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Ich muß den Leser in jene Zeit meines Lebens zurückversetzen, in der ich dem Chevalier des Grieux zum ersten Male begegnete; es war dies etwa sechs Monate vor meiner Abreise nach Spanien. Obgleich ich mich selten von meiner Einsamkeit losriß, so veranlaßte mich doch die Liebe zu meiner Tochter zu verschiedenen kleinen Reisen, die ich jedoch soviel als möglich abkürzte.
Einst kehrte ich von Rouen zurück, wohin ich auf die Bitte meiner Tochter zur Betreibung eines Rechtshandels gereist war; es betraf einen Prozeß um einige Besitzungen, die von meinem Großvater mütterlicherseits herstammten, und die ich ihr als Eigentum überlassen hatte.
In Evreux übernachtete ich und kam am folgenden Tage gegen Mittag in Passy, welches fünf bis sechs Meilen davon entfernt liegt, an. Ich war überrascht, bei meiner Ankunft die Bewohner des Marktfleckens voll Unruhe zu sehen; sie stürzten aus ihren Häusern, um in Menge vor die Tür eines elenden Wirtshauses zu eilen, vor welchem zwei verdeckte Wagen hielten. Die Pferde, die, noch vorgespannt, vor Müdigkeit und Hitze dampften, ließen erkennen, daß die beiden Wagen eben erst angekommen waren.
Ich verweilte einen Augenblick, um mich nach der Veranlassung des Tumults zu erkundigen, erhielt aber wenig Aufklärung von dem neugierigen Volke, das meinen Fragen keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern sich immer mehr nach dem Wirtshaus hindrängte und stieß; endlich erschien ein Wächter der Ordnung mit dem Gewehr auf der Schulter an der Tür; ich winkte ihn zu mir heran und bat ihn, mir die Ursache des Aufruhrs zu erklären. »Es ist nichts besonderes, mein Herr,« sagte er mir, »es sind bloß ein Dutzend Freudenmädchen, die ich mit meinen Kameraden nach Havre-de-Grace führe, wo sie nach Amerika eingeschifft werden. Es sind einige hübsche Mädchen darunter, und das erregt augenscheinlich die Neugier dieser guten Bauern.«
Ich wäre nach dieser Erklärung weitergegangen, hätte mich nicht das Geschrei einer alten Frau zurückgehalten, welche händeringend aus dem Gasthause trat und schrie, daß ein solches Verfahren barbarisch sei und Schauder und Mitleid erregen müsse.
»Um was handelt es sich denn?« fragte ich sie.
»Ach! Mein Herr, treten sie hinein,« antwortete sie mir, »und sehen Sie, ob dies Schauspiel nicht fähig ist, einem das Herz zu brechen!«
Aus Neugier stieg ich vom Pferde ab, das ich meinem Stallknecht übergab, und trat in das Wirtshaus ein, mir mühsam einen Weg bahnend, wo ich etwas sehr Rührendes erblickte.
Unter den zwölf Mädchen, die je zu sechsen aneinander gekettet waren, befand sich eine, deren Haltung und Gestalt so wenig zu ihrer Lage paßten, daß ich sie unter anderen Verhältnissen für eine vornehme Dame gehalten hätte. Ihre Traurigkeit, die Unsauberkeit ihrer Wäsche und ihrer Kleider machten sie keineswegs häßlich und ihr Anblick flößte mir Achtung und Mitleid ein. Nichtsdestoweniger versuchte sie, soweit es ihre Ketten erlaubten, ihr Gesicht den Augen der Zuschauer abzuwenden; die Anstrengung, die Bewegung, sich zu verbergen, war so natürlich, daß sie von einem Gefühl der Scham herzukommen schien. Da die sechs Wächter, welche diese Unglücklichen begleiteten, sich auch in dem Zimmer befanden, so nahm ich den Anführer beiseite und bat ihn um Aufklärung über das Schicksal dieses schönen Mädchens. Er konnte mir nur sehr wenig mitteilen.
»Wir holten sie auf Befehl des Polizeiinspektors aus dem Hospital,« sagte er mir; »es hat nicht den Anschein, als ob sie guter Handlungen wegen dort zurückgehalten wurde. Unterwegs stellte ich mehreremal Fragen an das Mädchen; sie weigert sich hartnäckig, mir zu antworten. Aber, obgleich ich keinen Befehl erhielt, sie mehr als die anderen zu schonen, so nehme ich doch einige Rücksicht auf sie, denn sie scheint mir doch mehr wert zu sein als ihre Gefährtinnen. Hier ist ein junger Mann,« fügte der Wächter hinzu, »welcher Sie besser, als ich, über die Ursache ihres Unglücks unterrichten könnte; er ist ihr von Paris aus gefolgt und hört nicht einen Augenblick auf zu weinen. Es muß ihr Bruder oder ihr Geliebter sein.«
Ich wandte mich der Ecke des Zimmers zu, wo der junge Mann saß. Er schien in eine tiefe Träumerei versunken zu sein; niemals habe ich ein lebhafteres Bild des Leidens gesehen. Er war sehr einfach gekleidet, aber man erkannte auf den ersten Blick den Mann von Geburt und Bildung in ihm. Ich näherte mich ihm; er erhob sich, und ich entdeckte in seinen Augen, in seinen Mienen, in allen seinen Bewegungen etwas so Edles, Feines, daß ich mich zu ihm hingezogen fühlte.
»Lassen Sie sich nicht durch mich stören,« sagte ich ihm, indem ich mich neben ihn setzte. »Wollen Sie nicht gefälligst meine Neugier befriedigen in betreff des schönen Mädchens, das mir nicht für die traurige Lage geschaffen zu sein scheint, in der ich es hier sehe?«
Er antwortete mir freimütig, daß er mir nicht mitteilen könnte, wer sie sei, ohne zugleich sich selbst zu erkennen zu geben; er habe besondere Ursachen, unerkannt zu bleiben.
»Ich kann Ihnen jedoch sagen, was diese Schufte dort auch sehr gut wissen,« fuhr er fort, auf die Wächter zeigend; »nämlich, daß ich sie mit so heftiger Leidenschaft liebe, die mich zum Unglücklichsten aller Menschen macht. Ich habe alles in Paris versucht, um ihre Freiheit zu erlangen; aber Bitten, List und Gewalt, alles war vergebens. So habe ich den Entschluß gefaßt, ihr zu folgen, und sei es bis ans Ende der Welt. Ich werde mich mit ihr einschiffen; ich gehe nach Amerika. Aber die größte Unmenschlichkeit ist die,« fügte er hinzu, auf die Wächter deutend, »daß diese feigen Schurken mir nicht erlauben wollen, mich ihr zu nähern. Meine Absicht war, sie einige Meilen von Paris entfernt, offen anzugreifen. Ich hatte mir dazu vier Männer gedungen, welche mir ihre Hilfe für eine ansehnliche Summe versprachen. Die Gauner ließen mich aber im Stich und rannten mit meinem Gelde davon. Die Unmöglichkeit, mit Gewalt etwas auszurichten, ließ mich die Waffen strecken; ich habe den Wächtern vorgeschlagen, mir für eine Belohnung zu erlauben, daß ich ihnen folge; die Gier nach Gewinn ließ sie einwilligen. Aber so oft sie mir erlaubten, mit meiner Geliebten zu sprechen, wollten sie bezahlt sein. Meine Börse hat sich in kurzer Zeit erschöpft, und jetzt, wo ich ohne einen Heller bin, haben sie die Barbarei, mich roh zurückzustoßen, sobald ich mich ihr einen Schritt nähere. Erst vor einem Augenblicke, als ich es wagte, mich ihr trotz ihrer Drohungen zu nähern, hatten sie die Frechheit, ihre Flintenläufe auf mich zu richten. Ich bin gezwungen, um ihre Habgier zu befriedigen und ihnen zu Fuß folgen zu können, hier ein elendes Pferd zu verkaufen, welches ich bis jetzt geritten.«
Obgleich er ziemlich ruhig diese Erzählung gab, vergoß er doch am Schluß einige Tränen. Diese Begebenheit erschien mir sehr außergewöhnlich und rührend.
»Ich will nicht in Sie dringen, mir Ihr Geheimnis zu entdecken,« sagte ich ihm, »wenn ich Ihnen aber irgendwie nützen kann, bin ich gern bereit, Ihnen zu dienen.«
»Ach!« entgegnete er, »ich sehe nicht den geringsten Hoffnungsstrahl; ich muß mich meinem harten Geschick unterwerfen. Ich werde nach Amerika gehen, dort kann ich wenigstens frei meiner Liebe dienen; ich habe einem meiner Freunde geschrieben, welcher mir in Havre einige Dienste erweisen kann. Ich bin nur in Verlegenheit, wie ich dahin kommen und diesem armen Geschöpf unterwegs einige Erleichterung verschaffen kann,« fügte er mit einem traurigen Blick auf seine Geliebte hinzu.
»Nun,« erwiderte ich, »ich will Ihre Verlegenheit beendigen; hier ist etwas Geld, welches ich Sie anzunehmen bitte. Es tut mir leid, Ihnen nicht anders helfen zu können.«
Ich gab ihm vier Louisd'ors, ohne daß es die Wächter bemerkten; denn ich dachte, wenn sie von dieser Summe wüßten, würden sie ihm ihre Hilfe noch teurer verkaufen. Es kam mir sogar der Gedanke, mit ihnen zu verhandeln, um für den jungen Liebhaber die Freiheit zu erhalten, mit seiner Herzliebsten bis Havre ungehindert sprechen zu dürfen. Ich gab dem Anführer ein Zeichen, sich zu nähern, und machte ihm meinen Vorschlag. Er schien darüber beschämt trotz seiner Dreistigkeit.
»Wir verbieten ihm ja nicht mit dem Mädchen zu sprechen, mein Herr,« sagte er mit verlegener Miene, »aber er möchte beständig neben ihr sein; das ist uns unbequem. Es ist nur gerecht, daß er uns für diese Unbequemlichkeit bezahlt.«
»Lassen Sie sehen,« sagte ich ihm, »wieviel es bedürfte, um Sie diese Unbequemlichkeit nicht fühlen zu lassen?«
Er hatte die Frechheit, zwei Louisd'ors von mir zu fordern. Ich gab sie ihm sogleich.
»Aber nehmt euch in acht!« sagte ich ihm, »daß ihr keine Spitzbüberei begeht! Denn ich werde diesem jungen Manne meine Adresse lassen, damit er mich davon unterrichten kann, und rechnet darauf, daß ich die Macht habe, euch bestrafen zu lassen!« ...
So kostete mich diese Geschichte sechs Louisd'ors.
Die anmutige Freude und die lebhafte Dankbarkeit des jungen Mannes überzeugten mich vollständig, daß er aus guter Familie stamme und meine Freigebigkeit verdiene. Bevor ich ging, sprach ich einige Worte mit seiner Geliebten. Sie antwortete mir mit so sanfter und liebenswürdiger Bescheidenheit, daß ich mich beim Weggehen nicht enthalten konnte, über den rätselhaften Charakter der Frauen nachzudenken.
Wieder in meine Einsamkeit zurückgekehrt, erfuhr ich nichts über den Verlauf dieses Abenteuers. Zwei Jahre gingen darüber hin, die es mich gänzlich vergessen ließen, bis der Zufall mir die Gelegenheit gab, alle näheren Umstände gründlich zu erfahren.
Ich kam mit meinem Zögling, Marquis von ..., von London nach Calais. Wir wohnten, wenn ich mich recht erinnere, im »Goldenen Löwen«, wo wir wegen einiger Ursachen den ganzen Tag und die folgende Nacht festgehalten wurden. Als ich am Nachmittag durch die Straßen ging, glaubte ich jenen jungen Mann zu bemerken, dem ich in Passy begegnet war. Er war sehr dürftig gekleidet und viel bleicher als damals, wo ich ihn zum erstenmal gesehen. Er trug eine alte Reisetasche und schien eben erst in der Stadt angekommen zu sein.
Jedoch war sein Gesicht zu auffallend schön, um nicht leicht wiedererkannt zu werden; so hielt ich ihn sogleich an.
»Ich muß diesen jungen Mann sprechen,« sagte ich zum Marquis.
Seine Freude war unbeschreiblich, als er mich seinerseits erkannte.
»Ach, mein Herr,« rief er aus, indem er meine Hand küßte, »ich kann Ihnen also doch einmal meine ewige Dankbarkeit bezeigen!«
Ich fragte ihn, woher er käme. Er antwortete mir, er wäre soeben zur See von Havre gekommen, wohin er vor kurzem von Amerika zurückgekehrt war.
»Sie scheinen nicht stark bei Kasse zu sein,« sagte ich zu ihm, »gehen Sie in den ›Goldenen Löwen‹, wo ich wohne, ich werde in einem Augenblick bei Ihnen sein.«
Ich kehrte in der Tat dahin zurück, voll Ungeduld, Näheres über sein Mißgeschick und die Umstände seiner Reise nach Amerika zu erfahren. Ich gab ihm tausend Freundschaftsbeweise und befahl, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Er wartete gar nicht, bis ich in ihn drang, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.
»Mein Herr,« sagte er zu mir, »Sie handeln so edel an mir, daß ich mir den Vorwurf der Undankbarkeit machen müßte, wenn ich vor Ihnen etwas verheimlichte. Ich will Ihnen nicht bloß meine Unglücksfälle und meine Leiden erzählen, sondern auch von meinen Fehlern und Schwächen sprechen. Ich weiß gewiß, daß Sie mich nicht nur verdammen werden; Sie werden mich auch beklagen!«
Ich muß hier dem Leser mitteilen, daß ich die Geschichte des jungen Mannes sogleich, nachdem ich sie gehört hatte, niederschrieb, daß nichts also wahrheitsgetreuer ist als diese Erzählung.
Hier ist also seine Erzählung, welcher ich bis ans Ende nichts aus Eigenem hinzufügen werde.
* * *
Ich war siebzehn Jahre alt und vollendete meine philosophischen Studien in Amiens, wohin mich meine Eltern, die aus einer der besten Familien von P... stammen, geschickt hatten. Ich führte ein so vernünftiges, geregeltes Leben, daß meine Lehrer mich den Zöglingen als ein Vorbild bezeichneten. Nicht, daß ich etwa außerordentliche Anstrengungen machte, um dieses Lob zu verdienen; mein Gemüt war von Natur sanft und ruhig; ich wandte mich dem Studium mit Eifer zu und man rechnete mir es als Tugend an, daß ich gegen das Laster einen natürlichen Abscheu zeigte. Meine Geburt, der Erfolg meiner Studien und einige äußere Vorzüge hatten mich bei allen ehrenhaften Leuten der Stadt bekannt und beliebt gemacht. Ich bestand mein öffentliches Examen mit so allgemeiner Anerkennung, daß der Bischof, welcher demselben beiwohnte, mir vorschlug, in den geistlichen Stand zu treten, wo ich, wie er sagte, unfehlbar mehr Auszeichnung erwerben wurde, als in dem Malteserorden, zu welchem mich meine Eltern bestimmten. Sie ließen mich bereits das Kreuz tragen, sowie den Namen Chevalier des Grieux. Als die Ferien kamen, schickte ich mich an, zu meinem Vater zurückzukehren, welcher mir versprochen hatte, mich bald auf die Akademie zu schicken.
Als ich Amiens verließ, bedauerte ich nur, dort einen Freund zurücklassen zu müssen, mit dem ich aufs Innigste verbunden war. Er war einige Jahre älter als ich. Wir waren zusammen erzogen worden, aber da das Vermögen seiner Familie sehr klein war, sah er sich genötigt, in den geistlichen Stand zu treten und in Amiens zu bleiben, um dort die Studien für diesen Beruf fortzusetzen.
Er hatte tausend treffliche Eigenschaften. Sie werden ihn in den besten derselben im Verlaufe dieser Erzählung kennen lernen; besonders in einem Eifer und einer Großmut der Freundschaft, die an die berühmtesten Beispiele des Altertums heranreichen. Hätte ich damals seine Ratschläge befolgt, ich wäre immer tugendhaft und glücklich geblieben. Wenn ich mir wenigstens seine Vorwürfe zunutze gemacht hätte, als mich meine Leidenschaften schon in den Abgrund gestürzt hatten, so hätte ich doch vielleicht etwas aus dem Schiffbruch meines Glückes und meines Rufes gerettet!
Ich hatte den Zeitpunkt meiner Abreise von Amiens festgesetzt. Ach! Warum bestimmte ich ihn nicht für einen Tag früher! Ich hätte meinem Vater noch meine ganze Unschuld zurückgebracht. Am Vorabend meiner Abreise ging ich mit meinem Freunde Tiberge spazieren. Wir sahen die Post von Arras ankommen und folgten ihr bis zu dem Gasthause, wo sie anhielt. Wir hatten keinen anderen Beweggrund, als die Neugierde. Einige Frauen stiegen aus, die sich sogleich zurückzogen; aber eine sehr junge Person blieb im Hofe stehen, während ein Mann von vorgerücktem Alter, der ihr als Führer zu dienen schien, ihr Gepäck aus dem Wagen schaffen ließ. Sie schien mir so reizend, daß ich, der noch niemals ein Mädchen mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, daß ich, dessen Tugendhaftigkeit und Zurückhaltung alle Welt bewunderte, mich plötzlich bis zur Verzückung entflammt sah. Ich war sehr schüchtern und außerordentlich leicht aus der Fassung zu bringen; aber weit entfernt damals, durch diese Schwäche abgehalten zu werden, näherte ich mich der Gebieterin meines Herzens.
Obwohl sie noch jünger war als ich, nahm sie meine Huldigung ohne Verlegenheit auf. Ich fragte sie, was sie nach Amiens führte und ob sie hier Bekannte hätte. Sie antwortete mir offenherzig, daß ihre Eltern sie hierhergeschickt hätten, um Nonne zu werden. Die Liebe hatte mich seit der kurzen Zeit, wo sie in meinem Herzen wurzelte, schon so aufgeklärt, daß ich diesen Plan als einen tödlichen Schlag für meine Wünsche betrachtete. Ich sprach in einer Weise zu ihr, welche ihr meine Gefühle begreiflich machte, denn sie war viel erfahrener als ich.
