine andere Art Sehnen in mir auf, das sanft und ganz ohne Schmerzliches war. Aber auf die Länge der Zeit konnte es mir ebenso gefährlich werden, denn es konnte in mir den Drang wecken, jeden Augenblick dieses neue Geschöpf zu umarmen, das mit seinen guten Manieren, seiner Schüchternheit, seiner unerwarteten Willfährigkeit dem vergeblichen Lauf meiner Phantasie Einhalt gebot, aber gerührte Dankbarkeit in mir wach werden ließ. Weil außerdem Erinnerung gleich beginnt, unzusammenhängende Klischees von den Dingen zu nehmen, alles Verbindende, allen Fortschritt zwischen den dargestellten Szenen in der Sammlung, wo sie zur Schau gestellt werden, fortfallen läßt, so zerstört das letzte nicht notwendigerweise die vorhergehenden. Vis-à-vis der gar nicht ungemeinen, rührenden Albertine, mit der ich geredet hatte, sah ich die mysteriöse Albertine, die sich von dem Meere abhob. Jetzt waren sie beide Erinnerungen, will sagen Bilder, deren eines mir nicht wahrer als das andere erschien. Und um mit diesem ersten Abend, da ich vorgestellt wurde, zu Ende zu kommen: wie ich mir Mühe gab, das Schönheitsfehlerchen auf der Backe unter dem Auge wieder zu sehen, entsann ich mich, als Albertine von Elstir fortgegangen war, es auf dem Kinn gesehen zu haben. Kurz: sah ich sie, so fiel mir auf, sie habe ein Schönheitsfehlerchen, aber dann führte mein ungenaues Erinnern auf dem Gesicht von Albertine es spazieren und brachte es bald da, bald dort an.
Mochte ich nun auch einigermaßen enttäuscht sein, in Fräulein Simonet ein junges Mädchen gefunden zu haben, das allzu wenig von allem abstach, was ich sonst kannte, so ging es doch hier wie mit meiner Enttäuschung vor der Kirche von Balbec, die mich nicht abgehalten hatte, zu wünschen, nach Quimperlé, Pontaven und Venedig zu fahren – ich sagte mir, durch Albertine könne ich zum wenigsten, wenn schon sie selber nicht sei, was ich erhofft hatte, ihre Freundinnen aus der kleinen Bande kennen lernen.
Zunächst war ich der Meinung, daß es nicht gelingen werde. Da sie, genau wie ich, noch sehr lange in Balbec zu bleiben vorhatte, fand ich, es sei das beste, nicht allzu intensiv bei dem Versuch zu sein, sie zu sprechen, und eine gelegentliche Begegnung abzuwarten. Aber wenn die auch alle Tage sich eingestellt hätte, so war sehr zu befürchten, sie werde sich genug sein lassen, von weitem meinen Gruß zu erwidern, was in dem Fall bei alltäglicher Wiederholung während der ganzen Saison mich um nichts weitergebracht hätte.
Kurze Zeit nachher wurde ich eines Morgens, als es geregnet hatte und beinahe kalt war, auf der Mole von einem jungen Mädchen angehalten, die ein Häubchen und einen Muff trug; sie war so verschieden von der, die ich auf der Gesellschaft bei Elstir gesehen hatte, daß es für den Verstand undurchführbar schien, ein und dieselbe Person in ihr zu erkennen; meinem gelang es dennoch, nicht aber ohne ein flüchtiges Stutzen, das Albertine, glaube ich, nicht entging. Da ich weiter gerade in diesem Augenblick des ›gesitteten Benehmens‹, das mich betroffen hatte, mich entsann, so ließen nun ihr ungeschliffner Ton und ihre Manieren, die die Zugehörigkeit zur ›kleinen Bande‹ verrieten, mich im entgegengesetzten Sinn staunen. Zudem war die Schläfe nicht mehr optisches Zentrum und Orientierungspunkt in diesem Gesicht, sei es, daß ich mich auf der andern Seite befand, sei es, daß sie vom Häubchen bedeckt wurde, sei es, daß die Entzündung nicht chronisch war.
»Was für ein Wetter,« sagte sie zu mir, »der ›endlose Sommer von Balbec‹ ist doch in Wirklichkeit großer Quatsch. Tun Sie hier nichts? Beim Golf und bei den Kasinobällen sieht man Sie nie; Sie reiten auch nicht. Wie Sie sich öden müssen! Finden Sie nicht, man verblödet, wenn man die ganze Zeit so am Strand bleibt? Ach, Sie lieben das Faulenzen. Sie haben ja auch Zeit. Ich sehe, Sie sind anders als ich, ich schwärme für jeden Sport. Sie sind nicht zu den Rennen von la Sogne gewesen? Wir sind mit der Tram hingefahren, und ich kann verstehen, daß es Ihnen keinen Spaß macht, so einen Kasten zu benutzen! Zwei Stunden haben wir gebraucht! In der Zeit wäre ich mit meinem Rad dreimal hin- und zurückgefahren.« Ich, der ich Saint-Loup bewundert hatte, als er auf die natürlichste Art die kleine Lokalbahn die ›Bimmelbahn‹ genannt hatte, fühlte mich eingeschüchtert durch die Leichtigkeit, mit der Albertine »die Tram« und »der Kasten« sagte. Ich fühlte, wie überlegen sie in gewissen Redewendungen war, und fürchtete, sie würde meine Unzulänglichkeit feststellen und verachten. Auch waren mir die zahlreichen Synonyma, über welche die kleine Bande zur Bezeichnung der Eisenbahn verfügte, noch nicht offenbart worden. Wenn sie sprach, hielt Albertine den Kopf unbeweglich, die Nasenlöcher gepreßt, es bewegten sich nur die Lippen ein wenig. So kam ein näselnder, schleppender Ton zustande; an dem hatten vielleicht provinziell Ererbtes, kindliches Affektieren britannischen Phlegmas, die Unterweisungen einer ausländischen Lehrerin und eine Hypertrophie der Nasenschleimhaut ihren Anteil. Diese Tongebung, die übrigens schnell verschwand, wenn sie Leute näher kannte und wieder natürlich und kindlich wurde, hätte für unangenehm gelten können. Aber sie war an ihr etwas Besonderes und versetzte mich in Entzücken. Waren einige Tage vergangen, an denen ich sie nicht getroffen hatte, so geriet ich vor Aufregung immer außer mir, wenn ich vor mich hinsagte: »Beim Golf sieht man Sie nie!« und das hoch aufgerichtet, ohne den Kopf zu rühren, in dem nasalen Ton, in welchem sie es gesagt hatte. In solchen Augenblicken dachte ich, einen begehrenswerteren Menschen als sie gäbe es nicht.
Wir bildeten an diesem Morgen so ein Paar, wie sie hier und da die Mole mit ihrem Zusammentreffen, ihrem Stehenbleiben (welches nicht länger dauert, als nötig ist, um ein paar Worte zu wechseln und dann, ein jeder für sich allein, seinen Spaziergang in verschiedener Richtung wieder fortzusetzen) mit Pünktchen mustern. Ich machte mir ihr unbewegliches Stillstehen zunutze, um genau hinzusehen und endgültig festzustellen, wo das Schönheitsfehlerchen sich befand. Und wie eine Passage von Vinteuil, die mich in der Sonate entzückt hatte und seitdem von meinem Gedächtnis vom Andante bis zum Finale umgetrieben ward, bis zu dem Tage, da ich mit der Partitur in der Hand sie an ihrem Orte, im Scherzo, auffinden und für mein Gedächtnis festlegen konnte, so blieb das Schönheitsfehlerchen, das in meiner Erinnerung bald auf der Wange, bald auf dem Kinn erschienen war, für immer auf der Oberlippe, unter der Nase, stehen. So finden wir auch erstaunt Weisen, die wir auswendig können, in einem Stück wieder, indem wir ihr Vorhandensein nicht vermuteten.
In diesem Augenblick tauchten die Freundinnen Albertines mit ihren schönen Beinen, den geschmeidigen Gestalten auf, die alle doch so verschieden voneinander waren; sie zeigten sich als Gruppe, die sich entfaltete, näher dem Meere zu im gleichen Sinne wie wir uns vorwärtsbewegten, und wie sie so erschienen, war es, als solle sich in Freiheit vor dem Meere der ganze Reichtum und die ganze Zier aufrollen, wie sie in der Prozession dieser Jungfrauen lagen, die da golden und rosa, gehärtet in Sonne und Wind, vorüberzogen. Ich bat Albertine um Erlaubnis, sie einen Augenblick zu begleiten. Aber bedauerlicherweise begnügte sie sich, ihnen mit der Hand ›Guten Tag‹ zuzuwinken. »Ihre Freundinnen werden sich beschweren, daß Sie sie links liegen lassen,« sagte ich und hoffte dabei, wir würden alle zusammen spazierengehn. Ein junger Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen, mit mehreren Raketts in der Hand, trat auf uns zu. Es war der Baccaratspieler, der mit seinen Tollheiten die Frau des Präsidenten so sehr aufbrachte. Kalt, teilnahmlos – wie in seinen Augen gewiß sich höchste Distinktion darstellen mochte – sagte er Albertine guten Tag. »Sie kommen vom Golf, Octave?« fragte sie ihn. »Klappte es gut? Sind Sie in Form gewesen?« »Ach, ich habe es satt! Ich bin erledigt!« gab er zur Antwort. »War Andrée da?« »Ja, sie hat siebenundsiebenzig gemacht.« »Aber das ist ja ein Rekord!« »Gestern habe ich zweiundachtzig gemacht.« Er war der Sohn eines sehr reichen Industriellen; sein Vater sollte in der Organisation der nächsten Weltausstellung eine ziemlich bedeutende Rolle spielen. Mich frappierte, in wie hohem Grade bei diesem jungen Mann und den anderen sehr spärlichen männlichen Freunden dieser jungen Mädchen das Sachverständnis in allem, was Kleidung, Art und Weise sie zu tragen, Zigarren, englische Getränke, Pferde betraf – ein Sachverständnis bis in alle Details, das er mit dem Hochmut eines Mannes, der unfehlbar ist, so zur Schau trug, daß es schon an die schweigsame Bescheidenheit des Gelehrten grenzte –, wie isoliert dies alles sich entwickelt hatte, ohne im mindesten von intellektueller Kultur begleitet zu sein. Es gab für ihn kein Schwanken in der Frage, wann ein Smoking oder ein Pyjama am Platze sei, aber er hatte keine Ahnung, in welchem Falle man ein Wort anwenden kann, in welchem nicht, ja keine von den Elementargesetzen der französischen Sprache. Octave trug im Kasino Preise bei allen Boston-, Tango-Konkurrenzen und dergleichen davon, und wenn er mochte, konnte er daher eine ganz hübsche Partie in jener ›Kurortgesellschaft‹ machen, in der die jungen Mädchen ja nicht im übertragenen, sondern eigentlichen Sinne ihre Tänzer heiraten. Er steckte sich eine Zigarre an und sagte zu Albertine: »Sie gestatten?« wie man Verlaub erbittet, unterm Sprechen eine dringende Arbeit fertigzustellen. Denn es war ihm unmöglich, je ›müßig‹ zu bleiben, wiewohl er niemals das geringste tat. Und weil vollendetes Nichtstun schließlich die gleichen Wirkungen wie übertriebene Arbeit hervorruft – im Körperlichen, in den Muskeln genau wie im Geistigen –, so hatte die ständig sich gleich bleibende intellektuelle Nichtigkeit, die hinter Octaves Denkerstirn wohnte, ihm schließlich trotz seines friedlichen Ausdrucks im Gesicht ohnmächtige Denkgelüste eingegeben, die ihm in der Nacht, wie es bei einem Metaphysiker geschehen kann, der sich übernommen hat, den Schlaf raubten.
Ich sagte mir, ich würde mehr Gelegenheit haben, mit den jungen Mädchen zu reden, wenn ihre Freunde mir bekannt seien, und war daher nahe daran gewesen, die Bitte auszusprechen, man möge mich ihm vorstellen. Das sagte ich Albertine, als er mit nochmaligem »Ich bin erledigt« sich entfernt hatte. Ich hoffte, derart ihr den Gedanken zu suggerieren, es beim nächsten Mal zu tun. »Aber Herrgott!« rief sie, »ich kann Sie doch nicht jedem süßen Bengel vorstellen. Davon wimmelt es hier. Sie würden ja doch nicht mit Ihnen reden können. Der von eben spielt sehr gut Golf, ein Punkt ist alles für ihn. Ich verstehe mich doch darauf, er wäre absolut nicht Ihr Fall.« »Ihre Freundinnen werden sich beklagen, wenn Sie sie so stehen lassen«, sagte ich; ich hoffte, sie werde mir vorschlagen, mit ihr zu ihnen zu stoßen. »Aber nein doch, sie haben mich nicht im mindesten nötig.« Wir begegneten Bloch; er deutete ein vielsagendes Lächeln an und, weil er Albertines wegen in Verlegenheit war, – er kannte sie nicht oder kannte sie doch nur »ohne sie zu kennen« – senkte er unvermittelt schroff das Haupt. »Wie heißt denn dieser Flegel?« fragte Albertine. »Ich weiß nicht, warum er mich grüßt, da er mich nicht kennt. Ich habe ihn also auch nicht wiedergegrüßt.« Albertine zu antworten, hatte ich keine Zeit, denn er kam geradewegs auf uns zu: »Entschuldige,« sagte er, »daß ich dich störe, aber ich wollte dir nur mitteilen, daß ich morgen nach Doncières gehe. Ich kann nicht länger warten, ohne unhöflich zu werden, und frage mich schon, was Saint-Loup-en-Bray von mir denken soll. Daß du's weißt, ich nehme den Zug um zwei Uhr. Ganz zu deiner Verfügung.« Aber ich hatte nichts anderes im Sinn, als Albertine wiederzusehen und wenn irgend möglich ihre Freundinnen kennen zu lernen. Und da sie nach Doncières nicht kamen, ich aber von dort nach Ablauf der Stunde, da sie am Strande waren, hätte zurückkommen müssen, so schien es mir am Ende der Welt zu liegen. Ich sagte Bloch, ich könne unmöglich. »Schön, dann geh' ich allein. Und wie der Sieur Arouet in zwei lächerlichen Alexandrinern es formuliert, werde ich zu Saint-Loup, um seinem Klerikalismus zu schmeicheln, sagen: ›Vernimm, daß meine Pflicht an seine nicht gekettet, die meine muß ich tun, wenn seine er verletzt.‹« »Ich will ja zugeben, daß er ein ganz hübscher Junge ist,« sagte Albertine, »aber wie er mich anwidert!« Mir war nie in den Sinn gekommen, Bloch könne ein hübscher Junge sein; er war es aber wirklich. Mit etwas langgezogenem Schädel, stark gekrümmter Nase, sehr schlauem Aussehn und dazu dem Ausdruck: er wisse um seine Schlauheit, hatte er ein angenehmes Gesicht. Doch Albertine konnte er nicht gefallen. Übrigens lag das vielleicht an dem, was Schlechtes an ihr war, an der Härte, der Fühllosigkeit der kleinen Bande, ihrer Roheit gegen alles, was nicht zu ihr gehörte. Auch nahm später, als ich die beiden bekannt machte, Albertines Antipathie nicht ab. Bloch gehörte einem Milieu an, wo zwischen dem Unfug, wie man ihn in der großen Welt treibt, und den guten Manieren, wie sie ein Mann, ›der etwas auf sich hält‹, haben muß, gewissermaßen ein besonderes Kompromiß geschlossen worden ist, welches, trotz allem, der mondänen Gesellschaft besonders zuwider ist. Wenn man ihn vorstellte, verneigte er sich mit skeptischem Lächeln und übertriebenem Respekt zugleich und sagte, hatte er mit einem Manne es zu tun: »Mein Herr – sehr angenehm«, mit einer Stimme, die zwar über die Worte, die sie aussprach, sich mokierte, zugleich aber sich bewußt war, keinem üblen Gesellen anzugehören. Hatte er diese erste Sekunde einmal einer Gewohnheit gewidmet, der er sich fügte und die er im gleichen Atem verspottete (wie er am ersten Januar zu sagen pflegte: »Ich wünsche Ihnen ein fröhliches neues!«), so setzte er ein superkluges Gesicht auf und ›tischte Subtilitäten auf‹, die manchmal etwas sehr Wahres hatten, doch Albertine »auf die Nerven« gingen. Als ich an diesem ersten Tage ihr sagte, er heiße Bloch, rief sie: »Ich hätte gewettet, es ist ein Judenbengel. Das ist so ihre Art, einen anzuöden.« Bloch sollte, nebenbei gesagt, Albertine später durch anderes gegen sich aufbringen. Er war, wie viele Intellektuelle, nicht imstande, einfache Dinge einfach zu sagen. Für jedes fand er irgendein pretiöses Eigenschaftswort, außerdem verallgemeinerte er. Es verdroß Albertine (sie hatte nicht gern, wenn man sich viel um das kümmerte, was sie tat), wenn Bloch von ihr, die sich den Fuß verstaucht hatte und ruhig liegen mußte, erklärte: »Sie liegt auf der Chaiselongue, aber aus Ubiquität kann sie es nicht lassen, gleichzeitig irgendwelche Golfspiele und unbestimmte Tennisveranstaltungen zu besuchen.« Das war nur ›Literatur‹, aber sie hätte genügt, um Albertine eine Abneigung gegen Gesicht und Stimmfall des Jungen, der solche Sachen sagte, fassen zu lassen, denn sie fühlte, was für Unannehmlichkeiten so etwas ihr bei Leuten schaffen konnte, deren Einladung sie mit der Begründung, daß sie sich nicht rühren könne, abgeschlagen hatte. Albertine und ich trennten uns, und dabei versprachen wir uns, wir würden einmal miteinander ausgehen. Ich hatte mit ihr gesprochen und dabei, was aus meinen Worten wurde und wo sie hinfielen, nicht besser gewußt, als hätte ich Kiesel in einen bodenlosen Abgrund geworfen. Daß solche Worte gemeinhin von dem, an den wir sie richten, mit einem Sinn ausgestattet werden, den er seiner eigenen Natur entnimmt und der sehr verschieden von dem ist, welchen wir in die gleichen Worte gelegt haben, ist eine Tatsache, die uns der Alltag immerfort lehrt. Haben wir aber nun gar mit jemandem zu tun, von dessen Erziehung (wie es mir mit Albertine geschah) wir uns durchaus kein Bild machen können, dessen Neigungen, dessen Lektüre und Grundsätze wir nicht kennen, so wissen wir nicht, ob unsere Worte in ihm etwas wachrufen, das ihnen ähnlicher sieht, als es bei einem Tier der Fall wäre, dem man dennoch gewisse Dinge begreiflich zu machen hätte. So geschah es, daß der Versuch, mit Albertine in Verbindung zu treten, mir vorkam, als brächte man mich in Kontakt mit dem Unbekannten, wenn nicht mit dem Unmöglichen – ein Unternehmen, schwierig wie das Bändigen von Pferden, ausruhend, wie Bienen zu züchten oder Rosen zu ziehen.
Vor wenigen Stunden noch hatte ich angenommen, Albertine werde auf meinen Gruß nur von weitem antworten. Nun hatten wir uns soeben voneinander mit dem Plan eines gemeinschaftlichen Ausflugs getrennt. Ich versprach mir, dreister mit Albertine zu sein, wenn ich ihr wieder begegnen würde, und schon zum voraus hatte ich mir (nun da ich durchaus den Eindruck hatte, sie mache es einem nicht schwer) den Plan all dessen gemacht, was ich ihr sagen, ja aller Vergnügungen, um die ich sie bitten wollte. Aber der Geist ist leicht zu beeinflussen, wie die Pflanze, wie die Zelle, wie die chemischen Elemente; und das Milieu, das ihn verändert, wenn man ihn hineinversetzt, sind die Umstände, ist ein neuer Rahmen. Durch ihre bloße Gegenwart war ich, als ich von neuem mich bei Albertine befand, ein anderer geworden und sagte ihr ganz anderes, als ich mir vorgesetzt hatte. Und schließlich war ich bei gewissen Blicken, einem gewissen Lächeln, das sie hatte, verlegen. Sie konnten leichtfertige Sitten, aber auch den etwas dummlichen Frohsinn eines mutwilligen jungen Mädchens anzeigen, das im Grund ehrbar war. Ein und derselbe Ausdruck im Gesicht wie in der Rede konnte verschiedene Bedeutungen haben, und ich war unschlüssig wie ein Schüler vor Schwierigkeiten in der Übersetzung aus dem Griechischen.
Dieses Mal trafen wir fast sofort die große Andrée: die, welche mit einem Satz über den ersten Präsidenten gesprungen war. Albertine mußte mich ihr vorstellen. Ihre Freundin hatte selten helle Augen, wie in einer schattigen Wohnung der Eingang durch die offne Tür in ein Zimmer ist, wo Sonne und der grünliche Reflex des bestrahlten Meeres hereinfallen.
Fünf Herren kamen vorbei, die ich vom Sehen sehr gut kannte, seit ich in Balbec war. Oft hatte ich mich gefragt, wer sie seien. »Sehr chike Leute sind es nicht«, sagte Albertine und lachte ein kurzes, verächtliches Lachen. »Der kleine Alte mit den gelben Handschuhen, der sich färbt, sieht toll aus: chik? Finden Sie nicht? Das ist der Zahnarzt von Balbec – ein ganz ordentlicher Mann; der Dicke ist der Bürgermeister – nicht der ganz kleine Dicke – den müssen Sie ja schon kennen – das ist der Tanzlehrer; er ist auch ziemlich schauderhaft. Uns kann er nicht leiden, weil wir zuviel Lärm im Kasino machen, ihm die Stühle kaputt machen, ohne Teppich tanzen wollen; er hat uns auch niemals den Preis gegeben, trotzdem wir die einzigen sind, die tanzen können. Der Zahnarzt ist ein ordentlicher Kerl – ich hätte ihm guten Tag gesagt, um den Tanzlehrer zu ärgern, aber ich konnte es nicht, weil Herr von Sainte-Croix bei ihnen ist, der Bezirksbeamte, ein Mann aus sehr guter Familie, der zu den Republikanern übergegangen ist – kein anständiger Mensch grüßt ihn mehr. Er kennt meinen Onkel, der Regierung wegen; aber der Rest meiner Familie hat ihm den Rücken gekehrt. Der Dünne im Regenmantel ist der Kapellmeister. Wie, den kennen Sie nicht? Er spielt göttlich. Sie haben nicht Cavalleria rusticana gehört! Ach, ich finde es einfach ideal! Er gibt heute abend ein Konzert, aber wir können nicht hingehen, weil es im Rathaussaale stattfindet. Im Kasino macht es nichts, aber im Rathaussaal, aus dem man das Kruzifix entfernt hat! Andrées Mutter würde einen Schlaganfall bekommen, wenn wir hingingen. Sagen Sie nicht, der Mann meiner Tante ist in der Regierung. Was wollen Sie machen? Meine Tante bleibt meine Tante. Ich habe sie darum nicht lieber. Sie hat immer nur den einen Wunsch gehabt: mich loszuwerden. Der Mensch, der mir wirklich Mutter gewesen ist und ein doppeltes Verdienst daran hat, weil er gar nicht mit mir verwandt ist, ist eine Freundin – und die liebe ich auch wie eine Mutter. Ich werde Ihnen ihre Photo zeigen.« Wir wurden einen Augenblick von dem Golfchampion und Baccaratspieler Octave angehalten. Ich glaubte, eine Beziehung zwischen uns ausfindig gemacht zu haben, denn ich erfuhr aus dem Gespräch, daß er mit den Verdurin entfernt verwandt und zudem ziemlich beliebt bei ihnen sei. Aber er sprach von den berühmten Mittwochgesellschaften mit Verachtung und fügte hinzu, Herr Verdurin kenne nicht den Gebrauch des Smoking, ein Umstand, der es ziemlich peinlich mache, in gewissen Music-halls ihm zu begegnen, wo es einem ebenso recht gewesen wäre, nicht mit dem Ruf: ›Guten Tag, du Bengel!‹ von einem Herrn begrüßt zu werden, der Jackett und schwarze Krawatte wie ein Dorfnotar trug. Dann verabschiedete sich Octave von uns, und kurz darauf kam Andrée an die Reihe. Sie war vor ihrem Chalet angelangt und verschwand darin, ohne während des ganzen Spazierganges ein Wort zu mir gesprochen zu haben; mir tat ihr Fortgehen leid, und das wurde nur schlimmer, als, während ich Albertine darauf hinwies, wie kalt ihre Freundin gegen mich gewesen sei, auch bei mir selber ich die Schwierigkeit, der Albertine zu begegnen schien, wenn sie mit ihren Freundinnen mich bekannt machen wollte, in Zusammenhang mit der Feindseligkeit brachte, auf die Elstir den ersten Tag gestoßen war, da er meinem Wunsch hatte nachkommen wollen – als während all dessen junge Mädchen, die ich grüßte, vorbeikamen, die Fräulein d'Ambresac, denen auch Albertine guten Tag sagte.
Ich dachte, in meinem Verhältnis zu Albertine würde ich dadurch gewinnen. Sie waren die Töchter einer Verwandten von Frau von Villeparisis, die auch mit Frau von Luxembourg bekannt war. Herr und Frau d'Ambresac hatten in Balbec eine kleine Villa, sie waren außerordentlich reich, lebten aber äußerst einfach und gingen immer, der Mann in ein und demselben Jakettanzug, die Frau in eine schwarze Robe gekleidet. Beide richteten an meine Großmutter die tiefsten Grüße, ohne daß dies zu etwas führte. Die Töchter waren sehr hübsch und mit größerer Eleganz gekleidet, städtischer aber, nicht der eines Badeortes. Wenn sie in ihren langen Roben, unter den großen Hüten erschienen, dann sah es aus, als gehörten sie einer andern Menschheit an als Albertine. Die wußte sehr wohl, wer sie waren. »Ach! Sie kennen die kleinen d'Ambresac? Na, da kennen Sie sehr chike Leute. Übrigens sind sie sehr einfach«, setzte sie hinzu, als widerspreche das dem. »Sie sind sehr nett, aber so gut erzogen, daß man ihnen nicht erlaubt, ins Kasino zu gehen – unsertwegen besonders, weil wir uns zu schlecht aufführen. Gefallen sie Ihnen? Gott, je nach dem. Richtige kleine, weiße Gänschen sind es. Das kann vielleicht seinen Reiz haben. Wenn Sie kleine, weiße Gänschen gern mögen, dann sind Sie nach Wunsch bedient. Man sollte denken, daß sie gefallen können, denn eine ist ja schon an den Marquis von Saint-Loup verlobt. Und die Jüngere ist sehr traurig darüber, denn sie war in den jungen Mann verliebt. Was mich betrifft: mich bringt schon außer mir, wie sie sich hat. Und dann ziehen sie sich lächerlich an. In seidenen Kleidern gehn sie zum Golf! In ihrem Alter sind sie anspruchsvoller angezogen als ältere Frauen, die sich zu kleiden wissen. Sehen Sie, Frau Elstir, das ist eine elegante Frau!« Ich erwiderte, ich habe den Eindruck bekommen, sie gehe sehr einfach gekleidet. Albertine begann zu lachen. »Ja, sie geht allerdings sehr einfach gekleidet, aber sie zieht sich fabelhaft an; um das, was Sie Einfachheit nennen, zustande zu bringen, gibt sie ein irrsinniges Geld aus.« Die Toiletten von Frau Elstir wurden von jemandem, der in Kleidungsdingen keinen ganz sicheren, distinguierten Geschmack hatte, gar nicht bemerkt. Dieser Geschmack ging mir ab. Elstir besaß ihn, Albertine zufolge, in höchstem Grade. Ich hatte es nicht vermutet und nicht geahnt, daß die eleganten, aber einfachen Gegenstände, die überall bei ihm im Atelier zu finden waren, Prachtstücke waren, die er lange begehrt, von Auktion zu Auktion verfolgt hatte, Sachen, deren Geschichte er ganz genau kannte, bis er dann eines Tages Geld genug, um sie zu erwerben, besessen hatte. Aber in dieser Hinsicht verstand Albertine ebensowenig wie ich und konnte mich nichts lehren. Anders stand es mit den Toiletten; hier machte der Instinkt der Kokette sie feinfühlig, vielleicht spielte auch das Bedauern des mittellosen jungen Mädchens hinein, die selbstloser und verständnisvoller bei Reichen genießt, womit sie selber sich nicht schmücken kann; jedenfalls verstand sie sehr gut, von Elstirs Raffinement mit mir zu sprechen; er war so heikel, daß er jede Frau schlecht angezogen fand, und da in Proportionen, in Nuancen eine ganze Welt für ihn lag, ließ er zu wahnsinnigen Preisen für seine Frau Sonnenschirme, Hüte und Mäntel anfertigen; Albertine hatte er angeleitet, sie reizend zu finden, während sie einem Menschen ohne Geschmack ebensowenig aufgefallen wären wie mir. Außerdem legte Albertine, die selber ein wenig gemalt hatte, ohne im übrigen, eingestandenermaßen, irgend Talent dafür besessen zu haben, für Elstir große Bewunderung an den Tag, und dank dem, was er ihr gesagt und gezeigt hatte, verstand sie sich auf Bilder in einer Weise, die mit ihrer Begeisterung für Cavalleria rusticana in starkem Kontrast stand. Dies hing damit zusammen, daß sie in Wirklichkeit, und wiewohl das kaum in Erscheinung trat, sehr intelligent war und in dem, was sie sagte, die Dummheit nicht aus ihr, sondern aus ihrem Milieu und ihrem Alter kam. Elstir besaß auf sie einen glücklichen, doch begrenzten Einfluß. Nicht alle Arten von Verständnis waren bei Albertine zum gleichen Grade der Entwicklung gediehen. Der Sinn für Malerei hatte fast den für Kleider und alle Formen der Eleganz eingeholt, doch folgte ihm nicht der Sinn für Musik, sondern blieb weit hinten.