Man schickte sie gegen ihren Willen ins Kloster, wahrscheinlich um ihren Hang zum Vergnügen, der sich schon offenbart hatte und der in der Folge all' mein Unglück und das ihre herbeiführte, zu ersticken. Ich bekämpfte den grausamen Plan ihrer Eltern mit allen Gründen, welche meine wachsende Liebe und meine scholastische Beredsamkeit mir eingaben. Sie heuchelte weder Strenge noch Entrüstung. Sie sagte mir nach kurzem Schweigen, daß sie nur zu wohl vorhersähe, wie unglücklich sie sein würde, aber daß es augenscheinlich der Wille des Himmels wäre, weil er ihr kein Mittel ließe, diesem Schicksal zu entgehen. Die Sanftmut ihres Blickes, die reizende Miene der Trauer, mit welcher sie diese Worte sprach, oder vielmehr mein Schicksal, das mich dem Verderben entgegentrieb, erlaubten mir nicht, einen Augenblick mit meiner Antwort zu schwanken. Ich versicherte ihr, wenn sie meiner Ehre und unendlichen Zärtlichkeit, die sie mir jetzt schon einflößte, vertrauen wollte, so würde ich mein Leben einsetzen, sie von der Tyrannei ihrer Eltern zu befreien und glücklich zu machen. Ich wundere mich oft, wenn ich darüber nachdenke, woher mir damals so viel Kühnheit kam und Leichtigkeit, mich auszudrücken; man würde aber die Liebe nicht zu einer Gottheit machen, wenn sie nicht Wunder zu schaffen vermöchte. Ich stürmte noch mit vielen weiteren Beteuerungen auf sie ein.
Meine schöne Unbekannte wußte wohl, daß man in meinem Alter kein Betrüger ist; sie gestand mir, daß, wenn ich ihr die Freiheit wiedergeben könnte, sie mir mehr verpflichtet wäre, als hätte ich ihr das Leben gerettet. Ich wiederholte ihr, daß ich bereit sei, alles zu unternehmen, da ich aber zu wenig Lebenserfahrung besaß, um auf der Stelle auf die Mittel zu verfallen, die sie retten konnten, so beharrte ich bei dieser Beteuerung, die weder ihr noch mir viel nützen konnte. Da ihr alter Argus sich wieder zu uns gesellt hatte, so wären meine Hoffnungen gescheitert, wenn sie mit ihrem Geiste mir nicht zu Hilfe gekommen wäre. Ich war überrascht, als sie beim Erscheinen ihres Hüters mich »Vetter« nannte, und ganz harmlos bemerkte, daß sie glücklich sei, mir hier in Amiens zu begegnen; sie schiebe daher ihren Eintritt ins Kloster bis zum folgenden Tag hinaus, um das Vergnügen zu haben, mit mir soupieren zu können. Ich ging rasch auf diese List ein; ich schlug ihr vor, in einem Gasthaus zu wohnen, dessen Wirt lange Zeit Kutscher meines Vaters gewesen war und sich mir stets ganz und gar ergeben gezeigt hatte.
Ich führte sie selbst dahin, während der alte Führer ein wenig zu murren schien; mein Freund Tiberge, der nichts von diesem Auftritt verstand, folgte mir, ohne ein Wort zu sprechen. Er hatte unsere Unterredung nicht gehört, er war im Hofe hin- und hergegangen, während ich mit meiner schönen Unbekannten von Liebe sprach. Da ich seine Ehrbarkeit fürchtete, so befreite ich mich von ihm durch einen Auftrag, den auszuführen ich ihn ersuchte. So hatte ich das Vergnügen, mit meiner Herzenskönigin allein zu sein, als wir im Gasthause ankamen. Ich erkannte bald, daß ich weniger Kind war, als ich geglaubt hatte. Mein Herz erschloß sich tausend süßen Empfindungen, von denen ich nie einen Begriff gehabt. Eine süße Wärme durchströmte meine Adern. Ich war in einer Art Verzückung, die mir für einige Zeit die Sprache benahm, und die nur durch meine Augen verraten wurde.
Fräulein Manon Lescaut – so nannte sie sich – schien sehr befriedigt von dieser Wirkung ihrer Reize. Ich glaubte zu bemerken, daß sie nicht weniger erregt war als ich. Sie vertraute mir, daß sie mich sehr liebenswürdig fände und daß sie erfreut wäre, mir für ihre Freiheit verpflichtet zu sein. Sie wollte wissen, wer ich sei, und diese Kenntnis steigerte ihre Zuneigung noch, weil sie, von niedriger Herkunft, sich geschmeichelt fühlte, die Eroberung eines vornehmen Liebhabers gemacht zu haben. Wir unterhielten uns über die Mittel, wie wir einander angehören könnten.
Nach langem Überlegen fanden wir keinen anderen Ausweg, als den der Flucht. Man mußte die Wachsamkeit des Führers täuschen, den man schonen mußte, obgleich er nur ein Diener war. Wir beschlossen, daß ich während der Nacht einen Postwagen bereit halten sollte und daß ich sehr früh in den Gasthof zurückkehren würde, bevor jemand wach sei; dann wollten wir uns heimlich fortstehlen, geradeswegs nach Paris reisen und uns dort gleich nach unserer Ankunft trauen lassen. Ich besaß ungefähr fünfzig Taler, die Früchte meiner kleinen Ersparnisse; sie hatte etwa das Doppelte. Wir bildeten uns wie unerfahrene Kinder ein, daß diese Summe unerschöpflich wäre; wir rechneten auch nicht weniger auf den Erfolg unserer anderen Maßnahmen.
Nachdem wir mit mehr Vergnügen, als ich je empfunden, soupiert hatten, zog ich mich zurück, um unseren Plan auszuführen. Meine Anordnungen waren um so leichter zu treffen, da ich in der Absicht, am folgenden Tage zu meinem Vater zurückzukehren, meine Habseligkeiten bereits gepackt hatte. Ich hatte also keine Schwierigkeit, meinen Mantelsack fortschaffen zu lassen und für fünf Uhr des Morgens einen Postwagen zu bestellen, um welche Zeit die Stadttore geöffnet sein mußten. Aber ich fand ein unerwartetes Hindernis, das beinahe meinen Plan zerstört hätte.
Tiberge, obgleich nur drei Jahre älter als ich, besaß einen reifen Verstand und war tadellos in seinem Lebenswandel. Er liebte mich mit außergewöhnlicher Zärtlichkeit. Der Anblick eines so hübschen Mädchens, wie Fräulein Manon, mein Eifer, sie zu begleiten, die Sorge, die ich gehabt, mich seiner zu entledigen, ließen ihn meine Leidenschaft argwöhnen. Er wagte nicht, in den Gasthof zurückzukehren, aus Furcht, mich zu beleidigen, wenn er zurückkäme; aber er erwartete mich in meiner Wohnung, wo ich ihn fand, obgleich es schon zehn Uhr abends war. Seine Anwesenheit ärgerte mich. Er bemerkte leicht den Zwang, den sie mir verursachte.
»Ich bin sicher,« sagte er mir unverhohlen, »daß du irgendeinen Plan ausdenkst, den du mir verbergen willst; ich lese es aus deinen Zügen.«
Ich antwortete ihm barsch, daß ich nicht verpflichtet sei, ihm über meine Absichten Rechenschaft zu geben.
»Nein,« entgegnete er; »aber du hast mich immer als deinen Freund angesehen, und diese Eigenschaft setzt ein wenig Vertrauen und Offenheit voraus.«
Er drang so lange in mich, ihm mein Geheimnis zu offenbaren, daß ich ihm endlich meine Leidenschaft anvertraute. Er hörte mich mit so unzufriedener Miene an, daß ich erschrak. Ich bereute meine Unklugheit, ihm den Plan meiner Flucht mitgeteilt zu haben. Er sagte mir, er wäre zu sehr mein Freund, um sich dem nicht mit ganzer Kraft zu widersetzen. Zuerst wollte er mir alles vorstellen, was fähig wäre, mich davon abzuhalten; wenn ich aber dann nicht auf diesen erbärmlichen Entschluß verzichtete, wollte er Personen davon in Kenntnis setzen, die seine Ausführung sicher verhindern würden. Er hielt mir eine ernste Rede darüber, die länger als eine Viertelstunde dauerte und die schließlich mit der Drohung endete, mich anzuzeigen, wenn ich ihm nicht mein Wort gäbe, mich mit mehr Vernunft und Anstand aufzuführen.
Ich war in Verzweiflung, mich zu so unrechter Zeit verraten zu haben. Indessen hatte die Liebe seit wenigen Stunden meinen Geist so geschärft, daß mir einfiel, ihm nicht mitgeteilt zu haben, daß mein Plan am folgenden Morgen ausgeführt werden sollte, und ich beschloß, ihn durch eine List zu täuschen.
»Tiberge,« sagte ich zu ihm, »ich habe dich bisher für meinen Freund gehalten, und wollte dich durch dieses Vertrauen prüfen. Es ist wahr, daß ich das Mädchen liebe, ich habe dich nicht getäuscht; aber was meine Flucht betrifft, so ist das kein Unternehmen, das man so leicht ausführen kann. Hole mich morgen um neun Uhr ab; ich werde dich, wenn es möglich ist, meiner Geliebten vorstellen, da sollst du beurteilen, ob sie verdient, daß ich einen solchen Schritt für sie wage.« Er ließ mich allein mit unzähligen Freundschaftsversicherungen.
Ich verwendete die Nacht dazu, meine Angelegenheiten zu ordnen, und als ich mich bei Tagesanbruch in den Gasthof zu Fräulein Manon begab, erwartete sie mich schon. Sie stand am Fenster, das nach der Straße ging, so daß sie mir selbst öffnen konnte, sobald sie mich gewahrte. Wir schlichen uns geräuschlos fort. Sie hatte kein anderes Gepäck als ein Wäschebündel, das ich selbst trug. Der Wagen stand zur Abfahrt bereit, und bald hatten wir die Stadt hinter uns.
Ich werde später berichten, was Tiberge tat, als er erfuhr, daß ich ihn getäuscht hatte. Sein Eifer wurde nicht geringer. Sie werden sehen, wie weit er ihn trieb, und wieviel Tränen ich vergießen müßte, wenn ich denke, welchen Lohn er dafür fand!
Wir beeilten uns so sehr, daß wir in Saint-Denis noch vor Einbruch der Nacht anlangten. Ich hatte den Wagen zu Pferde begleitet, was uns nur beim Wechseln der Pferde zu plaudern gestattete. Aber als wir uns so nahe von Paris sahen, das heißt, fast in Sicherheit, nahmen wir uns Zeit, uns zu erfrischen, da wir seit unserer Abreise von Amiens nichts genossen hatten.
So leidenschaftlich ich auch Manon liebte, sie wußte mich zu überzeugen, daß sie mich nicht weniger liebte. Wir waren so wenig zurückhaltend in unseren Liebkosungen, daß wir oft nicht Geduld hatten, bis wir allein waren. Unsere Postillione und unsere Wirte betrachteten uns mit Verwunderung, und ich bemerkte, daß sie überrascht waren, zwei Kinder unseres Alters zu sehen, die sich so leidenschaftlich zu lieben schienen. Unsere Heiratspläne wurden schon in Saint-Denis vergessen, wir betrachteten uns als Ehepaar, ohne lange darüber nachzudenken. Es ist zweifellos, daß ich bei meinem zärtlichen und beständigen Naturell mein Leben lang glücklich gewesen wäre, wenn Manon mir treu geblieben wäre. Je mehr ich sie kennen lernte, um so mehr entdeckte ich bei ihr liebenswürdige Eigenschaften. Ihr Geist und ihr Herz, ihre Schönheit und Anmut bildeten eine so reizende und starke Kette, daß ich glücklich gewesen wäre, immer von ihr gefesselt zu werden.
Schreckliche Wandlung! Was meine Verzweiflung ausmacht, hätte mich beseligen können; ich bin durch die nämliche Beständigkeit, von der ich den süßesten Lohn meiner Liebe erwarten durfte, zum Unglücklichsten aller Menschen geworden.
In Paris mieteten wir eine möblierte Wohnung; sie befand sich in der Straße V ... und, zu meinem Unglück neben dem Hause des Generalpächters Herrn von B. Drei Wochen vergingen, während deren ich so von meiner Leidenschaft erfüllt war, daß ich wenig an meine Familie und an die Kränkung dachte, die meine Abwesenheit meinem Vater verursachen mußte. Da mein Betragen aber nichts mit Liederlichkeit zu tun hatte, da auch Manon sich mit großer Zurückhaltung benahm, so diente die Ruhe, in der wir lebten, dazu, mich nach und nach an meine Pflicht zu mahnen.
Ich beschloß, mich mit meinem Vater, wenn möglich, zu versöhnen. Meine Geliebte war so liebenswürdig, daß ich nicht daran zweifelte, sie würde ihm gefallen, wenn ich ein Mittel fände, ihn mit ihrer Sittsamkeit, ihren Vorzügen bekannt zu machen, mit einem Wort, ich schmeichelte mir, von ihm die Erlaubnis zur Heirat zu bekommen, da ich von dem Gedanken zurückgekommen war, Manon ohne seine Einwilligung zu heiraten. Ich teilte ihr diesen Plan mit, indem ich ihr klarmachte, daß außer meiner kindlichen Liebe auch die Notwendigkeit vorläge, da unsere Kasse sehr angegriffen war, und ich die Meinung, sie wäre unerschöpflich, bereits aufgegeben hatte.
Manon nahm diesen Vorschlag ziemlich kühl auf. Jedoch rührten ihre Bedenken nur von der Furcht her, mich zu verlieren, wenn mein Vater unseren Aufenthaltsort erfahren würde. Ich hatte nicht den geringsten Argwohn, welch ein grausamer Schlag mich treffen sollte. Bei Erwähnung der Notwendigkeit antwortete sie, daß wir ja noch für einige Wochen zu leben hätten, und nachher würde sie Hilfe bei einigen Verwandten in der Provinz finden, an die sie schreiben werde. Sie versüßte ihre Weigerung durch so zärtliche und leidenschaftliche Liebkosungen, daß ich, der nur in ihr lebte, nicht das geringste Mißtrauen in sie setzte und allen ihren Entschlüssen Beifall zollte.
Ich hatte ihr die Verfügung über unsere Börse gelassen und die Sorge, unsere täglichen Ausgaben zu bezahlen. Kurze Zeit darauf bemerkte ich, daß unser Tisch besser bestellt war, und daß sie einige Gegenstände von ansehnlichem Preise angeschafft hatte. Da ich wohl wußte, daß uns nur noch zwölf oder fünfzehn Pistolen geblieben sein konnten, so drückte ich ihr meine Verwunderung über diese scheinbare Vermehrung unseres Wohlstandes aus. Sie bat mich lachend, darüber ohne Sorge zu sein.
»Habe ich dir nicht versprochen,« sagte sie, »daß ich Hilfsmittel finden würde?«
Ich liebte sie zu sehr, um mich leicht zu beunruhigen.
Eines Nachmittags, als ich ausgegangen war und sie benachrichtigt hatte, daß ich länger als gewöhnlich ausbleiben würde, war ich erstaunt, daß man mich bei meiner Rückkehr zwei oder drei Minuten an der Türe warten ließ. Wir wurden nur von einem jungen Mädchen in unserem Alter bedient. Als sie kam, um mir zu öffnen, fragte ich sie, warum sie so lange gezögert habe. Sie antwortete mir mit verlegener Miene, daß sie mich nicht klopfen gehört. Ich hatte nur einmal geklopft; ich sagte zu ihr:
»Aber wenn du mich nicht hörtest, weshalb kamst du denn, um mir zu öffnen?« Diese Frage brachte sie so sehr aus der Fassung, daß sie, nicht genug Geistesgegenwart besitzend, zu weinen anfing, und mir versicherte, daß es nicht ihre Schuld sei; Madame hätte ihr verboten, zu öffnen, bis Herr von B. über die andere Treppe, zu der man vom Kabinett aus gelangte, sich entfernt habe. Ich war so betroffen, daß ich nicht die Kraft hatte, die Wohnung zu betreten. Ich beschloß unter dem Vorwand eines Geschäftes nochmals fortzugehen und befahl dem Mädchen, ihrer Herrin zu sagen, ich würde gleich zurückkehren, aber nicht zu erwähnen, daß sie mit mir von Herrn von B. gesprochen habe ...
Meine Aufregung war so groß, daß ich beim Hinuntergehen Tränen vergoß, ohne noch zu wissen, aus welchem Gefühl sie herrührten. Ich ging in ein nahegelegenes Kaffeehaus, und, mich dort an einen Tisch setzend, stützte ich den Kopf in die Hände, um zu forschen, was in meinem Herzen vorgehe. Ich wagte nicht, mir zu wiederholen, was ich soeben vernommen hatte. Ich wollte es als Täuschung betrachten, und war mehrere Mal bereit, in die Wohnung zurückzukehren, ohne anzudeuten, daß ich davon wisse. Es schien mir so unmöglich, von Manon verraten zu werden, daß ich ihr durch einen solchen Argwohn Unrecht zu tun fürchtete.
Ich betete sie an, das war gewiß; doch hatte ich ihr nicht mehr Beweise meiner Liebe gegeben, als sie mir erwiesen: wie sollte ich sie also anklagen können, sie sei weniger aufrichtig und beständig, als ich? Warum hätte sie mich hintergehen sollen? Noch vor drei Stunden hatte sie mich mit den zärtlichsten Liebkosungen überschüttet und meine eigenen mit Entzücken empfunden; ich kannte mein Herz nicht besser als das ihre. »Nein,« warf ich ein, »es ist nicht möglich, Manon kann mich nicht verraten; sie weiß, daß ich nur für sie lebe, daß ich sie anbete! Das kann kein Grund sein, mich zu hassen.«
Dennoch verursachte mir der Besuch und die heimliche Entfernung des Herrn von B ... Unruhe. Ich erinnerte mich auch der kleinen Einkäufe Manons, welche unsere gegenwärtigen Mittel zu übersteigen schienen. Das schien auf die Freigebigkeit des neuen Verehrers zu weisen. Und jenes Vertrauen, das sie in mir unbekannte Hilfsquellen setzte! Ich quälte mich, so vielen Rätseln die von meinem Herzen gewünschte Lösung zu geben. Andererseits hatte ich sie nicht aus den Augen verloren, seit wir in Paris waren. Beschäftigung, Spaziergänge, Vergnügungen, wir teilten alles miteinander! Mein Gott! ein Augenblick der Trennung hätte uns so sehr betrübt! Unablässig mußten wir uns sagen, wie wir uns liebten, wir wären sonst umgekommen; ich konnte mir also gar nicht vorstellen, daß Manon nur einen Augenblick an einen anderen gedacht haben sollte, als an mich.