Es half Albertine nicht viel, daß sie wußte, wer die d'Ambresac waren. Denn da ja einer, der das Größere kann, nicht darum schon auch das Geringere vermag, fand ich Albertine, nachdem ich die jungen Mädchen einmal begrüßt hatte, nicht eher geneigt, mit ihren Freundinnen mich bekannt zu machen. »Es ist furchtbar nett, daß Sie ihnen Wichtigkeit beimessen. Achten Sie nicht auf sie – es ist nichts mit ihnen. Was können diese kleinen Mädel einem Mann von Ihrem Gewicht bedeuten? Andrée ist wenigstens auffallend intelligent. Sie ist ein gutes, kleines Mädchen, allerdings reine Phantastin, aber die anderen sind wirklich sehr dumm.« Nachdem ich Albertine verlassen hatte, bekümmerte mich mit einem Male sehr, daß mir Saint-Loup seine Verlobung geheimgehalten hatte und imstande gewesen war, sich zu verloben, ohne mit seiner Geliebten gebrochen zu haben. Wenige Tage darauf wurde ich jedoch Andrée vorgestellt, und da sie ziemlich lange sprach, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr zu sagen, ich würde sie gern am nächsten Tag sehen; sie erwiderte aber, es sei ihr unmöglich, sie habe ihre Mutter ziemlich unwohl gefunden und wolle sie nicht allein lassen. Zwei Tage später ging ich zu Elstir, und da sprach er mir von der außerordentlichen Sympathie, die Andrée für mich habe. Und als ich ihm sagte: »Aber ich meinerseits hatte vom ersten Tag an sehr große Sympathie für sie, ich hatte sie gebeten, am folgenden Tage sie wiederzusehen, aber sie konnte nicht,« erwiderte er: »Ja, ich weiß, sie sagte es mir, es hat ihr sehr leid getan, aber sie hatte eine Einladung zu einem Picknick zehn Meilen von hier entfernt angenommen, sie sollte im Break hinfahren und konnte die Abmachung nicht mehr umstoßen.« Diese Lüge war, da Andrée mich so wenig kannte, sehr unbedeutend, und doch hätte ich nicht weiterhin mit einem Menschen umgehen sollen, der ihrer fähig war. Denn was Leute einmal getan haben, damit fangen sie immerfort von neuem an. Und wenn man jedes Jahr einen Freund besucht, der die ersten Male nicht hat zum Rendezvous kommen können oder erkältet war – man wird ihn von neuem mit einer Erkältung finden, die er sich geholt hat, wird ihn bei einem andern Rendezvous verfehlen, zu dem er aus demselben chronischen Grunde nicht gekommen ist, anstatt dessen er Gründe zu haben vermeint, wie sie den gerade gegebenen Umständen entsprechen.
An einem der Morgen, die dem Tage folgten, da Andrée mir gesagt hatte, sie müsse bei ihrer Mutter bleiben, ging ich ein paar Schritt mit Albertine; ich hatte sie gesehen, wie sie am Ende einer kleinen Schnur einen bizarren Gegenstand hochhob, der sie der Giottoschen »Idolatrie« sehr ähnlich machte; er heißt, nebenbei gesagt, »Diabolo« und ist dermaßen aus der Mode gekommen, daß vor dem Bildnis eines jungen Mädchens, das eines hält, die Kommentatoren der Zukunft über das, was sie da in der Hand hält, gelehrt wie über eine allegorische Figur von Santa Maria dell'Arena sich streiten können. Nach einem Augenblick trat an Albertine jene Freundin mit dem kargen, harten Gesichtsausdruck heran, die da am ersten Tage so boshaft gekichert hatte: »Wie leid mir der arme, alte Mann tut« (es war von dem alten Herrn die Rede, der von den leichten Füßen von Andrée war gestreift worden). »Guten Tag, ich störe Euch.« Sie hatte den Hut, der ihr lästig war, abgenommen und ihre Haare breiteten, zierlich verästelt wie die entzückende, noch unbekannte Spielart einer Pflanze, auf ihrer Stirn sich aus. Albertine erwiderte nichts, vielleicht war sie verstimmt, sie barhaupt zu sehen. Trotz dieses anhaltenden, eisigen Schweigens jedoch blieb die andere, und Albertine hielt sie von mir ab, wobei sie gelegentlich es einrichtete, mit ihr allein zu sein, dann wieder, um mit mir zu gehen, sie hinter uns ließ. Um ihr vorgestellt zu werden, war ich genötigt, in Gegenwart dieser anderen Albertine darum zu bitten; da sah ich, gerad als Albertine meinen Namen nannte, über Gesicht und blaue Augen des jungen Mädchens, das mir so grausam bei den Worten ausgesehen hatte: »Wie leid der arme, alte Mann mir tut«, flüchtig ein herzliches, leutseliges Lächeln vorüberhuschen; sie gab mir die Hand. Ihre Haare waren golden, und nicht die allein waren es; denn wenn ihre Backen rosig und ihre Augen blau waren, so wars wie bei dem noch morgenroten Himmel, an dem an allen Orten es golden glänzt und hervorbricht.
Sogleich fing ich Feuer und sagte mir, das Kind sei schüchtern in der Liebe, und um meinetwillen, aus Liebe zu mir, sei es trotz Albertines abstoßender Art bei uns geblieben; es habe sie sehr glücklich machen müssen, endlich mit diesem lächelnden, gütigen Blick mir gestehen zu dürfen, sie werde ebenso sanft zu mir sein wie schrecklich gegen die andern. Gewiß hatte sie mich am Strande bemerkt, noch ehe ich sie kannte, und dachte seitdem an mich; vielleicht hatte sie über den alten Herrn sich nur lustig gemacht, um meine Bewunderung zu wecken, und das verdrießliche Gesicht hatte sie an den folgenden Tagen vielleicht gehabt, weil es ihr nicht gelang, meine Bekanntschaft zu machen. Vom Hotel aus hatte ich sie oft beim abendlichen Spaziergang am Strande gesehen. Wahrscheinlich unternahm sie ihn in der Hoffnung, mir zu begegnen. Und wenn sie jetzt, behindert durch die Gegenwart von Albertine nicht minder, als wäre die ganze kleine Bande zugegen gewesen, an unsere Schritte trotz der zunehmend frostigen Haltung ihrer Freundin sich anschloß, so tat sie es ganz offenbar nur in der Hoffnung, die letzte zu bleiben und mit mir einen Augenblick zu verabreden, wo es ihr möglich würde, hinterm Rücken ihrer Familie und der Freundinnen sich davon zu machen und mir an einem sicheren Orte, vor der Messe oder nach dem Golf, ein Rendezvous zu geben. Und sie zu sprechen war um so schwieriger, als Andrée schlecht zu ihr stand und sie nicht leiden konnte. »Ich habe lange ihre schreckliche Hinterhältigkeit, ihre Niedertracht, die unzähligen Gemeinheiten mir mit angesehen, die sie mir angetan hat«, sagte sie. »Ich habe der andern wegen mir alles gefallen lassen. Aber diese letzte Sache hat das Maß vollgemacht.« Und sie erzählte mir eine Klatschgeschichte, die das junge Mädchen verbreitet hatte, und die Andrée in der Tat schaden konnte.
Aber die Worte, welche Gisèles Blicke mir für den Augenblick versprachen, da Albertine uns würde allein gelassen haben, konnten nicht gesprochen werden. Denn Albertine behauptete sich hartnäckig zwischen uns, wurde in ihren Antworten kürzer und kürzer, und als sie dann überhaupt aufgehört hatte, dem, was ihre Freundin sagte, zu antworten, räumte diese am Ende das Feld. Ich warf Albertine vor, daß sie so häßlich gewesen sei. »Das wird sie lehren, etwas zurückhaltender zu sein. Sie ist kein schlechtes Mädchen, aber sie ist sehr lästig. Sie hat nicht nötig, ihre Nase in alles zu stecken. Warum hängt sie sich an uns, ohne daß man sie drum bittet. Seit fünf Minuten vor voll mache ich ihr begreiflich, sie soll sich scheren. Außerdem kann ich nicht ausstehen, wie sie ihre Haare trägt, wie sieht denn das aus.« Während Albertine so sprach, sah ich auf ihre Backen und fragte mich, welches Parfüm, welchen Geschmack sie wohl haben könnten: an diesem Tag waren sie nicht frisch, sondern glatt, gleichmäßig rosa, mit violetten Flecken darauf, sahnefarben wie gewisse Rosen, die einen wächsernen Firnis haben. Ich hatte eine Leidenschaft für sie, wie sie einen manchmal für Blumen packt. »Ich habe nicht darauf geachtet«, antwortete ich. »Sie haben sie aber genug angesehen, man hätte meinen mögen, Sie wollen sie porträtieren«, erklärte sie, und es besänftigte sie nicht, daß es im Augenblick sie selbst war, die ich so sehr ansah. »Aber ich glaube doch nicht, daß sie Ihnen gefallen würde. Sie ist gar nicht für Flirt. Sie lieben sicher junge Mädchen, die für Flirt sind. Jedenfalls wird sie nicht mehr Gelegenheit haben, sich an einen zu hängen und sich abblitzen zu lassen, denn sie fährt in der allernächsten Zeit nach Paris zurück.« »Und ihre anderen Freundinnen fahren mit ihr?« »Nein, nur sie, sie und Miß, weil sie ihre Examina noch einmal machen muß, sie wird büffeln müssen, das arme Mädel, das ist kein Spaß, sage ich Ihnen. Natürlich kann man ein gutes Thema bekommen. Es gibt solche Zufälle. So bekam eine von unseren Freundinnen: »Erzählen Sie einen Unfall, dem Sie beigewohnt haben,« das ist Glück. Aber ich kenne ein junges Mädchen, die mußte – und sogar schriftlich – behandeln: »Wen würden Sie lieber zum Freunde haben, Alceste oder Philinte?« Damit wäre ich schön reingefallen! Zunächst mal ist das, abgesehen von allem andern, keine Frage, wie man sie einem jungen Mädchen vorlegt. Junge Mädchen sind mit anderen jungen Mädchen befreundet, man nimmt nicht an, daß sie Herren zu Freunden haben.« (Dieser Satz sagte mir, ich habe wenig Aussicht, in die kleine Bande aufgenommen zu werden, und er ließ mich erzittern.) »Aber selbst angenommen, daß jungen Männern diese Frage gestellt würde, was soll ihnen dazu einfallen? Mehrere Familien haben deswegen an den Gaulois geschrieben und sich über die Schwierigkeit solcher Fragen beschwert. Das Tollste ist, daß in einer Sammlung von preisgekrönten Musteraufsätzen das Thema zweimal in ganz entgegengesetztem Sinne behandelt war. Alles hängt vom Examinator ab. Der eine wollte, man soll sagen, Philinte ist ein falscher Schmeichler, der andere, man könne Alceste Bewunderung nicht versagen, aber er sei allzu eigensinnig; als Freund müsse man Philinte ihm vorziehen. Wie sollen die unglücklichen Schüler aus der Sache klug werden, wenn nicht einmal die Lehrer unter sich darüber einig sind. Und das ist noch gar nichts, jedes Jahr wird es schwieriger. Gisèle wird es nur mit tüchtiger Protektion schaffen.« Ich ging ins Hotel zurück, meine Großmutter war nicht da, ich wartete lange auf sie; endlich kam sie, und da beschwor ich sie, mich unter Umständen, die ich nicht hatte erhoffen können, einen Ausflug machen zu lassen, der vielleicht achtundvierzig Stunden dauern könnte. Ich frühstückte mit ihr, bestellte einen Wagen und ließ mich zur Bahn fahren. Gisèle würde bei meinem Anblick sich nicht wundern; und wenn wir erst einmal in Doncières in den Pariser Zug umgestiegen waren, so war dort ein D-Wagen; während die; Miß ihr Schläfchen machte, konnte ich Gisèle in die Ecken führen, wo es dunkel war, und dort eine Verabredung mit ihr für meine Rückkunft nach Paris mir geben, die ich so sehr wie möglich beschleunigen wollte. Im übrigen würde ich ihrem Wunsch mich fügen, bis Caën oder Evreux sie begleiten und mit dem nächsten Zuge zurückfahren. Aber was würde sie doch gedacht haben, wenn sie gewußt hätte, wie lange ich zwischen ihr und ihren Freundinnen geschwankt, und daß ich genau wie ihr eigener auch Albertines Liebhaber hatte sein wollen und der des jungen Mädchens mit den hellen Augen und der von Rosemonde! Mir kamen jetzt, da eine gegenseitige Liebe an Gisèle mich binden sollte, deswegen Gewissensbisse. Ich hätte ihr übrigens streng wahrheitsgemäß versichern können, daß Albertine mir nicht mehr gefiel. Am gleichen Morgen hatte ich sie gesehen, wie sie fortging und mir fast den Rücken kehrte, um mit Gisèle zu sprechen. Den Kopf hielt sie schmollend gesenkt, und das Haar, das hinten zu sehen war, anders als sonst und schwärzer, leuchtete, als käme sie aus dem Wasser. Ich hatte an ein nasses Huhn denken müssen, und dies Haar tat, daß ich in Albertine nun eine andere Seele wohnen ließ, als bisher das violette Gesicht und der geheimnisvolle Blick zu tun mich veranlaßt hatten. Das leuchtende Haar am Hinterkopf war einen Augenblick lang das Einzige gewesen, was ich von ihr gesehen hatte, und nur das sah ich auch weiterhin vor mir. Unser Gedächtnis hat Ähnlichkeit mit Geschäften, die in ihr Fenster einmal diese, ein andres Mal jene Photographie einer gewissen Persönlichkeit stellen. Und gewöhnlich wird die neueste eine Zeitlang allein beachtet. Während der Kutscher seinem Pferde zusetzte, hörte ich in mir, was Gisèle für zärtliche Worte des Dankes mir sagte, die alle aus ihrem gütigen Lächeln und der ausgestreckten Hand hervorgingen: das kam, weil zu den Zeiten meines Lebens, in denen ich nicht verliebt war, es aber sein wollte, ich in mir nicht allein ein physisches Schönheitsideal trug (und das erkannte ich, wie man gesehen hat, dann von weitem in jeder Vorüberkommenden, wenn ihre Züge sich solcher Vorstellung nicht widersetzten),sondern auch, stets bereit, sich zu verkörpern, das geistige Phantom der Frau, die sich in mich verlieben werde und mir Repliken in der Liebeskomödie geben sollte, die ich seit meiner Kindheit fertig im Kopf hatte. Und mir kam vor, jedwedes liebenswerte junge Mädchen brenne darauf, sie zu spielen, wenn ihr Äußeres nur in Etwas der Rolle entsprach. Welches aber der neue ›Star‹ auch war, den ich heranzog, um diese Rolle zum ersten Male oder neuerlich zu geben – Szenar, der Gang der Handlung, ja, der Text blieben ein ne varietur.
Wie wenig Eifer Albertine auch gezeigt, uns alle miteinander Bekanntschaft machen zu lassen – so kannte ich doch wenige Tage später die kleine Bande vom ersten Tag vollständig und dazu zwei oder drei ihrer Freundinnen, mit denen sie auf meinen Wunsch mich bekannt gemacht hatten. Sie waren alle in Balbec geblieben bis auf Gisèle, die ich infolge eines Haltes vor der Bahnhofschranke, der sich in die Länge zog, und einer Fahrplanverschiebung am Zuge, der fünf Minuten vor meiner Ankunft abgefahren war, nicht mehr erreichte; aber sie war mir im übrigen auch entfallen. Und in der Hoffnung auf das Vergnügen, das ich bei einem neuen jungen Mädchen zu finden gedachte, wenn ich von der kam, durch die ich sie kennen gelernt hatte, war die jüngste Bekanntschaft immer wie eine Spielart Rose, die man dank einer Rose anderer Art erzielt. Und stieg ich in dieser Blütenkette so von Blumenkrone zu Blumenkrone hinauf, so tat die Freude, wieder eine andere kennen zu lernen, daß ich mit einer Dankbarkeit, in welche ebensoviel Wunsch einging als in mein neues Hoffen, zu der, welcher ich das zu verdanken hatte, mich wieder zurückwandte. Bald brachte ich alle meine Tage mit den jungen Mädchen zu.
Doch leider kann man in der frischesten Blüte schon die kaum merklichen Punkte erkennen, durch die sich für den, der Bescheid weiß, schon abzeichnet, was eines Tages durch das Austrocknen oder die Fruchtbildungen des Fleisches, das heute noch in Blüte steht, die unwandelbare, die prädestinierte Gestalt des Samenkorns ist. Man folgt den Linien einer Nase mit Genuß, die einer kleinen Welle ähnlich sieht, die reizvoll sich aus morgendlichen Wassern hebt und unbeweglich durch die Zeichnung festzuhalten scheint, weil das Meer so ruhig ist, daß man die Gezeiten nicht merkt. Menschengesichter scheinen, während man sie anblickt, sich nicht zu verändern, weil die Revolution in ihnen sich so langsam vollzieht, daß wir sie nicht wahrnehmen. Aber man brauchte neben diesen jungen Mädchen nur ihre Mutter oder ihre Tante zu sehen, um zu ermessen, welche Distanzen in weniger als dreißig Jahren diese Züge vermöge der Attraktionskraft eines gemeinhin schrecklichen Typs zu durchlaufen hatten bis zu der Zeit der erlöschenden Blicke, der Zeit, da das Gesicht vollständig untern Horizont gesunken ist und kein Licht mehr empfängt. Ich wußte, daß gleich tief, gleich unfehlbar wie jüdischer Patriotismus oder christlicher Atavismus bei denen, die von ihrer Rasse sich am unabhängigsten dünken, so unter dem rosigen Blütenstand von Albertine, von Rosemonde, von Andrée, ohne daß sie es wußten, für den Bedarfsfall eine dicke Nase, ein vorspringender Mund, ein Embonpoint verdeckt lagen, die zwar zunächst Erstaunen wecken würden, in Wahrheit aber sich in der Kulisse für ein Auftreten bereit hielten: nicht anders als ein bestimmtes Parteiergreifen für Dreyfus, ein bestimmter, jäh, unvermutet, unabänderlich hervortretender Katholizismus, ein bestimmter nationaler, feudaler Heroismus, wie sie plötzlich beim Appell durch eine Kraft, die früher als das Individuum selbst schon da war, sich herausstellen, eine Kraft, durch die es denkt, lebt, sich entwickelt, stirbt oder sich festigt, ohne daß es sie von den besonderen Beweggründen unterscheiden könnte, die es mit ihr verwechselt. Selbst in geistiger Beziehung hängen wir sehr viel mehr von Naturgesetzen ab als wir annehmen, und unsere Wesensart besitzt, wie ein Kryptogame oder wie ein Gras, Eigenheiten, die wir zu wählen glauben, von vornherein. Wir aber erfassen dabei nur die abgeleiteten Ideen ohne den ursprünglichen Grund (jüdische Rasse, französische Familie und so weiter), der notwendig jene hervorbringt, wie wir sie im gegebenen Moment heraustreten lassen. Und wenn uns dann die einen vielleicht das Ergebnis einer Überlegung, die anderen das einer Fahrlässigkeit in unserem hygienischen Verhalten zu sein scheinen, haben wir vielleicht in Wahrheit so wie die Schmetterlingsblütler ihre Samenform die Ideen, von denen wir leben, ebensogut wie die Krankheit, an der wir sterben, von unserer Familie.
Wie auf einer Pflanze, bei der die Blüten in verschiedenen Epochen zur Frucht reifen, hatte ich an diesem Balbecer Strand an alten Damen sie gesehen, diese harten Körner, diese schlaffen Warzen, die meine Freundinnen eines Tages sein würden. Was tat das aber? Jetzt war Blütezeit. Und so suchte ich denn nach einer Entschuldigung, daß ich nicht frei sei, wenn mich Frau von Villeparisis zu einem Spaziergang aufforderte. Auch Elstir machte ich Besuche nur, wenn meine neuen Freundinnen mich zu ihm begleiteten. Ich konnte nicht einmal einen Nachmittag finden, um nach Doncières zu fahren und Saint-Loup zu besuchen, wie ich es ihm versprochen hatte. Wenn gesellschaftliche Veranstaltungen, gewichtige Unterhaltung, ja selbst eine freundschaftliche: Plauderei sich an die Stelle meiner Gänge mit den jungen Mädchen gesetzt hätten, so hätte das auf mich gewirkt, wie wenn man um die Mittagszeit uns nicht zum Essen, sondern um ein Album einzusehen, mitnimmt. Die Männer, jungen Leute und die alten oder gereiften Frauen werden von uns nur auf einer stumpfen, haltlosen Oberfläche getragen, weil wir nur mittels einer ganz auf sich selber beschränkten Gesichtswahrnehmung von ihnen Kenntnis nehmen; auf junge Mädchen aber richtet sie sich gleichsam als Abgesandte der übrigen Sinne; die Blicke suchen einer nach dem andern, was Duftendes, Tastbares, Schmackhaftes vorhanden ist, und davon kosten sie auch ohne Zutun von Hand und Lippe; und wie sie dank der kunstvollsten Stellvertretung, der genialen synthetischen Kraft, in der der Trieb Meister ist, das Geheimnis besitzen, an Stelle der Farbe von Wangen oder Brüsten, Anfassen, Schmecken und verbotenes Berühren zu setzen, machen sie diese Mädchen zu etwas so Honigähnlichem, wie sie beim Honigsammeln in einer Rosenplantage oder einem Weinberg, dessen Trauben sie mit Augen verzehren, es tun Schlechtes Wetter besaß keinen Schrecken für Albertine, und oft sah man in ihrem Gummimantel unter den Regengüssen auf dem Rad sie dahinfahren; aber dennoch verbrachten wir an Regentagen die Zeit im Kasino, und an solchen Tagen nicht hinzugehen, wäre mir ganz unmöglich vorgekommen. Ich hegte die größte Verachtung für die Fräulein d'Ambresac, die niemals dort eingetreten waren. Und gern war ich dabei, wenn meine Freundinnen dem Tanzlehrer schlechte Streiche spielen wollten. Gewöhnlich gab es einige Vorhaltungen des Verwalters oder der Angestellten, die damit in das Vorrecht des Direktors übergriffen, denn meine Freundinnen waren nicht imstande, aus dem Vestibül in den Festsaal zu gehen, ohne einen Anlauf zu nehmen, über alle Stühle zu springen, an einer Stelle immer wieder auf und ab zu schlittern, wobei sie, singend, mit anmutigen Armbewegungen das Gleichgewicht hielten, und in dieser ersten Jugendblüte alle Künste so ineinander zu wirken wie die alten Dichter, welche noch keine verschiedenen Gattungen kennen, in einem epischen Gedichte Vorschriften über den Ackerbau mit theologischen Belehrungen verbinden. Bei solchen Spielen beteiligte sich auch Andrée, die eben darum in den ersten Tagen von mir für eine so dionysische Natur genommen worden war, während sie in Wahrheit zart, intellektuell gerichtet und in diesem Jahre sehr leidend war. Aber trotzdem gehorchte sie weniger ihrem Befinden als dem Genius dieses Alters, der alles mit sich reißt und im Frohsinn kranke und kraftstrotzende Wesen durcheinanderwirbelt.
Diese Andrée, die mir am ersten Tage so kühl vorgekommen war, sie war in Wahrheit zarter, teilnehmender und verständnisvoller als Albertine, gegen die sie die süße Zutunlichkeit der älteren Schwester an den Tag legte. Sie kam ins Kasino, nahm neben mir Platz und wußte – im Gegensatz zu Albertine – einen Walzer zu weigern oder selbst, wenn ich müde war, auf das Kasino zu verzichten, um ins Hotel zu kommen. Sie fand für ihre Neigung zu mir und zu Albertine Nuancen im Ausdruck, die ein ganz seltenes Verständnis für Dinge des Gefühls bewiesen, wie es vielleicht zum Teil von ihrem kränkelnden Befinden herrührte. Sie hatte immer ein lustiges Lächeln, um Albertines Kinderei zu entschuldigen, wenn die in ihrer naiven Heftigkeit erkennen ließ, welche unwiderstehliche Versuchung Ausflüge für sie hatten, vor denen sie nicht, wie Andrée, entschlossen einer Plauderei mit mir den Vorzug zu geben wußte ... Wenn die Stunde herankam, da man zum Tee auf einem Golfplatz zu gehen hatte, und wir gerade alle beisammen waren, machte sie sich fertig und kam dann zu Andrée: »Na! Andrée, worauf wartest du denn, du weißt doch, daß wir auf dem Golfplatz Tee trinken.« – »Nein, ich bleibe hier und unterhalte mich mit ihm«, erwiderte Andrée und zeigte dabei auf mich. »Aber du weißt doch, Frau Durieux hat dich eingeladen«, rief Albertine, als könne Andrées Absicht, bei mir zu bleiben, sich nur daraus erklären, daß sie von ihrer Einladung nichts wisse. »Stell' dich nicht so dumm an, mein liebes Kind«, antwortete Andrée. Albertine insistierte nicht länger, aus Angst, man möchte auch ihr zu bleiben vorschlagen. Sie schüttelte den Kopf: »Tu, was dir gut scheint,« sagte sie, wie man zu einem Kranken redet, der mutwillig sich allmählich zugrunde richtet, »ich trolle mich, denn ich glaube, deine Uhr geht nach«, und damit nahm sie ihre Beine in die Hand. »Sie ist entzückend, aber unmöglich«, sagte Andrée, und an ihrem Lächeln konnte man sehen, wie es sie liebkoste und zugleich ihr das Urteil sprach. Wenn in dieser Vergnügungssucht Albertine etwas von der Gilberte der ersten Zeit hatte, so hängt das damit zusammen, daß, unbeschadet jeder Entwicklung, zwischen den Frauen, die wir der Reihe nach lieben, eine gewisse Ähnlichkeit besteht, eine Ähnlichkeit, die von der besonderen, sich gleichbleibenden Natur unseres Temperaments kommt, das diese Frauen wählt und alle ausschaltet, die uns nicht ähnlich und entgegengesetzt zugleich sind, mit anderen Worten, geeignet sind, unsere Sinne zu befriedigen und unser Herz zu martern. So sind denn diese Frauen ein Produkt unseres Temperaments, ein Bild, eine umgekehrte Reproduktion, kurz, ein »Negativ« unserer Sinnlichkeit. Daher könnte ein Romancier in der Lebensdarstellung seines Helden die verschiedenen Liebesbegegnungen, die er hat, fast ganz einander ähnlich darstellen, ohne damit den Eindruck zu erwecken, er wiederhole sich; vielmehr erweckt er den, etwas zu schaffen, denn einer künstlichen Neuerung wohnt weniger Kraft inne als einer Wiederholung, die bestimmt ist, eine neue Wahrheit dem Leser nahezubringen. Fernerhin müßte er in den Charakter des Liebhabers einen Variationsindex einführen, dessen Wirksamkeit deutlicher wird, je mehr man in neue Regionen, unter andere Breitengrade des Lebens vordringt. Und vielleicht würde er noch eine weitere Wahrheit zum Ausdruck bringen, wenn er zwar allen seinen übrigen Personen Charaktere, der geliebten Frau aber keinen gäbe. Den Charakter der gleichgültigen Menschen kennen wir, wie könnten wir aber den von einem Geschöpf erfassen, das eins wird mit unserem Leben und das wir bald von uns selbst nicht mehr trennen, über dessen Beweggründe wir unablässig angstvolle Vermutungen aufstellen und wieder abändern? Unser Interesse für die Frau, die wir lieben, fährt nieder aus Sphären, die jenseits der Intelligenz liegen, in seinem Schwunge schießt es über den Charakter dieser Frau hinaus, und könnten wir auch dort anhalten, wir würden es nicht wollen. Der Gegenstand unserer rastlosen Nachforschung ist wichtiger als solche Einzelheiten des Charakters, die den kleinen Geflechten der Epidermis ähneln, die in den verschiedenen Kombinationen das einmalige, blühende Fleisch bilden. Unsere intuitive Strahlung geht da hindurch, und sie kommt mit Bildern zurück, die nicht die eines bestimmten Gesichts sind, sondern die triste, trauervolle Universalität des Skeletts haben.