Endlich glaubte ich die Lösung gefunden zu haben. »Herr von B..., sagte ich mir, ist ein bedeutender Geschäftsmann, der viele Beziehungen in dieser Eigenschaft hat. Manons Verwandte werden sich seiner bedient haben, um ihr etwas Geld zukommen zu lassen. Sie hat vielleicht schon früher welches von ihm erhalten, und er brachte ihr auch heute Geld. Sie hat ohne Zweifel scherzweise es mir verborgen, um mich angenehm zu überraschen. Vielleicht hätte sie mit mir davon gesprochen, wäre ich zur gewöhnlichen Zeit zurückgekehrt, anstatt hier betrübt zu sitzen. Sie wird es mir nicht verheimlichen, wenigstens nicht, wenn ich davon zu sprechen beginne.«
Ich war so von dieser Meinung eingenommen, daß sich meine Traurigkeit beinahe verlor. Ich kehrte sofort nach Hause zurück und umarmte Manon mit der gewohnten Zärtlichkeit. Sie empfing mich sehr liebenswürdig. Zuerst wollte ich ihr meine Vermutungen, die ich mehr als jemals für richtig hielt, mitteilen, doch bezwang ich mich, in der Hoffnung, daß sie mir vielleicht von selbst erzählen würde, was sich zugetragen.
Man trug unser Abendessen auf. Ich setzte mich mit sehr heiterer Miene zu Tisch. Aber bei dem Schein der Kerzen, welche zwischen uns standen, glaubte ich Betrübnis in den Augen meiner Geliebten zu bemerken. Dieser Gedanke stimmte auch mich traurig. Ich bemerkte, daß sie mich anders anblickte als sonst, doch konnte ich nicht unterscheiden, ob es Liebe oder Mitleid war, obwohl es mir ein wehmütiges Gefühl zu sein schien. Ich betrachtete sie mit derselben Aufmerksamkeit, und vielleicht hatte sie nicht weniger Mühe, den Zustand meines Herzens nach meinen Blicken zu beurteilen. Wir dachten weder ans Sprechen noch ans Essen. Endlich sah ich Tränen aus ihren schönen Augen fließen; heuchlerische Tränen!
»Mein Himmel!« rief ich, »du weinst, liebe Manon, du bist zu Tränen gerührt, und du sagst mir kein Wort von deinem Kummer?«
Sie antwortete nur mit einigen Seufzern, die meine Unruhe noch vermehrten. Ich stand zitternd auf, ich beschwor sie bei meiner Liebe, mir die Ursache ihrer Tränen mitzuteilen; ich vergoß selbst welche, indem ich die ihrigen trocknete, ich war mehr tot als lebendig. Ein Barbar wäre von dem Ausdruck meines Schmerzes, meiner Angst gerührt worden!
Währenddem ich so mit ihr beschäftigt war, hörte ich mehrere Leute die Treppe heraufkommen. Man klopfte leise an die Tür. Manon gab mir einen Kuß, entschlüpfte meinen Armen und eilte schnell in das Kabinett, das sie hinter sich verschloß. Ich bildete mir ein, sie wollte sich vor den Fremden verbergen, weil ihre Toilette nicht ganz in Ordnung war. Ich ging ihnen selbst öffnen, hatte aber kaum geöffnet, als ich mich von drei Männern ergriffen sah, die ich als Lakaien meines Vaters erkannte. Sie wendeten keine Gewalt an, aber während zwei meine Arme ergriffen, durchsuchte der dritte meine Taschen, aus denen er ein kleines Messer zog. Sie baten mich um Vergebung für ihre Dreistigkeit; sie sagten mir, sie handelten auf Befehl meines Vaters; mein ältester Bruder erwarte mich unten in einem Wagen. Ich war so verwirrt, daß ich mich ohne Widerstand fortführen ließ.
Mein Bruder erwartete mich in der Tat. Man ließ mich neben ihn in den Wagen setzen und der Kutscher, der seine Befehle hatte, führte uns in rasender Eile nach Saint-Denis. Mein Bruder umarmte mich zärtlich, aber er sprach nicht mit mir, so daß ich Muße fand, über mein Unglück nachzudenken. Zuerst erschien mir alles in Dunkel gehüllt, daß mir kein Lichtstrahl zu einer Vermutung blieb. Ich war grausam verraten, aber von wem? Tiberge war der erste, der mir einfiel. »Verräter,« sagte ich vor mich hin, »es ist um dein Leben geschehen, wenn mein Verdacht sich bestätigt.« Jedoch ich überlegte, daß er meinen Aufenthaltsort nicht kannte, und daß man es folglich von ihm nicht erfahren haben konnte. Manon anzuklagen, dessen wagte sich mein Herz nicht schuldig zu machen.
Das Ergebnis meines Nachdenkens war die Überzeugung, daß ich in den Straßen von Paris von Bekannten gesehen worden sei, welche meinen Vater benachrichtigt hatten. Dieser Gedanke beruhigte mich. Ich rechnete darauf, mit einigen Vorwürfen oder bösen Auftritten davonzukommen, die ich von der väterlichen Autorität würde erdulden müssen. Ich beschloß, sie geduldig hinzunehmen und alles zu versprechen, was man von mir verlangte, um eher Gelegenheit zu finden, nach Paris zurückzukehren und meiner lieben Manon Leben und Freude zurückzugeben.
Wir kamen nach kurzer Zeit in Saint-Denis an. Mein Bruder, überrascht von meinem Schweigen, bildete sich ein, es sei eine Folge meiner Angst. Er versuchte, mich zu trösten, indem er versicherte, ich hätte nichts von der Strenge meines Vaters zu fürchten, wenn ich geneigt sei, zu meiner Pflicht zurückzukehren und die Liebe, die er für mich hegte, zu verdienen. Er ließ mich die Nacht in Saint-Denis verbringen, doch mit der Vorsicht, die drei Lakaien in meinem Zimmer schlafen zu lassen.
Viel Herzeleid verursachte mir der Umstand, daß wir in demselben Gasthaus abstiegen, das ich mit Manon auf der Durchreise von Amiens nach Paris bewohnte. Der Wirt und die Dienstboten erkannten mich wieder und errieten sogleich die Wahrheit. Ich hörte den Wirt sagen:
»Ah, das ist der hübsche Herr, welcher vor sechs Wochen hier war mit einem schönen Fräulein, die er sehr liebte. Wie reizend sie war! Die armen Kinder! Wie zärtlich sie zueinander waren! Es ist schade, daß man sie getrennt hat!«
Ich tat, als hörte ich nichts, und ließ mich so wenig als möglich sehen.
Mein Bruder hatte in Saint-Denis einen zweispännigen Wagen bestellt, in dem wir früh am Morgen abreisten; wir kamen am nächsten Abend zu Hause an. Er sprach, meinen Vater zuerst, um ihn günstig für mich zu stimmen indem er ihm mitteilte, mit welcher Sanftmut ich mich hatte fortführen lassen, so daß ich weniger hart empfangen wurde, als ich erwartet hatte. Er begnügte sich, mir Vorwürfe zu machen über meinen Fehler, und daß ich mich ohne seine Erlaubnis entfernt hatte. Was meine Geliebte beträfe, sagte er mir, so hätte ich wohl verdient, was mir geschehen wäre, indem ich mich an eine Fremde hing; er hätte eine bessere Meinung von meiner Klugheit gehabt, doch hoffe er, daß mich dieses kleine Abenteuer klüger gemacht habe. Ich dankte meinem Vater, daß er mir verzieh, und versprach, meine Lebensweise zu ändern. Ich triumphierte im Grunde meines Herzens, denn wie die Dinge sich ausglichen, zweifelte ich nicht, daß es mir gelingen würde, noch vor der Nacht aus dem Hause zu entweichen.
Man setzte sich zum Abendbrot zu Tisch; man neckte mich mit meiner Eroberung von Amiens und meiner Flucht mit meiner treuen Geliebten. Einige Worte, die mein Vater bei dieser Gelegenheit hinwarf, erregten meine Aufmerksamkeit. Er sprach von Treulosigkeit und den eigennützigen Diensten des Herrn von B... Ich blieb sprachlos, als ich diesen Namen nennen hörte, und ich bat ihn demütig, sich deutlicher zu erklären. Er wendete sich zu meinem Bruder und fragte ihn, ob er mir nicht die ganze Geschichte erzählt habe. Mein Bruder antwortete ihm, daß er mich unterwegs so ruhig gefunden, daß er es nicht für nötig gehalten, dieses Mittel anzuwenden, um mich von meiner Torheit zu heilen. Ich bemerkte, daß mein Vater schwankte, ob er mir alles erklären sollte. Aber ich bat ihn so inständig, daß er mich befriedigte, oder vielmehr mich grausam marterte durch die schrecklichste aller Erzählungen. Er fragte mich zuerst, ob ich immer noch so albern sei, zu glauben, daß das Mädchen mich geliebt habe. Ich entgegnete ihm kühn, daß ich davon überzeugt sei, und daß mich nichts von diesem Glauben abbringen könne.
»Hahaha!« rief er, laut lachend, »das ist ausgezeichnet! Du bist ein schöner Gimpel und gefällst mir prächtig so! Wie schade, mein braver Chevalier, daß du in den Malteserorden trittst, du hast alle Anlagen zu einem bequemen und geduldigen Ehemann!« Er fügte dann noch zahlreiche Spottreden hinzu über meine Einfalt und Leichtgläubigkeit.
Als ich schweigsam blieb, fuhr er fort, mir zu sagen, daß nach der Berechnung, die er von der Zeit meiner Abreise von Amiens machen könne, Manon mich ungefähr zwölf Tage geliebt habe. »Denn ich weiß, daß du von Amiens am 28. des vorigen Monats abreistest,« fügte er hinzu, »und jetzt haben wir bereits den 29. dieses Monats; vor elf Tagen hat mir Herr von B... geschrieben; ich vermute, daß er acht Tage brauchte, um seine vollständige Bekanntschaft mit deiner Geliebten anzuknüpfen; wer aber elf und acht von einunddreißig Tagen abzieht, die vom 28. des einen bis zum 29. des anderen Monats verstrichen sind, dem bleiben zwölf ungefähr.«
Hierauf begann das Gelächter von neuem.
Ich hörte alles mit einer Qual an, die ich fürchtete nicht bis ans Ende dieser traurigen Komödie ertragen zu können. »Erfahre also,« fuhr mein Vater fort, »da du es nicht weißt, daß Herr von B... das Herz deiner Liebsten gewann; denn er spottet nur, wenn er mich zu überzeugen sucht, daß er dich bloß, um mir einen Gefallen zu erweisen, von ihr entfernen wollte. Er scheint mir gerade der Rechte, von dem man solche noble Gesinnungen erwarten kann; außerdem kennt er mich gar nicht. Er hat von ihr erfahren, daß du mein Sohn bist; um sich von dir zu befreien, schrieb er mir deinen Aufenthaltsort und wie leichtsinnig und unordentlich du lebtest. Dann machte er mir verständlich, daß man Gewalt brauchen müsse, um sich deiner Person zu versichern. Er hat sich erboten, mir die Mittel zu verschaffen, um dich beim Kragen zu fassen, und durch seine Angabe und die deiner Herzallerliebsten selbst hat dein Bruder den Augenblick gefunden, wo er dich erwischen konnte. Beglückwünsche dich jetzt zu der Dauer deines Triumphes! Du verstehst, schnell zu siegen, Chevalier; aber du verstehst es nicht, deine Eroberungen zu bewahren.«
Ich hatte nicht die Kraft, noch länger eine Rede, von der jedes Wort mein Herz wie eine Dolchspitze traf, zu ertragen. Ich stand vom Tische auf, aber ich hatte nur einige Schritte gemacht, um den Salon zu verlassen, als ich ohnmächtig zu Boden sank. Man brachte mich wieder zum Bewußtsein. Ich öffnete die Augen, um einen Strom von Tränen zu vergießen, und den Mund, um die traurigsten und rührendsten Klagen auszustoßen. Mein Vater, der mich immer zärtlich geliebt hatte, bot seine ganze Liebe auf, um mich zu trösten. Ich hörte ihn, ohne ihn zu verstehen. Ich warf mich ihm zu Füßen, und beschwor ihn mit gefalteten Händen, mich nach Paris zurückkehren zu lassen, um Herrn von B... zu töten. »Nein,« rief ich aus, »er hat Manons Herz nicht gewonnen. Er hat sie verführt durch einen Zauber oder durch ein Gift. Manon liebt mich; weiß ich es denn nicht? Er wird sie mit dem Dolche in der Hand bedroht und sie so gezwungen haben, mich zu verlassen! Was für Mittel wird er nicht angewendet haben, mich einer so reizenden Geliebten zu berauben? O ihr Götter, wie wäre es möglich, daß Manon mich verraten, daß sie aufgehört hätte, mich zu lieben?«
Da ich immer davon sprach, daß ich schleunigst nach Paris zurückkehren wolle, und deshalb öfter aufstand, um fortzugehen, so sah mein Vater ein, daß ich in meiner Aufregung zu allem fähig war. Er führte mich in ein hochgelegenes Zimmer, wo er zwei Diener bei mir ließ, die mich nicht aus den Augen verloren. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Ich hätte gern mein Leben tausendmal hingegeben, um nur eine Viertelstunde in Paris sein zu können. Da ich mich aber so offen erklärt hatte, so begriff ich, daß man mir nicht so leicht erlauben würde, das Zimmer zu verlassen. Ich maß mit den Blicken die Höhe der Fenster. ...
Da es unmöglich war, auf diesem Wege zu entfliehen, so wendete ich mich an die beiden Diener. Ich verpflichtete mich durch tausend Eide, sie eines Tages reich zu machen, wenn sie einwilligten, mich fortzulassen. Ich bat, ich drohte, aber auch dieser Versuch war erfolglos. Alle Hoffnung war dahin. Ich beschloß zu sterben und warf mich auf ein Bett mit der Absicht, es lebend nicht zu verlassen. In dieser Lage brachte ich die Nacht und den folgenden Tag zu und verweigerte die Nahrung, die man mir am folgenden Morgen brachte.
Mein Vater besuchte mich am Nachmittag. Er war so gütig, meine Leiden durch sanfte Trostsprüche mildern zu wollen. Strenge befahl er mir, etwas zu essen, so daß ich aus Ehrfurcht seinem Befehle gehorchte. Einige Tage vergingen, während welcher ich nur in seiner Gegenwart, um ihm zu gehorchen, etwas zu mir nahm. Er fuhr fort, mir Gründe vorzuhalten, die mich zur Vernunft bringen und mit Verachtung für die treulose Manon erfüllen sollten. Gewiß ist, daß ich sie nicht mehr achtete; wie hätte ich das treuloseste und flatterhafteste aller Geschöpfe achten sollen: allein ihr Bild, ihre lieblichen Züge, die ich tief im Herzen trug, waren nicht mehr daraus zu entfernen.
»Ich kann sterben,« sagte ich, »und ich sollte es wohl auch, nach soviel Leid und Schande; aber ich könnte tausendmal eher sterben, als die undankbare Manon vergessen.«
Mein Vater war überrascht, mich noch immer so erregt zu sehen. Er wußte, daß ich Ehrgefühl besaß, und konnte es nicht für zweifelhaft halten, daß ich Manon nach solchem Verrat verachten müsse; er hielt daher meine immer noch andauernde Liebe weniger für eine besondere Leidenschaft für Manon, als vielmehr für eine allgemeine Neigung zu den Frauen überhaupt. Er machte sich mit dieser Idee so vertraut, daß er mir, von seinem zärtlichen Wohlwollen bewogen, eines Tages folgendes eröffnete.
»Chevalier,« sagte er, »ich hatte bis jetzt die Absicht, dich in den Malteserorden eintreten zu lassen, aber ich sehe, daß deine Neigungen nicht in dieser Richtung liegen. Du liebst die schönen Frauen; ich bin der Ansicht, daß du dir eine suchst, die dir gefällt. Erkläre mir aber, wie du darüber denkst.«
Ich antwortete ihm, daß ich mir nichts aus den Frauen machte, daß ich sie nach dem Unglück, welches mich soeben betroffen, alle verabscheute.
»Ich werde dir eine suchen,« entgegnete mein Vater lächelnd, »die Manon ähnlich ist, aber treuer ist als sie.«
»Ah!« rief ich, »wenn Sie noch etwas Güte für mich besitzen, so geben Sie mir Manon zurück! Seien Sie überzeugt, lieber Vater, daß sie mich nicht verraten hat; sie ist einer so schwarzen und grausamen Tat nicht fähig! Der erbärmliche B... täuscht uns, Sie, mich und Manon! Wenn Sie wüßten, wie zärtlich und aufrichtig sie ist, wenn Sie sie kennten, Sie selbst würden sie lieben!«
»Du bist ein Kind,« entgegnete mein Vater, »wie kannst du bis zu diesem Grade verblendet sein, nach dem, was ich dir von ihr erzählte? Sie selbst hat dich deinem Bruder ausgeliefert. Du solltest sogar ihren Namen vergessen, und wenn du klug bist, dir meine Nachsicht zunutze machen.«
Ich erkannte nur zu klar, daß er recht hatte. Es war eine unwillkürliche Regung, daß ich die Partei meiner Ungetreuen ergriff. »Ach,« begann ich nach einer Pause wieder, »es ist nur zu wahr, daß ich das unglücklichste Opfer der feigsten Treulosigkeit bin. »Ja,« fuhr ich mit Tränen fort, »ich sehe ein, daß ich nur ein Kind bin. Meine Leichtgläubigkeit machte es ihnen nicht schwer, mich zu täuschen. Aber ich weiß wohl, was ich zu tun habe, um mich zu rächen.«
Mein Vater wollte meine Absicht erfahren.
»Ich werde nach Paris gehen,« sagte ich ihm, »ich werde das Haus des Herrn von B... in Brand stecken ... und ihn mit der treulosen Manon lebendig verbrennen.«
Dieser Zorn machte meinen Vater lachen und diente nur dazu, daß ich in meinem Gefängnis noch strenger bewacht wurde.