Da Andrée außerordentlich reich war, Albertine arm und eine Waise, ließ Andrée sehr großmütig den eigenen Luxus ihr zugute kommen. Was ihre Gesinnung gegen Gisèle betrifft, so war sie nicht ganz die, die ich vermutet hatte. Es kamen nun bald Nachrichten von der Schülerin, und als Albertine den Brief zeigte, den sie von ihr bekommen hatte – ein Brief, der in Gisèles Sinne der kleinen Bande Nachricht von ihrer Reise und ihrer Ankunft geben, zugleich die Faulheit, den anderen noch nicht zu schreiben, entschuldigen sollte – nahm es mich wunder, Andrée, die ich tödlich mit ihr verzankt glaubte, sagen zu hören: »Ich werde ihr morgen schreiben, denn wenn ich erst ihren Brief abwarten will, so kann das lange dauern; sie ist so bummlig.« Und dann wandte sie sich zu mir und setzte hinzu: »Ihnen würde sie selbstverständlich nicht viel sagen, aber sie ist ein so anständiges Mädchen, und außerdem habe ich sie wirklich sehr lieb.« Ich schloß daraus, ein Zwist mit Andrée dauere nicht lange.
Da wir, von solchen Regentagen abgesehen, zu Rad auf die Klippe oder aufs Land wollten, so suchte ich eine Stunde vorher mich herauszustaffieren und stöhnte, wenn Françoise meine Sachen nicht gut zurechtgelegt hatte. Nun richtete, sogar in Paris, sie stolz und zornig sich zu ihrer ganzen Höhe auf (da jetzt das Alter schon sie niederzubeugen begann), wenn man sie auf einer Nachlässigkeit ertappte – sie, die so demütig, so bescheiden und liebenswert war, wenn ihrer Eigenliebe geschmeichelt wurde. Da sie die große Triebkraft ihres Lebens war, so entsprachen Zufriedenheit und gute Laune bei Françoise immer genau der Schwierigkeit der Dinge, die; man von ihr verlangte. Und was sie in Balbec zu tun hatte, war so einfach, daß sie fast immer Mißvergnügen zeigte, das sich mit einem Schlage verhundertfachte und mit ironisch-hochmütigem Ausdruck verband, wenn ich, im Begriffe, wieder zu meinen Freundinnen zu gehen, mich darüber beklagte, daß mein Hut nicht gebürstet oder meine Krawatten nicht geordnet waren. Sie, die so große Mühe sich geben konnte und dabei fand, es sei nicht der Rede wert, rühmte sich nicht nur bei der einfachen Bemerkung, ein Anzug sei nicht an seinem Platz, mit welcher Sorgfalt sie »lieber ihn eingeschlossen als im Staub nicht habe herumliegen lassen«, sondern ging zu einer regelrechten Lobrede auf ihre Arbeit über, klagte, man könne das, was sie in Balbec habe, nicht Ferien nennen, und man werde außer ihr keine zweite finden, um ein solches Leben zu führen. »Ich verstehe nicht, wie man seine Sachen so herumliegen lassen kann, versuchen Sie doch mal, ob eine andere aus diesem Tohuwabohu klug werden kann. Dem Teufel selber sein Latein reicht da nicht aus.« Oder aber sie begnügte sich, das Gesicht einer Königin aufzusetzen und flammende Blicke mir zuzuschleudern, dabei beobachtete sie ein Schweigen, das im Moment, da sie die Tür geschlossen hatte und auf dem Korridor war, gebrochen wurde; er hallte dann von Äußerungen wider, die, wie ich wohl vermuten konnte, beleidigend waren; sie blieben aber undeutlich, wie die von Leuten, die ihre ersten Worte vor dem Auftreten hinter einer Kulissenstütze hersagen. Wenn ich mich aber so zum Ausgang mit meinen Freundinnen fertigmachte, erwies sich Françoise, sogar wenn gar nichts fehlte und sie bei guter Laune war, unausstehlich. Scherze, die ich in meinem Bedürfnis, von den jungen Mädchen zu sprechen, in ihrer Gegenwart gemacht hatte, nahm sie mit einem Ausdruck wieder auf, als enthülle sie mir etwas, was ich doch besser als sie gewußt hätte, wenn es richtig gewesen wäre; das war aber nicht der Fall, denn Françoise hatte falsch verstanden. Sie hatte ihre Eigentümlichkeit wie jeder andere; niemals ähnelt ein Mensch einer geraden Straße, sondern er setzt durch seine seltsamen, unumgänglichen Windungen uns in Erstaunen, welche den anderen nicht auffallen, und die passieren zu müssen für uns recht unbequem ist. Jedesmal, wenn ich an den Punkt kam: »Hut nicht an Ort und Stelle«, zwang Françoise mich, in einem Netz gewundener, absurder Wege mich zu verirren, welche mich sehr viel Zeit kosteten. Ebenso ging es, wenn ich Sandwichs mit Chester oder Salat zurechtmachen und Torten kaufen ließ, die ich zum Tee auf der Klippe in Gesellschaft der jungen Mädchen verzehren wollte, und die sie, wie Françoise dann erklärte, ja wohl auch einmal, wenn an sie die Reihe käme, bezahlt hätten, wären sie nicht so kleinlich gewesen. In solchen Fällen kam Françoise ein provinzieller, atavistischer Instinkt für Raub und für berechnenden Vorteil zu Hilfe. Wenn ich diese Anklagen hörte, merkte ich voller Wut, wie ich auf eine der Stellen gestoßen war, von denen ab der vertraute, ländliche Weg, den Françoises Charakter mir darstellte, unbrauchbar wurde, doch zum Glück nicht für lange. Wenn dann der Anzug gefunden und die Sandwichs fertig waren, suchte ich Albertine, Andrée, Rosemonde, bisweilen auch andere auf, und zu Fuße oder zu Rad machten wir uns auf.
Früher wäre es mir lieber gewesen, wenn dieser Ausflug bei schlechtem Wetter stattgefunden hätte. Damals suchte ich in Balbec »das Land der Kimmerier«, und schöne Tage waren etwas, was es da nicht hätte geben dürfen, ein Einbruch des vulgären Badesommers in diese alte Region, die von Nebeln verschleiert lag. Alles aber, was ich verachtet, von meinen Blicken ferngehalten hatte, nicht nur die Beleuchtungseffekte der Sonne, sondern sogar die Regatten, die Pferderennen, hätte ich jetzt leidenschaftlich gesucht und das aus demselben Grunde, aus dem ich früher nur stürmendes Meer gewollt hatte; der bestand darin, daß sich das eine, wie früher das andere, an eine ästhetische Vorstellung anschloß. Wir, meine Freundinnen und ich, waren nämlich einige Male zu Elstir gegangen, und an Tagen, da die jungen Mädchen zugegen gewesen waren, hatte er am liebsten immer einige Skizzen nach hübschen Jachtswomen gezeigt oder eine Studie, die er in einem Hippodrom in der Nähe von Balbec gemacht hatte. Zuerst hatte ich Elstir schüchtern gestanden, ich hätte zu den Réunions, die man dort gäbe, nicht gehen wollen. »Sie haben unrecht getan,« sagte er zu mir, »es ist so nett und auch so interessant. Vor allem dieses ganz besondere Geschöpf, der Jockey, auf den so viele Blicke geheftet sind, wie er davor dem Paddock trist und grau in seinem leuchtenden Kasak steht und nur ein Wesen mit dem Pferd zusammen ausmacht, das umhertrabt und wieder von ihm eingefangen wird; wie interessant würde es sein, seine professionellen Gesten herauszustellen, den blendenden Flecken zu zeigen, den er und auch der Balg der Pferde auf der Rennbahn macht. Wie verwandeln sich alle Dinge in der leuchtenden Unermeßlichkeit einer Rennbahn, wo man von so vielen Schatten, Reflexen und Lichtern überrascht wird, die man nur dort sieht. Wie hübsch Frauen dort aussehen können! Vor allem die erste Réunion war entzückend. Man sah außerordentlich elegante Frauen da in dem feuchten, holländischen Licht, wobei man in die Sonne selber die durchdringende Kälte des Wassers aufsteigen fühlte. Ich habe nie Frauen im Wagen ankommen oder ihren Feldstecher vor Augen in solchem Lichte gesehen, das ohne Zweifel von der Feuchtigkeit des Meeres herrührt. Ach! wie gern hätte ich das wiedergegeben; ich bin wie ein Wahnsinniger von den Rennen zurückgekommen, solche Lust zu arbeiten hatte ich.« Und dann begeisterte er sich noch mehr als für die Pferderennen für Jacht-Veranstaltungen, und es ging mir auf, daß Regatten, Sportfeste, bei denen gut angezogene Frauen im meergrünen Licht baden, für einen modernen Künstler ebenso interessante Motive darstellen konnten wie die Feierlichkeiten, die sie zu schildern so sehr liebten, für einen Veronese oder einen Carpaccio. »Ihr Vergleich ist um so zutreffender,« sagte Elstir zu mir, »als diese Feierlichkeiten, der Stadt wegen, in der sie malten, zum Teil nautische waren. Nur beruhte die Schönheit der Abfahrt der Schiffe damals meistens auf ihrer Schwerfälligkeit, ihrer Komplikation. Es gab zu Wasser Schifferstechen, wie hier, und gewöhnlich fanden sie zu Ehren irgendeiner Gesandtschaft statt, wie sie Carpaccio zum Beispiel in der Legende der heiligen Ursula dargestellt hat. Die Schiffe waren massiv und wie Architekturen konstruiert, sie schienen beinahe amphibisch und sie waren wie kleinere Venedige mitten im anderen, wenn Laufbrücken sie mit dem Lande verbanden und auf dem karmesinfarbenen Satin und den Perserteppichen Frauen in kirschrotem Brokat und in grünem Damast dicht unter den Balkons aus eingelegtem Marmor zu sehen waren, vor denen andere Frauen zuschauend in ihren schwarzärmeligen weißgeschlitzten Roben mit Perlen umwickelt oder geschmückt mit Gipüren sich niederbeugten. Man wußte nicht mehr, wo endet das Festland und wo fängt die See an, was war noch Palast und was war schon Schiff, Karawelle, Galeasse oder Bucentaur.« Mit Leidenschaft lauschte Albertine diesen Toilettendetails, diesen Bildern des Luxus, die uns Elstir beschrieb. »Oh, wie gern sähe ich die Gipüren, von denen Sie sprechen; Venezianer Spitzen sind so bezaubernd,« rief sie aus; »überhaupt würde ich so gern einmal nach Venedig kommen.« »Vielleicht können Sie«, erwiderte Elstir, »die prachtvollen Stoffe, die man da unten getragen hat, bald besichtigen. Man sah sie nur noch auf den Bildern der Venezianischen Schule, oder – dann aber sehr selten – in einem Kirchenschatz, bisweilen tauchte sogar einmal einer in einer Auktion auf. Aber man erzählt sich, ein Venezianer Künstler, Fortuny, habe das Herstellungsgeheimnis wiedergefunden, und ehe noch einige Jahre um seien, werden die Frauen auswärts, und vor allem bei sich zu Hause, sich wieder in ebenso herrlichen Brokatstoffen zeigen können, wie die waren, welche Venedig für seine Patrizierinnen mit orientalischen Dessins zierte. Ich weiß aber nicht, ob mir das so sehr gefallen würde, und ob es nicht für heutige Frauen, selbst bei Gelegenheit einer Regatta, ein allzu großer Anachronismus wäre, denn – um auf unsere modernen Lustjachten zurückzukommen – sie sind durchaus das Gegenteil der Schiffe aus der Zeit des Venedigs, das da die »Königin der Adria« hieß. Bei einer Jacht, ihrer inneren Ausstattung und den Kleidern, die da getragen werden, ist die Schlichtheit der Dinge, die mit dem Meer zusammenhängen, der größte Reiz, und ich liebe das Meer so sehr. Ich gestehe Ihnen, daß ich die heutigen Moden denen zur Zeit von Veronese und selbst von Carpaccio vorziehe. Was an unseren Jachten das hübsche ist, – vor allem den mittelgroßen, die riesigen, die schon mehr Schiffe sind, liebe ich weniger; es ist hier wie mit den Hüten, man muß immer maßhalten – ist das Einfarbige, Schlichte, Helle, Graue, das bei wolkigem, blaßblauem Himmel eine sahnige Weichheit bekommt. Das Zimmer, in dem man sich aufhält, muß aussehen wie ein kleines Café! Mit den Toiletten der Frauen auf einer Jacht ist's dasselbe; wirklich anziehend sind diese leichten, weißen, einfarbigen Toiletten aus Leinwand, Schleierleinen, Pekingseide, Barchent, die in der Sonne gegen das Blau der See ein so strahlendes Weiß wie ein Segel geben. Übrigens gibt es sehr wenige Frauen, die sich gut anziehen, aber einige sind doch wundervoll. Bei den Rennen hatte Fräulein Lea ein weißes Hütchen und einen kleinen, weißen Sonnenschirm – das war ganz reizend.« Ich hätte so sehr gern wissen mögen, wodurch dieser kleine Sonnenschirm sich von anderen unterschied, und aus anderen Gründen – Gründen weiblicher Koketterie – hätte Albertine es noch weit dringender wissen mögen. Aber es war, wie bei Françoise, die bei Soufflés erklärte: »Ja, das ist eben ein Trick« – der Unterschied lag im Schnitt. »Er war,« erklärte Elstir, »ganz klein und rund wie ein chinesischer Parasol.« Ich nannte Sonnenschirme von verschiedenen Frauen, aber so war er durchaus nicht. Elstir fand all diese Sonnenschirme schauerlich. Als Mann mit sehr diffizilem und gepflegtem Geschmack verlegte er den Unterschied zwischen dem, was dreiviertel aller Frauen trugen und was schrecklich war, und einer hübschen Sache, die ihn in Entzücken versetzte, in ein Nichts, das hier alles war; und ganz im Gegensatze zu dem, was mir, den aller Luxus unfruchtbar machte, immer geschah, hob er hervor, wie sehr er sich wünsche zu malen, »um zu versuchen, so hübsche Sachen zu machen«. »Sehen Sie, da steht eine, die hat schon erfaßt, wie der Hut und der Sonnenschirm waren«, sagte Elstir und zeigte auf Albertine, deren Augen vor Begier brannten. »Wie wünschte ich mir, reich zu sein, um eine Jacht zu haben«, sagte sie dem Maler »Bei der Einrichtung würde ich Sie zu Rate ziehen. Wie schöne Reisen würde ich machen. Und wie nett wäre es, zu den Regatten von Cowes zu fahren. Und ein Automobil? Gefallen Ihnen die Moden für Automobilistinnen?« »Nein,« erwiderte Elstir, »aber das wird schon kommen. Es gibt, nebenbei gesagt, sehr wenig Schneider, Callot, trotzdem er's etwas zuviel mit Spitzen hat, Doucet, Cheruit und manchmal Paquin, die übrigen sind ein Grauen.« »Dann ist also ein ungeheurer Unterschied zwischen einer Toilette von Callot und der von irgendeinem anderen Schneider«, fragte ich Albertine. »Aber enorm, lieber Junge«, erwiderte sie. »Oh, pardon! Nur kostet leider das, was anderswo dreihundert Frank kostet, bei denen zweitausend. Aber es hat auch keinerlei Ähnlichkeit miteinander, ungefähr gleich sieht es nur Leuten aus, die nichts davon verstehen.« »So ist es«, erwiderte Elstir, ging aber doch nicht so weit, zu erklären, der Unterschied sei ebenso tief wie zwischen einer Statue der Kathedrale von Reims und der Kirche Saint-Augustin. »Übrigens, da wir gerade von Kathedralen reden,« wandte er sich an mich, weil dies sich auf ein Gespräch bezog, an dem diese jungen Mädchen nicht teilgenommen hatten und das sie übrigens auch nicht im geringsten interessiert haben würde, »ich sprach Ihnen neulich von der Kirche von Balbec als einer großen Klippe, einem großen Damm der Steine des Landes; nun sehen Sie«, sagte er und zeigte mir ein Aquarell, »im umgekehrten Sinne diese Klippen an (es ist eine Studie, die ich hier ganz in der Nähe, bei den Creuniers gemacht habe), »sehen Sie, wie diese energisch und doch zart geschnittenen Felsen an eine Kathedrale denken machen.« Wirklich, es sah wie riesenhafte, rosa gefärbte Rundbogen aus. Aber da sie an einem sengenden Tag gemalt waren, so schienen sie zu Staub verflüchtigt durch die Hitze, die zur Hälfte das Meer aufgesogen hatte, so daß es auf der ganzen Breite der Leinwand beinahe in gasförmigen Zustand übergegangen war. Das Wirkliche, welches vom Licht an diesem Tage gleichsam zertrümmert war, hatte in dunklen, transparenten Geschöpfen sich konzentriert, die durch Kontrast ein packenderes, näheres Leben darzustellen schienen: in den Schatten. Durstig nach Kühlung hatte die Mehrzahl das flammende Freilicht verlassen und sich zu Füßen der Felsen geflüchtet, wo Sonne nicht hinkam, andere schwammen gemächlich auf den Wassern und hefteten wie Delphine sich an die Flanken der umherfahrenden Barken, so daß davon deren Rumpf auf dem Wasser um ihren gefirnißten, blauen Leib sich vergrößerte. Und der Durst nach Kühlung, den sie einem eingaben, machte vielleicht mehr als alles andere den Eindruck von der Hitze dieses Tages, auch war wohl er es, der mich ausrufen ließ, wie leid mir täte, die Creuniers nicht zu kennen. Albertine und Andrée versicherten, ich müsse hundertmal bereits dagewesen sein. In diesem Falle konnte es ohne mein Wissen, ja ohne die leiseste Ahnung geschehen, daß eines Tages ihr Anblick mir einen Durst nach Schönheit eingeben konnte, der nicht auf die natürliche ging, wie ich bisher sie in den Klippen von Balbec gesucht hatte, sondern auf die architektonische. Ich, der ich aufgebrochen war, das Reich der Stürme kennenzulernen und auf meinen Spazierfahrten mit Frau von Villeparisis, wo wir oft nur von weitem Meer wahrnahmen, wie es sich zeigte, wenn die Bäume auseinander traten, den Ozean nie wirklich, nie flüssig, nie lebendig genug fand, nie genug den Eindruck erhalten konnte, er schleudere seine Wassermassen vor, ich, der ich unbeweglich ihn nur unter dem winterlichen Bahrtuch der Nebel hätte sehen mögen – ich konnte es selber kaum glauben, daß ich von jetzt an nur von einem Meer träumen würde, das nichts als weißlicher Dunst sei und Festigkeit und Farbe verloren habe. Elstir aber hatte, gleich jenen, die da in den Barken, die von Hitze eingeschläfert waren, träumten, den Zauber dieses Meeres so tief verspürt, daß ihm gelungen war, auf seiner Leinwand das unmerkliche Anschlagen des Wassers, den Pulsschlag einer glücklichen Minute wiederzugeben; wenn man dies magische Porträt sah, wurde man plötzlich von solcher Liebe ergriffen, daß man an nichts mehr dachte, als sich aufzumachen, um den entschwundenen Tag in seiner flüchtigen, schlummernden Anmut wiederzufinden.
Immer hatte ich früher im Angesicht des Meeres mir Mühe gegeben, aus meinem Gesichtsfeld ebensowohl wie die Badenden im Vordergrunde die Jachten mit den allzu weißen Segeln, ein Strandkostüm auszuschalten, kurz alles, was mich hinderte, mir einzureden, was ich betrachte, sei die unvordenkliche Flut, die ihr unwandelbares, geheimnisvolles Leben schon vor Erscheinen des Menschengeschlechtes bis in diese strahlenden Tage entrollt habe, die mir den banalen Aspekt eines allgemeinen Sommers über diese Küste der Nebel und Stürme zu breiten schienen und so schlechtweg ein Innehalten, etwas, was von den Musikern ein leerer Takt genannt wird, bezeichneten. Nach diesen Besuchen bei Elstir aber, als ich eine Marine von ihm gesehen hatte, auf der eine junge Frau in einem Kleid aus Barège oder Schleierleinen auf einer Jacht, die die amerikanische Flagge gesetzt hatte, das geistige Ebenbild eines Kleides aus weißem Schleierleinen und einer Fahne in meiner Phantasie ansiedelte, so daß in mir der unersättliche Wunsch entstand, augenblicks Kleider aus weißem Schleierleinen und Fahnen am Meer zu sehen, als ob mir das noch nie begegnet sei – nach alledem war's nun das schlechte Wetter, das mir zu einem unheilvollen Zwischenfall zu werden und keinen Platz in einer Welt der Schönheit mehr zu finden schien; ich wünschte brennend, in der Wirklichkeit wiederzufinden, was mich so sehr in Begeisterung versetzte, und hoffte, das Wetter werde gut genug sein, von der Höhe der Klippe auf die gleichen blauen Schatten zu sehen, wie sie Elstirs Gemälde zeigte.
Nun machte ich auch unterwegs mir nicht mehr mit den Händen einen Schirm wie in den Tagen, da ich in der Natur ein Leben erblickt hatte, das früher als das Auftreten des Menschen ist und im Gegensatz zu all den abgeschmackten Vervollkommnungen der Industrie steht, die mich bis dahin auf den Weltausstellungen oder bei den Modistinnen gähnen machten. Damals versuchte ich, vom Meer nur den Ausschnitt zu suchen, auf dem kein Dampfer vorkam, so daß ich es als unvordenklich mir vorstellen konnte, als Genossin der Zeitalter, in denen es war von der Erde getrennt worden, zumindest Genossin der ersten griechischen Jahrhunderte, und das gestattete mir dann, ganz eigentlich die Weise des »alten Leconte« mir wieder herzusagen, die Bloch so gern hatte:
»Sie sind dahin, die Könige der Widderschiffe
»Entführten, ach, aufs Meer, das stürmende,
»Des heldenhaften Hellas bärtige Männer.«
Ich konnte auf die Modistinnen nicht mehr verächtlich herabsehen, seit Elstir mir gesagt hatte, daß die geschickte Bewegung, mit der sie einem Knoten oder den Federn eines fertiggestellten Hutes einen letzten Druck, ein letztes Streicheln abgäben, ihn als malerischer Vorwurf ebenso interessiere wie die Bewegungen der Jockeys (damit hatte er Albertine entzückt). Aber es galt auf meine Rückkehr zu warten – nach Paris, was die Modistinnen betraf, nach Balbec, was die Rennen und Regatten anging, denn es sollten vor dem nächsten Jahre keine mehr stattfinden. Selbst eine Jacht, die Frauen in weißem Schleierleinen an Bord hatte, war nicht aufzutreiben.
Oft begegneten uns Blochs Schwestern, und ich war, seit ich bei ihrem Vater gegessen hatte, genötigt, sie zu grüßen. Meine Freundinnen kannten sie nicht. »Man erlaubt mir nicht, mit israelitischen Mädchen zu spielen«, sagte Albertine. Wenn man hörte, wie sie »ißraelitisch« statt »israelitisch« sagte, so brauchte man den Anfang des Satzes gar nicht zu kennen, um zu wissen, daß nicht gerade Gefühle der Sympathie gegen das auserwählte Volk diese jungen Bürgersmädchen beseelten, die devoten Familien entstammten und unschwer glauben mochten, daß die Juden Christenkinder schlachten. »Und dann benehmen Ihre Freundinnen sich sehr schlecht«, erklärte mir Andrée mit einem Lächeln, das besagte, sie wisse schon, sie seien nicht meine Freundinnen. »Wie alles, was mit der Rasse zusammenhängt«, erwiderte mit sentenziösem Tonfall Albertine, wie jemand, der das aus Erfahrung sagt. Zu »angezogen« und dabei halbnackt, machten Blochs Schwestern mit ihrer schmachtenden und kühnen Miene, prunkliebend und angeschmutzt wie sie waren, in der Tat keinen vorzüglichen Eindruck. Und eine von ihren Kusinen, die nicht älter als fünfzehn Jahre war, erregte im Kasino Anstoß durch die Bewunderung für Fräulein Léa, die sie ganz offen zur Schau trug, eine Dame, deren schauspielerisches Talent der alte Herr Bloch sehr schätzte, deren Geschmack aber nicht gerade auf Herren sich richtete, wie man erzählte.
Es gab Tage, an denen wir auf einem der Bauernhöfe mit Restaurationsbetrieb, die es in der Nachbarschaft gab, unseren Tee tranken. Diese Bauernhöfe hießen des Ecorres, Marie-Thérèse, la Croix d'Heulande, Bagatelle, Californie, Marie-Antoinette. Diesen letzten hatte die kleine Bande ein für allemal sich gewählt.
Manchmal aber erstiegen wir, anstatt auf einen Bauernhof zu gehen, die Höhe der Klippe, und hatten wir sie erst erreicht und im Grase Platz genommen, so packten wir unsere Sandwichs und Kuchen aus. Meine Freundinnen hielten sich lieber an die Sandwichs und wunderten sich, daß ich nur einen mit Zucker gotisch übersponnenen Schokoladenkuchen oder ein Aprikosentartlett aß. Der Grund aber war, daß Sandwichs mit Salat oder Chesterbelag, eine neue, ununterrichtete Speise, mir nichts zu sagen hatten. Aber die Kuchen waren wohlinformiert, die Tartletts waren geschwätzig. In den einen gab es faden Geschmack von Sahne, in den andern kühlenden von den Früchten, die vielerlei von Combray, von Gilberte, nicht nur von der Gilberte zu Combray, sondern der zu Paris, bei deren Teegesellschaften ich ihnen begegnet war, zu sagen wußten. Sie erinnerten mir die Petitfours-Teller aus Tausendundeiner Nacht, deren »Sujets« der Tante Léonie immer so viel Spaß machten, wenn einmal Françoise ihr Aladin oder die Wunderlampe, ein anderes Ali-Baba, den erweckten Schläfer oder Sindbad den Seefahrer brachte, wie er mit allen seinen Schätzen in Bassora sich einschifft. Gern hätte ich sie wiedersehen mögen, aber meine Großmutter wußte nicht, was aus ihnen geworden war, und meinte außerdem, es seien ganz gewöhnliche Teller gewesen und in der Gegend selber gekauft. Was tut's? in das graue Combray da mitten in der Champagne fügten sie mit den vielfarbigen Vignetten sich ein, wie in die schwarze Kirche die Scheiben mit den funkelnden Edelsteinen, wie Bilder der Laterna magica in ein dämmerndes Zimmer, wie vor dem Anblick des departementalen Bahnhofsbaus und Schienenstrangs die indischen Butterblumen und der persische Flieder, wie die Sammlung von altem China, die meine Großtante hatte, in die finstere Wohnung der alten Dame aus der Provinz.
Wenn ich dann ausgestreckt auf der Klippe lag, sah ich nichts vor mir als Wiesen und über ihnen zwar nicht die sieben Himmel der christlichen Physik, aber zwei, wie sie übereinander lagen: einer, der etwas dunkler war – das Meer – und darüber ein etwas blasserer. Wir vesperten, und hatte ich nun auch irgendein kleines Andenken mitgebracht, das einer oder der andern von meinen Freundinnen Vergnügen machen konnte, so verbreitete sich die Freude in ihren transparenten Gesichtern, die in einem Nu sich gerötet hatten, so hastig, daß ihr Mund sie an sich zu halten nicht mehr die Kraft hatte, und um sie frei zu geben, in schallendes Lachen ausbrach. So waren sie um mich versammelt; und zwischen den Gesichtern, welche eines vom andern unweit entfernt waren, zog Luft, die sie trennte, azurblaue Wege, als habe ein Gärtner sie angelegt und sich einen Raum schaffen wollen, um selber in einem Rosenboskett hin und her gehen zu können.