Ich brachte sechs Monate dort zu; während der ersten Zeit änderte sich meine Gesinnung wenig. Meine Gefühle zeigten einen ständigen Wechsel von Haß und Liebe, von Hoffnung und Verzweiflung, wie gerade Manons Bild meinem Geiste erschien. Bald sah ich in ihr nur die lieblichste aller Frauen, und verschmachtete vor Sehnsucht, sie wieder zu besitzen, bald betrachtete ich sie nur noch als eine treulose und verabscheuungswürdige Mätresse und gelobte sie nur aufzusuchen, um sie zu züchtigen.
Man gab mir Bücher, welche dazu dienten, meiner Seele etwas Ruhe zurückzugeben. Ich las alle meine Autoren wieder, ich lernte neue kennen und fand Geschmack am Studium. Sie werden sehen, welchen Nutzen es mir später brachte.
Meine Erfahrungen in der Liebe warfen auf viele Stellen des Horaz und Vergil, die mir früher dunkel waren, ein ganz neues Licht. Ich schrieb einen Liebeskommentar zum vierten Buche der Äneide; ich werde ihn später vielleicht einmal herausgeben und glaube, daß mancher Leser ihn zu würdigen wissen wird. »Ach,« sagte ich zu mir bei der Arbeit, »der treuen Dido wäre ein Herz, wie das meinige, zu wünschen gewesen.«
Eines Tages besuchte mich Tiberge in meinem Gefängnis. Ich war überrascht von der Zärtlichkeit, mit der er mich umarmte. Noch nie hatte ich Beweise seiner Freundschaft erhalten, welche mich veranlaßt hätten, sie anders zu betrachten, als eine einfache Schulfreundschaft, die von jungen Leuten gleichen Alters so gern geschlossen wird. Ich fand ihn seit den fünf oder sechs Monaten, in welchen ich ihn nicht gesehen hatte, so vorteilhaft verändert, daß seine Erscheinung und seine Rede mir Achtung einflößten. Er sprach mehr als weiser Ratgeber, wie als Schulfreund mit mir. Er beklagte die Verirrung, in die ich geraten, und beglückwünschte mich zur vorgeschrittenen Heilung. Er beschwor mich, diesen Jugendirrtum zu benutzen, um mir die Augen zu öffnen über die Eitelkeit der Vergnügungen.
Ich betrachtete ihn erstaunt. Er bemerkte es.
»Mein lieber Chevalier,« sagte er zu mir, »ich sage dir nichts, was nicht durchaus wahr ist und wovon ich mich nicht durch reifliche Prüfung überzeugt habe. Ich hatte ebenso, wie du, Hang zur Sinnenlust; aber der Himmel hatte mir zu gleicher Zeit Neigung zur Tugend gegeben. Da habe ich mich meiner Vernunft bedient, um die Früchte der einen mit denen der andern zu vergleichen und bald habe ich ihren Unterschied herausgefunden. Der Himmel lieh meinen Bemühungen seinen Beistand, und mich ergriff eine Verachtung alles Weltlichen, die ihresgleichen sucht. Wirst du wohl erraten, was mich in der Welt zurückhält,« fügte er hinzu, »was mich verhindert, mich ganz der Einsamkeit zu ergeben? Es ist ganz allein die zärtliche Freundschaft zu dir, dessen Herz und Gemüt zu allem Guten fähig sind.
Das Gift der Luft hat dich vom rechten Wege abgeleitet. Welche Einbuße für die Tugend! Deine Flucht aus Amiens hat mir soviel Schmerz bereitet, daß ich seitdem keinen frohen Augenblick mehr hatte. Urteile selbst nach den Schritten, die ich infolgedessen unternahm.«
Er erzählte mir nun, sobald er bemerkt habe, daß ich ihn getäuscht, und daß ich mit meiner Geliebten fort war, sei er zu Pferde gestiegen, um mir nachzueilen, aber es wäre ihm unmöglich gewesen, mich einzuholen bei einem Vorsprung von vier oder fünf Stunden. Nichtsdestoweniger sei er in Saint-Denis nur eine halbe Stunde nach meiner Abreise angekommen. Da er überzeugt war, daß ich mich in Paris aufhalten würde, habe er sechs Wochen dort zugebracht, um vergebens nach mir zu suchen. Er habe alle Orte ausgesucht, wo er glaubte, mich finden zu können, bis er endlich eines Abends im Theater meine Geliebte wiedererkannte. Sie sei so reich gekleidet gewesen, daß er sogleich an einen neuen Verehrer gedacht habe. Er sei dann ihrem Wagen bis an ihr Haus gefolgt, wo er von einem Diener erfuhr, daß sie unterhalten würde von der Freigebigkeit des Herrn von B.
»Ich blieb dabei aber nicht stehen,« fuhr er fort, »am folgenden Tage begab ich mich zu ihr, um sie selbst zu fragen, was aus dir geworden sei. Sie wendete sich kurz ab, als sie mich von dir sprechen hörte; ich war gezwungen, in die Provinz zurückzukehren, ohne irgendwelche Aufklärung. Dort erfuhr ich dein Abenteuer und welche Aufregung es dir verursachte. Aber ich wollte dich nicht sehen, bevor ich nicht sicher war, dich ruhiger zu finden.«
»Du hast also Manon gesehen?« entgegnete ich ihm seufzend. »Ach! Du bist glücklicher als ich, der dazu verdammt ist, sie nie wieder zu sehen!«
Tiberge warf mir diesen Seufzer vor, der noch immer eine Schwäche für sie verrate. Er schmeichelte mir so geschickt über die Güte meines Charakters und über meine Neigungen, daß er schon bei seinem ersten Besuch in mir das Verlangen erweckte, wie er auf alle weltlichen Vergnügungen zu verzichten, um in den geistlichen Stand einzutreten.
Der Gedanke tat mir so wohl, daß ich mich, sobald ich allein war, mit nichts anderem beschäftigte. Ich erinnerte mich der Äußerung des Bischofs von Amiens, der mir schon das gleiche riet, und der günstigen Aussichten, die er für mich voraussah. Auch die Frömmigkeit spielte bei meinen Erwägungen eine Rolle.
»Ich werde ein ernstes und christliches Leben führen,« sagte ich mir, »und mich ganz dem Studium und der Religion widmen, die Gedanken an gefährliche Liebesfreuden nicht aufkommen lassen werden. Ich werde verachten, was die Menge bewundert, und da ich wohl fühle, daß mein Herz nicht begehrt, was es gering schätzt, so werde ich keinerlei Anfechtungen haben.«
Ich malte mir schon im voraus den Entwurf eines friedlichen und einsamen Lebens aus: Ein abgelegenes Häuschen mit kleinem Wald dabei und einem munteren Bache, die das Hausgärtchen begrenzten, eine gewählte Büchersammlung, einige wenige tugendhafte und verständige Freunde, sauber gedeckte, aber einfache Mahlzeiten kamen dabei in erster Reihe in Betracht. Dazu kam dann noch ein Briefwechsel mit einem in Paris lebenden Freunde, der mich über alle öffentlichen Begebenheiten unterrichten würde, weniger, um meiner Neugierde zu frönen, als vielmehr um mich über das nichtige Treiben der Menschen zu belustigen.
»Würde ich nicht glücklich sein,« meinte ich, »würden damit nicht alle meine Wünsche erfüllt sein?« Diese Pläne berücksichtigten nun freilich alle meine Neigungen. Am Schlusse aller dieser trefflichen Entwürfe fühlte ich aber doch, daß mein Herz nach etwas mehr verlange, und daß ich, sollten mir auch in der wundervollsten Einsamkeit keine Wünsche mehr kommen, mit Manon vereint sein müsse.
Tiberge fuhr fort, mich häufig zu besuchen, um mich in dem Enschluß, den er in mir erweckt, zu festigen; so teilte ich diesen gelegentlich meinem Vater mit Er erklärte mir, daß er seinen Kindern überlasse, frei ihren Beruf zu wählen und daß, was immer für einen ich mir erwähle, er sich nur Vorbehalte, mir mit seinem Rat beizustehen. Er gab mir verständige Lehren, die mich keineswegs von meinem Entschlusse abbringen sollten, sondern die vielmehr bewirken sollten, ihn völlig ausreifen zu lassen.
Das neue Schuljahr kam heran. Ich verabredete mit Tiberge, gemeinschaftlich das Seminar von Saint-Sulpire aufzusuchen, er, um seine theologischen Studien zu beenden, ich, um die meinigen zu beginnen. Seine dem Bischof der Diözese bekannten Verdienste brachten ihm noch vor unserer Abreise eine ansehnliche Pfründe ein. Da mein Vater mich gänzlich von meiner Leidenschaft geheilt glaubte, trug er keine Bedenken, mich abreisen zu lassen. Wir kamen in Paris an; das geistliche Gewand verdrängte das Malteserkreuz, und der Name: Abbé des Grieux den des Chevalier.
Ich gab mich dem Studium mit solchem Eifer hin, daß ich in wenigen Monaten außerordentliche Fortschritte machte. Nicht nur den Tag, sondern auch einen Teil der Nacht verwendete ich dazu. Mein Ruf verbreitete sich derartig, daß man mir bereits Glück wünschte zu den Würden, die mir nicht entgehen könnten, und ohne, daß ich es wollte, wurde mein Name in die Liste für die Pfründen eingetragen.
Auch Frömmigkeit wurde eifrig gepflegt; alle Andachtsübungen mit Eifer gehalten. Tiberge war entzückt über das, was er für sein Werk hielt, und vergoß oftmals Tränen über meine vermeintliche Bekehrung. Über die Veränderlichkeit menschlicher Gesinnungen bin ich nun zwar niemals erstaunt gewesen; eine Leidenschaft ruft sie hervor, eine andere zerstört sie; wenn ich aber an die Reinheit derer denke, die mich nach Saint-Sulpice führten, und an die wahrhafte innerliche Befriedigung, die mich der Himmel damals empfinden ließ, so faßt mich ein Schauder, mit welcher Leichtigkeit ich mit diesen Grundsätzen brechen konnte. Wenn es richtig ist, daß die himmlischen Kräfte jederzeit unseren Leidenschaften die Wage halten sollen, so erkläre man mir, durch welche verhängnisvollen Einflüsse man sich plötzlich weit von seiner Pflicht fortgerissen sieht, ohne zu dem geringsten Widerstande fähig zu sein und ohne die leiseste Reue zu zeigen.
Ich hielt mich völlig von den Schwächen der Liebe befreit. Es schien mir, als würde ich das Lesen einer Seite des heiligen Augustin oder eine Viertelstunde christlicher Betrachtung allen Sinnenfreuden vorziehen, ohne diejenigen auszuschließen, die Manon mir geboten. Und doch schleuderte mich ein einziger, unglückseliger Augenblick in den Abgrund zurück! Und mein Fall war um so unheilvoller, als ich, plötzlich in diese Tiefe zurückversunken, von den neuen Ausschweifungen noch tiefer in den Abgrund gezogen wurde.
Ich hatte beinahe ein Jahr in Paris zugebracht, ohne mich nach Manons Angelegenheiten zu erkundigen. Diese Enthaltsamkeit kostete mich anfangs viel Überwindung; aber die Ratschläge Tiberges, die mir fest im Gedächtnis hafteten, und meine eigene Überlegung halfen mir, den Sieg über mich zu gewinnen. Die letzten Monate waren so ruhig verflossen, daß ich mich auf dem Punkte glaubte, auf ewig dieses reizende, treulose Geschöpf vergessen zu haben. Die Zeit nahte, in der ich eine öffentliche Rede in der theologischen Anstalt halten sollte. Ich bat mehrere angesehene Persönlichkeiten, mich dabei mit ihrer Gegenwart zu beehren. Mein Name wurde dadurch in allen Vierteln von Paris genannt und kam auch zu den Ohren meiner Ungetreuen. Sie erkannte ihn nicht mit Sicherheit unter dem Titel »Abbé«; aber ein Rest von Neugierde oder vielleicht etwas Reue, mich verraten zu haben, erweckten ihr Interesse für einen Namen, der dem meinigen so ähnlich war. Sie kam in die Sorbonne mit einigen anderen Damen, war also bei meiner Rede zugegen und erkannte mich sofort wieder.
Ich hatte keine Ahnung von ihrer Anwesenheit. Man weiß, daß es an diesen Orten besondere Plätze für die Damen gibt, wo sie, verborgen durch einen Vorhang, den Reden zuhören. Ich kehrte nach Saint-Sulpice, mit Ruhm- und Glückwünschen beladen, zurück. Es war sechs Uhr abends. Einen Augenblick nach meiner Rückkehr benachrichtigte man mich, daß eine Dame mich zu sprechen wünsche. Ich ging sogleich ins Sprechzimmer. Gott! welche überraschende Erscheinung! Ich fand Manon dort. Sie war es ... aber liebenswürdiger, strahlender, als ich sie je gesehen! Sie war im achtzehnten Jahr. Ihre Reize übertrafen alles, was man beschreiben kann; sie war so fein, so sanft, so einnehmend; der Liebreiz selbst!
Ich blieb starr bei ihrem Anblick und da ich nicht ahnte, was die Absicht ihres Besuches war, so wartete ich mit niedergeschlagenen Augen und mit Zittern, daß sie sich erklärte. Ihre Verlegenheit kam einige Zeit der meinen gleich, aber als ich in meinem Schweigen beharrte, hielt sie ihre Hand vor die Augen, um einige Tränen zu verbergen. Sie sagte mir in schüchternem Tone, daß ihre Treulosigkeit meinen Haß verdiene; wenn ich sie aber jemals geliebt hätte, so wäre es auch herzlos von mir, zwei Jahre verstreichen zu lassen, ohne sie von meinen Schicksalen zu unterrichten. Es sei auch nicht recht von mir, nicht mit ihr zu sprechen, wo sie in solcher Traurigkeit vor mir stehe. Ich kann den Aufruhr meines Innern, der mich bei ihrem Anblicke erschütterte, nicht schildern.
Sie setzte sich. Ich blieb stehen, halb abgewandt, da ich es nicht wagte, sie anzublicken. Mehrere Male begann ich eine Antwort, ohne sie vollenden zu können. Endlich bezwang ich mich und rief schmerzlich aus'
»Treulose Manon! Oh! treulos! treulos!«
Sie wiederholte mir unter heißen Tränen, daß sie ihre Treulosigkeit nicht rechtfertigen wolle.
»Was beabsichtigst du denn?« rief ich.
»Ich beabsichtige zu sterben,« antwortete sie, »wenn du mir nicht deine Liebe wieder schenkst, ohne welche ich nicht leben kann!«
»Verlange doch mein Leben, Ungetreue!« entgegnete ich, ebenfalls Tränen vergießend, die ich vergebens zurückzuhalten versuchte, »verlange mein Leben, es ist das einzige, was dir noch geopfert werden kann, denn meine Liebe gehört dir noch immer!«
Kaum hatte ich diese letzten Worte gesprochen, als sie sich mit Entzücken erhob, um mich zu umarmen. Sie überhäufte mich mit Liebkosungen, gab mir alle Liebesnamen, die nur die heißeste Neigung erdenken kann. ...
Ich konnte ihr nur mit zärtlichen Blicken erwidern. Welch eine Kluft lag doch zwischen dem ruhevollen Zustande, in dem ich mich seither befunden, und dem wüsten Seelentaumel, der mich von neuem befallen hatte, ich schrak davor zurück. Ich bebte, wie uns dies wohl bei Nacht verirrt in öder Gegend ergehen mag: man wird im Innern von einem Entsetzen ergriffen, das erst allmählich schwindet, nachdem wir die Gegenstände rings umher lange Zeit betrachtet haben.
Wir setzten uns nebeneinander. Ich nahm ihre Hände in die meinigen.
»Ach! Manon,« sagte ich, sie traurig anblickend, »ich habe nicht erwartet, meine Liebe durch so schwarzen Verrat belohnt zu sehen. Es war dir leicht, ein Herz zu täuschen, dessen alleinige Herrin du warst, und das sein ganzes Glück allein darein setzte, dir zu gefallen, dir zu gehorchen. Sage mir jetzt, ob du ein ebenso zärtliches, ein ebenso ergebenes gefunden hast? Nein, nein, die Natur hat kein zweites zugleich geschaffen. Sage mir wenigstens, ob du es manchmal vermißtest. Was soll ich hoffen von deiner heutigen Rückkehr zu mir? Ich sehe wohl, daß du reizender bist denn je; aber bei allen Leiden, die ich für dich erduldete, schöne Manon, sage mir, wirst du treuer sein?«
Sie sprach darauf so rührend von ihrer Reue, versprach unter heiligen Eiden, mir treu zu sein, bis sie mein Herz tief bewegt hatte.
»Teure Manon,« versetzte ich, theologische und verliebte Redensarten in profaner Weise vermengend, »du bist zu anbetungswürdig für ein Geschöpf dieser Welt. Ich fühle mein Herz von siegreicher Freude emporgehoben. Ich werde für dich mein Glück, meinen Ruf einbüßen, ich sehe es voraus; ich lese mein Geschick in deinen schönen Augen; aber für welchen Verlust würde mich deine Liebe nicht trösten?! Der Glanz des Lebens reizt mich nicht, Ruhm erscheint mir eitel Dunst; meine Pläne für eine kirchliche Laufbahn waren Hirngespinste, alle Genüsse, außer den von dir erhofften, erscheinen mir verächtlich; alles konnte nicht einen Moment bestehen gegen einen einzigen Blick von dir.«
Indem ich ihr versprach, ihr alle Sünden zu vergeben, wollte ich doch wissen, auf welche Art sie sich von Herrn von B... hatte verführen lassen. Sie erzählte mir, er habe sie am Fenster gesehen und sich in sie verliebt. Dann habe er ihr geschrieben, sich als »Generalpächter« vorgestellt und ihr die glänzendsten Anträge gemacht. Sie hätte sie nur scheinbar angenommen, ohne andere Absicht, als eine ansehnliche Summe von ihm zu ziehen, die dazu dienen sollte, uns ein bequemes Leben zu verschaffen. Endlich sei sie durch die glänzenden Versprechungen so geblendet worden, daß sie nachgegeben habe. Ich sollte jedoch an ihren Schmerz zurückdenken, den sie am Tage unserer Trennung zeigte; daß sie trotz des Wohllebens, trotz des Reichtums, mit dem er sie umgab, niemals Glück bei ihm empfunden habe. Sie habe die Erinnerung an meine Liebe trotz der Fülle des Überflusses und der Vergnügungen niemals aus ihrem Herzen entfernen können.
Sie sprach auch von Tiberge und erwähnte dabei, welche Qual ihr sein Besuch verursacht habe. »Ein Dolchstoß ins Herz,« sagte sie mir, »hätte mich nicht mehr geschmerzt. Ich drehte ihm den Rücken, weil ich seinen Anblick nicht ertragen konnte.«
Manon fuhr fort, mir zu erzählen, auf welche Weise sie meinen Aufenthalt in Paris erfahren, von meinem veränderten Stand, von meiner Rede in der Sorbonne gehört habe. Meine Rede habe sie so aufgeregt, daß sie nur mit Mühe ihre Tränen und ihre Ausrufe unterdrücken konnte. Zuletzt habe sie sich erhoben und ihren Platz verlassen, um ihre Unruhe zu verbergen, und dem ungestümen Drängen ihres Herzens folgend, sei sie sogleich in das Seminar gegangen, mit dem Entschluß, dort zu sterben, wenn ich ihr nicht vergeben wollte.
Wo fände sich der Barbar, den eine so lebhafte Reue nicht rührte? Ich fühlte mich in diesem Augenblick bereit, der süßen Manon alle Bistümer der ganzen Christenheit zu opfern. Ich fragte sie, in welcher Weise sie unsere Angelegenheit zu ordnen gedächte. Sie war der Ansicht, daß wir das Seminar sofort verlassen müßten, um dann an einem sicheren Orte unsere Angelegenheit zu besprechen. Ich willigte ohne Widerrede in alles ein. Sie stieg in ihren Wagen, um mich an der nächsten Straßenecke zu erwarten. Einen Augenblick später verließ ich das Seminar, ohne von dem Pförtner bemerkt zu werden. Ich stieg zu ihr in den Wagen. Wir fuhren auf den Tandelmarkt; dort legte ich Tressen und Degen wieder an. Manon bestritt die Kosten, denn ich besaß nicht einen Sou, da ich in der Eile vergessen hatte, meine Börse zu mir zu stecken, und Manon mir nicht erlaubte, sie zu holen. Außerdem war mein Schatz sehr unbedeutend und sie durch Herrn von B...s Freigebigkeit reich genug. Wir besprachen bei dem Trödler, was wir weiter beginnen wollten.
Um mir zu beweisen, daß sie mir Herrn von B... opfern wollte, beschloß sie, ohne Schonung gegen ihn zu handeln.
»Ich will ihm seine Möbel lassen,« sagte sie mir, »sie gehören ihm; aber die Juwelen, den Schmuck und etwa sechzigtausend Franken, die ich während der zwei Jahre von ihm erhielt, nehme ich mit mir. Da ihm keine Gewalt über mich zusteht, so können wir ohne Furcht in Paris bleiben, uns ein bequemes Haus mieten und darin glücklich und zufrieden leben.«
Ich stellte ihr vor, daß, wenn auch für sie keine Gefahr vorhanden, ich jedoch in steter Furcht leben müsse, erkannt zu werden, was mich von neuem ins Unglück stürzen würde. Sie gab mir zu verstehen, daß sie Paris nur ungern verlassen würde. Ich fürchtete so sehr, ihr Kummer zu bereiten, daß es keine Gefahr gab, der ich ihr zu Gefallen nicht Trotz geboten hätte. Schließlich fanden wir einen vernünftigen Ausweg; wir mieteten in einem nahe bei Paris gelegenen Dorf ein Häuschen, von wo wir leicht zur Stadt gelangen konnten, wenn uns das Vergnügen oder das Bedürfnis dahin rief. Wir wählten das nahe gelegene Maillot. Manon kehrte sofort in ihre Wohnung zurück, und ich begab mich zu der kleinen Eingangstür des Tuileriengartens, wo ich sie erwartete. Nach einer Stunde kam sie in einer Mietskutsche zurück mit einem Dienstmädchen und einigen Koffern, welche ihre Kleider und alle ihre Kostbarkeiten enthielten.
Wir erreichten bald Chaillot. Die erste Nacht wohnten wir in einem Gasthause, um Zeit zu gewinnen, ein Haus oder wenigstens eine bequeme Wohnung für uns zu finden. Am folgenden Tage fanden wir eins, das unseren Wünschen entsprach. Mein Glück schien mir nun unerschütterlich fest begründet zu sein. Manon war die Sanftmut und Liebenswürdigkeit selbst. Sie war von so zarter Aufmerksamkeit gegen mich, daß ich mich fast zu reich entschädigt glaubte für alle erlittene Unbill. Da wir beide etwas erfahrener geworden, so besprachen wir die Solidität unseres Vermögens. Sechzigtausend Franken, unser ganzer Reichtum, war keine Summe, mit der wir unser ganzes Leben hindurch reichen konnten. Wir waren auch nicht gewillt, unsere Ausgaben gar zu sehr einzuschränken. Die Sparsamkeit war weder Manons noch meine größte Tugend. Ich entwarf folgenden Plan:
»Sechzigtausend Franken,« sagte ich ihr, »können uns zehn Jahre lang erhalten. Mit zweitausend Talern jährlich können wir hier in Chaillot leben. Wir werden ein anständiges, aber einfaches Leben führen. Unsere größte Ausgabe wird sein, einen Wagen zu halten und ins Theater zu gehen. Wir wollen uns alles einteilen. Da du die Oper liebst, werden wir sie zweimal wöchentlich besuchen. Was das Spiel betrifft, so werden wir uns das Ziel setzen, nie mehr als zwei Pistolen verlieren zu dürfen. Es ist unmöglich, daß im Zeitraum von zehn Jahren keine Veränderung in meiner Familie eintreten sollte, mein Vater ist alt, er kann sterben. Dann wäre ich bemittelt und wir sind aller Besorgnisse enthoben.«
Diese Einsicht wäre nicht der dümmste Einfall meines Lebens gewesen; wären wir nur weise genug gewesen, sie zu befolgen. Aber unsere Entschlüsse dauerten nicht länger als einen Monat. Manon war leidenschaftlich für das Vergnügen eingenommen; ich liebte sie leidenschaftlich. Jeden Augenblick fanden wir eine andere Gelegenheit zu Ausgaben, und weit entfernt, die Summen zu bedauern, die sie so oft verschwenderisch vergeudete, war ich der erste, ihr alles zu verschaffen, was ihr Freude bereiten konnte. Unsere Wohnung in Chaillot fing an, ihr eine Last zu werden.
Der Winter nahte; alle Welt kehrte nach der Stadt zurück und das Land wurde wüst und einsam. Sie schlug mir vor, wieder in Paris ein Haus zu mieten. Ich willigte nicht darein; aber um ihr etwas gefällig zu sein, sagte ich ihr, wir könnten in der Stadt eine möblierte Wohnung mieten. Wir könnten dort übernachten, wenn wir zu spät aus der Gesellschaft kämen, die wir wöchentlich mehreremal besuchten; denn die Unbequemlichkeit, so spät nach Chaillot zurückzukehren, war für sie der Vorwand, um es verlassen zu können. So hatten wir zwei Wohnungen: eine in der Stadt, die andere auf dem Lande. Diese Einrichtung brachte bald vollständige Unordnung in unsere Angelegenheiten und veranlaßte zwei Abenteuer, die unsern Ruin herbeiführten.
Manon hatte einen Bruder bei der Leibgarde des Königs. Unglücklicherweise wohnte er in Paris und in unserer Straße. Er erkannte seine Schwester, als er sie eines Morgens am Fenster erblickte, und eilte sogleich zu uns. Es war ein roher Mensch und ohne alle Grundsätze. Furchtbar fluchend trat er ins Zimmer, und da er einen Teil der Erlebnisse seiner Schwester kannte, so überhäufte er sie mit Schmähungen und Vorwürfen.
Ich war kurz vorher ausgegangen, was für ihn und für mich ein Glück war, denn ich wäre nicht geneigt gewesen, eine Beleidigung zu ertragen. Erst nachdem er fort war, kehrte ich nach Hause zurück. Die Traurigkeit Manons ließ mich erraten, daß sich etwas Außergewöhnliches zugetragen habe. Sie erzählte mir den soeben erlebten, ärgerlichen Auftritt, die brutalen Drohungen ihres Bruders. Ich war so entrüstet, daß ich auf der Stelle Rache genommen hätte, wenn sie mich nicht durch ihre Tränen zurückgehalten hätte.
Während ich mich mit ihr über dieses Abenteuer unterhielt, trat ihr Bruder unangemeldet bei uns ein. Ich hätte ihn nicht so höflich empfangen, wie ich tat, wenn ich ihn erkannt hätte; aber, nachdem wir uns begrüßt hatten, sagte er zu Manon, daß er gekommen sei, sich wegen seiner Heftigkeit zu entschuldigen; er habe geglaubt, sie führe einen liederlichen Lebenswandel, und sei darüber in Zorn geraten; doch nachdem er sich bei einem unserer Dienstboten erkundigt, wer ich sei, habe er so Vorteilhaftes über mich gehört, daß er den Wunsch hege, Freundschaft mit mir zu schließen.
Obgleich diese Erkundigung bei einem meiner Lakaien für mich etwas Verletzendes hatte, nahm ich seine Höflichkeit freundlich auf; ich glaubte Manon einen Gefallen zu erweisen. Sie schien erfreut, ihn versöhnlich gestimmt zu sehen. Wir hielten ihn zum Diner zurück.
Er machte sich in wenigen Augenblicken so heimisch, daß er, als er uns von unserer Rückkehr nach Chaillot sprechen hörte, uns durchaus Gesellschaft leisten wollte. Wir mußten ihm einen Platz in unserem Wagen geben. Damit hatte er festen Fuß bei uns gefaßt, denn er kam bald so gerne zu uns, daß er unser Haus zu dem seinen und sich zum Herrn über alles machte, was uns gehörte. Er nannte mich seinen Bruder, und unter dem Vorwand brüderlicher Freiheit führte er alle seine Freunde in unser Haus, um sie da auf unsere Kosten zu bewirten. Er bekleidete sich auf unsere Kosten und forderte uns sogar auf, seine Schulden zu bezahlen. Ich schloß die Augen über diese Tyrannei, um Manon nicht zu betrüben, und tat sogar, als wüßte ich nicht, daß er von Zeit zu Zeit ansehnliche Summen von ihr zog. Es ist allerdings wahr, daß er, als großer Spieler, ihr teilweise das geliehene Geld zurückgab, wenn das Glück ihn begünstigte; aber unser Vermögen war zu klein, um lange so unmäßige Ausgaben befriedigen zu können. Ich war im Begriff, mich mit ihm auseinanderzusetzen, um uns von seiner Zudringlichkeit zu befreien, als ein verhängnisvoller Unfall mir diese Mühe ersparte, indem er uns rettungslos in einen Abgrund stürzte.
Wir waren eines Tages in Paris geblieben, wo wir, wie es oft geschah, auch übernachteten. Die Magd, die bei solchen Gelegenheiten allein in Chaillot blieb, benachrichtigte uns am Morgen, daß in unserem Hause während der Nacht Feuer ausgebrochen sei, das man nur mit Mühe habe löschen können. Ich fragte s!e, ob unsere Möbel Schaden gelitten hätten. Sie antwortete, daß durch die vielen Leute, welche herbeigeeilt waren, eine solche Verwirrung entstanden sei, daß sie nichts Bestimmtes sagen könne. Ich zitterte für unser Geld, das in einer kleinen Schatulle verschlossen war, und ich eilte sofort nach Chaillot. Unnötige Eile! Die Schatulle war schon verschwunden.
Damals empfand ich, daß man das Geld lieben könne, ohne geizig zu sein. Dieser Verlust erfüllte mich mit solchem Schmerz, daß ich fürchtete, den Verstand zu verlieren. Ich begriff sogleich, welch neuen Unglücksfällen ich wieder ausgesetzt war. Die Dürftigkeit war der geringste. Ich kannte Manon; nur zu oft hatte ich erfahren, daß, so treu und anhänglich sie in guten Zeiten war, man in der Not nicht auf sie rechnen konnte. Sie liebte den Überfluß und die Vergnügungen zu sehr, um sie mir zu opfern. »Ich werde sie verlieren,« rief ich; »unglücklicher Chevalier! Du wirst nun doch also um alles kommen, was dir teuer.« Dieser Gedanke versetzte mich in solche Aufregung, daß ich einige Augenblicke ungewiß war, ob es nicht das beste sei, durch den Tod alle meine Leiden zu endigen.
Doch hatte ich Geistesgegenwart genug, um zu prüfen, ob mir keine Hilfsquelle geblieben sei. Der Himmel gab mir einen Gedanken ein, der meiner Verzweiflung ein Ende machte; ich glaubte, es würde mir möglich sein, Manon unseren Verlust zu verbergen, und ich würde durch eine Gunst des Schicksals in den Stand gesetzt werden, sie anständig zu erhalten, den Mangel von ihr fern zu halten.
»Ich habe berechnet,« sagte ich mir, um mich zu trösten, »daß zwanzigtausend Taler genügen würden, und zehn Jahre lang zu erhalten; nehmen wir nun an, die zehn Jahre seien abgelaufen und keine der in meiner Familie erhofften Veränderungen habe stattgefunden: was würde ich alsdann tun? Ich habe dies zwar noch nicht überlegt; aber was ich später tun würde, kann ich schon jetzt tun. Viele Menschen leben in Paris, die weder meinen Geist noch meine Anlagen besitzen und mit ihren Talenten trotzdem ihren Unterhalt zu finden wissen!
Hat nicht die Vorsehung alle Dinge weise eingerichtet?« fügte ich hinzu, indem ich über die verschiedenen Stände nachdachte. »Die meisten Reichen und Großen sind Dummköpfe; das ist dem klar, der die Welt kennt. Darin liegt aber schon eine bewundernswerte Gerechtigkeit. Besäßen sie neben ihrem Reichtum auch noch Geist, so würden sie zu glücklich und die übrigen Menschen würden zu elend sein. Vorzüge des Körpers und der Seele sind diesen als Mittel gewährt, sich aus Elend und Armut herauszuarbeiten. Der eine hat an dem Reichtum der Großen teil, indem er ihrem Vergnügen dient, und hält sie zum besten. Der andere hilft ihnen, sich zu bilden und nützliche Menschen zu werden, was wahrlich selten genug gelingt; dennoch lebt er auf Kosten derer, die er belehrt. Jedenfalls ist die Dummheit der Reichen und Großen für die Kleinen stets eine gute Erwerbsquelle.«
Diese Betrachtungen richteten mir Herz und Kopf wieder etwas auf und ich beschloß, vor allen Dingen mich mit Herrn Lescaut, Manons Bruder, zu beraten. Er kannte Paris durch und durch und ich hatte oft Gelegenheit gehabt, zu erkennen, daß sein Einkommen weder von seinem Vermögen, noch vom Solde des Königs herrühre. Es blieben mir nur noch zwanzig Pistolen, die sich glücklicherweise in meiner Tasche befunden hatten. Ich zeigte ihm meine Börse, indem ich ihm mein Unglück und meine Angst erklärte und ihn fragte, ob er ein anderes Mittel wisse, mir zu helfen, als Hungers zu sterben oder mich selbst zu töten. Er erwiderte mir, nur Dummköpfe begingen einen Selbstmord; es gäbe eine Menge Leute von Geist, welche Hungers stürben, weil sie ihr Talent nicht zu verwerten verstünden; es sei an mir, mich zu prüfen, wozu ich tauge; er sicherte mir seine Hilfe und seine Ratschläge bei allen meinen Unternehmungen zu.
»Das ist sehr unbestimmt, Herr Lescaut,« sagte ich ihm; »meine Not fordert schnellere Hilfe; denn was soll ich Manon sagen?«
»Weshalb machen Sie sich wegen Manon Sorge? Können Sie nicht durch sie Ihren Sorgen ein Ende machen, wenn Sie nur wollen? Ein Mädchen, wie Manon, müßte uns alle drei erhalten.« Er schnitt mir die Antwort ab, welche diese Unverschämtheit verdiente, indem er mir sagte, wir könnten heute noch tausend Taler unter uns verteilen, wenn ich seinen Rat befolgen wollte; er kenne einen vornehmen Herrn, der sicher tausend Taler zahlte, um die Gunst eines Mädchens, wie Manon, zu gewinnen. Ich unterbrach ihn. »Ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen,« antwortete ich ihm; »ich hatte mir gedacht, daß Ihre Freundschaftsbeweise einem anderen Gefühl entsprängen.«
Er entgegnete mir frech, daß er immer dieser Ansicht gewesen sei, und daß er sich nur mit seiner Schwester ausgesöhnt habe, um aus ihrer Lebensweise Nutzen zu ziehen.
Es war mir nicht schwer, einzusehen, daß wir bisher von ihm gefoppt worden waren. So sehr mich seine Sprache auch empörte, so bedurfte ich seiner doch und lachend antwortete ich ihm, daß ich seinen Rat als letzte Hilfe aufbewahren wolle. Ich bat ihn, mir doch irgendeinen anderen Ausweg zu zeigen.
Er schlug mir vor, da ich jung und von vorteilhaftem Äußeren sei, die Bekanntschaft irgendwelcher alten, reichen Dame zu suchen; aber auch dieser Ausweg war nicht nach meinem Geschmack, da er mich Manon untreu gemacht hätte.
Ich sprach mit ihm vom Spiel, als dem in meiner Lage leichtesten und passendsten Hilfsmittel.
Er meinte, daß das Spiel in Wahrheit eine Hilfsquelle sei, aber nicht in der Weise, wie ich glaube. Das Spiel mit den gewöhnlichen Aussichten unternehmen, hieße mich vollständig zugrunde richten; allein und ohne Beihilfe jene kleinen Kunstgriffe anzuwenden, die ein geschickter Mensch benutze, um dem Glücke nachzuhelfen, sei gefährlich; aber es gebe einen dritten Weg, den der Assoziation. Er befürchte nur, daß die Herren Verbündeten mich vielleicht wegen meiner Jugend nicht in ihren Verein würden aufnehmen wollen. Trotzdem wolle er sich für mich bei ihnen verwenden und, was ich von ihm nicht erwartet hatte, er bot mir Geld an, wenn ich in Verlegenheit sein sollte. Die einzige Gunst, um die ich ihn unter den jetzigen Verhältnissen bat, war, Manon nichts von dem Verlust, der mich betroffen, und von unserer Unterredung zu sagen.