Wenn unsere Vorräte aufgezehrt waren, spielten wir Spiele, die bis dahin mir langweilig vorgekommen wären und manchmal so kindisch waren wie »Verwechselt, verwechselt das Bäumelein« oder »Wer zuerst lacht« – nun hätte ich aber um ein Königreich nicht mehr auf sie verzichtet. Das Morgenrot einer Jugend, die noch purpurne Farbe über das Gesicht dieser jungen Mädchen goß, während ich in meinem Alter mich schon jenseits ihrer befand, machte alles vor ihnen leuchtend hell und tat, daß die belanglosesten Einzelheiten ihres Daseins – ähnlich wie bei gewissen Primitiven dies durch das Fluidum in ihrer Malerei geschieht – gegen einen Goldgrund sich abhoben. Und die Gesichter der jungen Mädchen erschienen in der unbestimmten Röte dieses Frühlichts, in dem die wahren Züge sich noch nicht herausgehoben hatten, zumeist sogar miteinander vermischt. Man sah nur eine reizende Färbung, unter der, was in einigen Jahren Profil sein sollte, sich noch nicht erkennen ließ. Das gerade Gegenwärtige war in nichts endgültig und konnte sehr wohl nur eine vorübergehende Ähnlichkeit mit einem verstorbenen Familienglied sein, dem die Natur aufmerksamerweise solch höfliche Gedächtnisfeier zugedacht hatte. Es kommt so schnell jener Augenblick, wo nichts mehr zu erwarten ist, wo der Körper ein für allemal so unbeweglich festgelegt ist, daß er keine Überraschungen mehr verspricht, wo einem jede Hoffnung verloren geht, wenn man, gleich abgestorbenen Blättern an Bäumen im vollen Sommer Jugendliche Gesichter von Haaren umgeben sieht, die fallen oder ergrauen; er ist so kurz, dieser strahlende Morgen, daß man am Ende nur noch die ganz jungen Mädchen liebt, die, bei denen das Fleisch, wie eine kostbare Masse, aus sich noch arbeitet. Sie sind nur ein Haufe von Materie, die zu beeinflussen ist und jederzeit von dem gerade herrschenden Eindruck geprägt wird. Man möchte sagen, jede sei abwechselnd eine kleine Statuette des Frohsinns, des jugendlichen Ernstes, der Schelmerei, des Staunens, wie sie in unbefangenem, lückenlosem, doch unbeständigem Ausdruck sich bekunden. Diese Bildsamkeit gibt der angenehmen Zuvorkommenheit, die uns ein junges Mädchen erweist, soviel Abwechslung und Charme. Die sind gewiß unumgänglich auch bei der Frau, und eine, der wir nicht gefallen oder die uns nicht merken lassen will, wir gefallen ihr, nimmt in unseren Augen eine langweilige Gleichförmigkeit an. Aber von einem gewissen Alter ab zaubert selbst solche Zuvorkommenheit nicht mehr das unbestimmte Wogen über ein Gesicht, das im Kampfe ums Dasein hart und auf immer kriegerisch oder ekstatisch geworden ist. Das eine scheint – kraft des beständigen Gehorsams, der die Frau dem Gemahl unterwirft – mehr als das Gesicht einer Frau das eines Soldaten, ein anderes ist von täglichen Opfern, wie eine Mutter sie für ihre Kinder bringen wollte, gemeißelt, daß es wie eines Apostels wurde. Und wieder ein anderes ist nach Widernissen und Unwettern bei einer Frau, an der nur die Kleider noch das Geschlecht verraten, das Gesicht eines alten Seebären geworden. Gewiß können auch dann noch Aufmerksamkeiten einer Frau, wenn wir sie lieben, neue Schönheit über die Stunden verbreiten, die wir bei ihr verbringen. Aber sie wird für uns nicht immer wieder eine andere. Ihre Heiterkeit bleibt einem unveränderten Gesichte äußerlich eigen. Aber die Jugend liegt vor dem endgültigen Starrwerden, und daher kommt es, daß man bei jungen Mädchen das Erfrischende verspürt, das von dem Schauspiel dauernd sich wandelnder Frauen ausgeht, welche in ihrem unbeständigen Widerspiel an die immer erneute Schöpfung der Urelemente der Natur, wie man sie vor dem Meer beobachtet, denken machen.
Ich hätte nicht nur eine mondäne Matinee, eine Spazierfahrt mit Frau von Villeparisis dem »Ringlein wandre« oder dem Vexierbilderraten mit meinen Freundinnen geopfert. Zu wiederholten Malen hatte mir Robert de Saint-Loup sagen lassen, da ich nicht nach Doncières zu Besuch käme, habe er vierundzwanzig Stunden Urlaub genommen und werde sie in Balbec zubringen. Jedesmal schrieb ich ihm, er solle das nicht tun, und entschuldigte mich, gerade an diesem Tage müsse ich abwesend sein, um mit meiner Großmutter in der Nachbarschaft eines Pflichtbesuchs in der Familie mich zu entledigen. Unzweifelhaft beurteilte er mich abfällig, als er von seiner Tante erfuhr, worin der Pflichtbesuch in der Familie bestand, und welche Personen im vorliegenden Fall die Rolle meiner Großmutter spielten. Und dennoch hatte ich vielleicht nicht unrecht, die Freuden, nicht allein mondäner Geselligkeit, sondern sogar der Freundschaft der zu opfern, den ganzen Tag in jenem Garten zu verbringen. Geschöpfe, die in sich die Möglichkeit vorfinden, sich selber zu leben – allerdings sind das Künstler, ich aber war seit langem überzeugt, daß ich nie einer sein werde – haben dazu auch die Verpflichtung. Nun aber enthebt sie Freundschaft dieser Pflicht und läßt sie Verzicht auf sich selber leisten. Die Unterhaltung selber, welche ja Ausdrucksweise der Freundschaft ist, ist nur ein Sich-Ergehen an der Oberfläche und bereichert uns nicht. Wir können ein ganzes Leben lang uns unterhalten, ohne etwas anderes zu tun, als ins Unendliche die Inhaltsleere einer Minute zu wiederholen, während das Vordringen des Gedankens in der einsamen Arbeit künstlerischer Schöpfung nach der Tiefe zu vor sich geht, als der einzigen Richtung, die uns nicht verschlossen ist und in der wir, wenn auch mit weit größerer Anstrengung, zu Resultaten und zur Wahrheit vorrücken können. Und nicht allein fehlen der Freundschaft, wie dem Gespräche, positive Kräfte, sie ist vielmehr außerdem noch verderblich. Denn es ist unvermeidlich, daß unter uns diejenigen, die nach einem lediglich inneren Gesetze sich entwickeln, im Zusammensein mit ihrem Freunde, will sagen, wenn sie auf der Oberfläche ihrer selbst bleiben, anstatt ihre Entdeckungsreise in den Tiefen zu verfolgen, Langeweile fühlen; die Freundschaft aber überredet uns dann, wenn wir mit uns allein sind, diesen Eindruck der Langeweile richtigzustellen, gerührt uns des Freundes Worte zu wiederholen und sie als einen kostbaren Zuwachs zu betrachten, indessen wir doch nicht wie Bauten sind, denen man Steine von außen anfügen kann, sondern wie Bäume, die aus ihrem eigenen Saft den folgenden Knoten an ihrem Schaft, die nächsthöhere Schicht ihres Laubes gewinnen. Ich belog mich selber, unterbrach das Wachstum in der Richtungen der allein ich wahrhaft aufschießen und glücklich werden konnte, wenn ich mir dazu gratulierte, von einem so guten, so intelligenten, so vielbegehrten Geschöpf wie Saint-Loup geliebt und bewundert zu werden, wenn ich meinen Verstand nicht auf meine eigenen, verworrenen Impressionen richtete, die zu entwirren meine Pflicht gewesen wäre, sondern auf die Worte meines Freundes, an denen ich dann – wenn ich sie mir wieder hersagte, vielmehr durch jenen andern, der in uns ist, wieder hersagen ließ (man ist ja immer so froh, wenn man die Last des Denkens auf ihn abwälzen kann) – mich bemühte, eine Schönheit zu finden, die sehr verschieden von der war, die ich im stillen verfolgte, wenn ich wahrhaft allein war, und die Robert, mir selber und meinem Leben ein höheres Verdienst geben würde. In dem Leben, das mich solch ein Freund leben ließ, kam ich mir vor wie mollig vor dem Einsamsein geschützt und edelmütig willens, ihm mich selber zu opfern, mit einem Worte, außerstande, mich selber zu realisieren. War ich dagegen bei den jungen Mädchen, so war die Lust, die ich daran hatte, wenn schon egoistisch, so doch zum mindesten nicht auf Lüge gebaut, die uns da glauben macht, wir seien nicht unweigerlich einsam, und im Gespräch mit einem anderen uns hindert, uns selber zu gestehen, daß nicht mehr wir sprechen, sondern Fremden uns ähnlich machen, nicht aber unserem Ich, das verschieden von ihnen ist. Wenn zwischen den jungen Mädchen der kleinen Bande und mir Worte gewechselt wurden, so waren sie spärlich und meinerseits von langem Schweigen gefolgt. Aber das hinderte nicht, beim Lauschen auf das, was sie sagten, soviel Vergnügen wie bei ihrem Anblick zu haben, in jeder ihrer Stimmen ein lebhaft gefärbtes Gemälde zu sehen. Ich hörte mit Entzücken auf ihr Gezwitscher. Liebe verhilft zu Unterscheidungen und Differenzierungen. Der Vogelliebhaber unterscheidet in einem Walde sofort den besonderen Ruf jedes Vogels, die der gemeine Mann einen vom andern nicht unterscheiden kann. Der Liebhaber von jungen Mädchen weiß, wie noch viel abwechslungsreicher Stimmen von Menschen sind. Eine jede besitzt mehr Noten als das allerreichste Musikinstrument. Und in welchen Kombinationen sie sie anordnet, das ist ebenso unerschöpflich wie die unendliche Vielfalt der Menschen. Sprach ich mit einer meiner Freundinnen, so wurde ich inne, daß der ursprüngliche, der einzigartige Aufriß ihrer Individualität durch den Tonfall ihrer Stimme für mich ebenso genial aufgezeichnet, ebenso tyrannisch festgelegt wurde wie durch die Ausdrucksnuancen ihres Gesichts, daß hier zwei Äußerungsformen vorlagen, die jede in ihrer Ebene die gleiche, einzigartige Wirklichkeit vorstellten. Gewiß waren die Linien der Stimme bisher noch ebensowenig fixiert wie die des Gesichts, die einen würden sich noch verschieben wie auch die andern sich noch verwandeln. Und wie die Kinder eine Drüse haben, deren Abscheidung beim Verdauen der Milch ihnen hilft, an Erwachsenen jedoch diese Drüse verschwindet, so gab es im Gezwitscher dieser jungen Mädchen Noten, welche die Frauen nicht mehr haben. Auf diesem variableren Instrument spielten sie mit ihren Lippen so fleißig, so glühend eifrig wie die musizierenden Engelchen von Bellini, die ja auch ausschließliches Erbteil der Jugend sind. Später mußte der Ton enthusiastischen Überzeugtseins diesen jungen Mädchen verloren gehen, jetzt aber erhielten durch ihn die einfachsten Dinge ihren Reiz, mochte nun Albertine mit bedeutendem Nachdruck Wortspiele hören lassen, denen die Jüngeren bewundernd lauschten, bis ein tolles Lachen unwiderstehlich wie Niesen sie packte, mochte Andrée beginnen, von ihren Schularbeiten zu sprechen, was noch kindlicher klang als ihre Spiele, deren Ernst im eigentlichen Sinne kindhaft war; und ihre Reden brachen dann los wie Strophen antiker Zeitalter, in denen Poesie von Musik nur wenig erst unterschieden und in verschiedenen Tonweisen deklamiert wurde. Trotzdem verriet aber die Stimme dieser jungen Mädchen schon deutlich bei jeder der kleinen Personen ihre vorgefaßte Stellungnahme, die so individuell war, daß es viel zu allgemein geredet wäre, hätte man von der einen sagen wollen: »sie nimmt alles von der lustigen Seite«; von der andern: »bei ihr heißt es: so und nicht anders«; von der Dritten: »sie sieht zunächst mal zu und wartet ab«. Was wir Gesichtszüge nennen, ist kaum etwas anderes als Gesten, die durch Gewohnheit endgültig geworden sind. Die Natur hat, wie die Katastrophe von Pompeji, wie eine Nymphenmetamorphose, uns in eine gewohnte Bewegung auf immer gebannt. So enthalten auch die Intonationen bei uns unsere Lebensphilosophie, das, was der Betreffende in jedem Augenblick über die Dinge sich sagt. Gewiß waren diese Züge nicht den jungen Mädchen allein eigen. Sie gehörten ihren Eltern an. Das Individuum lebt und webt in etwas Allgemeinerem als es selber. So angesehen, stammen von den Eltern nicht nur diese gewohnten Gesten, als welche Stimme und Gesichtszüge sind, sondern auch gewisse Redeweisen, gewisse geheiligte Phrasen, die beinahe ebenso unbewußt kommen wie ein Tonfall, beinahe ebenso tief gehen und wie sie eine Stellung zum Leben bezeichnen. Allerdings gibt es bei jungen Mädchen unter derartigen Ausdrucksweisen bestimmte, die ihre Eltern nicht vor einem gewissen Alter, gemeinhin nicht, bevor sie Frau werden, ihnen überliefern. Man hält sie in Reserve. Wenn man also, um ein Beispiel zu nennen, von den Bildern eines Freundes von Elstir sprach, konnte Andrée, die noch offenes Haar trug, persönlich noch nicht sich der Ausdrucksweise bedienen, die ihre Mutter und ihre verheiratete Schwester hatten: »Er soll als Mensch reizend sein.« Aber das mußte mit der Erlaubnis, ins Palais-Royal zu gehen, sich einfinden. Und Albertine sagte schon seit ihrer ersten Kommunion wie eine Freundin ihrer Tante, mir »wäre das ziemlich scheußlich«. Man hatte ihr auch zum Geschenk die Gewohnheit gegeben, sich wiederholen zu lassen, was man ihr sagte, um den Anschein zu wecken, die Sache sei interessant für sie, und sie suche sich eine persönliche Meinung darüber zu bilden. Wenn man ihr sagte, die Bilder eines Malers seien gut oder sein Haus nett, so meinte sie; »Ach, seine Bilder sind gut? Ach, sein Haus ist nett?« Und endlich trat, noch allgemeiner gültig als das Vermächtnis der Familie, die kraft- und saftvolle Materie heraus, die aus der Provinz, wo sie ihren Ursprung hatten, ihrer Stimme überkommen war und sogar in ihrer Intonation Ausdruck fand. Wenn Andrée pizzicato eine tiefe Note trocken herausbrachte, so konnte sie nicht hindern, daß die perigordische Saite ihres Vokalinstrumentes einen singenden Klang gab, der übrigens durchaus in Harmonie zu ihren südländlisch reinen Zügen stand; und den beständigen Streichen von Rosemonde entsprach die nordische Substanz von Stimme und Gesicht mit dem Akzent ihrer Provinz. Zwischen dieser Provinz und dem Temperament des jungen Mädchens, das seinen Tonfall bestimmte, vernahm ich einen schönen Dialog. Einen Dialog, keinen Zwist. Keiner vermöchte das junge Mädchen mit seinem Heimatboden uneins zu machen. Auch der ist immer noch sie. Und ferner macht die Rückwirkung der örtlich bestimmten Materialien auf den Genius, der sich ihrer bedient und vollere Kraft aus ihnen sich zuwachsen sieht, das Werk durchaus nicht minder individuell, mag das nun ein Architekt, ein Kunsttischler oder ein Musiker sein – es reflektiert darum nicht weniger genau die feinsten Züge der Persönlichkeit des Künstlers, weil er genötigt war, im Mühlenkalkstein von Senlis oder im roten Sandstein von Straßburg zu arbeiten, weil er die Knoten im Holze berücksichtigt hat, welche der Esche eigentümlich sind, weil er in seiner Partitur dem Reichtum und den Grenzen, dem Klang und den Möglichkeiten der Flöte oder der Bratsche Rechnung getragen hat.
Das wurde mir klar, und dennoch sprachen wir so wenig miteinander. Während Frau von Villeparisis oder Saint-Loup gegenüber den Worten nach ich ein viel größeres Vergnügen an den Tag gelegt haben würde, als ich wirklich verspürte (denn wenn ich sie verließ, war ich müde), so war es, wenn ich mich unter die jungen Mädchen gelagert hatte, das Gegenteil: die Fülle dessen, was ich empfand, übertraf unendlich das Ärmliche, Wenige, was gesprochen wurde, und trat in Wellen von Glücksgefühl aus meiner schweigenden Ruhe heraus, Wellen, deren Gemurmel zu Füßen dieser jungen Rosen erstarb.
Einem Genesenden, der sich den ganzen Tag in einem Blumen- oder Obstgarten ausruht, durchdringt Hauch von Blumen oder Früchten nicht tiefer all die tausend Nichtigkeiten seines farniente als mir die Farbe und das Aroma, das ich mit Blicken von den jungen Mädchen mir holte, und dessen Süße mir zuletzt ins Blut überging. So werden Weintrauben in der Sonne süß. Und mit ihrer steten Gemächlichkeit hatten diese schlichten Spiele auch in mir, wie bei denen, die nichts taten, als am Meeresufer hingestreckt zu lagern, Salz einzuatmen und sich verbrennen zu lassen, Entspannung und seliges Lächeln, ein unbestimmtes Strahlen heraufgeführt, das mir bis in die Augen gestiegen war.
Manchmal versetzte irgendeine freundliche Aufmerksamkeit der einen oder der anderen mich in weit sich verbreitende Schwingungen, die meine Wünsche auf eine Zeit von den andern entfernten. So hatte eines Tages Albertine gesagt: »Wer hat einen Bleistift?« Andrée hatte ihn gegeben, Rosemonde das Papier. Albertine hatte zu ihnen gesagt: »Geliebte Kinder, ich verbiete Euch, anzugucken, was ich schreibe.« Und nachdem sie mit rechtschaffner Mühe jeden Buchstaben einzeln gemalt hatte, wobei sie das Papier auf ihre Knie ausgebreitet hielt, hatte sie es mir mit den Worten herübergeschoben: »Passen Sie auf, daß es niemand sieht.« Darauf hatte ich es entfaltet und die Worte, die sie mir geschrieben hatte, gelesen: »Ich habe Sie sehr gern.«
»Aber anstatt hier Dummheiten zu schreiben,« rief sie und wandte plötzlich sich gebieterisch mit ernster Miene Andrée und Rosemonde zu, »muß ich Euch den Brief zeigen, den mir Gisele heute früh geschrieben hat. Ich bin verrückt, ich habe ihn in meiner Tasche, und dabei kann er uns so nützlich sein!«
Gisèle hatte geglaubt, ihrer Freundin den Aufsatz, den sie bei ihrer Abgangsprüfung gemacht hatte, zusenden zu sollen, damit die ihn den anderen mitteile. Albertines Befürchtungen wegen der Schwierigkeit der aufgegebenen Themen waren durch die beiden, zwischen denen Gisèle die Wahl gehabt hatte, noch übertroffen worden. Das eine war: »Sophokles schreibt aus der Unterwelt an Racine, um ihn über den Mißerfolg der Athalie zu trösten«; das andere: »Sie setzen den Fall, Frau von Sévigné schreibt nach der Erstaufführung von Esther an Frau von Lafayette, um ihr Bedauern über deren Abwesenheit ihr auszudrücken«. Gisèle hatte nun, in einem Übereifer, der für die Examinatoren etwas Rührendes haben mußte, das erste, schwierigere der beiden Themen gewählt und hatte es so hervorragend behandelt, daß sie »Eins« bekommen hatte und von der Kommission war beglückwünscht worden. Sie hätte »sehr gut« bekommen, wenn sie nicht in Spanisch »versagt« hätte. Der Aufsatz, dessen Abschrift Gisèle an Albertine geschickt hatte, wurde uns von dieser sogleich verlesen, denn weil sie selber das gleiche Examen machen mußte, lag ihr sehr daran, Andrées Ansicht zu wissen, die sehr viel stärker war als sie alle und ihr gute »Tips« geben konnte. »Die hat ein Glück gehabt!« sagte Albertine. Das ist gerade ein Thema, das ihre Lehrerin in Französisch sie hier hatte ochsen lassen.« Der von Gisèle redigierte Brief des Sophokles an Racine begann folgendermaßen: »Mein lieber Freund, entschuldigen Sie, daß ich Ihnen schreibe, ohne die Ehre zuhaben, Ihnen persönlich bekannt zu sein; aber zeigt mir nicht Ihre neue Tragödie Athalie, daß Sie aufs gründlichste meine bescheidenen Werke studiert haben. Sie haben Verse nicht nur in den Mund der Protagonisten oder Hauptpersonen des Dramas gelegt, sondern sie haben solche auch – und zwar, gestatten Sie mir, das ohne Schmeichelei Ihnen zu sagen, entzückende – für die Chöre geschrieben, die, wie man allgemein sagt, in der griechischen Tragödie sich nicht übel ausnehmen, in Frankreich aber eine wirkliche Neuerung sind. Fernerhin hat Ihr ebenso kultiviertes wie bewegliches, ebenso bestrickendes wie feinfühliges Talent eine Energie der Entfaltung erreicht, zu welcher ich Sie beglückwünsche. Athalie und Joad sind in der Tat Personen, wie sie ihr Nebenbuhler Corneille nicht besser hätte hinstellen können. Die Charaktere sind mannhaft, die Intrige ist einfach und kräftig. Hier haben wir einmal eine Tragödie, deren Motiv nicht Liebe ist, und ich beglückwünsche Sie aufrichtig dazu. Nicht immer sind die berühmtesten Anweisungen die richtigen. Als Beispiel nenne ich Ihnen: »Wer diese Leidenschaft am besten malen kann, findet ins Herz die unfehlbarste Bahn.« Sie haben gezeigt, daß religiöse Gefühle, die so deutlich aus Ihren Chören sprechen, ebensowohl imstande sind, zu ergreifen. Das große Publikum mag befremdet gewesen sein, aber die wahren Kenner lassen Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Ihnen meine Glückwünsche zu übersenden, denen ich die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung beifüge.« Albertines Augen hatten nicht aufgehört zu funkeln, während sie las. »Man möchte direkt sagen, sie hat das irgendwo abgeschrieben«, rief sie, als sie geendet hatte. »Im Leben hätte ich nicht geglaubt, daß Giséle so etwas zustande bringen würde. Und die Verse, die sie zitiert. Wo kann sie das alles nur her haben?« Und Albertines Bewunderung wechselte zwar ihr Objekt, ließ aber ebenso wie auch die angespannteste Aufmerksamkeit nicht nach, »die Augen ihr aus dem Kopf treten zu lassen«, als nun Andrée, die man als älteste und gewiegteste zuerst herangezogen hatte, mit einer gewissen Ironie und dann sogar mit gespielter Leichtfertigkeit, hinter der doch nur schlecht verhehlter Ernst stand, von Giséles Thema sprach und auf ihre Weise denselben Brief noch einmal machte. »Nicht schlecht«, sagte sie zu Albertine. »Wenn ich aber Du wäre und dasselbe Thema bekäme, was ja der Fall sein könnte, denn man gibt es sehr oft, so würde ich das nicht so machen. Sondern ich würde das so anfangen: Erstens wäre ich an Gisèles Stelle nicht so mit Schwung losgegangen, sondern hätte zuerst auf ein besonderes Blatt meinen Plan geschrieben. Vor allem die Fragestellung und die Exposition der Sache, dann die allgemeinen Gedanken, die im Laufe der Ausführung entwickelt werden sollen. Endlich die Würdigung, den Stil, den Schluß. Wenn man auf diese Art vom Ganzen ausgeht, dann sieht man, wohin man gelangt. Schon in der Exposition der Darstellung, oder, Titine, wenn du lieber so sagst, schon bei der ersten Berührung des Gegenstandes, – denn es ist ja ein Brief – hat Gisèle einen Bock geschossen. Er schrieb an jemand aus dem XVII. Jahrhundert: Sophokles hätte also nicht schreiben dürfen: »Mein lieber Freund.« »Du hast ganz recht, sie hätte sagen müssen: mein lieber Racine«, rief Albertine begeistert dazwischen. »Das wäre viel besser gewesen.« »Nein,« erwiderte Andrée, nicht ohne leise mokanten Tonfall, »sie hätte »Monsieur« schreiben müssen. Und ebenso im Schluß irgend etwas wie »Gestatten Sie mein Herr (oder im besten Falle »cher Monsieur«), daß ich Ihnen die Versicherung der vollkommenen Hochachtung gebe, mit welcher ich die Ehre habe, Ihren ergebensten Diener mich zu nennen.« Weiter sagt Gisèle, die Chöre sind in Athalie etwas Neues. Sie vergißt Esther und zwei wenig bekannte Tragödien, die aber gerade dieses Jahr vom Lehrer besprochen wurden, so daß, wenn man sie nur zitiert – sie sind nämlich sein Steckenpferd – man schon sicher sein kann, bestanden zu haben. Es sind: Les Juives von Robert Garnier und L'Aman von Montchrestien. Als Andrée diese beiden Titel nannte, gelang ihr nicht, ein Gefühl wohlwollender Überlegenheit zu verbergen, das in einem Lächeln, nicht ohne Anmut, seinen Ausdruck fand. Albertine konnte nicht länger an sich halten: »Andrée, du bist fabelhaft«, schrie sie. »Du mußt mir diese beiden Titel da aufschreiben. Was sagst du! Was für Glück, wenn das rankommt, sogar im Mündlichen nur, ich würde sie sofort nennen und einen blödsinnigen Eindruck machen.« Jedesmal aber, wenn in der Folge Albertine Andrée darum bat, ihr die Namen der beiden Stücke wieder zu nennen, damit sie sie notieren könne, behauptete die gelehrte Freundin, sie vergessen zu haben, und sagte sie ihr niemals. »Weiter,« sagte Andrée – und in der Stimme lag fast unmerklich Verachtung für die weniger reifen Kameradinnen, aber sie war doch glücklich, sich bewundern lassen zu können, und legte der Art, in der sie dies Thema würde behandelt haben, mehr Gewicht, als sie merken lassen wollte, bei – »Sophokles muß in der Unterwelt gut informiert sein. Er muß wissen, daß Athalie nicht vor dem großen Publikum, sondern vor dem Sonnenkönig und einigen privilegierten Höflingen aufgeführt worden ist. Was Gisèle bei dieser Gelegenheit von der Achtung der Kenner sagt, ist durchaus nicht schlecht, könnte vervollständigt werden. Als Unsterblicher, der er nun ist, kann Sophokles sehr gut die Gabe des Prophezeiens haben und verkündigen, daß nach Voltaire Athalie nicht nur »das Meisterwerk Racines, sondern des Menschengeschlechts überhaupt« sein wird.« Albertine sog diese Worte in sich. Ihre Augen flammten. Und mit tiefer Entrüstung wies sie Rosemonde mit dem Vorschlag ab, nun anzufangen zu spielen. »Schließlich,« sagte Andrée mit demselben gleichgültigen, nonchalanten und etwas spöttischen Ton, in dem doch tiefes Überdachtsein durchbrach, »wenn Gisèle zuerst klipp und klar die allgemeinen Gedankengänge aufgezeichnet hätte, die sie entwickeln wollte, so wäre auch sie vielleicht auf das gekommen, was ich getan haben würde: nämlich den Unterschied in der religiösen Idee der Chöre von Sophokles und Racine zu zeigen. Ich hätte Sophokles sagen lassen, wenn auch die Chöre von Racine von religiösen Gefühlen beseelt sind wie die der griechischen Tragödie, so handelt es sich dabei doch nicht um gleiche Götter. Der des Joad hat mit dem des Sophokles nichts zu tun. Und das führt dann nach dem Ende des Hauptteils ganz zwanglos auf den Schlußteil: »Was tut's, daß die Religionen verschieden waren – Sophokles würde es sich verdenken, wenn er dem Gewicht beilegen würde. Er würde fürchten, den Überzeugungen Racines zu nahe zu treten, und läßt bei dieser Gelegenheit dann noch einige Worte über dessen Meister von Port-Royal fallen, um sodann, statt alles Weiteren, seinen Nebenbuhler zu dem Schwung seines poetischen Genies zu beglückwünschen.«
Albertine war vor Bewunderung und Aufmerksamkeit so heiß geworden, daß ihr der Schweiß in großen Tropfen herunterlief. Andrée bewahrte das lächelnde Phlegma eines weiblichen Dandy. »Es wäre auch nicht schlecht gewesen, ein paar Urteile von berühmten Kritikern zu zitieren«, sagte sie, bevor man sich wieder ans Spielen machte. »Ja,« antwortete Albertine, »das hat man mir gesagt. Im allgemeinen sind die Urteile von Sainte-Beuve und Merlet am meisten zu empfehlen, nicht wahr?« »Du hast nicht so ganz unrecht,« erwiderte Andrée (aber sie weigerte sich trotz flehentlicher Bitten Albertines, die beiden anderen Namen ihr aufzuschreiben), »Merlet und Sainte-Beuve machen sich nicht schlecht. Aber man muß vor allem Deltour und Gascq-Desfossés erwähnen.«
All die Zeit über dachte ich an das Blättchen aus dem Notizblock, das mir Albertine zugesteckt hatte: »Ich habe Sie sehr gern,« und als ich eine Stunde später die Wege, die nach Balbec herunterführen, ging (sie waren mir etwas zu steil), da sagte ich mir, mit der werde ich meinen Roman haben. Wenn ich im Hotel Auftrag gab, mich nicht zu wecken, falls Besuch käme, es sei denn, wenn es irgend eins der jungen Mädchen wäre, wenn ich Herzklopfen während meines Wartens hatte (welche von ihnen auch kommen sollte), und wenn ich dann an gewissen Tagen außer mir war, wenn ich keinen Friseur hatte auftreiben können, um mich rasieren zu lassen, und entstellt vor Albertine, Rosemonde oder Andrée mich zeigen mußte, dann zeigte dieser Zustand, wie er in den Zeichen sich aussprach, an denen wir gemeinhin erkennen, daß wir verliebt sind – ein Zustand, welcher immer wieder der einem oder andern gegenüber eintrat – von dem, was wir Liebe nennen, sich so unterschieden, wie vom Menschenleben das Leben der Zoophyten, bei denen die Existenz, wenn man so sagen darf, die Individualität, unter verschiedene Organismen aufgeteilt ist. Die Naturgeschichte aber belehrt uns, daß derartige animalische Organisationen vorkommen, und auch das eigene Leben, wenn es nur etwas vorgeschritten ist, behauptet nicht minder die Wirklichkeit von Zuständen, wie wir sie früher nicht geahnt haben und sie nun durchmachen müssen, später dann wieder verlassen mögen. So ging es mir mit diesem Zustand eines Verliebtseins, das auf mehrere junge Mädchen gleichzeitig sich verteilte; verteilte oder vielmehr sich nicht verteilte, denn was die meiste Zeit über mir süß war und anders als die übrige Welt, was mir in dem Grade lieb zu werden begann, daß die Hoffnung, am folgenden Tage es wiederzufinden, die größte Freude in meinem Dasein war, das war vielmehr die ganze Gruppe junger Mädchen, wie sie an jenen Nachmittagen auf der Klippe, während der windigen Stunden auf dieser kleinen Rasenfläche lagen, wo die Gesichter Albertines, Rosemondes, Andrées erschienen, die meiner Einbildungskraft so aufreizend waren. Dies alles, ohne daß ich. hätte sagen können, welche mir die Gegenden so herrlich machte, welche ich zu lieben am meisten Lust hatte! Am Anfang eines Liebesverhältnisses wie gegen seinen Schluß sind wir nicht anschließend an den Gegenstand gebunden, sondern im Grunde schweift der Wunsch zu lieben, von dem dieses Verhältnis (und später die Erinnerung, die von ihm zurückbleibt) ausgeht, wollüstig in einem Bereiche vertauschbarer Reize umher – bisweilen einfach Reize der Natur, der Feinschmeckerei, der Wohnung, welche zueinander harmonisch genug sich verhalten, um ihn bei ihrer keinem sich fremd fühlen zu lassen. Und da mich ihnen gegenüber Gewohnheit noch nicht blasiert gemacht hatte, so war mir der Sinn geblieben, sie wahrzunehmen; das besagt aber schon, daß jedesmal, wenn ich mich wieder in ihrer Gegenwart befand, ich ein tiefes Erstaunen fühlte. Dieses Erstaunen kam zweifellos zu einem Teile daher, daß uns das Wesen dann eine Seite seiner selbst zukehrt; so vielfältig ist ein jeder, so reich an Linienzügen Gesicht und Körper, Linienzügen, von denen nur wenige sich in unseren willkürlich vereinfachten Erinnerungsbildern wiederfinden, sobald wir einmal das betreffende Wesen verlassen haben. Das Gedächtnis greift irgendeine Besonderheit heraus, die uns frappiert hat, es isoliert und übertreibt sie, macht aus einer Frau, die uns groß erschien, eine Studie, in der die Länge ihrer Taille ins Maßlose geht, oder aus einer Frau, die uns rosa und blond schien, eine reine »Harmonie in Rosa und Gold«, und wenn dann diese neue Frau vor uns steht, springen uns all die andern vergessenen Eigenschaften, die jenen die Wage halten, in ihrer wirren Mannigfaltigkeit an, vermindern die Länge des Wuchses, ertränken das Rosa, und an die Stelle dessen, was wir ausschließlich erwartet haben, setzen sie andere Besonderheiten, die wir beim erstenmal gesehen zu haben uns nicht erinnern können, und von denen wir nicht verstehen, wie wir so wenig erwarten konnten, sie wiederzusehen. Wir erinnerten uns eines Pfaus und gingen ihm entgegen, aber wir finden einen Dompfaff. Und dieses unvermeidliche Erstaunen ist nicht das einzige; denn neben diesem gibt es ein anderes, das hervorgegangen ist aus der Differenz, nun nicht mehr zwischen der Stilisierung durch das Erinnern und der Wirklichkeit, sondern zwischen dem Wesen, das wir das letztemal sahen, und dem, was uns heute unter einem anderen Winkel erscheint und einen neuen Aspekt zeigt. Das menschliche Gesicht ist wirklich wie das des Gottes in einer orientalischen Theogonie eine ganze Traube von Gesichtern, die in verschiedenen Ebenen nebeneinander liegen, so daß man sie nicht alle zugleich sieht.
Zu einem gewichtigen Teil, ja hauptsächlich rührt unser Erstaunen aber daher, daß jenes Wesen uns auch ein identisches Antlitz zeigt. Bei uns bedarf es einer so gewaltigen Anstrengung, um all das wieder hervorzurufen, was uns von dem, was nicht wir selber sind, gestellt wurde – und mag es nur um den Geschmack von einer Frucht sich handeln – daß nicht sobald ein Eindruck aufgenommen ist und wir auch schon unmerklich einen Abhang der Erinnerung hinuntergleiten, und so sind wir, ohne uns Rechenschaft davon abzulegen, in kürzester Zeit sehr weit von dem, was wir empfanden. Dergestalt ist jeder erneuerte Anblick eine Art Berichtigung, die zu dem, was wir schon gesehen haben, uns zurückführt. Wir erinnerten uns seiner nicht mehr, in solchem Grad ist schon, was wir »an ein Wesen uns erinnern« nennen, es vergessen. Jedoch, solange wir noch zu beobachten wissen, erkennen wir den Zug, den wir vergaßen, wieder, sobald er erscheint; wir müssen dann die Linie, welche abbog, wieder ausrichten; und so war das unausgesetzte, fruchtbare Überraschen, das mir die täglichen Begegnungen mit dem schönen jungen Mädchen am Strande der See so heilsam und schmeidigend werden ließ, aus Erinnerungen nicht weniger gemacht als aus neuem Entdecken. Wenn man weiter bedenkt, wie der Gedanke an das reich Bewegte, das sie mir waren – und es war niemals ganz genau das, was ich mir vorher eingebildet hatte, so daß die Hoffnung auf das nächste Wiedersehen nicht der aufs vorige gleichsah, sondern vielmehr einem noch nachschwingenden Erinnern an die letzte Unterhaltung – so versteht man, wie jeder Spaziergang meinen Gedanken einen Umschwung gab, und das durchaus nicht in dem Sinne, wie ich in der Einsamkeit meines Zimmers es wohl mit ausgeruhtem Kopfe mir vorstellen mochte. Diese Gedankenrichtung war längst vergessen und abgetan, wenn ich, im Innern schwirrend wie ein Bienenkorb von Worten, die mich in Verwirrung gestürzt hatten und lange in mir nachzitterten, endlich nach Hause ging. Jedes Geschöpf ist, wenn wir aufhören, es zu sehen, zerstört; wenn es dann wiederkommt, so ist es neuerschaffen und verschieden von seiner vorhergehenden Erscheinung, wenn nicht von allen. Denn mindestens beträgt die Zahl der Variationen, die bei dergleichen Schöpfungen sich finden, zwei. Wenn wir uns eines energischen Blicks, einer kühnen Miene entsinnen, so werden wir unfehlbar nächstes Mal bei einer neuen Begegnung von einem beinahe schmachtenden Profil, einem träumerisch süßen Aussehen – dem, was in der Erinnerung, die vorherging, uns entfallen war –, überrascht, ja beinahe ausschließlich frappiert werden. Bei dem Vergleiche unseres Erinnerungsbildes mit der neuen Wirklichkeit wird so etwas uns enttäuschen oder uns staunen machen; es wird uns wie Retusche durch die Wirklichkeit erscheinen, uns lehren, daß wir ungenau erinnert haben. Und nun wird wiederum der Aspekt des Antlitzes, den wir das letztemal vernachlässigt hatten – und der eben darum diesmal der anziehendste geworden ist, der wirklichste, der, welcher am genauesten das Bild berichtigt –, Stoff für die Träumerei und das Erinnern werden. Ein hingegebenes abgerundetes Profil und träumerische Mienen wollen wir wiedersehen. Und das folgende Mal war es dann wieder, was Eigensinniges im durchdringenden Blick, in der spitz zulaufenden Nase und den aufeinandergepreßten Lippen lebte, was sich als Korrektur zwischen unsere Wünsche und den Gegenstand schob, der, ihrer Meinung nach, ihnen entsprach. Natürlich haftete ich so treu an meinen ersten Eindrücken rein physischer Natur, die ich ein jedes Mal bei meinen Freundinnen wiederfand, nicht nur, wo es sich um Gesichtszüge handelte; vielmehr hat man gesehen, wie empfänglich ich für ihre Stimme war, und sie ist vielleicht wirklich noch berückender (denn in ihr finden nicht nur dieselben seltsamen sensuellen Oberflächen sich wie im Gesicht, sondern sie selber gehört mit zu dem unzugänglichen Abgrunde, aus dem das Schwindelgefühl der hoffnungslosen Küsse uns kommt). Die Stimme ähnelt einem kleinen Instrument mit unverkennbarem Ton, in das mit ganzer Seele eine jede sich legt und das nur ihr eignet. Wenn ich an irgendeiner Intonation eine bestimmte innerliche Kurve in einer dieser Stimmen wiederfand, so machte sie, wenn ich so die vergessne wiedererkannte, mich staunen. So waren die Korrekturen, die jede neue Begegnung mir für die Rückkehr zum genauen Sachverhalte aufnötigte, nicht weniger die eines Klavierstimmers und Gesanglehrers als eines Zeichners.
Die harmonische Bindung, kraft welcher seit einiger Zeit, infolge des Widerstandes, den jede einzelne Wellenschwingung des Gefühls dem Ausschwingen aller andern in mir entgegensetzte, sie alle, wie die jungen Mädchen sie in mir erweckten, sich neutralisierten, wurde an einem Nachmittag, als wir »Ringlein wandre« spielten, zugunsten Albertines aufgehoben. Es war in einem Wäldchen auf der Klippe. Wie ich so zwischen zwei jungen Mädchen stand, die nicht zur kleinen Bande gehörten, und nur, weil wir ein diesem Tage recht zahlreich sein wollten, mitgebracht worden waren, sah ich mit Neid auf Albertines Nachbarn, einen jungen Mann. Wenn ich an seinem Platze gestanden hätte, so dachte ich im stillen bei mir, hätte ich die Hände meiner Freundin während dieser unverhofften Minuten anrühren können, Minuten, die vielleicht nicht wiederkommen sollten und mich sehr weit hätten führen können. An und für sich, auch ohne die Folgen, die es ganz ohne Zweifel nach sich gezogen hätte, wäre mir, Albertines Hände zu berühren, süß gewesen. Nicht, daß ich niemals schönere gesehen hätte. Selbst bei ihren Freundinnen sahen die mageren, weit feiner gebauten von Andrée aus, als hause in ihnen ein eigenes Leben, das dem Geheiß des jungen Mädchens zwar zu Willen, aber von ihm nicht abhängig sei; und sie streckten sich oft wie rassige Windhunde vor ihr aus, hielten sich untätig, träumten langandauernd vor sich hin, bis sich ein Fingerglied plötzlich reckte. Dies alles hatte Elstir veranlaßt, mehrere Studien von diesen Händen zu machen. Und eine war dabei, auf der man Andrée sah, wie sie vor einem Feuer sich wärmte: es beleuchtete sie das durchscheinende Gold von zwei Blättern im Herbst. Die Hände Albertines waren fleißiger; sie gaben einen Augenblick der Hand nach, die sie drückte, dann aber leisteten sie Widerstand. Das gab eine sehr eigene Empfindung. Der Druck von Albertines Hand war so sinnlich und süß, daß es schien, er harmoniere mit dem rosigen, leicht ins Mauve spielende Inkarnat ihrer Haut. Es wurde einem so, als lasse dieser Händedruck ins Innerste des Mädchens, in die Tiefe ihrer Sinnesempfindung einen eintauchen, wie ihr tönendes Lachen, das unzüchtig wie Gurren oder wie gewisse Schreie war. Sie gehörte zu jenen Frauen, denen die Hand zu drücken so innige Freude macht, daß man der Zivilisation glaubt Dank dafür zu schulden, den Händedruck zu etwas Erlaubtem zwischen Männern und jungen Mädchen, welche sich treffen, gemacht zu haben. Wenn die willkürlichen Konventionen der Höflichkeit an die Stelle des Händedrucks eine andre Geste hätten treten lassen, hätte ich auf die unberührbaren Hände von Albertine alle Tage mit ebenso brennender Spannung geschaut, zu erfahren, wie sie sich anfühlen, wie ich brannte, den Geschmack ihrer Wangen kennen zu lernen. Doch bei dem Genuß, lange ihre Hände in den meinigen zu halten, wenn ich ihr Nachbar beim Spiel gewesen wäre, dachte ich nicht nur an diesen Genuß selber; wieviel Geständnisse, Erklärungen, die ich bisher aus Schüchternheit verschwiegen, hätte ich nicht in manchen Händedruck legen können; und wie leicht wäre es wiederum für sie gewesen, mit erwiderndem Händedruck wissen zu lassen, es solle ihr recht sein; welch ein Verschworensein, welch eine neue Wollust! In einigen Minuten an ihrer Seite konnte meine; Liebe größere Fortschritte machen als in der ganzen Zeit, seit ich sie kannte. Im Gefühl, das werde nicht dauern, bald werde man aufhören – denn sicher werde man nicht lange bei diesem kleinen Spiel bleiben, und sei es einmal zu Ende, dann sei es zu spät – konnte ich nicht länger auf meinem Platz stillhalten. Mit Absicht ließ ich mir den Ring wegnehmen, und als ich erst einmal in der Mitte stand, tat ich, als merke ich nichts, wenn er vorbeikam, und verfolgte ihn mit den Blicken, bis er dem Nachbar Albertines in die Hände käme; sie lachte aus vollem Halse und in der freudigen Erregung des Spiels war sie ganz rosig übergössen. Spieler und Spielerinnen begannen zu staunen, wie dumm ich mich anstelle, daß ich den Ring nicht ergriffe. Ich sah auf Albertine, die so schön, so gleichgültig, so lustig dastand und, ohne es zu ahnen, nun meine Nachbarin werden sollte, wenn ich endlich den Ring in der richtigen Hand dank einer List abfangen würde, von der sie nichts vermutete, die aber andernfalls sie gereizt haben würde. Im Fieber des Spiels hatten die langen Haare von Albertine sich halb gelöst und fielen in lockigen Strähnen auf ihre Wangen, so daß ihre trockene braune Tönung, ihr rosiges Inkarnat noch besser heraustrat. »Sie haben die Flechten der Laura Dianti, der Eléonore de Guyenne, und der aus ihrem Stamm, die von Chateaubriand so sehr geliebt wurde. Sie sollten immer das Haar ein wenig herabfallend tragen«, sagte ich, um mich ihr zu nähern, ihr ins Ohr. Plötzlich kam der Ring an den Nachbarn von Albertine.
Ich stürzte mich im Augenblick auf ihn, öffnete ihm gewaltsam die Hände, ergriff den Ring, er war genötigt, sich auf meinen Platz in der Mitte des Kreises zu stellen, und ich nahm seinen neben Albertine ein. Wenige Minuten zuvor hatte ich diesen jungen Mann beneidet, als ich sah, wie seine Hände beim Gleiten auf der Schnur alle Augenblick denen von Albertine begegneten. Jetzt aber, da ich an der Reihe war, war ich zu schüchtern, diese Berührung zu suchen, zu aufgeregt, um zu genießen, und so spürte ich nichts als den schmerzhaften Schlag meines Herzens. Auf einmal wandte Albertine, als seien wir im Einverständnis, ihr volles rosiges Gesicht mir zu und tat dabei, als habe sie den Ring, um so den Jäger zu täuschen und zu hindern, nach der Seite zu schauen, auf der er gerade vorbeiglitt. Ich begriff sofort, daß auf diese List das Doppelspiel in Albertines Blicken sich bezog, aber dennoch machte es mich verwirrt, in ihren Augen dergestalt nur simuliert, aus dem Bedürfnis eines Spiels heraus, dem Bild eines geheimen Einverständnisses zwischen uns zu begegnen, das mir von nun an möglich schien und himmlisch süß gewesen wäre. Als ich in diesen Gedanken verzückt mich verlor, spürte ich einen leisen Händedruck von Albertine und wie ihr Finger streichelnd unter den meinigen sich schob, gleichzeitig sah ich, wie sie mit dem Auge einen Wink mir gab, den sie nach außen zu verhehlen suchte. Mit einem Schlage kristallisierte sich eine Fülle von Hoffnungen, die bis hierher mir selber unsichtbar geblieben waren: »Sie benutzt das Spiel, mir zu verstehen zu geben, daß sie mich sehr lieb hat,« dachte ich im Delirium der Freude, aus welchem ich sogleich erwachte, als ich Albertine zu mir sagen hörte: »Aber so nehmen Sie doch endlich; soll ich ihn denn stundenlang hinhalten?« Kopflos vor Gram ließ ich den Faden los, der Jäger bemerkte den Ring, stürzte sich auf mich, und ich mußte zurück in die Mitte; verzweifelt sah ich auf die tolle Gesellschaft umher, die fortfuhr zu toben; auf die neckenden Zurufe aller Mädchen, die spielten, mußte ich mit einem Lachen erwidern, nach dem mir doch gar nicht der Sinn stand, und Albertine ließ nicht ab, zu sagen: »Man spielt nicht, wenn man nicht achtgeben will und will, daß andere verlieren. Andrée, an den Tagen, an denen gespielt wird, wird man ihn nicht mehr einladen, oder ich werde eben nicht kommen.« Andrée stand über dem Spiel und wollte von Albertines Vorwürfen auf etwas anderes hinüberlenken. Sie sagte: »Wir sind nur zwei Schritt von den Creuniers entfernt, die Sie so gern sehen wollten. Wissen Sie was? Ich führe Sie auf einem hübschen kleinen Weg dorthin, während diese Verrückten hier weiter wie Kinder von acht Jahren spielen können.« Da Andrée außerordentlich freundlich zu mir war, so sagte ich ihr unterwegs von Albertine alles, was mir geeignet schien, deren Liebe zu mir zu erwecken. Sie erwiderte, auch sie habe sie sehr gern und sie fände sie reizend; aber doch schienen ihr meine Komplimente an die Adresse ihrer Freundin kein Vergnügen zu machen. Plötzlich blieb ich mitten in dem kleinen Hohlwege stehen; bis ins Herz hatte mich eine süße Kindheitserinnerung berührt; denn ich erkannte eben an den gezackten glänzenden Blättern, die bis auf die Schwelle sich vorschoben, ein, leider seit Frühlingsende schon abgeblühtes, Weißdorngebüsch. Rings um mich war es wie Luft von verflossenen Tagen des Mai, des Marienmondes, von Sonntagnachmittagen, von vergessenem Glauben und Irrtum. Ich hätte sie mit Händen greifen mögen. Ich blieb eine Sekunde stehen, und Andrée ließ, mit bezauberndem Ahnungsvermögen, mich einen Augenblick mit den Blättern des Busches mich unterreden. Ich fragte sie, was Neues es von den Blüten gäbe, den Weißdornblüten, die so ähnlich ausgelassenen und fröhlichen jungen Mädchen sehn, die kokett sind und fromm. »Die jungen Damen sind schon seit längstem fort«, sagten die Blätter zu mir. Und vielleicht dachten sie sich dabei, als ihr großer Freund, für den ich mich ausgebe, sei ich recht schlecht über ihre Gewohnheiten informiert. Ein großer Freund, der aber trotz seiner Versprechungen seit soviel Jahren sie nicht wiedergesehen hatte. Und doch: wie Gilberte meine erste Liebe zu einem jungen Mädchen gewesen war, so waren sie meine erste Liebe zu den Blumen gewesen. »Ja, ich weiß – Mitte Juni gehen sie immer; aber es macht mir Freude, den Ort zu sehen, wo sie hier wohnten. Sie haben mich in Combray auf meinem Zimmer besucht, meine Mutter hat sie zu mir gebracht, als ich krank war. Und Sonnabend abend im Marienmond trafen wir uns wieder. Können sie hier dazu gehen?« »Ja, natürlich! Und man hält sogar viel darauf, die Fräulein in der Kirche Saint-Denis du Désert zu haben; das ist die Pfarrkirche, die am nächsten liegt.« »Und wenn man sie jetzt sehen will?« »Oh! nicht vor Mai nächsten Jahres.« »Aber ich kann dann sicher daraufrechnen, daß sie da sind?« »Alle Jahre regelmäßig.« »Nur weiß ich nicht, ob ich die Stelle recht wiederfinden werde.« »Aber gewiß! Die Fräulein sind so lustig, sie halten mit Lachen nur ein, um geistliche Lieder zu singen, so daß ein Irrtum gar nicht möglich ist und Sie am Eingang des Pfades ihr Parfüm schon wiedererkennen werden.«
Ich holte Andrée wieder ein und fing von neuem an, ihr Albertines Lob zu singen. Es schien, in Anbetracht der Beharrlichkeit, welche ich daran wandte, mir unvermeidlich, daß sie es ihr wiedererzähle. Und dennoch habe ich niemals gehört, daß Albertine es erfahren hätte. Und so besaß Andreé weit mehr als sie Verständnis für die Angelegenheiten des Herzens und im Liebreichen Subtilität; den Blick, das Wort, die Tat zu finden, die am unbefangensten, reinsten jemand erfreuen können, einen Gedanken zu verschweigen, der verletzen könnte, das Opfer (so daß es nach Opfer gar nicht aussah) einer Spielstunde, ja einer Matinee, einer garden-party zu bringen, um einem Freunde oder einer Freundin, die traurig sind, nahe zu bleiben und ihnen so zu zeigen, daß sie ihre einfache Gesellschaft frivolen Zerstreuungen vorzog – das waren Dinge, die man von ihrem Herzen gewohnt war. Wenn man sie aber etwas näher kannte, so war man zu denken geneigt, es lägen bei ihr die Dinge so wie bei jenen heldenhaften Feiglingen, die nicht Angst haben wollen, bei denen Tapferkeit so besonders verdienstlich ist; man war zu denken geneigt, im Kern ihres Wesens sei nichts von jener Güte, die sie bei jeder Gelegenheit aus Feingefühl, moralischer Noblesse, edlem Wollen, als gute Freundin sich zu erweisen, bekunde. Wenn man hörte, wie reizend sie von einer möglichen Neigung zwischen Albertine und mir sprach, hätten man meinen sollen, sie müsse mit allen ihren Kräften für deren Verwirklichung eintreten. Nun machte sie – es mochte vielleicht Zufall sein – niemals den mindesten Gebrauch von irgendeiner der zwanglosen Möglichkeiten, die ihr, um mich mit Albertine zu vereinen, zur Verfügung gestanden hätten, und ich würde nicht einmal abschwören, all mein Bemühen, von Albertine mich lieben zu lassen, habe, vielleicht nicht gerade seitens ihrer Freundin Manöver, um es zu vereiteln, jedoch zumindest einen Zorn hervorgerufen, den sie, nebenbei bemerkt, geschickt verhehlte und aus Anstand vielleicht selber bekämpfte. Der tausend zarten Gesten, die aus Güte kommen, wie ich bei Andrée sie fand, wäre Albertine nie imstande gewesen, und doch war ich der tiefen Güte der ersten niemals so sicher, wie ich das später bei der zweiten war. Gegen Albertines Frivolität, die über die Stränge schlug, zeigte Andrée immer viel Nachsicht und hatte, wenn sie mit ihr war, eher Blick und Lächeln von einer Freundin, als daß sie in Taten sich als Freundin erwiesen hätte. Ich sah sie, ohne irgendwelches eigennützige Interesse Tag für Tag mehr Mühe sich geben, um die arme Freundin glücklich zu machen und an ihrem Luxus teilnehmen zu lassen, als ein Höfling, welcher die Gunst des Souveräns gewinnen will. Sie war charmant in ihrem Zartgefühl, in dem, was sie Schönes traurig sagte, wenn man die Armut Albertines in ihrer Gegenwart bedauerte, und gab sich für sie tausendmal mehr Mühe als sie für eine reiche Freundin es getan haben würde. Wenn aber jemand die Meinung äußerte, vielleicht sei Albertine nicht so arm, wie man sage, umwölkten Stirn und Augen bei Andrée sich fast unmerklich; sie schien verstimmt. Und wenn man so weit ging zu sagen, am Ende sei sie, alles in allem genommen, vielleicht doch nicht so schwer zu verheiraten, als man annähme, dann widersprach sie sehr nachdrücklich und wiederholte beinahe wütend: »Allerdings wird sie nicht zu verheiraten sein. Leider! Ich weiß es sehr wohl und leide darunter genug!« Selbst was mich persönlich betraf, blieb sie das einzige der jungen Mädchen, die mir nie irgend etwas Unangenehmes wiedererzählte, was man etwa von mir gesagt hatte; ja mehr, wenn ich ihr selber dergleichen mitteilte, tat sie, als glaube sie es nicht, oder erklärte die Rede auf eine Art, welche ihr das Verletzende nahm. Die Gesamtheit derartiger Gaben heißt Takt. Er ist die Mitgift der Leute, die uns Glück wünschen, wenn wir vorhaben uns zu schlagen, und hinzufügen, es liege dazu kein Anlaß vor, um in unsern Augen den Mut noch größer erscheinen zu lassen, von dem wir, ohne dazu genötigt zu sein, Beweise abgelegt hätten. Sie sind genau das Gegenteil der Leute, welche im gleichen Falle sagen: »Es muß Ihnen recht unangenehm sein, sich zu schlagen, aber andererseits konnten Sie solchen Affront auch nicht hinnehmen, Sie konnten nicht anders verfahren.« Aber es gibt in allem ein Für und ein Wider: beweist das erfreute oder jedenfalls gleichgültige Wiederholen einer uns verletzenden Bemerkung, die fiel, daß unsere Freunde nicht daran denken, in unsere Haut sich zu versetzen, wenn sie zu uns sprechen, sondern Nadel und Messer hineinstoßen wie in Werg, so zeugt dahingegen die Gewandtheit, uns alles zu verhehlen, was sie über unsere Handlungen Unangenehmes gehört haben mögen, oder aus diesen über uns bei sich selber entnommen haben, bei jener andern Art Freunden, den überaus taktvollen, von einer starken Dosis Verstellung. Es läßt sich nichts dagegen sagen, falls sie selber nichts Schlechtes zu denken vermögen und falls das, was man erzählt, sie ebenso leiden macht, wie wir selber darunter leiden würden. So sei der Fall bei Andrée, nahm ich an, ohne aber dessen ganz sicher zu sein.
Inzwischen waren wir aus dem kleinen Gehölz ins Freie getreten und einem wenigbegangenen Weg, der sich in Windungen hinzog, gefolgt. Andrée fand sich sehr gut zurecht. »Sehen Sie,« sagte sie plötzlich, »da liegen Ihre Creuniers, und Sie haben sogar noch Glück; es ist gerade das Wetter und die Beleuchtung, in denen Elstir sie gemalt hat.« Ich aber war noch zu betrübt, während des Spiels vom hohen Gipfel meiner Hoffnung gestürzt zu sein. Und so hatte ich denn nicht ganz die Freude, mit der ich sonst auf einmal zu meinen Füßen unter die Felsblöcke hingekauert, wo sie Schutz vor der Hitze fanden, die Meergöttinnen unter dunkler Lasur, die schön wie jene; eines Lionardo war, erblickte, sie, denen Elstir aufgelauert und die er dann überrascht hatte. Das waren die wunderbaren Schattengestalten, flüchtig, behend und schweigsam fanden sie dort ihre Zuflucht, gewärtig, sich bei der ersten Gischt von Sonne unter einen Stein gleiten zu lassen, in einem Loche sich zu verbergen, und wiederum bereit, sobald der drohende Strahl verschwunden, zum Fels oder zur Alge zurückzukehren. Wo die Sonne die Klippen und den Ozean, der seine Farbe verloren, in Stücke zerbrach, da schienen sie Wache bei dessen Ohnmacht zu halten; reglose Hüterinnen ohne Schwere, ließen sie eben nur ihren klebrigen Leib und den gespannten Blick der dunklen Augen empor aus dem Wasser tauchen.
Wir gingen zu den anderen jungen Mädchen zurück, um heimzukehren. Ich wußte jetzt: ich liebe Albertine; es sie aber wissen zu lassen, daran lag, leider, mir gar nichts. Das kam daher, daß meine Auffassung von Liebe nicht mehr dieselbe war wie in der Zeit, wo ich in den Champs Élysées gespielt hatte, wenn auch die fast identisch blieben, an die sie sich, der Reihe nach, gehängt. Einmal schien die Erklärung, das Geständnis meiner Zärtlichkeit vor der, die ich liebte, mir nicht mehr wesentlich und unumgänglich in der Liebe zu sein; und dann schien mir diese selber nicht äußere Wirklichkeit, sondern nur subjektive Lust. Und diese Lust zu unterhalten, das fühlte ich, würde Albertine um so dienlicher sein, je weniger sie wissen würde, was in mir vorging.