Ich verließ ihn noch unzufriedener, als ich ihn aufgesucht hatte, und bereute sogar, ihm mein Geheimnis anvertraut zu haben. Er hatte nichts für mich getan, was ich nicht ohne dieses Geständnis hätte erlangen können; und ich fürchtete, daß er Manon bald mein Geheimnis mitteilen würde. Seine Ansichten ließen mich sogar befürchten, daß er, wie er es deutlich ausgesprochen, versuchen werde, aus ihrer Schönheit Kapital zu schlagen, oder ihr wenigstens raten werde, mich zu verlassen, um sich einen reicheren und glücklicheren Verehrer zu suchen. Solche Gedanken verfolgten und quälten mich und vermehrten meine Verzweiflung, die ich schon am Morgen empfunden. Mehrmals kam mir der Gedanke, meinem Vater zu schreiben, meine neue Bekehrung vorzugeben, um Geldmittel von ihm zu erlangen; aber es fiel mir ein, daß er mich trotz seiner Güte, wegen meines Vergehens sechs Monate in strenger Haft gehalten hatte, und ich war überzeugt, daß er mich jetzt noch härter strafen würde, nach dem Aufsehen, welches meine Flucht aus Saint-Sulpice verursacht hatte. Endlich kam mir ein lichter Gedanke, der meinen Geist beruhigte und mich in Staunen setzte, daß ich ihn nicht früher schon gehabt. Es war der Gedanke, mich an Tiberge zu wenden, bei dem ich sicher war, immer dieselbe Freundschaft wiederzufinden.
Nichts ist köstlicher auf Erden und ehrender für unsere Tugend, als das Vertrauen, mit dem man sich an Menschen wenden darf, auf deren Redlichkeit man bauen kann. Man fühlt, daß dabei keinerlei Gefahren vorliegen, denn man darf von ihnen, selbst wenn sie nicht helfen können, unter allen Umständen Teilnahme und Mitleid erwarten. Selbst das eigene Herz, das sich allen anderen ängstlich verschließt, entfaltet sich wie eine Blume im Sonnenlicht, dessen wohltuende Wirkung sie erwartet.
Wie eine Wirkung des göttlichen Schutzes erschien es mir, so ganz zur rechten Zeit an Tiberge gedacht zu haben und ich nahm mir vor, ihn noch am gleichen Tage aufzusuchen.
Ich kehrte sogleich in meine Wohnung zurück, um ihm zu schreiben und einen geeigneten Ort für unsere Unterredung anzugeben. Als wichtigsten Dienst, den er mir in meiner Lage erweisen könne, erbat ich mir seine Verschwiegenheit.
Die Freude, welche ich empfand, Tiberge wiederzusehen, verwischte jede Spur von Sorge aus meinen Zügen, so daß Manon nichts bemerkte. Ich sprach mit ihr von unserem Unglück zu Chaillot wie von einer Kleinigkeit, die sie nicht zu beunruhigen brauche, und da Paris der Ort war, wo sie sich am liebsten aufhielt, so war sie nicht ärgerlich darüber, als sie hörte, es wäre jetzt angezeigt, hier zu bleiben, bis die vom Brand verursachten Schäden in Chaillot ausgebessert seien.
Eine Stunde später erhielt ich die Antwort von Tiberge, der mir mitteilte, er würde mich an dem bezeichneten Ort erwarten. Ich eilte voll Ungeduld dahin. Aber ich empfand doch ein beschämendes Gefühl, vor einem Freunde zu erscheinen, dessen Gegenwart allein schon ein Vorwurf meines Lebenswandels war; aber seine Herzensgüte und Manons Interesse hielten meinen Mut aufrecht.
Ich hatte ihn gebeten, sich im Garten des Palais Royal einzufinden. Er war schon vor mir dort. Er kam mir entgegen, als er mich sah, und umarmte mich unter Tränen.
Ich sagte, ich träte tief beschämt vor ihn und empfände meine Undankbarkeit auf das aller lebhafteste; vor allen Dingen müsse ich ihn beschwören, mir zu sagen, ob ich ihn nach dem nur allzu sehr verdienten Verluste seiner Achtung und Zuneigung noch als meinen Freund ansehen dürfe und ob er mir verzeihen könne.
Er antwortete in zärtlichstem Tone, daß nichts imstande sei, ihn auf dieses Freundschaftsgefühl verzichten zu lassen; ja, mein Unglück und, wenn er es so ausdrücken dürfe, meine Vergehungen und Schwächen hätten seine Liebe zu mir nur noch erhöht; seine Gefühle seien aber gemischt mit dem herben Schmerz, wie man ihn über eine unserem Herzen nahestehende Person empfinden müsse, die man in ihr Verderben rennen sähe, ohne helfen zu können.
Wir setzten uns auf eine Bank. »Ach,« sagte ich zu ihm mit einem tiefen Seufzer, »das Mitleid muß grenzenlos sein, mein teurer Tiberge, wenn du meinst, daß es meinem Leiden gleichkomme; ich schäme mich, dir meinen Kummer zu zeigen, denn sein Grund ist, ich gestehe es, kein ruhmvoller; aber seine Wirkung ist eine so traurige, daß du davon gerührt sein würdest, auch wenn du mir nicht so innig zugetan wärest.«
Er bat mich, ihm als Zeichen meiner Freundschaft, wortgetreu zu erzählen, was ich seit meiner Flucht von Saint-Sulpice erlebt hätte. Ich erfüllte seinen Wunsch, ohne die Wahrheit zu entstellen, oder meine Fehler zu verkleinern, um sie weniger verdammenswert erscheinen zu lassen; ich sprach von meiner Liebe mit all der Leidenschaft, die sie mir einflößte. Ich machte ihm eine lebhafte Schilderung meiner Aufregung, meiner Befürchtungen, der Verzweiflung, die mich vor zwei Stunden noch durchwühlte, und in die ich zurückfallen müßte, wenn er mich auch verließe, kurz, ich rührte den guten Tiberge derart, daß ihn sein Mitleid nicht minder erregte, wie mich das Unglück.
Er ließ nicht ab, mir Mut und Trost zuzusprechen, aber da er stets bei der Ansicht blieb, ich müsse mich von Manon trennen, so erklärte ich ihm, daß gerade diese Trennung mein größtes Unglück wäre, und daß ich lieber die härtesten Leiden ertragen wollte, als mir auf diese Weise helfen zu lassen.
»So erkläre mir doch,« sagte er mir, »welche Art von Hilfe kann ich dir leisten, wenn du dich gegen alle meine Vorschläge auflehnst!«
Ich wagte nicht, ihm zu erklären, daß es seine Börse sei, deren ich bedurfte. Er erriet es aber bald, und dann schwieg er eine Weile, nachdenklich, als ob er schwankend sei, was er tun solle. Dann versetzte er:
»Glaube nicht, daß mein Bedenken von erkaltetem Eifer herrührt; aber vor welche Alternative stellst du mich?! Entweder muß ich dir die einzige Hilfe, die du annehmen willst, verweigern oder ich muß meine Pflicht verletzen, wenn ich sie dir leiste! Denn heißt es nicht, teilnehmen an deiner Lebensweise, wenn ich dir noch behilflich dabei bin?«
Nach kurzem Überlegen fuhr er fort: »Ich will aber denken, daß die Verhältnisse schuld sind, daß du nicht den besseren Teil wählst. Man muß ruhigen Geistes sein, um sich an der Wahrheit und Weisheit zu erfreuen. Ich werde Mittel zu finden wissen, um dir etwas Geld zu verschaffen. Erlaube mir, mein lieber Chevalier,« fuhr er mich umarmend fort, »daran eine einzige Bedingung zu knüpfen; nenne mir deinen Aufenthaltsort und gestatte mir, wenigstens den Versuch zu machen, dich der Tugend wieder zurückzuführen, die du liebst, und die du nur in deiner heftigen Leidenschaft verlassen konntest!«
Ich bewilligte ihm gern alles, was er wünschte, und bat ihn, mein trauriges Geschick zu beklagen, daß mich verhinderte, die Ratschläge eines so tugendhaften Freundes zu befolgen. Er führte mich sogleich zu einem ihm bekannten Bankier, der mir gegen seine Unterschrift hundert Pistolen auszahlte; denn er besaß kein bares Geld. Ich hatte schon erwähnt, daß Tiberge nicht reich war. Seine Pfründe trug ihm tausend Taler ein; da dies aber das erste Jahr war, so hatte er noch kein Einkommen bezogen; er machte mir also diesen Vorschuß von seinen künftigen Einnahmen.
Ich wußte diese Großmut voll zu würdigen und ward davon so gerührt, daß ich die Verblendung einer Liebe verfluchte, die mich zwang, alle meine Pflichten zu vergessen. Diese Regung war so stark, sich gegen meine Leidenschaft aufzulehnen, und ich empfand in diesem letzten Augenblick die Schmach und das Unwürdige meiner Fesseln. Der Kampf war jedoch von kurzer Dauer; ich hätte mich für Manons Anblick vom Himmel herabgestürzt und war, als ich wieder bei ihr war, über mich verwundert, daß ich eine so berechtigte Neigung für dies bezaubernde Geschöpf hatte verdammen können.
Manon war ein Wesen von außergewöhnlichem Charakter. Nie hatte wohl ein Mädchen weniger Liebe zum Gelde als sie; aber sie konnte keinen Augenblick ruhig sein, wenn sie Mangel befürchtete. Vergnügen und Zerstreuungen waren es, die sie nicht entbehren konnte. Sie hätte niemals einen Sou gewünscht, wenn man sich ohne Geld hätte vergnügen können; sie fragte niemals, wieviel unser Vermögen betrüge, wenn sie ihren Tag in Freuden zubrachte; da sie weder dem Spiele leidenschaftlich zugetan war, noch Sinn für Prunk und Verschwendung hatte, war nichts leichter, als sie Tag für Tag mit einigen Belustigungen nach ihrem Geschmacke zufriedenzustellen.
Es war ihr nur leider ein so unerläßliches Bedürfnis, Vergnügungen zu haben, daß man ohne dies nicht auf ihre gute Laune und Zuneigung rechnen durfte. Wie zärtlich sie mich auch liebte und wie oft sie versicherte, daß ich der einzige sei, mit dem sie sich der Süßigkeiten der Liebe wahrhaft erfreue, so war ich doch beinahe gewiß, daß ihr Gefühl für mich gegen gewisse Besorgnisse nicht standhielt.
Mit einem mäßigen Auskommen würde sie mich aller Welt vorgezogen haben; ich durfte aber nicht zweifeln, daß sie mich, sobald ich ihr nichts als Treue und Beständigkeit bieten könne, um jedes neuen Herrn von B. willen verlassen werde.
Ich beschloß, meine persönlichen Ausgaben so einzuschränken, daß es mir möglich wurde, stets für die ihrigen zu sorgen und lieber auf die notwendigsten Dinge zu verzichten, als ihr selbst das Überflüssige zu entziehen. Der Wagen machte mir mehr Sorge als alles übrige, denn es schien mir unmöglich, Kutscher und Pferde zu halten.
Ich sprach mich vor Herrn Lescaut aus und verschwieg ihm nicht, daß ich von einem Freunde hundert Pistolen erhalten hätte. Er wiederholte mir, wenn ich das Glück im Spiel versuchen und gutwilligst hundert Franken opfern wolle, um seine Verbündeten zu bewirten, so würde ich auf seine Empfehlung hin in die Reihen der Industrieritter aufgenommen werden. So groß mein Widerwille war, zu betrügen, so ließ ich mich doch durch die grausame Notwendigkeit dazu verleiten.
Herr Lescaut stellte mich noch an demselben Abend als seinen Verwandten vor. Er fügte hinzu, daß ich um so eher Erfolg haben würde, da ich der Gunst des Glückes bedürfe. Um aber zu beweisen, daß ich kein Habenichts sei, erklärte er, daß ich beabsichtige, ihnen ein Souper zu geben. Das Anerbieten wurde angenommen. Ich bewirtete sie glänzend. Man sprach lange von meinem angenehmen Äußeren und von meinen glücklichen Anlagen. Man behauptete, daß man von mir viel zu hoffen habe, denn da meine Erscheinung den Ehrenmann kennzeichne, würde mir niemand mißtrauen. Endlich erhielt Herr Lescaut noch vielen Dank, daß er der Gesellschaft einen so talentvollen Jünger zugeführt habe; man beauftragte einen der Herrn, mir während einiger Tage die notwendigen Lehren zu erteilen.
Der Hauptschauplatz meiner Tätigkeit sollte das Hotel Transsylvanie sein, wo ein Pharaotisch in einem Saale ausgestellt war, und verschiedene andere Karten- und Würfelspiele in der Galerie. Diese »Akademie« wurde zugunsten des Prinzen von R..., welcher damals in Clagny wohnte, gehalten, und die Mehrzahl seiner Beamten gehörte unserer Gesellschaft an. Soll ich es zu meiner Schande sagen? Ich hatte in kurzer Zeit die Lehren meines Meisters begriffen; ich besaß eine besondere Geschicklichkeit, die Volte zu schlagen, eine Karte mit Hilfe meiner langen Manschetten schnell verschwinden zu lassen, ohne daß das schärfste Auge es bemerkte, und so eine Menge ehrlicher Spieler zu betrügen. Diese außergewöhnliche Geschicklichkeit beschleunigte so sehr die Zunahme meines Glückes, daß ich mich in wenig Wochen im Besitze ansehnlicher Summen befand, außer jenen, die ich ehrlich mit meinen Kameraden teilte.
Jetzt fürchtete ich nicht mehr, Manon unseren Verlust in Chaillot zu erzählen, und, um s!e für die schlimme Nachricht zu trösten, mietete ich ein möbliertes Haus, wo wir uns im Schein des Reichtums und der Sicherheit niederließen.
Tiberge hatte nicht verfehlt, mir während dieser Zeit häufige Besuche abzustatten. Seine Moralpredigten hörten nicht auf. Er wiederholte mir unaufhörlich, welches Unrecht ich gegen mein Gewissen, gegen meine Ehre und gegen mein Glück begehe. Ich nahm seine Ermahnungen freundlich hin, freilich ohne Neigung, sie zu befolgen, und war ihm dankbar für seinen Eifer, dessen Quelle ich kannte. Manchmal zog ich ihn sogar scherzend in Manons Beisein damit auf und sagte ihm, er möge es nicht genauer nehmen, als viele Bischöfe und Priester, die eine Geliebte recht wohl mit einer Pfründe zu vereinigen wüßten. »Sieh dir diese Augen an,« sprach ich, »und bestreite nicht länger, daß jede Verwirrung durch eine so schöne Begründung gerechtfertigt wird.« Tiberge hatte Geduld und übte sie ziemlich lange. Als er sah, daß mein Vermögen zunahm, so daß ich ihm nicht allein die hundert Pistolen zurückzahlte, sondern ein neues Haus mietete, meine Ausgaben verdoppelte und mich mehr denn je in den Strudel des Vergnügens stürzte, schlug er einen anderen Ton an. Er beklagte sich über meine Verstocktheit, er drohte mir mit der Strafe des Himmels, und prophezeite mir einen Teil der Unglücksfälle, die bald darauf über mich hereinbrachen.
»Unmöglich ist es,« sagte er, »daß du auf reellen Wegen zu den Reichtümern gekommen bist, die zur Bestreitung deines Lebens dienen. Du hast sie auf unehrliche Weise erlangt und wirst selbst wieder darum betrogen werden. Es wäre für dich die härteste Strafe Gottes, wenn du sie ruhig genießen könntest. Alle meine Ratschläge sind für dich nutzlos geblieben, bald werden sie dir auch lästig sein. Lebe wohl, undankbarer, schwacher Freund. Mögen deine verbrecherischen Freuden vergehen, wie ein Rauch, möge dein Wohlstand unwiederbringlich verloren gehen, und du selbst, von allem entblößt, zurückbleiben, um die Nichtigkeit dieser Güter zu erkennen, die dich jetzt völlig berauschen. Erst dann wirst du mich wiederum bereit finden, dich zu lieben und dir zur Seite zu stehen; jetzt breche ich jeden Verkehr mit dir ab und verabscheue das Leben, das du führst.«
In meinem Zimmer, vor den Augen Manons hielt er mir diese Strafpredigt. Er stand auf, um fortzugehen. Ich wollte ihn zurückhalten, aber Manon verhinderte mich daran; sie sagte, er sei ein Narr, ich solle ihn gehen lassen.
Dennoch machte seine Rede einen gewissen Eindruck auf mich; ich erwähne die verschiedenen Gelegenheiten, bei denen sich bei mir eine Neigung zur Umkehr fühlbar machte, besonders deshalb, weil ich der Erinnerung an sie in der Folge zum guten Teil die Kraft verdanke, die unglücklichsten Lagen meines Lebens zu ertragen.
Die Liebkosungen Manons zerstreuten bald den Kummer, den dieser Auftritt mir verursacht hatte. Wir setzten unser Leben voll Liebe und Vergnügen fort. Die Vermehrung unseres Reichtums verdoppelte unsere Liebe.
Venus und Fortuna hatten keine glücklicheren Sklaven! Mein Gott, warum nennt man die Welt ein Jammertal, wenn man solche Wonnen genießen kann? Ach, nur zu schnell vergehen sie. Wenn sie von Dauer wären, welch andere Seligkeit möchte man sich wünschen? Die unsere teilte das allgemeine Schicksal: sie zerfloß in nichts und bittere Reue folgte.
Ich hatte im Spiel so ansehnliche Gewinne gemacht, daß ich daran dachte, einen Teil meines baren Geldes anzulegen. Meine Dienerschaft kannte meine Erfolge sehr wohl, besonders aber mein Kammerdiener und Manons Mädchen waren wohl unterrichtet, da wir uns in ihrer Gegenwart rückhaltlos aussprachen. Dieses Mädchen war hübsch, mein Kammerdiener in sie verliebt. Sie hatten mit jungen Gebietern zu tun, welche sie leicht zu betrügen hofften. Sie faßten einen Plan und führten ihn so glücklich aus, daß sie uns in einen Zustand versetzten, von dem wir uns nie wieder erholen konnten.
Es war ungefähr Mitternacht, als wir von einem Souper, das uns Herr Lescaut gegeben, nach Hause zurückkehrten. Ich rief meinen Diener, Manon ihr Kammermädchen; keiner von beiden erschien. Man teilte uns mit, daß sie seit acht Uhr im Hause nicht mehr gesehen worden waren; um diese Zeit waren sie ausgegangen, nachdem sie vorher, in meinem Auftrage, wie sie sagten, einige Kisten hatten fortschaffen lassen. Ich ahnte einen Teil der Wahrheit, aber der schlimmste Argwohn wurde von dem übertroffen, was ich beim Betreten meines Zimmers erblickte. Das Schloß meines Geldschranks war gesprengt, und mein Geld mit allen meinen Kleidern verschwunden. Während ich über diesen Unfall nachdachte, kam Manon ganz erschreckt, mir mitzuteilen, daß sie in ihrem Zimmer dieselbe Entdeckung gemacht habe.
Dieser Schlag schien mir so grausam, daß es mich große Überwindung kostete, nicht in lautes Klagen auszubrechen. Die Furcht, Manon mit meiner Verzweiflung anzustecken, ließ mich eine gefaßte Miene zeigen. Ich sagte ihr scherzend, ich würde mich bei irgendeinem Narren im Hotel Transsylvanie entschädigen. Sie schien mir indes von unserem Unglück so betroffen, daß ihre Trauer mich mehr bekümmerte, als meine scheinbare Heiterkeit sie aufmunterte.
»Wir sind verloren,« sagte sie mir, mit Tränen in den Augen. Vergebens bemühte ich mich, sie durch meine Liebkosungen zu trösten. Meine Tränen verrieten meine eigene Bestürzung und Verzweiflung. Wir waren in der Tat so gänzlich zugrunde gerichtet, daß uns nicht ein Hemd blieb. Ich entschloß mich, auf der Stelle Herrn Lescaut holen zu lassen. Er riet mir, selbst zum Polizeipräsidenten und zum Präfekten von Paris zu gehen. Ich tat es, und das war zu meinem Unglück; denn abgesehen davon, daß alle Bemühungen der Polizei vergeblich waren, gab ich Lescaut Zeit, mit seiner Schwester zu verhandeln und sie während meiner Abwesenheit zu einem entsetzlichen Entschluß zu bewegen. Er sprach mit ihr von Herrn von G... M..., einem alten Gecken, der sein Geld verschwendete, und er schilderte ihr alle Vorteile, die ihr aus dieser Bekanntschaft erwachsen würden. Verstört wie sie war über unser Mißgeschick, ging sie auf alles ein, was er ihr vorschlug. Dieser ehrenhafte Handel wurde noch vor meiner Rückkehr abgeschlossen und die Ausführung für den nächsten Tag verschoben, bis Lescaut Herrn von G... M... benachrichtigt haben würde.
Ich traf ihn noch an. Aber Manon hatte sich schon zur Ruhe begeben und ließ sich bei mir entschuldigen, daß sie sich schon zurückgezogen habe. Lescaut verließ mich, nachdem er mir einige Pistolen angeboten hatte, die ich annahm.
Es war bald vier Uhr, als ich mich zu Bette begab; ich dachte lange nach über die Mittel, mein Vermögen wiederherzustellen, schlief darüber erst spät ein und erwachte erst zwischen elf und zwölf Uhr mittags. Ich kleidete mich schnell an, um mich nach Manons Befinden zu erkundigen; man sagte mir, daß sie vor einer Stunde mit ihrem Bruder, der sie in einem Fiaker abgeholt, das Haus verlassen habe. Obgleich mir eine solche Fahrt mit Lescaut rätselhaft erschien, so bezwang ich mich doch, den aufsteigenden Argwohn zu unterdrücken. Ich wartete einige Stunden, die ich mit Lesen verkürzte. Endlich konnte ich meiner Unruhe nicht mehr Herr werden und ging mit großen Schritten in unserem Zimmer auf und ab; da bemerkte ich auf dem Tisch in Manons Zimmer einen versiegelten Brief an mich gerichtet, es war ihre Handschrift. Ich öffnete ihn zitternd und las:
»Ich schwöre Dir, mein teurer Chevalier, daß Du der Abgott meines Herzens bist, und daß es auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, den ich so lieben könnte, wie ich Dich liebe; aber siehst Du nicht, arme, teure Seele, daß in unserer traurigen Lage die Treue eine Torheit ist? Glaubst Du, man kann zärtlich sein, wenn es an Brot mangelt? Der Hunger könnte mich zu einem verhängnisvollen Irrtum führen, ich könnte eines schönen Tages den letzten Seufzer aushauchen in dem Wahn, es sei ein Liebesseufzer. Ich bete Dich an, rechne darauf; aber laß mir für einige Zeit die Sorge für unser Glück. Wehe dem, der in meine Netze fällt! Ich arbeite, um meinen Chevalier reich und glücklich zu machen. Mein Bruder wird Dir Nachricht von Deiner Manon bringen, die bitter weint über die Notwendigkeit, Dich verlassen zu müssen.«
Nachdem ich diese Zeilen gelesen, blieb ich in einem schwer zu beschreibenden Zustande; denn ich weiß noch heute nicht, welche Gefühle mich damals bestürmten. Es war ein Gemisch von Schmerz, Eifersucht, Ärger und Schande, an dem auch noch die Liebe teil hatte.
Es war eine der Lebenslagen, die einzig und merkwürdig zu nennen sind, da wir wohl nur einmal im Leben derartiges empfinden; sie andern zu erklären, wäre unmöglich, da sie keinen Begriff davon haben, und wir vermögen kaum, uns selbst darin zurechtzufinden; als unvergleichlich bieten sie dem Gedächtnisse keinen Anhaltspunkt und stehen mit ihren Empfindungen vollkommen einzig da.
Welcher Art jetzt aber auch meine Gefühle sein mochten, so viel ist sicher, daß Schmerz, Verdruß, Eifersucht und Scham darunter vorherrschten, und daß es hätte für ein Glück erachtet werden können, wenn keine Liebe mehr dabei gewesen wäre.
»Daß sie mich liebt, glaube ich,« rief ich aus. »Müßte sie nicht ein Ungeheuer sein, wollte sie mich hassen? Habe ich nicht alle Ansprüche an ihr Herz gehabt, die man jemals an eins haben konnte? Bliebe mir nach dem, was ich ihr geopfert habe, noch weiteres für sie zu tun übrig?
Und trotzdem verläßt sie mich! ja, die Undankbare glaubt sich gegen meine Vorwürfe sicherzustellen, indem sie sagt, daß sie nicht aufhöre mich zu lieben! Sie fürchtet den Hunger! O Gott der Liebe! Welche rohe Gesinnung! Welche Erwiderung meines Zartgefühls! Ich habe ihn nicht gefürchtet, ich setzte mich ihm mit Freuden aus, als ich mein ganzes Glück, alles Wohlleben meines Vaterhauses für sie aufgab, um zur Befriedigung ihrer kleinen Launen und Wünsche meine eigenen Bedürfnisse bis auf das Notwendigste einzuschränken. Sie sagt: sie bete mich an. Tätest du es, Undankbare, würdest du eines anderen Rat befolgt, mich verlassen, mir nicht wenigstens Lebewohl gesagt haben? Mich muß man fragen, wenn man den grausamen Schmerz der Trennung von dem Geliebtesten kennen will. Es wäre Wahnsinn, sich dem freiwillig auszusetzen.«
Meine Klagen wurden durch einen Besuch unterbrochen, den ich nicht erwartet hatte, es war der des Herrn Lescaut.
»Henker!« rief ich ihm zu, indem ich nach dem Degen griff, »wo ist Manon, was hast du mit ihr gemacht?«
Diese Bewegung erschreckte ihn, und er antwortete mir, wenn ich ihn auf diese Art empfinge, da er komme, um mir über einen großen Dienst zu berichten, den er mir geleistet, so würde er sich zurückziehen, um nie wieder mein Haus zu betreten. Ich eilte an die Tür des Zimmers und verschloß sie sorgfältig, dann sagte ich: »Bilde dir nicht ein, mich nochmals zu foppen und mit Fabeln zu täuschen, verteidige dein Leben, oder bringe mir Manon zurück.«
»Ach! wie heftig Sie sind!« entgegnete er. »Das ist ja eben der Gegenstand, der mich herführt. Ich komme Ihnen ein Glück zu verkünden, an welches Sie nicht denken, und für welches Sie mir gewiß sehr verbunden sein werden.«
Ich wünschte sofort aufgeklärt zu werden.
Er erzählte mir, daß Manon, welche die Furcht vor Armut nicht ertragen konnte, und besonders den Gedanken, unsere bisherige Lebensweise aufgeben zu müssen, ihn gebeten habe, ihr die Bekanntschaft des Herrn M... G... zu verschaffen, der für sehr großmütig galt. Er hütete sich wohl, mir zu sagen, daß der Plan von ihm herrühre, und daß er die Wege geebnet habe.
»Ich habe sie heute morgen hingeführt,« fuhr er fort, »und dieser Ehrenmann war so entzückt von ihr, daß er sie einlud, einige Zeit auf seinem Landsitze zu bleiben. Ich erkannte sofort, von welchem Vorteil das für sie sein konnte,« fuhr Lescaut fort, »und ich gab ihm geschickt zu verstehen, welche Verluste Manon erlitten habe; ich wußte seine Großmut so hervorzuheben, daß er damit anfing, ihr zweihundert Pistolen zu schenken. Ich sagte ihm, daß dies für den Augenblick genüge, aber daß die Zukunft größere Bedürfnisse für meine Schwester herbeiführen würde, da sie nach dem Tode unserer Eltern für einen jüngeren Bruder zu sorgen habe, und wenn er sie seiner Achtung würdig halte, würde er diesen jungen Menschen nicht leiden lassen, da sie ihn wie ihr eigenes Ich liebe. Diese Erzählung ermangelte nicht, ihn zu rühren. Er hat sich erboten, ein bequemes Haus für Manon und für Sie, denn Sie sind der »Waisenknabe«, zu mieten, schön möblieren zu lassen und außerdem zum Unterhalt monatlich vierhundert Livres zu zahlen, was, wenn ich richtig rechne, jährlich viertausendachthundert Livres macht. Er hat seinem Intendanten den Befehl gegeben, ein Haus zu suchen und ihm bei seiner Rückkehr in Vorschlag zu bringen. Alsdann werden Sie Manon wiedersehen, die Ihnen tausend Grüße durch mich schickt und Ihnen versichert, daß Sie ihr teurer sind als je.«
Ich setzte mich, indem ich über die sonderbare Gestaltung meines Geschickes grübelte; mein Inneres war von so widerstreitenden Gefühlen zerrissen, folglich in einer so schwer zu lösenden Ungewißheit, daß ich lange Zeit die vielen Fragen Lescauts nicht beantwortete.
Ehre und Tugend machten mir in dem Augenblicke den Stachel der Reue noch einmal fühlbar und ließen mich meine Blicke seufzend zurückrichten nach Amiens, nach dem Hause meines Vaters, nach Saint-Sulpice und allen Orten, wo ich in Unschuld gelebt hatte. Welch unermeßliche Kluft trennte mich jetzt von diesem glücklichen Zustande! Ich gewahrte ihn nur noch aus der Ferne, gleich einem Schattenbild, das meine Reue und Sehnsucht erweckte und zu schwach war, meine Seelenkraft neu zu beleben.
»Welch Verhängnis,« dachte ich, »hat mich so schuldig gemacht! Die Liebe ist eine unschuldige Leidenschaft, und wie hat sie sich mir zu einer Quelle des Elends und der Vergehungen verkehrt? Wer hinderte mich, mit Manon ruhig und ehrenhaft zu leben? Warum heiratete ich sie nicht, bevor ich von ihrer Liebe etwas erlangte? Würde mein Vater, der mich so zärtlich liebte, nicht doch eingewilligt haben, wenn ich mit ehrenhaften Gründen in ihn gedrungen wäre? Oh, mein Vater hätte sie gewiß als eine reizende Tochter geliebt, die es wohl verdiente, die Gattin seines Sohnes zu sein, und ich wäre glücklich durch die Liebe Manons, die Zuneigung meines Vaters, die Achtung aller rechtschaffenen Leute, sowie durch irdische Güter und durch die Ruhe der Seele.
Dagegen welche schmähliche und entehrende Rolle, die ich hier spielen soll! Wie? Ihre Gunst soll ... Was hilft das aber alles, da es Manon selbst so will und ich sie ohne diese Gefälligkeit verliere? ...«
»Herr Lescaut,« rief ich endlich, »wenn Sie die Absicht hatten, mir einen Dienst zu erweisen, so nehmen Sie meinen Dank dafür; Sie hätten einen ehrenhafteren Weg einschlagen können; aber die Sache ist abgemacht, nicht wahr? Also denken wir nur noch daran, Ihren Plan zu verwirklichen und soviel als möglich Nutzen zu ziehen.«
Lescaut, der durch meinen Zornausbruch und das darauffolgende Schweigen unruhig geworden, war erfreut, mich seinen Plänen geneigt zu sehen; er schien das Gegenteil befürchtet zu haben. Es war nichts weniger als tapfer, wovon ich in der Folge die besten Beweise hatte.
»Ja, ja,« beeilte er sich, mir zu antworten, »ich habe Ihnen da einen sehr großen Dienst geleistet, und Sie werden sehen, daß wir mehr Nutzen daraus ziehen werden, als Sie vermuten.« Wir beratschlagten, wie wir das Mißtrauen des Herrn von G... M... in betreff der Bruderschaft zerstreuen könnten, wenn er mich größer und älter fand, als er wahrscheinlich erwartete. Wir fanden kein anderes Mittel, als daß ich eine einfältige Miene und kleinstädtische Manieren annehmen und ihm vorreden sollte, ich beabsichtige Geistlicher zu werden und besuche zu diesem Zwecke täglich das Kolleg. Auch beschlossen wir, daß ich mich bei der ersten Begrüßung schlecht kleiden sollte.
Drei oder vier Tage darauf kehrte er nach Paris zurück. Er selbst führte Manon in das von dem Intendanten gemietete Haus ein. Sie benachrichtigte Lescaut sogleich von ihrer Rückkehr; er teilte es mir mit und so begaben wir uns alle beide zu ihr; sie war allein.
Trotz der Ergebung, mit der ich mich ihrem Willen gefügt, konnte ich doch nicht den Groll meines Herzens unterdrücken, als ich sie wiedersah. Ich schien ihr traurig und niedergeschlagen. Die Freude, sie wiederzusehen, konnte nicht die Kränkung über ihre Treulosigkeit besiegen. Sie schien vor Entzücken außer sich und tadelte mich wegen meiner Kälte; ich konnte nicht unterlassen, sie treulos und unbeständig zu schelten und dabei zu seufzen.
Zuerst scherzte sie über meine Einfältigkeit; aber als sie meine traurigen Blicke sah und die Pein, die Lage zu ertragen, die meinen Wünschen so widersprach, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Ich folgte ihr und fand sie in Tränen. Nach der Ursache befragt, sagte sie mir:
»Das ist leicht zu erraten; wie soll ich leben, wenn mein Anblick dich traurig, unwillig macht? Du bist nun schon eine Stunde hier und hast mir noch keine Zärtlichlichkeiten bewiesen und meine nimmst du mit der Würde des Großtürken in seinem Harem entgegen.«
»Höre mich, Manon,« entgegnete ich ihr, sie umarmend, »ich kann dir nicht verbergen, daß mein Herz zu Tode betrübt ist. Ich spreche jetzt nicht von der Unruhe, in die mich deine unvorhergesehene Flucht versetzte, noch von der Grausamkeit, mich ohne ein Wort des Trostes zu verlassen. Glaubst du, daß ich ohne Seufzer und ohne Tränen an das traurige und unglückliche Leben denken kann, welches ich in diesem Hause führen soll? Lassen wir meine Geburt und meine Ehre beiseite; kannst du dir vorstellen, wie es meine Liebe betrübt, sich so schlecht belohnt, so grausam behandelt zu sehen von einer hartherzigen, undankbaren Geliebten?« ...
Sie unterbrach mich. »Sieh, lieber Chevalier, es ist unnütz, mich mit Vorwürfen zu quälen, die mir das Herz brechen, weil sie von dir kommen. Ich verstehe, was dich verletzt. Ich hatte gehofft, du würdest in den Plan, den ich entworfen, um unser Vermögen wieder zu gewinnen, einwilligen, und nur, um dein Zartgefühl zu schonen, hatte ich den Anfang ohne deine Hilfe gemacht; aber ich verzichte darauf, da du nicht einverstanden bist.« Sie bat mich nur um ein wenig Nachgiebigkeit für den Rest des Tages: sie habe schon zweihundert Pistolen von ihrem Gönner erhalten, mit dem Versprechen, ihr noch am Abend ein schönes Perlenhalsband, andere Schmucksachen und die Hälfte der Jahrespension zu bringen. »Laß mir nur noch Zeit,« sagte sie mir, »seine Geschenke zu empfangen, ich schwöre dir, daß er sich noch keiner Gunst von mir rühmen kann, ich habe ihn auf unsere Rückkehr nach der Stadt vertröstet; nur die Hände hat er mir millionenmal geküßt; dies Vergnügen muß er gerechterweise bezahlen, und nach seinem Alter und Vermögen sind fünf- bis sechstausend Franken hierfür nicht zu viel.«
Ihr Entschluß war mir angenehmer als die Aussicht auf fünf- oder sechstausend Livres. Ich erkannte dabei, daß mein Herz noch nicht alles Ehrgefühl eingebüßt hatte, da es sich so glücklich fühlte, dieser Schmach zu entgehen. Aber ich war zu kurzen Freuden und langen Leiden geboren. Als ich Manon dankbar gezeigt hatte, wie glücklich sie mich durch ihren Entschluß mache, sagte ich ihr, daß sie Herrn Lescaut davon in Kenntnis setzen müsse, damit unsere Maßnahmen einmütig seien. Er murrte erst darüber; aber die vier- oder fünftausend Livres bares Geld machten ihn bald willfährig. Es wurde nun festgesetzt, daß wir uns alle beim Souper mit Herrn von G... M... zusammenfinden sollten, und zwar einmal, um mich des Spaßes halber als »Schüler« und jüngeren Bruder Manons vorzustellen und dann, um den alten Lüstling davon abzuhalten, sich mit Manon zu viele Freiheiten herauszunehmen. Wir wollten uns zurückziehen, Lescaut und ich, sobald Herr von G... M... sein Zimmer aufsuchen würde, und Manon wollte uns folgen. Lescaut wollte dafür sorgen, daß ein Wagen zu bestimmter Zeit vor der Türe stände.