Den ganzen Heimweg über war Albertines Bild ertränkt im Strahlen, das von den anderen jungen Mädchen ausging, und existierte nicht als einziges für mich. Wie aber der Mond tagsüber nichts als ein weißes Wölkchen von etwas deutlicherer, dauerhafterer Gestalt ist, sobald der Tag aber versunken ist, seine ganze Gewalt bekommt, erhob sich, als ich wieder im Hotel war, aus meinem Herzen einzig und allein das Bild von Albertine und begann zu leuchten. Mein Zimmer schien mit einem Male mir neu. Gewiß war es schon längst nicht mehr das feindselige Zimmer vom ersten Abend. Wir ändern unablässig an unserer Wohnung rings um uns; Gewohnheit überhebt uns immer mehr des Empfindens, und so stellen wir fortschreitend ab, was an schädlichen Farbtönen, Raumverhältnissen und Gerüchen vorhanden ist, die unser Mißbehagen objektivieren. Es war auch jenes Zimmer nicht mehr, das noch stark genug – gewiß nicht um mich leiden zu machen, sondern mir Freude zu bereiten – in mir nachwirkte: die Bütte der schönen Tage, die einem Bassin ähnlich sah, in dessen halber Höhe sie einen lichtdurchfeuchteten Azur schimmern ließen, über den für Augenblicke wie Ausdünstung der Hitze ein weißer Nebel seinen flüchtigen Schleier legte, der das Licht reflektierte; es war auch das rein ästhetische Zimmer der malerischen Abende nicht mehr; es war das: Zimmer, in welchem ich seit so langen Tagen mich befand, daß ich es nicht mehr sah. Nun aber begann ich wieder, aufmerksam darinnen mich umzusehen, diesmal jedoch in jener egoistischen Absicht, welche diejenige der Liebe ist. Ich dachte daran, der schöne, schräggehängte Spiegel, die eleganten Bücherschränke mit ihrer Verglasung mußten Albertine, wenn sie zu Besuch bei mir sei, einen günstigen Begriff von mir geben. An Stelle einer Übergangsstation, wo ich einen Augenblick verbrachte, ehe ich an den Strand oder nach Rivebelle entrann, wurde mein Zimmer für mich wieder wirklich, mir lieb und mir neu, denn jedes Möbelstück darin sah ich mit Albertines Augen prüfend an.
Einige Tage nach dem Ringspiel geschah es, daß ein Spaziergang uns weiter geführt hatte, als wir dachten, und wir froh waren, in Maineville zwei kleine zweisitzige Zeltwagen zu finden, dank denen wir zur rechten Zeit zum Diner zurück sein konnten. Meine Liebe zu Albertine wirkte auf mich schon so stark, daß ich nacheinander Rosemonde und Andrée den Vorschlag machte, mit mir zu fahren, nicht einmal aber Albertine; sodann aber brachte ich, meiner Einladung, die Andrée und Rosemonde den Vorzug gab, ungeachtet, durch Erwägungen nebensächlicher Art, die Zeit, Weg und Mäntel betrafen, wie gegen meinen Willen alle Welt zu der Entscheidung, es sei das Praktischste, wenn ich in meinen Wagen Albertine nähme, mit deren Gesellschaft ich mich abzufinden schien, so gut es gehn wollte. Weil nun die Liebe aber darauf aus ist, ein Wesen restlos sich zu eigen zu machen, keines jedoch sich im Gespräch allein ganz aufsaugen läßt, so half es leider Albertine nichts, so freundlich wie möglich während der Rückfahrt zu sein; sie ließ mich, als ich bei ihr sie abgesetzt hatte, glücklich, jedoch noch ausgehungerter nach, ihr zurück, als ich es bei der Abfahrt gewesen war, und die Augenblicke, die wir miteinander soeben verbracht hatten, ließ ich gewissermaßen nur als wenig bedeutendes Vorspiel zu denen, die da folgen sollten, gelten. Und doch war jener erste Reiz ihm eigen, der nicht wiederkehrt. Ich hatte Albertine noch um nichts gebeten. Sie konnte, was ich wünschte, sich vorstellen, aber weil sie dessen nicht sicher war, auch annehmen, mir sei es nur um Beziehungen ohne ein bestimmtes Ziel zu tun, und darin mochte meine Freundin eine unbestimmte, an Überraschungen, die man vorher weiß, so reiche Lust – das Romanhafte – finden.
In der folgenden Woche trachtete ich kaum danach, Albertine zu sehen. Ich tat, als sei Andrée mir lieber. Die Liebe setzt ein, und man möchte der, die man liebt, gegenüber der Unbekannte bleiben, den sie lieben kann, aber man braucht sie, man hat ein Bedürfnis, nicht sowohl ihren Leib als ihre Aufmerksamkeit und ihr Herz anzurühren. Man läßt in einem Brief eine Bosheit einfließen, welche die Anteillose nötigen wird, eine Freundlichkeit von einem zu fordern, und Liebe zieht, nach einem nie versagenden Verfahren, die innere Verzahnung bei uns an, kraft deren wir vom Lieben nicht mehr lassen und doch nicht geliebt werden können. Die Stunden, an denen die andern zu irgendeiner Matinee gingen, widmete ich Andrée; ich wußte, Andrée opferte sie mir mit Freude und hätte sie – aus ethischem Snobismus – mir auch geopfert, wenn es zu ihrem Bedauern gewesen wäre, damit in andern und in ihr selber nicht die Vorstellung aufkäme, sie lege Wert auf verhältnismäßig mondäne Zerstreuungen. Ich richtete es so ein, daß ich sie jeden Abend ganz für mich allein hatte; nicht in der Meinung, Albertine eifersüchtig zu machen, sondern um in ihren Augen mein Prestige zu vergrößern oder zumindest es nicht zu verringern, wenn ich eines Tages Albertine mitteilen sollte, nicht Andrée, sondern sie werde von mir geliebt. Ich sagte das auch Andrée nicht, aus Furcht, sie könne es ihr wiederholen. Wenn ich von Albertine zu Andrée sprach, geschah es in frostigem Ton, durch welchen freilich Andrée vielleicht weniger sich irreführen ließ als ich durch ihre scheinbare Leichtgläubigkeit. Sie tat, als glaube sie an meine Gleichgültigkeit Albertine gegenüber und wünsche zwischen Albertine und mir die allerengste Bindung. Wahrscheinlich aber ist, daß sie der ersteren nicht glaubte und das zweite nicht wünschte. Während ich ihr versicherte, über ihre Freundin mir recht wenig Gedanken zu machen, dachte ich nur an eines: wenn irgend möglich, in Beziehung zu Frau Bontemps zu treten, welche auf einige Tage in der Nähe von Balbec war: Albertine sollte sie bald auf drei Tage besuchen. Natürlich gab ich diesen Wunsch Andrée nicht zu erkennen, und wenn ich ihr von Albertines Familie sprach, sah ich sehr zerstreut dabei aus. Andrée schien in ihren eigentlichen Antworten meine Aufrichtigkeit nie in Frage zu stellen. Warum aber passierte es ihr an einem jener Tage, mir zu sagen: »Gerade eben sah ich die Tante von Albertine.« Gewiß, sie hatte nicht zu mir gesagt: »Ich habe aus dem, was Sie wie beiläufig haben fallen lassen, entnommen, daß Sie nichts weiter im Kopf haben, als in Beziehung zu Albertines Tante zu treten.« Wohl aber schien das Wort »gerade eben« bei Andrée auf das Vorkommen eines solchen Gedankens, von dem sie netter fand, ihn mir geheimzuhalten, schließen zu lassen. Er war vom Stamme gewisser Blicke und Gesten, die zwar für den Verstand dessen, der zuhört, keine logische, rationelle, geschliffene Form haben, aber dennoch in ihrer wahren Bedeutung an ihn gelangen, wie die menschliche Stimme im Telephon zwar in Elektrizität sich verwandelt, aber dann wieder Stimme wird, um gehört zu werden. Um Andrée den Gedanken zu nehmen, ich interessiere mich für Frau Bontemps, sprach ich von nun an nicht allein zerstreut, sondern böswillig von ihr, ich sagte ihr, mir sei früher einmal diese Verrückte begegnet, und ich hoffe nur eines, daß das nicht noch einmal vorkomme. Nun aber suchte ich im Gegenteil auf alle Weise ihr zu begegnen.
Ich suchte, ohne irgend jemandem ein Wort von meinem Schritt zu sagen, Elstir zu bewegen, mit ihr von mir zu sprechen und mich mit ihr zusammenzuführen. Er versprach, mich mit ihr bekannt zu machen, war aber über meinen Wunsch erstaunt; denn er fand die Frau verächtlich, intrigant und im gleichen Maße interessiert wie uninteressant. Ich hielt dafür, daß Andrée früher oder später doch es erfahren würde, wenn ich Frau Bontemps sehen sollte; es sei daher besser, im voraus sie zu verständigen. »Was man am meisten zu vermeiden sucht, dem kann man nachher dann am wenigsten entgehen«, sagte ich ihr. »Nichts auf der Welt wäre mir langweiliger, als Frau Bontemps zu begegnen, und dennoch werde ich nicht drum herumkommen; Elstir hat vor, mich mit ihr einzuladen.« »Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt«, rief Andrée erbittert, und ihr Blick, der plötzlich groß geworden und von Unwillen alteriert war, hing sich an irgendein Unsichtbares. Was Andrée da sagte, war gewiß nicht gerade der exakteste Ausdruck eines Gedankens, der sich dahin resümieren läßt: »Ich weiß genau, Sie lieben Albertine und tun das Unmögliche, um mit ihrer Familie in Fühlung zu treten.« Aber es waren das die zwar formlosen, doch ergänzbaren Überreste dieses Gedankens, den ich zur Explosion gebracht hatte, weil ich gegen den Willen von Andrée daran gestoßen hatte. Genau wie das »gerade eben« bedeuteten diese Worte nur etwas in zweiter Potenz; mit andern Worten: sie zählten zu denen, welche (im Gegensatz zu direkten Versicherungen) uns Achtung oder Mißtrauen gegen jemanden einflößen, uns mit ihm überwerfen.
Wenn Andrée meine Versicherung, daß Albertines Familie mir gleichgültig sei, nicht geglaubt hatte, so war es, weil sie glaubte, daß ich Albertine liebe. Und wahrscheinlich machte sie das nicht glücklich.
Sie war für gewöhnlich bei meinen Begegnungen mit ihrer Freundin als Dritte zugegen. Es gab jedoch auch Tage, an denen ich Albertine allein sehen sollte, Tage, die ich im Fieber erwartete, aber sie kamen und gingen, ohne Entscheidendes mir zugetragen zu haben, ohne der unvergleichlich bedeutsame Tag gewesen zu sein, dessen Rolle ich dann umgehend auf den nächsten übertrug, der um nichts mehr sich an sie halten sollte; so stürzten, Wellenbergen gleichend, diese Gipfel einer nach dem andern ein und wurden durch neue ersetzt.
Ungefähr einen Monat, nachdem wir »Ringlein wandre« gespielt hatten, erfuhr ich, Albertine solle am nächsten Morgen fortfahren, um auf achtundvierzig Stunden zu Besuch zu Frau Bontemps zu kommen, und da sie sehr früh den Zug nehmen müsse, werde sie im Grand-Hôtel übernachten, von wo aus sie mit dem Omnibus zum ersten Zug fahren könne, ohne die Freundinnen, bei denen sie wohnte, zu stören. Ich sprach Andrée davon. Sie sah mißvergnügt aus und sagte: »Ich glaube es durchaus nicht. Sie: würden übrigens nicht weiter kommen, auch wenn es wahr wäre, denn ich bin überzeugt, wenn Albertine allein in das Hotel kommt, will sie Sie nicht sehen. Das würde dem Zeremoniell nicht entsprechen,« setzte sie mit einer Redewendung hinzu, die sie damals sehr gern im Sinne von »nicht schicklich sein« gebrauchte. »Ich sage Ihnen das, weil ich die Auffassung von Albertine in diesen Dingen kenne. Mir kann es, wie Sie sich wohl denken können, sehr egal sein, ob Sie sie sehen oder nicht. Was soll mir das ausmachen?«
Octave stieß zu uns und ließ sich nicht lange bitten, Andrée zu sagen, wieviel Points er am Abend vorher im Golf gemacht habe; dann kam auch Albertine, die, wie sie vor sich hinging, mit dem Diabolo wie eine Nonne mit dem Rosenkranz hantierte. Dieses Spiel machte ihr möglich, durch Stunden ohne sich zu langweilen, allein zu bleiben. Sowie sie bei uns war, wurde mir ihre mutwillige Nasenspitze deutlich, die mir entfallen war, wenn ich letzter Tage an sie gedacht hatte; die senkrechte Gerade der Stirn trat, nicht zum ersten Male, unterm schwarzen Haar dem unbestimmten Bild, das mir von ihr geblieben war, entgegen, und kräftig behauptete ihr Weiß sich vor meinen Blicken; Albertine trat aus dem Staub des Erinnerns heraus und baute sich vor mir auf. Golf gibt uns die Gewohnheit einsamer Vergnügen, das des Diabolospielers ist es gewiß. Aber dennoch fuhr Albertine im Spielen fort, nachdem sie zu uns getreten war und mit uns sprach, wie eine Dame, zu welcher Freundinnen zu Besuch gekommen sind, darum doch nicht mit Häkeln aufhört. »Frau von Villeparisis soll sich bei Ihrem Vater beschwert haben«, sagte sie zu Octave (und hinter diesen Worten hörte ich einen Tonfall, wie er sich nur bei Albertine fand; jedesmal, wenn ich feststellte, er sei mir entfallen, fiel mir wieder ein, wie mir auch in ihm schon immer das Resolute, das Französische von Albertines Miene zum Vorschein gekommen sei. Ich hätte blind sein können und dennoch gewisse aufgeweckte, etwas provinzielle Eigenheiten an diesem Tonfall ebenso sicher abgenommen wie an ihrer Nasenspitze. Beide hatten die gleiche Bedeutung und hätten füreinander eintreten können, und ihre Stimme war wie die, welche im Photo-Telefon der Zukunft uns realisiert werden soll: aus dem Ton löste ein scharfes Gesichtsbild sich ab). »Sie hat übrigens nicht nur an Ihren Vater, sondern auch dem Bürgermeister von Balbec geschrieben, damit nicht mehr Diabolo auf der Mole gespielt wird; sie hat einen Ball ins Gesicht gekriegt.« »Ja, ich habe von der Beschwerde reden hören. Lächerlich. Es gibt schon sowieso nicht allzuviel Zerstreuung hier.« Andrée beteiligte sich an der Unterhaltung nicht; sie kannte Frau von Villeparisis nicht – ebensowenig übrigens, wie dies bei Albertine und Octave der Fall war. »Ich weiß nicht, warum diese Dame soviel Geschichten macht,« sagte Andrée dann doch, »die alte Frau von Cambremer hat auch einen Ball abgekriegt und sich nicht beschwert.« »Den Unterschied werde ich Ihnen sagen«, bemerkte gewichtig Octave und rieb sich ein Zündholz an. »Meiner Meinung nach ist eben Frau von Cambremer eine Frau von Welt und Frau von Villeparisis eine Parvenue. Kommen Sie heute nachmittag Golf spielen?« und damit ging er, wie auch Andrée, fort. Ich blieb mit Albertine allein. »Sehen Sie,« sagte sie, »ich trage jetzt das Haar, wie Sie es lieben; gucken Sie sich die Locken an. Alle Welt macht sich darüber lustig, und es weiß keiner, für wen ich es tue. Meine Tante wird sich auch über mich lustig machen. Aber ihr werde ich den Grund auch nicht sagen.« Ich sah die Wangen Albertines von der Seite her; oft schienen sie bleich, so aber von hellem Blute durchpulst, das sie leuchten machte und ihnen den Glanz mitteilte, den man von Wintermorgen her bisweilen kennt, an denen Steine, auf welchen gerade die Sonne liegt, wie rosa Granit sich ausnehmen und einen froh machen. So wurde ich froh, als ich jetzt Albertines Wangen sah, aber sie weckten in mir einen anderen Drang: nicht nach dem Spaziergang, sondern nach einem Kuß. Ich fragte sie, ob wahr sei, was sie, wie man behaupte, vorhabe. »Ja,« sagte sie, »ich bleibe heute nacht in Ihrem Hotel und werde sogar, weil ich ein wenig erkältet bin, vor dem Diner mich zu Bett legen. Sie können mir beim Essen an meinem Bette Gesellschaft leisten, und nachher können wir zusammen spielen, was Sie wollen. An sich würde ich mich freuen, wenn Sie morgen früh an der Bahn sein würden, aber ich habe Angst, das könnte komisch aussehn – ich will nicht sagen für Andrée, denn die ist intelligent, aber für die andern, welche da sein werden; wenn man es meiner Tante sagen würde, gäbe es allerhand Geschichten; aber wir können diesen Abend zusammen sein. Davon wird meine Tante nichts erfahren. Ich will Andrée auf Wiedersehen sagen. Also auf gleich. Kommen Sie früh, damit wir recht schön für uns Zeit haben«, fügte sie hinzu, und sie lächelte. Ich aber ging bei diesen Worten weiter als auf die Zeit, da ich Gilberte liebte, zurück auf jene, da mir die Liebe nicht allein als äußere Wesenheit, sondern sogar als eine mögliche Verwirklichung vorgekommen war. Während die Gilberte, die ich in den Champs-Élysées sah, eine andere als die war, die ich, sobald ich einsam war, in meinem Innern erfand, war hier mit einem Male in der Albertine, die wirklich war und die ich alle Tage sah, in ihr, die ich so voller bürgerlicher Vorurteile und so offen im Umgang mit ihrer Tante glaubte, die Albertine meiner Phantasie verkörpert, die, als ich sie noch nicht kannte, verstohlen auf der Mole nach mir gesehen zu haben schien, und jene, die wider Willen nur heimzukehren schien, als sie gesehen hatte, wie ich mich entfernte.
Ich ging, um mit meiner Großmutter zu essen; ich fühlte in mir ein Geheimnis, welches sie nicht kannte. Und so mußte es auch für Albertine liegen; ihre Freundinnen würden morgen mit ihr zusammen sein, ohne zu wissen, was es Neues zwischen uns gäbe, und wenn Frau Bontemps ihrer Nichte einen Kuß auf die Stirn geben würde, geschähe es, ohne daß sie wüßte: ich sei in jener Anordnung des Haares zwischen ihnen beiden, der Haartracht, die bestimmt war, ohne daß ein anderer darum wisse, mir zu gefallen – mir, der bisher Frau Bontemps so sehr beneidet hatte, weil sie mit ihrer Nichte die gleiche Verwandtschaft hatte und aus dem gleichen Grunde Trauerkleidung anzulegen, die gleichen Familienbesuche abzustatten hatte; nun aber war es so gekommen, daß ich für Albertine mehr war als selbst ihre Tante. An mich würde sie auch in Gegenwart ihrer Tante nun denken. Was jetzt alsbald vorfallen sollte, darüber war ich mir nicht allzu klar. Auf alle Fälle schienen das Grand-Hôtel, der Abend mir nicht mehr leer; sie enthielten mein Glück. Ich läutete dem Liftboy, um auf das Zimmer zu fahren, das Albertine genommen hatte: es lag nach dem Tal heraus. – Die kleinste Bewegung, ja auch nur auf der Bank im Fahrstuhl Platz zu nehmen, war mir süß, weil sie in unmittelbarer Verbindung mit meinem Herzen stand; in den Seilen, mit deren Hilfe das Gehäuse die wenigen Stufen hinaufstieg, welche noch zurückzulegen waren, sah ich nur das Getriebe, die stoffgewordenen Stadien meiner Seligkeit. Mir blieben nur noch zwei oder drei Schritte im Korridor – dann stand ich vor dem Zimmer, in das die köstliche Substanz des rosenfarbenen Körpers eingeschlossen war – dem Zimmer, das seine gewohnte Erscheinung, sein Aussehen, das einen ununterrichteten Passanten verleiten konnte, es für ähnlich wie allen anderen zu halten – kurz, was aus Dingen obstinat verschlossene Zeugen macht, gewissenhafte Vertraute und unverletzliche Verwahrer der Lust – das dieses alles beibehalten sollte, auch wenn sich Wonniges darin abspielen sollte. Die wenigen Schritte vom Treppenabsatz bis zum Zimmer von Albertine, diese wenigen Schritte, welche niemand mehr aufhalten konnte, machte ich voller Vorsicht und verzückt, es war als wenn ich mich in einem neuen Element befände, als hätte ich im Vorwärtsschreiten Glück zu transportieren; gleichzeitig kam mir ein nie gekanntes Gefühl der Allmacht, und mir war, als träte ich eine neue Herrschaft an, die schon seit Urzeiten mein eigen sei. Dann kam mit einem Male mir der Gedanke, ich täte unrecht zu zweifeln; sie hatte mich kommen geheißen, wenn sie im Bett sei. Es war klar, vor Freude zitterte ich, ich rannte Françoise, die mir auf halbem Wege entgegenkam, fast um und lief mit funkelnden Augen auf das Zimmer meiner Freundin zu. Ich fand Albertine im Bett. Ihr weißes Hemd ließ den Hals frei, und das verschob die Proportionen ihres Gesichts; von Bettwärme, vom Schnupfen oder vom Essen war es erhitzt und sah intensiver gerötet aus; ich dachte an die Farben, die einige Stunden zuvor, auf der Mole, ich neben mir hatte, an sie, deren Geschmack ich nun endlich erfahren sollte: mitten über ihre Backe fiel eine ihrer langen schwarzen Flechten von oben nach unten; mir zu Gefallen hatte sie sie ganz gelöst. Sie blickte mir lächelnd entgegen. Im Fenster neben ihr war das Tal vom Mondlicht erhellt. Den nackten Hals von Albertine, ihre allzu rosigen Backen zu sehen, hatte mich derart trunken gemacht, will sagen, alle Wirklichkeit der Welt für mich nicht mehr in die Natur, sondern in jenen Katarakt von Gefühlen verlegt, in dem ich nur mit Mühe an mich halten konnte, daß eben dies zu sehen das Gleichgewicht durchbrochen hatte, das zwischen dem immensen unzerstörbaren Leben, welches mich selber durchflutete, und dem Leben des Weltalls bestand, das neben ihm so kärglich erschien. Das Meer, das seitwärts von dem Tal im Fenster vor mir lag, die geschwellten Brüste der ersten Klippen von Maineville, der Himmel, an dem der Mond noch den Zenith nicht erreicht hatte, das alles schien viel leichter als Daunen einer Feder mir für die Kugeln der Pupillen tragbar, die zwischen meinen Lidern lagen, die ich weit geöffnet, im Widerstehen stark und ganz bereit empfand, weit andere Lasten, alle Berge der Welt auf ihrer zarten Fläche zu tragen. Ja selbst der Horizont vermochte nicht, hinreichend ihren Kreis zu erfüllen. Und alles Leben, was von der Natur mir hätte kommen können, der Wind vom Meere sogar wäre dem ungeheuren Atemholen gering vorgekommen, das meine Brust hob. Ich beugte mich über Albertine, um sie zu küssen. Wenn jetzt in diesem Augenblick der Tod mich ereilt hätte, es wäre mir gleichgültig oder vielmehr unmöglich vorgekommen, denn Leben war nicht außerhalb von mir, sondern in meinem Innern; mitleidig hätte ich gelächelt, wenn ein Philosoph die Meinung ausgesprochen hätte, ich müsse eines, wenn auch fernen Tages sterben, es würden die ewigen Naturkräfte mich überleben, Kräfte jener Natur, zu deren göttlichen Füßen ich nichts sei als ein Staubkorn, auch nach mir noch würden diese gerundeten, geschwellten Klippen bestehen, dies Meer, dieser Mondschein und dieser Himmel! Wie wäre das möglich gewesen, wie hätte mich die Welt denn überdauern können, da ich auf ihr nicht verloren war; sie war ja eingeschlossen in mir, in mir, den sie doch ganz gewiß nicht ausfüllte, in mir, in dem ich Platz, so viele andere Schätze aufzuhäufen, fühlte und Himmel, Klippen, Meer nichtachtend in einen Winkel hineinwarf. »Hören Sie auf, oder ich klingle!« schrie Albertine, als sie sah, daß ich mich auf sie warf, um sie zu küssen. Ich aber sagte mir, nicht umsonst lasse ein junges Mädchen einen jungen Mann heimlich, so daß die Tante nichts davon erfährt, zu sich aufs Zimmer kommen, und das Kühne glückt einem, der die Gelegenheit zu nutzen versteht; überreizt wie ich war, trat Albertines rundes Gesicht, das inneres Feuer wie ein Nachtlicht durchleuchtend machte, für mich so überdeutlich hervor, daß es den Umschwung eines glühenden Weltkörpers nachahmte und mir wie eine jener menschlichen Gestalten Michelangelos sich zu drehen schien, die da ein unbeweglicher schwindelnder Wirbel hinwegreißt. Ich sollte den Geruch, ich sollte den Geschmack dieser unbekannten, rosenfarbenen Frucht erfahren. Mit einmal schlug, langhingezogen, mir ein schriller Laut ans Ohr. Albertine hatte aus Leibeskräften geklingelt.
Ich hatte gemeint, meine Liebe zu Albertine sei nicht auf Hoffnung physischen Besitzes gegründet gewesen. Und doch: als mir durch die Erfahrung jenes Abends für bewiesen galt, dieser Besitz sei unmöglich, war ich, der nach dem ersten Tage am Strande nicht gezweifelt hatte, Albertine sei verderbt, dann in verschiedenen Hypothesen sich ergangen hatte, nun fest davon durchdrungen, daß sie völlig sittenstreng sei; als sie nach ihrer Rückkehr vom Besuch bei ihrer Tante acht Tage später kühl zu mir sagte: »Ich verzeihe Ihnen, ich bedauere sogar, Sie verletzt zu haben, aber fangen Sie niemals wieder an«, hatte sich das Gegenteil von dem ereignet, was Bloch mir gesagt hatte, daß nämlich jede Frau zu haben sei; es war vielmehr, als wenn ich statt der Bekanntschaft eines wirklichen jungen Mädchens die einer Wachspuppe gemacht hätte. Nach alledem geschah es, daß mein Wunsch, in ihr Leben einzudringen, in ihre Heimat, wo sie Kind gewesen war, ihr nachzufolgen, durch sie ein Leben, das der Sport erfüllte, kennen zu lernen, auch Neugier meines Intellekts, wie sie wohl über dies oder das denke, von ihr sich ablösten und die Überzeugung, daß ich sie umarmen könne, nicht überlebten. Meine Träume ließen von ihr ab, sowie sie Hoffnung auf Besitzergreifung nicht mehr nährte, von der ich sie doch unabhängig geglaubt hatte. Sogleich waren sie nun wieder frei, auf diese oder jene Freundin Albertines sich zu übertragen, je nach dem Charme, der mir an irgendeinem Tage an einer auffiel, je nach der Möglichkeit, vor allem nach den mutmaßlichen Chancen, von ihr geliebt zu werden; zunächst auf Andrée. Wenn aber Albertine gar nicht existiert hätte, dann hätte ich vielleicht die Freude nicht verspürt, die an den Tagen, die nun folgten, die Freundlichkeit, die mir Andrée bekundete, zusehends fühlbarer mir machen sollte. Albertine sprach zu niemandem von einem Mißerfolg bei ihr, sie gehörte zu jenen erfreulichen Mädchen, die von früher Jugend auf – ihrer Schönheit, vor allem aber einer wohltätigen Erscheinung, eines Charmes wegen, die ziemlich rätselhaft bleiben und ihre Quelle vielleicht in vitalen Reserven haben, zu denen andere, minder von der Natur begünstigte, um ihren Durst zu stillen, sich gezogen fühlen – ebensowohl im Kreise ihrer Familie, wie unter Freundinnen oder in der Gesellschaft mehr gefallen haben als die schönsten und reichsten; sie war eins jener Menschenkinder, die schon, bevor sie das Alter der Liebe erreichen, geschweige denn nachdem es eingetreten ist, um mehr gebeten werden als sie selbst erbitten, ja als sie zu geben vermögen. Von Kindheit an war Albertine immer von vier bis fünf kleinen Kameradinnen, die sie bewunderten, umringt gewesen, und unter denen war auch Andrée, die so hoch über ihr stand und es wußte (und diese Anziehungskraft, welche Albertine, ganz ohne daß ihr Wille dabei im Spiele war, übte, hatte vielleicht sogar ursprünglich die kleine Bande überhaupt gebildet). Sogar weithin, in Kreise, die vergleichsweise glänzend waren, wirkte diese Anziehungskraft hinüber; wenn es da eine Pavane auszuführen galt, fragte man eher nach Albertine als nach einem Mädchen von besserer Abkunft. Die Folge davon war, daß Albertine, wiewohl sie keinen Pfennig Mitgift hatte, in beschränkten Verhältnissen lebte und Herrn Bontemps zur Last fiel, der nicht im besten Rufe stand und sie los sein wollte, doch, nicht nur als Dinergast, sondern selbst als Logierbesuch bei Leuten eingeladen wurde, die in Saint Loups Augen zwar nicht elegant waren, aber für die Mutter von Rosemonde oder die Mutter von Andrée, sehr vermögende Frauen, denen diese Persönlichkeiten doch nicht bekannt waren, etwas ganz Außerordentliches vorstellten. So verbrachte zum Beispiel Albertine jedes Jahr einige Wochen bei der Familie eines Gouverneurs der Bank von Frankreich, dem Vorsitzenden des Verwaltungsrates einer großen Eisenbahngesellschaft. Die Frau dieses Finanzmannes sah bedeutende Persönlichkeiten bei sich und hatte Andrées Mutter ihren »jour« niemals mitgeteilt; die fand sie unhöflich, interessierte sich aber nicht weniger brennend für alles, was bei ihr vorging. So mahnte sie denn Andrée alljährlich, Albertine in ihre Villa einzuladen, denn, meinte sie, es sei ein gutes Werk, einem Mädchen, das von sich aus nicht reisen könne und eine Tante habe, die sich kaum um es bekümmere, einen Aufenthalt am Meer zu ermöglichen; dazu wurde die Mutter von Andrée wahrscheinlich nicht durch die Hoffnung bestimmt, der Gouverneur der Bank und seine Frau würden erfahren, daß Albertine von ihr und ihrer Tochter zärtlich gehegt werde, und dadurch eine gute Meinung von ihnen bekommen; noch weniger hoffte sie, es könne Albertine, so gut und so gewandt sie immer sei, gelingen, ihnen beiden oder zum mindesten Andrée Einladungen zu Garden-parties bei dem Finanzier zu schaffen. Aber jedweden Abend beim Diner entzückte es sie (so hochfahrend und unbeteiligt sie auch dreinblicken mochte) sich anzuhören, was Albertine von dem erzählte, was während ihrer Anwesenheit auf dem Schlosse sich zugetragen habe und welche Leute – fast sämtlich solche, die sie vom Ansehen oder dem Namen nach kannte – in der Zeit dort empfangen worden seien. Doch vielleicht hätte selbst der Gedanke, sie nur dergestalt – will sagen: gar nicht – zu kennen (sie nannte das: die Leute »schon seit jeher« kennen) Andrées Mutter ein wenig melancholisch gestimmt, und während sie hochmütig und zerstreut Fragen, die beinahe unvernehmlich nur eben so hin gesagt waren, an Albertine richtete, über die Geltung ihrer eigenen Stellung sie unsicher und besorgt machen können, wenn sie nicht wieder Zutrauen zu sich selbst gefaßt und »ins wirkliche Leben« sich zurückgefunden hätte, indem sie eben ihrem Butler sagte: »Sie werden dem Küchenchef ausrichten, daß seine Schoten nicht weich genug waren.« Damit gewann sie ihre heitere Ruhe wieder. Und dann war sie in ihrem Innern fest entschlossen, Andrée dürfe nur einen Mann heiraten, der aus vorzüglicher Familie, das versteht sich, aber außerdem auch so reich sein müsse, daß auch sie einen Küchenchef und zwei Kutscher sich halten könne. Das war an einer Stellung in der Welt das Positive, die Wahrheit, die allein ins Gewicht fiel. Daß aber Albertine auf dem Schlosse des Gouverneurs der Bank mit der oder jener Dame zusammengespeist hatte, daß diese sie sogar für den kommenden Winter zu sich eingeladen hatte, das gab nichtsdestoweniger für Andrées Mutter dem jungen Mädchen ein besonderes Prestige, mit dem das Mitleid, ja die Geringschätzung, die ihr Unglück ihr zuzog, vorzüglich zusammenging – eine Geringschätzung, die durch den Umstand noch vermehrt wurde, daß Herr Bontemps seine Fahne verraten hatte und – nicht ohne im Panamaskandal, wie man behauptete, kompromittiert zu sein – mit der Regierung seinen Frieden gemacht hatte. Das hinderte, nebenbei gesagt, Andrées Mutter durchaus nicht, aus Liebe zur Wahrheit allen ihre Verachtung zu bekunden, die anzunehmen schienen, Albertine sei geringer Abkunft. »Wie! sie ist tadellos. Es sind die Simonet, die sich mit einem n schreiben.« Allerdings schien das Milieu, in dem dies alles vor sich ging, in dem Geld eine so große Rolle spielt und Eleganz zwar zu Einladungen, aber nicht zu Gatten verhilft, keine ordentliche Heirat für Albertine zu ermöglichen; das wäre nicht die Konsequenz der besonderen Hochschätzung gewesen, der sie sich erfreute; denn in ihr hätte man keine Kompensation ihrer Armut erblickt. Jedoch auch so, ganz ohne Hoffnung auf eine eheliche Auswirkung erregten diese ›Erfolge‹ Neid bei gewissen übelwollenden Müttern; es erbitterte sie, daß Albertine ›Kind im Hause‹ bei der Frau des Gouverneurs der Bank, selbst daß sie bei der Mutter von Andrée es war, die sie kaum kannten. Infolgedessen erzählten sie Freundinnen von sich, die auch befreundet mit jenen beiden Damen waren, die würden sich entrüsten, wenn sie die Wahrheit erführen; daß nämlich Albertine immer bei einer alles zum besten gäbe, was dank der Intimität, in welcher sie von der anderen (sehr zu Unrecht!) empfangen werde, sie ausspüre – und so auch ›vice versa‹ – kurz, daß sie tausend kleine Heimlichkeiten verletze, deren Enthüllungen den Beteiligten sehr peinlich sei. Die Frauen sagten das in ihrem Neid, damit es sich herumspräche und Albertine dergestalt ihren Beschützerinnen entfremde. Aber diese Bestellungen hatten, wie das so oft der Fall ist, keinerlei Erfolg. Die Bosheit, die sie eingegeben hatte, war zu deutlich, und so hatte das nur zur Folge, daß man die, welche sie aufgegeben hatten, noch ein wenig verächtlicher fand als zuvor. Andrées Mutter wußte zu gut, was sie von Albertine zu halten habe, um in Beziehung auf sie ihre Meinung zu ändern. Sie sah in ihr eine »Unglückliche«, die aber als Charakter ausgezeichnet sei und Erfundenes nur ausstreuen könne, um jemandem Freude zu machen.
Wenn also Albertines Ansehen und Beliebtheit keine praktischen Folgen haben zu sollen schien, hatten sie der Freundin Andrées doch jene sehr bezeichnende Eigenart von Geschöpfen verliehen, die immer begehrt sind und niemals nötig haben, sich anzutragen. (Man begegnet diesem Charakter aus den entsprechenden Gründen an einer andern Extremität der Gesellschaft: bei Frauen von der höchsten Eleganz.) Dieser Charakter besteht darin, von den Erfolgen, welche sie überall haben, nicht Aufhebens zu machen, sondern sie eher zu verbergen. Sie sagte niemals zu irgendwem: »Er möchte mich gerne sehen«, sprach aufs wohlwollendste von allen, als sei sie selber es, die ihnen nachstelle und immer hinter anderen her sei. Wenn sie von einem jungen Manne sprach, der noch vor einigen Minuten unter vier Augen ihr ungeheuerliche Vorwürfe machte, weil sie ein Rendezvous ihm versagt hatte, so rühmte sie sich dessen vor den Leuten nicht etwa, war auch nicht böse auf ihn, sondern sprach von ihm lobend: »Er ist so ein netter Kerl«. Gefallen zu erregen, ging ihr gerade deswegen so sehr gegen den Strich, weil das sie nötigte, Menschen zu betrüben, während sie von Natur aus es liebte, Freude zu machen. Sie liebte es sogar in dem Grade, daß sie schließlich dazu gekommen war, von einer Art Lüge Gebrauch zu machen, wie man sie bei gewissen geschickten Persönlichkeiten, bei arrivierten Leuten, beobachten kann. Diese besondere Unaufrichtigkeit, die zudem keimhaft bei einer ungeheuren Menge von Menschen sich findet, besteht darin, bei irgend einer bestimmten Handlung sich's nicht genügen zu lassen, nur einer einzigen Person mit ihr Freude zu machen. Verlangte beispielsweise Albertines Tante von ihrer Nichte, zu einer wenig kurzweiligen Matinee sie zu begleiten, hätte sich's Albertine, wenn sie hinging, an dem moralischen Effekt genug sein lassen können, ihrer Tante eine Freude zu machen. Wenn aber nun die Gastgeber sie freundlich empfingen, war es ihr angenehmer, ihnen zu sagen, sie wünsche schon so lange, sie zu besuchen, daß sie diese Gelegenheit sich zunutze gemacht und ihre Tante um Erlaubnis gebeten habe, sie zu begleiten. Das war noch nicht genug: auf dieser Matinee war eine Freundin von Albertine, welche schweren Kummer hatte. Albertine sagte ihr: »Ich wollte dich nicht allein lassen; ich dachte, es würde dir wohltun, mich bei dir zu wissen. Wenn du willst, lassen wir die Matinee bleiben und gehen anderswo hin, ich werde tun, was du willst; mir liegt vor allem daran, dich weniger traurig zu sehen« (und auch das war ganz zutreffend). Mitunter geschah es allerdings, daß die vorgebliche Absicht die wirkliche durchkreuzte. So wollte einmal Albertine einen Gefallen für eine ihrer Freundinnen erbitten und suchte aus diesem Grund eine Dame auf. Als sie jedoch bei dieser gütigen, sympathischen Frau war, folgte das junge Mädchen, ohne es zu wissen, dem Grundsatz mehrfacher Verwendung einer einzigen Handlung und fand es liebenswürdiger zu tun, als sei sie nur des Vergnügens wegen gekommen, das ihr das Wiedersehen mit dieser Dame versprochen und wirklich gehalten habe. Die Dame war unendlich ergriffen, daß Albertine eine so weite Fahrt aus bloßer Freundschaft gemacht habe. Wie Albertine die Dame fast bis zu Tränen gerührt sah, gewann sie sie noch lieber. Nun trat aber das Folgende ein: das freundschaftliche Gefühl, aus dem heraus sie unwahrerweise hergekommen zu sein versichert hatte, wurde in ihr so stark, daß sie Furcht bekam, die Dame möchte an ihren wirklich aufrichtigen Gefühlen zu zweifeln beginnen, wenn sie den Gefallen für die Freundin erbäte. Die Dame würde glauben, Albertine sei deswegen gekommen, und das war zutreffend, aber sie würde folgern, Albertine hätte keine selbstlose Freude daran, sie zu sehen, und das war falsch. So fuhr denn Albertine wieder ab, ohne den Gefallen erbeten zu haben, und es ging ihr wie Männern, die zu einer Frau so gut gewesen sind, in der Hoffnung, ihre Gunst zu gewinnen, daß sie sich dann nicht erklären, um diesem gütigen Verhalten seine Noblesse zu wahren. In andern Fällen konnte man nicht sagen, die wahre Absicht sei nebensächlichen, im letzten Augenblick improvisierten geopfert worden; nur war die erste der zweiten so sehr entgegengesetzt, daß die Person, welche Albertine hingebend stimmte, wenn sie ihr die eine mitteilte, nur von der zweiten hätte zu hören brauchen, um ihre Freude umgehend in tiefste Betrübnis verwandelt zu sehen. Diese Erzählung wird im Verlauf, an weit entfernter Stelle, die Natur dieses Widerspruchs besser verständlich machen. Belegen wir an einem Beispiel, das aus ganz anderer Lebensordnung hergenommen ist, daß er in den verschiedensten Lagen, wie sie das Leben heraufführt, sehr häufig ist. Ein Ehemann hat seine Mätresse in der Stadt untergebracht, wo er in Garnison liegt. Seine Frau ist in Paris geblieben, ahnt die Wahrheit, ist außer sich und schreibt an den Mann eifersüchtige Briefe. Nun trifft es sich, daß die Mätresse auf einen Tag nach Paris muß. Der Gatte kann ihren Bitten, sie zu begleiten, nicht widerstehen und läßt sich vierundzwanzig Stunden Urlaub geben. Weil er aber ein gutes Herz hat und unter dem Kummer seiner Frau leidet, kommt er bei ihr an und sagt ihr, unter aufrichtigen Tränen, ihn hätten ihre Briefe zur Verzweiflung gebracht, so hätte er denn Mittel und Wege gefunden, sich frei zu machen, und sei gekommen, um sie zu umarmen und zu trösten. So hat er es ermöglicht, mit ein und derselben Reise seiner Mätresse und seiner Frau einen Beweis seiner Liebe zu geben. Sollte aber diese erfahren, warum er in Wahrheit nach Paris gekommen ist, so würde sich gewiß ihre Freude in Trauer verwandeln, wenn nicht der Anblick des Undankbaren trotz allem ihr mehr Glück gibt, als er durch seine Lügen ihr Kummer bereitet. Unter denen, die mir am konsequentesten dieses System der mehrfachen Abzweckung durchzuführen schienen, befindet sich Herr von Norpois. Er übernahm es manchmal, sich ins Mittel zu legen, wenn sich zwei Freunde überworfen hatten, und daher nannte man ihn den gefälligsten aller Menschen. Es genügte ihm aber nicht, den Eindruck zu erwecken, daß er dem, der ihn darum gebeten hatte, einen Dienst geleistet habe; dem andern stellte er die Schritte, die er bei ihm tat, nicht als veranlaßt durch das Ersuchen des ersten, sondern in seinem eigensten Interesse unternommen dar; und davon konnte er einen Unterredner unschwer überzeugen, welcher von vornherein unter der Suggestion der Idee stand, den »dienstfertigsten aller Menschen« vor sich zu haben. Und wenn er so zwei Rollen durcheinanderspielte, lief sein Einfluß niemals Gefahr, und die Gefälligkeiten, welche er erwies, stellten nicht eine Minderung, sondern eine fruchtbare Anlage seines Kredits dar. Da andererseits jede Gefälligkeit dergestalt doppelt erwiesen schien, wuchs der Ruf selbstloser Freundschaft, in welchem er stand, um so mehr, und einer einflußreichen Freundschaft dazu, als welche sich nicht begnügt, Schläge ins Wasser zu tun, sondern in all ihren Schritten Erfolg hat; das bewies ja die Dankbarkeit beider Beteiligter. Diese Zweideutigkeit im Entgegenkommen war, mit Dementis, wie sie in dem Wesen jeder menschlichen Natur liegen, für Herrn von Norpois' Charakter ein bezeichnender Zug. Und oft, wenn er im Ministerium sich meines Vaters, der ziemlich naiv war, bediente, ließ er ihn glauben, er, Herr von Norpois, verwende sich für ihn.
Weil Albertine mehr Gefallen erweckte, als sie es wünschte, und nicht nötig hatte, ihre Erfolge auszutrompeten, bewahrte sie Stillschweigen über den Auftritt, den es mit mir an ihrem Bett gegeben hatte, während ein häßliches Mädchen ihn in aller Welt würde haben mitteilen wollen. Es gelang mir, nebenbei gesagt, nicht, ihr Verhalten bei jenem Auftritt mir zu erklären. Die Annahme der radikalen Sittenstrenge (eine Annahme, welcher ich ursprünglich es zugeschrieben hatte, daß Albertine so heftig sich geweigert hatte, sich von mir küssen und nehmen zu lassen, ohne sie übrigens meiner Vorstellung von der Gutartigkeit und tiefinneren Anständigkeit meiner Freundin irgendwie unentbehrlich zu erachten) erwog ich zu wiederholten Malen immer von neuem. Diese Annahme war derjenigen, die sich am ersten Tage, da ich Albertine gesehn, in mir gebildet hatte, so sehr entgegengesetzt. Und dann war so viel anderes, all das Entgegenkommen mir gegenüber (ein zärtliches, manchmal besorgtes Entgegenkommen, das unruhig und eifersüchtig wegen meiner Vorliebe für Andrée war), was ringsumher die rauhe Abwehrgeste umspülte, mit der sie, um mir zu entgehn, an der Klingel gezogen hatte. Warum hatte sie mich denn gebeten, den Abend an ihrem Bett zu verbringen? Warum sprach sie die ganze Zeit eine zärtliche Sprache? Worauf gründete sich der Wunsch, einen Freund zu sehen, die Furcht, er könnte eine Freundin lieber haben, das Streben, ihm zu gefallen, ihm, wie in den Romanen, mitzuteilen, die andern sollten nicht erfahren, er sei den Abend über dagewesen, wenn man ein derart einfaches Vergnügen ihm abschlägt und es für einen selber kein Vergnügen ist. Ich konnte mich trotz allem nicht überführen, zu glauben, daß Albertines Sittenstrenge soweit gehe, und so fragte ich mich zuletzt, ob ihre Heftigkeit nicht einen Grund in ihrer Koketterie gehabt habe, etwa im Glauben, sie hätte einen unangenehmen Geruch gehabt, durch den sie mir hätte mißfallen können, oder in ihrer Feigheit, wenn sie in ihrer Unwissenheit in Dingen der Liebe etwa der Meinung war, meine nervöse Schwäche könne im Kuß durch Ansteckung auf sie übergehn.
Sie war gewiß sehr betrübt, daß sie mir nicht hatte Freude machen können; sie schenkte mir einen kleinen goldenen Bleistift, wie es die löbliche Verkehrtheit von Leuten ist, die gerührt von unserer Freundlichkeit sind, aber doch dem, was wir durch sie erbitten, nicht willfahren wollen; dann denken sie sich irgend etwas anders für einen aus: der Kritiker, von dem ein Artikel dem Romanschriftsteller schmeichelhaft wäre, lädt ihn anstatt dessen zu einem Diner ein, die Herzogin nimmt den Snob nicht mit sich ins Theater, schickt ihm aber die Loge für einen Abend, an dem sie nicht anwesend ist. So sehr setzen Gewissensbisse denen zu, die wenig tun, aber auch gar nichts tun könnten, und veranlassen sie, irgend etwas zu tun. Ich sagte Albertine, als sie mir den Bleistift gab, daß sie mir eine große Freude mache, nicht so große jedoch, als wenn sie an dem Abend, da sie im Hotel übernachtet hatte, mir gestattet hätte, sie zu küssen. »Es hätte mich so glücklich gemacht. Was konnte es Ihnen denn ausmachen? Ich bin erstaunt, daß Sie es mir verweigert haben.« »Was mich erstaunt,« erwiderte sie mir, »ist, daß Sie das erstaunlich finden. Ich frage mich unwillkürlich, was für junge Mädchen Sie früher mögen kennen gelernt haben, wenn mein Verhalten Ihnen überraschend war. Ich bin sehr unglücklich, Ihnen Verdruß verursacht zu haben, aber selbst jetzt ist es mir nicht möglich, Ihnen zu sagen, daß ich unrecht gehabt habe.« »Meiner Auffassung nach sind das Dinge ganz ohne Bedeutung, und ich verstehe nicht, daß ein junges Mädchen, das es so leicht hat, einem Vergnügen zu machen, davon nichts wissen will. Mißverstehn wir uns nicht,« fügte ich hinzu, um ihren sittlichen Begriffen eine Konzession zu machen; und in Erinnerung daran, wie sie und ihre Freundinnen die Freundin der Schauspielerin Lea gebrandmarkt hatten, fuhr ich fort: »Ich will nicht sagen, daß ein junges Mädchen alles machen dürfe und daß es nichts Unmoralisches gebe. Nehmen Sie beispielsweise die Beziehungen, von denen Sie neulich anläßlich einer Kleinen sprachen, die in Balbec wohnt, wie sie zwischen ihr und einer Schauspielerin bestehen sollen; das finde ich gemein, so gemein sogar, daß ich glaube, Feindinnen dieses jungen Mädchens müssen das erfunden haben, und es kann nicht wahr sein. Das scheint mir unwahrscheinlich, unmöglich. Aber sich küssen zu lassen, noch dazu von einem Freund, da Sie ja selber sagen, daß ich Ihr Freund bin ...« »Das sind Sie, aber ich habe vor Ihnen andere Freunde gehabt, ich habe junge Leute gekannt, die, das versichere ich Ihnen, genau soviel Freundschaft für mich gefühlt haben. Gut: es war auch nicht einer dabei, der so etwas gewagt hätte. Sie wußten, was für Knallschoten sie bekommen würden. Sie dachten übrigens auch nicht daran: man gab sich ganz unbefangen und in aller Freundschaft wie gute Kameraden die Hand; nie hätte man davon gesprochen, sich zu küssen, und stand darum nicht weniger gut miteinander. Und wenn Sie wirklich Wert auf meine Freundschaft legen, können Sie sehr zufrieden sein, denn ich muß Sie schon wirklich sehr, sehr gut leiden können, um Ihnen zu verzeihen. Aber ich bin überzeugt, ich bin Ihnen sehr egal. Geben Sie es doch zu: in Wirklichkeit gefällt Andrée Ihnen. Und im Grunde haben Sie recht: sie ist viel netter als ich; die ist eben wirklich entzückend! Ach ja! die Männer!« Der Freimut dieser Worte flößte mir viel Achtung für Albertine ein und war mir trotz der jüngst erlittenen Enttäuschung sehr süß. Und das sollte später vielleicht gewichtige, traurige Folgen haben, denn damit begann nun in mir jenes fast brüderliche Gefühl sich zu bilden, das als Urzelle in meiner Liebe zu Albertine immer lebendig bleiben sollte. Solch Gefühl kann Grund zu den schlimmsten Qualen werden. Denn um wahrhaft durch eine Frau zu leiden, muß man völlig an sie geglaubt haben. Für den Augenblick lag dieser Embryo des innersten Vertrauens, der Freundschaft in meiner Seele nur in Bereitschaft. Und derart isoliert wäre er ohnmächtig gegen mein Glück gewesen, wenn er, ohne anzuwachsen, in einer Indolenz verharrt hätte, die er im nächsten Jahr noch, geschweige denn während der letzten Wochen von diesem ersten Aufenthalt in Balbec beibehalten sollte. Er lag in mir – war einer jener Gäste, die man trotz allem besser fortjagen sollte; aber man läßt sie, ohne ihnen zuzusetzen, wo sie sind, so harmlos macht sie für den Augenblick ihre Schwäche und Isolation mitten in einer fremden Seele.
Meine Träume hatten nun wieder Freiheit, die eine oder andere Freundin Albertines zu umspielen, Andrée vor allem, deren Freundschaftsbeweise vielleicht mich minder beeindruckt hätten, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß Albertine sie erfahren würde. Gewiß hatte meine schon seit langem gespielte Vorliebe für Andrée mir – durch die Gewohnheit des Gespräches und zärtlicher Erklärungen – gleichsam Rohmaterial einer Liebe zur Verfügung gestellt; es hatte nur ein aufrichtiges Gefühl ihr noch gefehlt, wie nun mein Herz, das seine Freiheit wiederhatte, es hätte aufbieten können. Damit ich jedoch Andrée wahrhaft hätte lieben können, hätte sie nicht so intellektuell, nicht so nervös, nicht so kränklich, kurz mir nicht so ähnlich sein dürfen. Wenn Albertine mir jetzt leer vorkam, so war Andrée erfüllt von einem Stoff, der mir zu wohlbekannt war. Am ersten Tag am Strande hatte ich geglaubt, die Mätresse eines Rennfahrers vor mir zu haben, ein Mädchen, dem der Sport den Kopf verdreht, und nun sagte Andrée mir, wenn sie welchen treibe, sei es auf Anordnung des Arztes, um etwas gegen ihre Neurasthenie und Verdauungsstörungen zu tun, ihre schönsten Stunden jedoch verbringe sie über ihrer Übersetzung eines Romans der George Elliot. Meine Enttäuschung – die Folge eines ursprünglichen Irrtums über Andrées Natur – hatte in diesem Falle keinerlei Bedeutung für mich. Er war jedoch vom Schlage solcher Verwechslungen, die zwar der Liebe das Entstehen nicht verwehren, vielmehr später erst, wenn nichts mehr an ihr zu ändern ist, für Irrtümer erkannt werden, dann aber zu etwas werden, wodurch man leidet. Diese Irrtümer, die gänzlich verschieden, ja entgegengesetzt zu dem sein können, den ich Andrée gegenüber beging, hängen häufig damit zusammen, daß man – so war es zumal in Andrées Fall – im großen und ganzen Ausdruck und Haltung von dem annimmt, was man sein will, aber nicht ist, um bei der ersten Bekanntschaft einen irrigen Eindruck zu erwecken. In Dingen des äußeren Auftretens verfälschen Affektion, Nachahmung, der Wunsch, von den Guten oder Bösen bewundert zu werden, den Augenschein der Worte und Gebärden. Es gibt Zynismen, Grausamkeiten, die der Probe nicht besser standhalten wie manchmal Herzensgüte oder Edelmut. Und wie man häufig einen Geizhals, der um Ansehen buhlt, in einem Mann, der wegen seiner Mildtätigkeit bekannt ist, entdeckt, so läßt uns Prahlen mit Verworfenheit eine Messalina in einem anständigen jungen Mädchen vermuten, das voller bürgerlicher Vorurteile steckt. Ich hatte angenommen, in Andrée eine gesunde, primitive Natur vor mir zu haben; sie war aber nur ein Geschöpf, das die Gesundheit suchte, wie vielleicht auch viele von denen, in welchen sie sie zu finden geglaubt hatte, Leute, die sie in Wirklichkeit nicht mehr besaßen, als ein dicker, rheumatischer Mann mit rotem Gesicht in weißer Flanelljacke darum schon ein Herkules ist. Und es kann Fälle geben, in denen es nicht gleichgültig für das Glücksgefühl ist, wenn der Mensch, den man um seiner scheinbaren Gesundheit willen geliebt hat, nichts ist als einer jener Leidenden, die ihre Gesundheit nur von andern beziehen, wie die Planeten sich ihr Licht entleihen, gewisse Körper den elektrischen Strom nur weiterleiten.
Aber das tat nichts; Andrée blieb, wie Gisèle und Rosemonde, ja mehr als sie, trotz allem eine Freundin von Albertine; sie teilten ihr Leben und kopierten ihre Gewohnheiten so genau, daß ich am ersten Tage sie nicht eins vom andern hatte unterscheiden können. Unter diesen jungen Mädchen, Rosenstämmen, an denen der größte Charme war, von dem Hintergrunde des Meeres sich abzuheben, herrschte dieselbe ungeschiedene Einheit, wie zu der Zeit, da ich sie noch nicht gekannt und es mich so erregt hatte, wenn nur eine von ihnen sich zeigte, weil das besagte, ihre kleine Gruppe sei nicht weit entfernt. Noch jetzt gab mir der Anblick jeder einzelnen eine Lust, in die in einem Grade, den ich nicht bestimmen konnte, dies eintrat: auch die anderen bald ihr folgen zu sehen, und sollten sie an jenem Tag nicht kommen, doch von ihnen zu sprechen, zu wissen, daß man ihnen sagen würde, ich sei am Strande gewesen.
Es war nicht einfach mehr das Hingezogen sein der ersten Tage, wahre Willkür im Lieben zauderte zwischen allen, so sehr war jede von Natur die Stellvertreterin der andern. Es wäre nicht das Traurigste für mich gewesen, von dem der jungen Mädchen, welche mir die liebste war, verlassen zu werden, sondern mir wäre sofort die die liebste geworden, die mich verlassen hätte, weil ich auf sie dann alle Traurigkeit und Träumerei übertragen hätte, die zwischen ihnen allen ungewiß hin- und herflatterte. Und selbst in diesem Falle hätte ich im Grunde, ohne es selber zu wissen, um alle ihre Freundinnen getrauert, in deren Augen ich ja bald alle Geltung verloren hätte; hatte ich ihnen doch jene besondere Kollektivneigung geweiht, wie der Politiker oder der Schauspieler sie für das Publikum fühlen, die es ja nie verwinden können, nachdem sie all seine Gunst besaßen, von ihm verlassen worden zu sein.
Selbst die, die mir von Albertine nicht geworden war, erhoffte ich dann plötzlich einmal von der oder jener, die mir am Abend, als sie mich verließ, ein Wort gesagt, einen zweideutigen Blick mir zugeworfen hatte, denen zufolge mein Wunsch sich für einen Tag zu ihr hinwandte.
Er schweifte zwischen ihnen mit um so größerer Wollust, als in diesen wechselnden Mienen eine gewisse Bestimmtheit der Gesichtszüge doch hinreichend angedeutet war, um, selbst für den Fall noch zu erwartender Veränderungen, ihr prägsames, weiches Bild zu erkennen. Den Unterschieden, die zwischen ihnen bestanden, entsprachen natürlich durchaus nicht etwa die ebenso großen Unterschiede in Länge und Breite ihrer Gesichtszüge, die bei den unterschiedlichen jungen Mädchen, wie unähnlich sie immer aussehen mochten, vielleicht vertauschbar gewesen wären. Aber unsere Kenntnis von den Gesichtern ist nicht Mathematik. Zunächst macht sie den Anfang nicht mit dem Ausmessen von Teilen, geht vielmehr aus von einer Expression, einem Gesamteindruck. So schien bei Andrée beispielsweise das Zarte der sanften Augen mit der schmalen Nase gut zusammenzugehen, welche so fein war wie eine einfache Bogenlinie, die in der Absicht wäre gezogen worden, in einem einzigen Kontur den innigen, subtilen Ausdruck fortzusetzen, der vorher in das Zwillingslächeln der beiden Augen sich geteilt hatte. Eine ebenso feine Linie zeichnete sich in ihrem Haar ab, sie war tief und geschmeidig, so wie Wind im Sande sie zurückläßt. Und darin mußte sie wohl eine Erbschaft überkommen haben; das gänzlich weiße Haar von Andrées Mutter war auf dieselbe Weise gewellt und bildete, wie Schnee, der je nach der Terrainbeschaffenheit gehäuft liegt oder absinkt, da eine Wölbung, dort wieder eine Buchtung. Gewiß schien Rosemondes Nase, wenn man sie mit der feingezeichneten von Andrée verglich, breite Flächen dem Blick darzubieten und wie ein hoher Turm auf imposanter Basis aufzusteigen. Wenn auch ein Ausdruck genügt, um an gewaltige Unterschiede in Fällen glauben zu machen, in denen nur ein unendlich kleiner wirklich besteht – wenn wiederum ein unendlich kleiner genügt, um gänzlich eigenartigen Ausdruck, ja Individualität hervorzurufen – so war es doch nicht der unendlich kleine Unterschied der Linienführung noch originaler Ausdruck, der diesen Gesichten das Ansehen verlieh, eins auf das andere nicht zurückführbar zu sein. Denn einen tiefen Unterschied schuf zwischen denen meiner Freundinnen die Färbung; und dies geschah nicht sowohl durch wechselnde Schönheit der Tönungen, welche sie ihnen mitteilte; (die waren – nebenbei gesagt – einander so entgegengesetzt, daß ich beim Anblick von Rosemonde – die wie von rosa Schwefel übergossen war, wobei das Grün der Augen noch eine besondere Wirkung tat – und bei dem Anblick von Andrée, deren weiße Wangen so streng und so unnahbar unter ihrem schwarzen Haar aussahen, eine ähnliche Lust hatte, als sähe ich abwechselnd auf eine Geranie am sonnigen Meeresufer und auf eine Kamelie in der Nacht); es geschah vielmehr, weil die unendlich kleinen Unterschiede der Linienführung ins Ungeheure gesteigert und das Verhältnis der Oberflächen völlig verändert durch jenes neue Element der Farbe wurde, die nicht nur Spender aller Tönungen, sondern auch ein großer Regenerator, zum mindesten Modifikator der Ausmaße ist. Derart werden Gesichter, die an sich vielleicht wenig voneinander abweichend konstruiert sind, je nachdem ob sie vom Feuer eines roten Haarbuschs, eines rosigen Teints, oder durch das weiße Licht matter Blässe beleuchtet werden, indem sie in die Länge wachsen oder sich verbreiten, zu etwas anderem, gleich jenen Dekorationsstücken des russischen Balletts, die manchmal ja, bei Tageslicht besehen, nur eine einfache papierene Scheibe sind; doch das Genie von Bakst bringt sie dazu, je nachdem ob er den Dekor unter fleischfarbenes oder mondhaftes Licht setzt, ihm hart wie ein Türkis einer Palastfassade sich einzufügen oder hingebend als bengalische Rose inmitten eines Gartens sich zu erschließen. Wir messen also wohl Gesichter, wenn sie uns begegnen, doch tun wir das als Maler, nicht als Landvermesser.
Es war mit Albertine wie mit ihren Freundinnen. An manchen Tagen, wenn sie schmal aussah, grau im Gesicht war und einen mürrischen Eindruck machte, und man ihr schräg bis in die violette Tiefe der durchsichtigen Augen blicken konnte (so wie das manchmal auch beim Meer der Fall ist); dann schien sie traurig wie eine Verbannte sich zu fühlen. An anderen Tagen ließ ihr glatteres Antlitz die Wünsche fest an seiner firnisbezogenen Oberfläche kleben, verwehrte ihnen, tiefer hinunterzusteigen; es sei denn, daß ich dann sie plötzlich von der Seite sah, denn ihre stumpfen Wangen, die wie weißes Wachs von oben waren, erschienen rosa in der Transparenz, und das gab wilde Lust ein, sie zu küssen und an den Teint, der darin sich entzog, zu rühren. Andere Male dann wieder tauchte das Glück ihre Wangen so in flutende Helle, daß die flüssig gelöste Haut gleichsam Blicke, die unter ihr lagen, durchdringen ließ, dann sahen sie aus, als seien sie anders gefärbt, nicht aber von anderem Stoff als die Augen; und manchmal, wenn man in Gedanken war, sah man auf ihr Gesicht mit den kleinen braunen Pünktchen, in dem allein zwei blauere Flecken schwammen, wie auf das Ei von einem Distelfink, manchmal wie auf einen opalisierenden Achat, der nur an zwei Stellen poliert und bearbeitet war, wo dann inmitten des braunen Steines wie transparente, azurblaue Schmetterlingsflügel die Augen leuchteten, in denen das Fleisch sich zum Spiegel gemacht hat und uns die Täuschung wachruft, mehr als die anderen Teile des Körpers uns der Seele nahkommen zu lassen. Aber meistens hatte sie doch mehr Farbe, dann sah sie lebhafter aus; manchmal war das einzig Rosige in ihrem weißen Gesicht ihre Nasenspitze; sie war so fein wie die eines listigen Kätzchens, das einem Lust erweckt, mit ihm zu spielen; manchmal waren ihre Wangen so glatt, daß der Blick auf ihrem rosa Email wie auf dem einer Miniatur abglitt; das erschien zarter und tieferliegend durch den halboffenen, darübergelegten Deckel aus schwarzem Haar; es kam vor, daß ihr Teint auf den Wangen das violette Rosa der Alpenveilchen zeigte, manchmal sogar, wenn sie erhitzt war oder fiebrig, den dunklen Purpur von gewissen Rosen, ein beinahe schwarzes Rot (das rief dann den Gedanken an eine kränkliche Konstitution hervor, und während es ihrem Blick etwas Perverses, Ungesundes gab, ließ es meinen Wunsch auf sinnlichere Begier sich reduzieren), und jede dieser Albertinen war eine andere, wie bei der Tänzerin jede Erscheinung, wenn sie in Farben, Formen und Charakter durch die zahllosen Spiele des Scheinwerfers variiert wird, eine andere ist. Wenn ich dann später die Gewohnheit annahm, selbst immer wieder ein anderer zu werden, je nachdem welche Albertine im Geiste vor mir stand: ein Eifersüchtiger, ein Teilnahmloser, ein Lüstling, ein Melancholiker, ein Rasender – und dies nicht nur dem Zufall der Erinnerung nach, die gerade aufkam, sondern je nach dem Grad, in dem ich einer und derselben Erinnerung Glauben schenkte und jedesmal verschieden sie beurteilte –,dann kam das vielleicht nur daher, daß die Geschöpfe so verschieden waren, die ich in dieser gegenwärtigen Epoche in Albertine beobachten konnte. Zurückkommen aber mußte ich später dann immer wieder auf die Frage, wieweit man Glauben und Vertrauen schenkt; sie sind in größerm oder minderm Grade in unserer Seele immer vorhanden, aber wir wissen es nicht; und doch sind sie für unser Glück wichtiger als ein bestimmtes Geschöpf, das wir sehen; durch sie hin durch sehen wir es nämlich, sie sichern dem Geschöpf, auf das wir sehen, seine vorübergehende Wichtigkeit. Um genau zu sein, müßte ich jedem der Ich, die in der Folge an Albertine denken sollten, einen anderen Namen geben – und mit weit mehr Grund einen andern Namen jedweder von den Albertinen, die sich vor mir zeigten und nie dieselben waren wie jene Meere – die wir nur aus Bequemlichkeit ganz einfach »das« Meer hießen –, die aufeinander folgten und den Hintergrund bildeten, von dem sie, eine Nymphe, sich abhob. Vor allem aber müßte ich, im gleichen Sinne aber weit fruchtbarer, als man in einer Erzählung das Wetter angibt, das an einem bestimmten Tage herrschte, immer dem Grade von Vertrauen seinen Namen geben, der über meine Seele gebot und ihre Atmosphäre bildete, das Aussehn der lebendigen Geschöpfe wie des Meeres bestimmte und von jenen kaum sichtbaren Wölkchen abhängig war, die durch Anhäufung, Verschiebung, weithin gestreckte Ausdehnung und Flucht jedwedem Gegenstande seine Farbe vorschreiben – wie jene, welche eines Abends Elstir dadurch zerrissen hatte, daß er mich nicht den jungen Mädchen vorgestellt, mit welchen er dort stand, so daß ihr Bild, als sie sich dann entfernten, mir plötzlich schöner erschienen war – eine Wolke, die dann nach einigen Tagen, als ich sie kennen lernte, von neuem sich bildete, ihren Glanz dämpfte und häufig zwischen sie und meine Augen, sanft, undurchsichtig sich schob wie die Leukothea des Virgil.
Kein Zweifel, daß die Gesichter von ihnen allen für mich einen ganz andern Sinn bekommen hatten, seitdem mir in gewissem Grade auf Grund ihrer Worte klar geworden war, wie man sie eigentlich entziffern müsse; und diesen Worten konnte ich einen um so höhern Wert beimessen, als ich durch meine Fragen nach Gefallen sie hervorrief und wie ein Experimentator, wenn er von Gegenproben eine Bestätigung seiner Annahme erwartet, sie abwandelte. Und schließlich ist das zur Lösung der Daseinsprobleme ein Verfahren, das nicht schlechter ist als andere; hinreichend nah an Dinge und Personen, die uns als schön erschienen sind, heranzukommen, um uns darüber Rechenschaft zu geben, daß sie nichts Schönes und Geheimnisvolles haben; es ist dies eine der hygienischen Verfahrungsweisen, unter denen man seine Wahl treffen kann, eine Verfahrungsweise, die sehr empfehlenswert vielleicht nicht ist, aber eine gewisse Ruhe uns auf den Lebensweg und sogar (weil sie uns gestattet, nichts zu bedauern, uns überzeugt, daß wir das Beste erreicht haben und daß dieses Beste nicht eben viel sei) Resignation in den Tod mitgibt.
Ich hatte im Gehirn der jungen Mädchen nun die Verachtung eines keuschen Lebenswandels, eine Erinnerung an ihr tägliches Vorüberkommen durch ehrbare Maximen ersetzt, die zwar möglicherweise bei Gelegenheit das Feld räumen konnten, aber bisher vor allen Abwegen die, denen sie aus ihrem bürgerlichen Milieu überkommen waren, bewahrt hatten. Wenn man einmal am Beginn, und sei es auch in kleinen Dingen, sich geirrt hat, wenn eine falsche Annahme oder eine Gedächtnistäuschung den Urheber einer böswilligen Klatscherei oder die Stelle, wo man einen Gegenstand verkramt hat, in falscher Richtung einen suchen läßt, so kann es geschehen, daß man hinter seinen Irrtum nur kommt, um nicht das Wahre, sondern einen andern Irrtum an seine Stelle zu setzen. Ich zog hinsichtlich ihres Lebenswandels und Verhaltens, das ich ihnen gegenüber zu beobachten hatte, aus jenem Worte: »Unschuld«, das ich in vertraulichem Gespräch von den Gesichtern ihnen abgelesen hatte, alle Konsequenzen. Aber vielleicht hatte ich leichtfertig, in viel zu geschwindem Entziffern, es dort gelesen, und es stand dort nicht mehr geschrieben als »Jules Ferry« auf dem Programm der Matinee, in der ich zum ersten Male die Berma gehört hatte, was mich ja nicht gehindert hatte, Herrn von Norpois gegenüber zu behaupten, Jules Ferry schreibe, wie das ja zweifellos möglich war, Vorspiele.
Wie wäre nicht für jede meiner Freundinnen aus der kleinen Bande das letzte Gesicht, das ich gerade an ihr gesehen hatte, das einzige gewesen, das ich erinnerte, da doch aus unserm Gedächtnisbilde einer Person Intelligenz alles eliminiert, was nicht dem unmittelbaren Nutzen in unsern alltäglichen Beziehungen dient (zumal wenn Liebe etwas in sie hineinspielt, die immer unbefriedigt ist und nur in dem Momente lebt, der kommt). Intelligenz läßt die Kette der vergangenen Tage dahingleiten und hält aus allen Kräften nur ihr äußerstes Ende fest, das häufig von ganz anderem Metalle ist als jene Glieder, die in der Nacht verschwunden sind; und auf der Reise, die wir durch das Leben tun, gilt ihr nur immer jenes Land, in dem wir gerade eben sind, für wirklich. Alle die frühesten Eindrücke aber, die nun schon so lange zurücklagen, konnten in meinem Gedächtnis gar keine Zuflucht gegen ihr tägliches Entstelltwerden finden; in langen Stunden, die ich im Gespräch, beim Tee, beim Spiel mit diesen jungen Mädchen verbrachte, kam mir nicht einmal in den Sinn, es seien dies die herzlosen, sinnlichen Jungfrauen, die ich wie al fresco gemalt vor dem Meer dahinziehn gesehn hatte.
Die Geologen, die Archäologen führen uns allerdings zur Insel der Kalypso und graben freilich den Palast des Minos aus. Nur ist Kalypso nichts weiter als eine Frau, Minos ein König, der nichts Göttliches an sich hat. Sogar die Tugenden und Fehler, die, wie uns die Geschichte lehrt, diesen sehr wirklichen Persönlichkeiten einst sollen eigen gewesen sein, weichen oft sehr von denen ab, die wir den Fabelwesen gleichen Namens beigelegt haben. So war die ganze reizvolle ozeanische Mythologie dahin, wie ich sie in den ersten Tagen mir konstruiert hatte. Und doch ist es nicht ohne Belang, daß zum mindesten einige Male uns zuteil wird, unsere Zeit im vertrauten Umgang mit dem zu leben, das uns erst unerreichbar schien und das wir für uns begehrten. Im Verkehr mit Leuten, die uns anfänglich unangenehm berührt haben, bleibt immer auf dem Grund des künstlichen Vergnügens, das man am Ende in ihrer Nähe kosten mag, der verfälschte Geschmack jener Fehler, die zu verbergen ihnen gelungen ist. In den Beziehungen aber, wie sie mit Albertine und ihren Freundinnen mich verbanden, bleibt von der echten Freude, die an ihrem Ursprung ist, ein Duft, wie keine Kunst ihn farcierten Früchten oder einer Rebe, die nicht in der Sonne gereift ist, geben können. Die übernatürlichen Geschöpfe, die sie für einen Augenblick mir gewesen waren, legten auch jetzt, selbst wenn ich es nicht wußte, immer noch einen Rest von Wunderbarem in meine banalsten Beziehungen zu ihnen, bewahrten diese Beziehungen überhaupt davor, je irgendwie banal zu werden. Mein Drang hatte gierig erforscht, was jene Augen sagen wollten, die jetzt mich kannten und mir zulächelten, am ersten Tage aber die meinen wie Strahlen, die aus einem anderen Weltall kommen, gekreuzt hatten; er hatte derart verschwenderisch und doch so peinlich genau Parfüm und Farbe auf den fleischfarbenen Oberflächen dieser jungen Mädchen verteilt, die dort auf der Klippe hingestreckt lagen und mir einfach Sandwichs reichten oder sich Rätsel aufgaben, daß es an Nachmittagen, wenn ich ausgestreckt dalag, oft mir ging wie Malern, welche das Erhabene der Antike im modernen Leben suchen und einer Frau, die sich am Fuße einen Nagel schneidet, die edle Haltung des »Dornausziehers« verleihen, oder wie Rubens aus Frauen ihrer Bekanntschaft Göttinnen machen, um eine mythologische Szene zu komponieren: ich sah die schönen brünetten und blonden Körper, die so verschiedenen Typen angehörten, wie sie so um mich im Grase lagen, vielleicht nicht ganz von aller Mittelmäßigkeit entleert, mit der tagtägliche Erfahrung sie erfüllt hatte, doch, ohne gerade ihrer Herkunft aus dem Himmel mich zu entsinnen, so an, als sei ich wie Herkules oder Telemach im Begriff, unter Nymphen zu spielen.
Dann hörten die Konzerte auf, es kam das schlechte Wetter, meine Freundinnen verließen Balbec, nicht wie die Schwalben, alle miteinander, aber doch in der gleichen Woche. Albertine fuhr als die erste, ganz plötzlich, fort, ohne daß eine ihrer Freundinnen je, weder damals noch später hätte verstehen können, warum sie so plötzlich nach Paris zurückkehrte, wohin weder Arbeit noch Zerstreuungen sie zurückriefen. »Sie hat nicht wie und nicht was gesagt und dann ist sie abgefahren«, brummte Françoise, welche nichts Besseres wünschte, als daß wir es ihr gleichtäten. Sie fand uns rücksichtslos den Angestellten gegenüber, die doch an Zahl schon sehr vermindert worden waren, aber durch die wenigen Gäste noch festgehalten wurden, die da waren; rücksichtslos auch gegenüber dem Direktor, der »sein Geld aufaß«. In der Tat hatte das Hotel, welches bald schließen sollte, seit langem schon fast alles abreisen sehen; nie war es so angenehm gewesen. Doch das war nicht die Meinung des Direktors; er schritt die Korridore in der ganzen Länge der Salons ab, an deren Türen kein Groom mehr stand und in denen man fror; er trug einen neuen Gehrock und hatte vom Friseur sich so zurechtmachen lassen, daß sein fades Gesicht nach einer Mischung aussah, in der auf einen Teil Fleisch drei Teile Pomade kamen; auch wechselte er immerfort die Krawatte (dergleichen Eleganz kommt weniger teuer als die Heizung und das Beibehalten des Personals; und manch einer, der einer Wohlfahrtseinrichtung nicht mehr zehntausend Franken senden kann, legt noch mühelos seine Generosität an den Tag, wenn er dem Boten, der ein Telegramm gebracht hat, fünf Franken gibt). Er schien Inspektionen im Nichts abzuhalten und durch ein tadelloses Auftreten persönlich der Misere, die man diesem Hotel anmerkte, das keine gute Saison gehabt hatte, provisorische Geltung verleihen zu wollen. Er war wie das Phantom von einem Herrscher, das in Ruinen spukt, die ehemals sein Palast waren. Vor allem verstimmte es ihn, als die Lokalbahn, die nicht mehr genug Fahrgäste hatte, ihren Betrieb bis zum kommenden Frühling einstellte. »Was im Grunde hier fehlt,« sagte der Direktor, »sind die Verbandmittel.« Trotzdem er ein Defizit zu verzeichnen hatte, machte er großartige Pläne für die folgenden Jahre. Und da er immerhin imstande war, schöne Redewendungen, wenn sie auf das Hotelgewerbe sich bezogen und dessen Glorifizierung dienten, exakt festzuhalten, bemerkte er: »Ich war nicht hinreichend sekundiert, trotzdem ich im Speisesaal eine tüchtige Mannschaft stehen hatte; aber die Chasseurs ließen ein wenig zu wünschen übrig, Sie werden sehen, was für eine Phalanx ich nächstes Jahr zusammenstellen werde.« Für den Augenblick nötigte ihn die Einstellung des Bahnbetriebs, die Briefe abholen zu lassen und die Reisenden bisweilen in einer Kutsche zu befördern. Ich bat häufig darum, neben dem Kutscher aufsteigen zu dürfen, und das führte dazu, daß ich die ganze Zeit über spazierenfuhr wie in dem Winter, den ich in Combray zugebracht hatte.
Manchmal aber peitschte der Regen doch zu heftig nieder und hielt uns, meine Großmutter und mich, da das Kasino geschlossen war, in den fast menschenleeren Appartements wie tief im Grunde eines Schiffsraumes zurück, wenn Sturm ist; und jeden Tag kam zu uns, wie auf einer Überfahrt, eine neue Person aus dem Kreise derer, in deren Nähe wir drei Monate gelebt hatten, ohne sie kennen zu lernen: Der Gerichtspräsident von Rennes, der Vorsteher der Anwaltskammer von Caen, eine amerikanische Dame und ihre Töchter. Sie fingen eine Unterhaltung an, machten irgendein Mittel ausfindig, die Stunden weniger lang erscheinen zu lassen, brachten ein Talent zum Vorschein, lehrten ein neues Spiel uns kennen, luden uns zum Tee ein oder baten uns, Musik zum besten zu geben, zu einer bestimmten Stunde uns zu versammeln und es mit jenen Zerstreuungen zu versuchen, die das wahre Geheimnis unseres Vergnügens enthalten, indem sie uns gar nicht zu ergötzen beanspruchen, sondern nur die Langeweile vertreiben – kurz, sie schlossen gegen Ende unseres Aufenthaltes mit uns Freundschaften, die am nächsten Tage bei einem nach dem andern durch die Abreise sollten unterbrochen werden. Ich machte sogar die Bekanntschaft des reichen jungen Mannes, die des einen seiner beiden adligen Freunde und der Schauspielerin, die auf einige Tage zurückgekommen war; aber die kleine Gesellschaft bestand nur noch aus drei Personen, da der andere Freund nach Paris zurückgekehrt war. Sie forderten mich auf, in ihrem Restaurant mit ihnen zu dinieren. Ich glaube, sie waren recht froh, daß ich es nicht annahm. Aber sie hatten die Einladung in zuvorkommendster Weise ergehen lassen, und wiewohl sie in Wirklichkeit von dem reichen jungen Manne ausging, da die andern nur seine Gäste waren, so war doch der Freund, der ihn begleitete, Marquis Maurice de Vaudémont, aus so hervorragendem Hause, daß die Schauspielerin, als sie mich fragte, ob ich nicht kommen wolle, unwillkürlich, um mir zu schmeicheln, bemerkte: »Es würde Maurice so sehr freuen.«
Und als ich sie alle drei in dem hall traf, trat der reiche junge Mann ganz zurück, und Herr von Vaudémont sagte mir:
»Wollen Sie uns nicht das Vergnügen machen, mit uns zu speisen?«
Im Grunde hatte ich den Aufenthalt in Balbec recht wenig ausgenutzt, und das vergrößerte nur meinen Wunsch, wieder dorthin zurückzukehren. Mir schien, ich sei zu kurz dort gewesen. Der Ansicht waren meine Freunde nicht; sie schrieben mir und fragten an, ob ich für immer dort bleiben wolle. Und sah ich dann, wie sie den Namen »Balbec« aufs Kuvert setzen mußten, wie mein Fenster, anstatt aufs Land oder auf eine Straße, auf die Felder der See hinausging, daß ich des Nachts ihr Getöse hörte, welchem ich vor dem Einschlummern meinen Schlaf, einer Barke gleich, überantwortet hatte, dann bildete ich mir ein, solche Lebensgemeinschaft mit ihren Fluten müsse ohne mein Wissen, wie die Lektion, die man im Schlafe lernt, alle meine Sinne buchstäblich mit ihrem Zauber durchdringen.
Der Direktor bot mir fürs nächste Jahr bessere Zimmer an, aber ich hing jetzt an dem meinigen. Wenn ich hineintrat, merkte ich nie mehr den Geruch des Vetiver, und mein Denken, das ehemals so schwer in ihm seinen Aufschwung gewann, hatte am Ende seine Proportionen so genau angenommen, daß ich zu einer Art Entwöhnungskur gezwungen war, als ich in meinem alten Zimmer in Paris schlafen mußte, das eine niedrige Decke hatte.
Dann hatte man Balbec wirklich verlassen müssen, da Kälte und Feuchtigkeit zu spürbar geworden waren, für längeren Aufenthalt in diesem Hotel, das weder Kamine noch Ofen hatte. Ich vergaß übrigens diese letzten Wochen fast umgehend. Was ich fast unabänderlich, wenn ich an Balbec dachte, vor mir sah, waren die Augenblicke, wenn Morgen für Morgen während der schönen Jahreszeit meine Großmutter auf Anordnung des Arztes mich zwang, in der Dunkelheit liegen zu bleiben, da ich nachmittags dann mit Albertine und ihren Freundinnen ausgehen sollte. Der Direktor gab Befehl, daß auf meiner Etage kein Lärm gemacht werden dürfe, und er überwachte die Ausführung selbst. Des allzu starken Lichtes wegen blieben die großen violetten Vorhänge, die mir am ersten Abend sich so feindlich erwiesen hatten, so lange wie möglich geschlossen. Da aber trotz der Nadeln, mit denen Françoise sie jeden Abend, um das Licht abzuhalten, zusammensteckte – nur sie allein konnte sie wieder auseinander tun – da trotz der Decken, des Tischtuchs in rotem Kreton und der Stoffe, die sie von da und dort zu Hilfe nahm, sie es nie dahin bringen konnte, daß sie ganz dicht schlossen, also kein völliges Dunkel herrschte, so ließen sie auf dem Teppich sich etwas ausbreiten, das scharlachfarbenen, zerstreuten Anemonenblättern glich, und ich konnte der Versuchung nicht wehren, einen Augenblick meine nackten Füße in diese tauchen zu lassen. Und auf die Mauer, die dem Fenster gegenüberlag – teilweise war sie erhellt – fiel senkrecht, ohne daß ihn irgend etwas hielt, ein Zylinder von Gold und rückte langsam von der Stelle wie die Feuersäule, die in der Wüste vor den Hebräern einherzog. Ich legte mich wieder hin. Und wie ich so genötigt war, ohne mich zu bewegen, in der Phantasie auf einmal alle Freuden, die der Morgen anriet, zu kosten, Freuden des Spiels, des Bades und des Laufs, machte die Lust mein Herz laut schlagen wie eine Maschine, wenn sie in vollem Gang, doch unbeweglich ist und ihre Schnelligkeit darauf verwendet, an Ort und Stelle um sich selber sich zu drehen.
Ich wußte meine Freundinnen auf der Mole, aber ich sah sie nicht, während sie vor den unebenmäßigen Hügelketten des Meeres vorübergingen, wo ganz im Hintergrunde, geborgen unter seinen blauenden Gipfeln wie ein italienisches Städtchen der kleine Ort Rivebelle, manchmal, wenn die Sonne hervorbrach, zart, bis in seine winzigsten Details erkennbar, dalag. Ich sah meine Freundinnen nicht, wenn aber bis zu meinem Belvedere der Ruf der Zeitungsverkäufer (der »Journalisten«, wie Françoise sie nannte), die Rufe der Badenden und der Kinder, die spielten, wie Vogelschrei das Geräusch der leise sich brechenden Wellen interpungierten, dann ahnte ich ihre Anwesenheit und hörte ihr Lachen, das wie Lachen der Nereusmädchen in sanftes Murmeln, welches bis zu meinen Ohren aufstieg, eingehüllt war. »Wir haben hingeguckt,« sagte am Abend Albertine zu mir, »ob Sie herunterkommen. Aber Ihre Läden sind sogar während des Konzerts noch geschlossen gewesen.« Um zehn Uhr brach es in der Tat unterhalb meiner Fenster los. Wenn die Instrumente schwiegen und Fluthöhe war, dann hörte man den Sturz einer Welle, welche das Streichen der Geige in ihre kristallnen Voluten zu schließen schien und ihren Schaum über den intermittierenden Nachhall einer unterseeischen Musik schien aufschlagen zu lassen. Ich wurde ungeduldig, daß immer noch niemand mit meinen Sachen da war, damit ich mich anziehen könne. Es schlug zwölf, endlich kam Françoise. Und ganze Monate lang war in diesem Balbec, nach dem ich so mich gesehnt hatte, weil ich es vom Sturm gepeitscht und in Nebel verloren mir vorstellte, so strahlend schönes, beständiges Wetter gewesen, daß jedesmal, wenn sie das Fenster öffnete, ich immer, ohne je mich zu irren, hatte erwarten dürfen, dasselbe Stück Sonne auf der Außenmauer liegen zu sehen; und in seiner unveränderlichen Färbung empfand ich weniger ein Zeichen des Sommers als das Triste der Glasur, wie von schwerem künstlichen Email. Und wenn dann Françoise die Nadeln vom Fensterrahmen fortnahm, die Stoffe herunterholte, die Vorhänge zurückzog, schien der Sommertag, den sie enthüllte, so tot, so unvordenklich wie eine prächtige tausendjährige Mumie, die unsere alte Dienerin nur eben behutsam von allen Binden frei gemacht hätte, ehe sie die Einbalsamierte in ihrer goldnen Kleidung sichtbar werden ließ.
Ende