Als die Stunde des Soupers gekommen war, ließ Herr von G... M... nicht lange auf sich warten. Lescaut befand sich mit seiner Schwester im Speisezimmer. Der erste Gruß des Greises war, Manon ein Halsband, Armbänder und kostbare Ohrgehänge zu überreichen, die mehr als tausend Taler wert waren. Hierauf zählte er ihr zweitausendvierhundert Livres in blanken Goldstücken auf, die Hälfte ihrer Pension. Ich stand vor der Tür und horchte, um auf Lescauts Zeichen einzutreten.
Als Manon Geld und Schmuck verwahrt hatte, holte er mich, indem er mich an der Hand nahm, vor Herrn von M... G... führte und mir befahl, ihm eine Verbeugung zu machen. Ich tat es, indem ich mich fast bis zur Erde verneigte.
»Entschuldigen Sie, mein Herr,« sagte Lescaut zu ihm, »er ist noch ein ganzes Kind. Wie Sie sehen, hat er noch kein Pariser Benehmen; doch wir hoffen, daß er sich bilden läßt.« Zu mir gewendet, fügte er hinzu: »Du wirst die Ehre haben, den Herrn hier oft zu sehen; versuche von einem so schönen Vorbild Nutzen zu ziehen.«
Der alte Herr schien Gefallen an mir zu finden. Er streichelte mir die Wangen und sagte mir, ich sei ein hübscher Junge, doch müßte ich in Paris, wo die jungen Leute leicht verführt würden, auf meiner Hut sein. Lescaut versicherte ihm, daß ich sehr ernst sei und nur Priester werden wolle und nur für Kirchen Interesse hätte. »Ich finde ihn Manon ähnlich,« versetzte der Greis, mich am Kinn fassend. Ich antwortete einfältig: »Mein Herr, wir sind ja auch ein Fleisch und Blut, und ich liebe meine Schwester Manon auch wie mich selbst.«
»Hören Sie ihn?« sagte er zu Lescaut, »er hat Verstand. Schade, daß der Bursche keine Weltkenntnis hat.«
»Oh, mein Herr,« rief ich, »ich glaube, daß ich in Paris noch größere Dummköpfe finden werde, als ich bin.«
»Hört! hört!« fügte er hinzu, »das ist herrlich für ein Kind der Provinz.«
Während des Essens war meine ganze Unterhaltung ähnlicher Art; Manons Übermut war mehr als einmal nahe daran, durch lautes Gelächter alles zu verderben. Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihm seine eigene Geschichte zu erzählen und das böse Geschick, das ihm bevorstand. Manon und Lescaut zitterten hierbei, besonders, als ich ihm sein Porträt ziemlich naturgetreu darstellte; doch hinderte ihn die Eigenliebe, sich darin zu erkennen, und ich war in meiner Darstellung schließlich so geschickt, daß er der erste war, der darüber lachte. In der Folge werden Sie sehen, daß ich diese komische Szene nicht ohne Grund so ausführlich beschrieb.
Endlich war das Souper vorüber und er sprach von Liebe und Ungeduld. Lescaut und ich zogen uns zurück, während Manon schon früher unter einem Vorwand hinausgegangen war. Wir trafen uns am Haustor, der Wagen, der einige Häuser weiter uns erwartete, fuhr heran, und einen Augenblick später hatten wir den Stadtteil verlassen.
Obgleich diese Handlungsweise in meinen eigenen Augen eine Betrügerei ist, so ist sie doch nicht die ungerechteste, die ich mir vorzuwerfen habe. Das Geld, das ich im Spiel gewonnen hatte, machte mir mehr Gewissensbisse. Wir zogen indes weder aus dem einen noch aus dem andern viel Nutzen, und der Himmel wollte, daß die leichtere der Sünden am härtesten bestraft wurde.
Herr von G... M... bemerkte bald, daß er gefoppt worden war. Ich weiß nicht, ob er noch an demselben Abend Schritte zu unserer Verfolgung machte, aber er hatte Einfluß genug, um seine Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sehen; und wir waren töricht genug, zu sehr auf die Größe und Ausdehnung von Paris und die Entfernung unserer Wohnung von der seinigen zu rechnen. Er erfuhr nicht allein unsere Wohnung, sondern auch wer ich sei, was für ein Leben ich in Paris geführt hatte, die Bekanntschaft Manons mit B..., den Betrug, den sie an diesem ausgeübt hatte, mit einem Wort, alle skandalösen Einzelheiten unserer Geschichte. Er faßte den Entschluß, uns weniger als Verbrecher denn als durchtriebene Abenteurer behandeln zu lassen. Es war noch früh, als ein Polizeidiener mit einem halben Dutzend Wachen in unser Zimmer drang. Sie bemächtigten sich sofort unseres Geldes, oder vielmehr desjenigen des Herrn von G... M... und führten uns hinunter, wo wir zwei Wagen fanden, in deren einem die arme Manon ohne Erklärung fortgebracht wurde, während ich mit dem andern nach Saint-Lazare fuhr.
Man muß solche Schicksalsschläge erlebt haben, um die Verzweiflung zu begreifen, die sie hervorrufen können. Unsere Wachen waren so grausam, daß sie mir nicht erlaubten, Manon zu umarmen und ihr Lebewohl zu sagen. Lange Zeit wußte ich nicht, was aus ihr geworden. Es war vielleicht ein Glück, daß ich zuerst nichts erfuhr, denn eine so schreckliche Katastrophe hätte mir vielleicht den Verstand, vielleicht das Leben geraubt.
Meine unglückliche Geliebte wurde also vor meinen Augen fortgeschleppt und an einen Ort gebracht, den zu nennen mir graut. Welches Schicksal für ein so reizendes Geschöpf, welches den ersten Thron der Welt eingenommen hätte, hätten alle Menschen mit meinen Augen gesehen, mit meinem Herzen geurteilt! Man behandelte sie dort zwar nicht barbarisch, aber sie war in eine enge Zelle gesperrt, allein, und verurteilt, täglich eine bestimmte Arbeit zu liefern, als notwendige Bedingung, um ein wenig ekelhafte Nahrung zu erhalten. Ich erfuhr diese Einzelheiten erst lange Zeit nachher, als ich selbst mehrere Monate harter Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Da meine Wächter mir nicht gesagt hatten, wohin ich geführt werde, so erkannte ich mein Schicksal erst an dem Tore von Saint-Lazare. In diesem Augenblicke hätte ich den Tod diesem Zustande tausendmal vorgezogen, da ich furchtbare Begriffe von diesem Hause hatte. Mein Schrecken wuchs, als mir die Wächter beim Eintritt zum zweitenmal die Taschen durchsuchten, um sich zu vergewissern, daß ich weder Waffen noch sonstige Verteidigungsmittel bei mir führe.
Der Superior erschien sofort, als er meine Ankunft erfuhr und begrüßte mich mit großer Sanftmut.
»Mein Vater,« sagte ich zu ihm, »keine Unwürdigkeiten, ich will lieber tausendmal sterben, als eine erdulden.«
»Nein, nein,« antwortete er mir, »Sie werden sich anständig betragen, und so werden wir miteinander zufrieden sein.« Er bat mich, ihm in ein hochgelegenes Zimmer zu folgen. Ich tat es ohne Widerrede. Die Wächter begleiteten uns bis an die Tür, wo der Superior, als er mit mir eingetreten war, sie durch ein Zeichen verabschiedete.
»Ich bin also Ihr Gefangener?« sagte ich ihm. »Nun! ehrwürdiger Vater, was gedenken Sie mit mir anzufangen?« Er sagte mir, daß er sich freue, mich so vernünftig zu sehen; es wäre seine Pflicht, mir Geschmack an Tugend und Religion beizubringen, und die meinige, seine Ratschläge und Ermahnungen zu befolgen; und sobald ich seinen Erwartungen entspräche, würde ich an meiner Einsamkeit Vergnügen finden.
»Ach! Vergnügen!« rief ich aus; »Sie wissen nicht, mein Vater, was allein imstande ist, mir Vergnügen zu bereiten!«
»Ich weiß es,« entgegnete er, »aber ich hoffe, daß Ihre Neigung sich ändern wird.« Seine Antwort belehrte mich, daß er meine Abenteuer, vielleicht auch meinen Namen kannte. Ich bat ihn, mich aufzuklären, und erfuhr, daß er von allem unterrichtet sei.
Diese Erkenntnis war meine härteste Strafe. Ich brach in einen Strom von Tränen aus, mit dem Zeichen der größten Verzweiflung. Ich war trostlos über die Demütigungen, die mich zum Gesprächsstoff aller meiner Bekannten und zum Schandfleck meiner Familie machten. Eine ganze Woche verbrachte ich in tiefster Niedergeschlagenheit, ohne imstande zu sein, mich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit meiner Schmach. Selbst der Gedanke an Manon erhöhte meinen Schmerz nicht; er war dieser neuen Pein gegenüber ein Gefühl, das dieser neuen Qual vorausgegangen war, in meinem Herzen herrschten die Gefühle der Schande und Scham vor. Nur wenige Menschen kennen die Gewalt solcher Gemütsbewegungen. Die meisten Menschen haben nur für etwa fünf oder sechs Leidenschaften Sinn, in deren Kreise sich all ihr Handeln bewegt. Nimmt man ihnen Haß und Liebe, Schmerz und Freude, Furcht und Hoffnung, so empfinden sie nichts mehr. Dagegen werden Menschen höherer Art auf tausenderlei Art bewegt werden; sie scheinen mehr als fünf Sinne zu besitzen und sind Vorstellungen und Eindrücken zugänglich, die die gewöhnlichen Grenzen der Natur überschreiten! Da sie zugleich ein Gefühl haben für diese ihre Größe, die sie über die Alltäglichkeit erhebt, so sind sie ganz besonders empfindlich gegen Spott und Verachtung und werden von der Schande mehr betroffen als andere.
Diesen traurigen Vorzug genoß ich in Saint-Lazare; meine Leiden erschienen dem Superior so schwer, daß er schlimme Folgen zu fürchten begann und glaubte, mich mit besonderer Nachsicht und Milde behandeln zu müssen.
Er besuchte mich zwei- oder dreimal täglich. Oft nahm er mich mit zu einem Gang durch den Garten, wo er sich in Ermahnungen und heilsamen Ratschlägen erschöpfte. Ich nahm sie mit Sanftmut auf und drückte ihm sogar meine Dankbarkeit dafür aus, was ihn auf meine Bekehrung hoffen ließ.
»Sie sind von so sanftem und liebenswürdigem Naturell,« sagte er mir eines Tages, »daß ich die Sünden, deren man Sie anschuldigt, nicht begreifen kann. Zweierlei verwundert mich; einmal, wie Sie mit so trefflichen Anlagen sich dem Laster der Wollust hingeben konnten und dann, was noch weit merkwürdiger, wie Sie sich, jahrelang dem Lasterleben hingegeben, meinen Rat und meine Unterweisung so bereitwillig gefallen lassen! Ist dies wirkliche Reue, so sind Sie ein Auserkorener des barmherzigen Himmels; ist es Gutartigkeit, so beweist es zum mindesten einen trefflichen Charakter, der hoffen läßt, daß Ihre Einsperrung nicht lange nötig sein wird, um Sie zu einem ehrbaren und gerechten Lebenswandel zurückzuführen.«
Ich war beglückt, daß er eine solche Meinung von mir hatte, und nahm mir vor, sie durch ein Betragen zu erhöhen, welches ihn völlig befriedigen mußte, da ich überzeugt war, daß es das sicherste Mittel sei, meine Gefängnisstrafe abzukürzen. Ich bat ihn um Bücher. Er war erstaunt darüber, daß ich, da er mir freie Wahl ließ, mich für einige ernste Autoren entschied. Ich tat, als ob ich mich mit dem größten Eifer auf das Studium geworfen hätte, und gab ihm auch nach dieser Seite hin Beweise meiner veränderter Gesinnung.
Doch war dies nur äußerlich. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich in Saint-Lazare eine heuchlerische Rolle spielte. Anstatt zu studieren, wenn ich allein war, seufzte ich bloß über mein Geschick. Ich verfluchte mein Gefängnis und die Tyrannei, die mich darin festhielt. Manons Abwesenheit, die Ungewißheit über ihr Schicksal, die Furcht, sie niemals wiederzusehen, das waren die Gedanken, die meinen Geist fortwährend beschäftigten Ich hielt sie für untreu, glaubte, daß sie sich einem anderen zugewendet; ich war weit entfernt, sie mir in der gleichen Lage zu denken. So verbrachte ich Tage und Nächte, die mir endlos schienen. Ich setzte meine ganze Hoffnung auf den Erfolg meiner Heuchelei. Ich beobachtete auf das sorgfältigste Mienen und Worte des Superiors, um zu erfahren, was er von mir dachte, und machte mir ein wahres Studium daraus, ihm, als dem Herrn über mein Geschick, zu gefallen. Ich erkannte leicht, daß ich bei ihm wohl angeschrieben war, und zweifelte nicht an seiner Geneigtheit, für mich ein gutes Wort einzulegen. Eines Tages faßte ich den Mut, ihn zu fragen, ob meine Freilassung von ihm abhänge. Er sagte mir, daß er nicht allein darüber zu verfügen habe; aber er hoffe, sein Zeugnis werde Herrn von G... M..., auf dessen Befehl ich verhaftet worden sei, bewegen, mir die Freiheit wiederzugeben.
»Darf ich hoffen,« sagte ich sanft, »daß er diese zwei Monate Gefängnis als genügende Strafe meines Vergehens ansehen wird?« Er versprach mir, mit ihm zu sprechen, wenn ich es wünsche, und ich bat ihn inständig, mir diesen Dienst zu erweisen. Zwei Tage darauf berichtete er mir, Herr von G... M. ... sei von dem Guten, das er über mich gehört, so gerührt, daß er meine Freilassung nicht nur billige, sondern großes Verlangen habe, mich näher kennenzulernen, und sich vorgenommen, mich in meinem Gefängnisse zu besuchen. Obwohl mir seine Gegenwart wenig angenehm sein konnte, betrachtete ich sie doch als ein Mittel zur Erlangung der Freiheit.
Er kam wirklich nach Saint-Lazare. Ich fand ihn ernster und weniger albern, als er in Manons Hause gewesen. Er hielt mir eine sehr verständige Strafrede über mein schlechtes Betragen und fügte hinzu, wohl um seine Ausschweifungen zu rechtfertigen, der menschlichen Schwäche seien zwar gewisse Freuden zu gestatten, während Gaunereien und schmählicher Betrug immer Strafe verdiene. Ich hörte mit einer Unterwürfigkeit zu, die ihn zu befriedigen schien. Selbst einige Scherze über meine Verwandtschaft mit Manon und Lescaut nahm ich ohne Murren an, sowie seine Bemerkung über Kirchen und Kapellen, an die zu denken ich hoffentlich in Saint-Lazare Zeit genug hätte. Aber unglücklicherweise für mich erwähnte er noch, Manon würde im »Hospital« denselben Gedanken nachhängen. Trotz des Schauders, den der Name »Hospital« mir verursachte, hatte ich noch die Selbstbeherrschung, ihn sanft zu bitten, daß er sich näher erkläre.
»Nun ja,« sagte er, »Manon befindet sich seit zwei Monaten im Hospital, um dort Sittsamkeit zu lernen, und ich hoffe, sie wird den Aufenthalt so gut benützen, wie Sie den Ihrigen in Saint-Lazare.«
Wenn ich ewigen Kerker oder selbst die Todesstrafe hätte fürchten müssen, ich hätte meine Wut bei dieser gräßlichen Nachricht nicht bemeistern können. Ich warf mich mit solcher Raserei auf ihn, daß die Erregung meine Kräfte lähmte. Trotzdem packte ich ihn an der Gurgel und würgte ihn und hätte ihn vielleicht getötet, wenn nicht durch das Geräusch seines Falles und seine Hilferufe der Superior und mehrere Geistliche in das Zimmer gelockt worden wären. Man befreite ihn aus meinen Händen.
Ich hatte selbst fast die Sinne und den Atem verloren. »O Gott!« rief ich seufzend aus, »gerechter Himmel! kann ich eine solche Schändlichkeit überleben?!«
Ich wollte mich nochmals auf den Barbaren werfen, doch man hielt mich zurück. Meine Verzweiflung, meine Rufe und meine Tränen spotten jeder Beschreibung. Mein Benehmen war so ungebärdig, daß die Anwesenden, welche die Ursache der Aufregung nicht kannten, einander ebenso erschreckt wie verwundert anschauten.
Herr von G... M... rückte währenddessen seine Perücke und seine Krawatte zurecht und befahl in seinem Zorne, sich so mißhandelt zu sehen, dem Superior, mich in strengerer Haft zu halten als je, und alle jene Züchtigungen über mich ergehen zu lassen, die in Saint-Lazare angewendet werden.
»Nein, mein Herr,« sagte der Superior, »ein Mann von der Herkunft des Chevaliers wird von uns nicht auf solche Art behandelt. Er ist überdies sonst so sanft und lenkbar, daß ich nicht verstehe, wie er ohne triftigen Grund sich zu solchen Exzessen hat hinreißen lassen können.«
Diese Antwort brachte Herrn von G. ... M... vollends aus der Fassung. Er verließ uns mit den Worten, daß er verstände Mittel zu finden, sowohl mich als den Superior und alle jene zu beugen, die es wagten, sich ihm zu widersetzen.
Der Superior, welcher den Geistlichen befohlen hatte, ihn zu geleiten, blieb mit mir allein. Er beschwor mich, ihm offen mitzuteilen, was diese Ausschreitung veranlaßte.
»Oh, mein Vater,« sagte ich, weinend wie ein Kind, »denken Sie sich die schrecklichste Grausamkeit, die abscheulichste aller Barbareien, und Sie haben die Schändlichkeit gefunden, die Herr von G... M... beging. Oh! er hat mir das Herz gebrochen. Ich überlebe das nicht. Ich will Ihnen alles erzählen,« fügte ich schluchzend bei, »Sie sind gut, Sie werden Mitleid mit mir haben.«
Nun schilderte ich ihm kurz meine unbezwingbare Leidenschaft, die ich für Manon hegte; sprach von dem glänzenden Leben, das wir geführt, bevor unsere Diener uns beraubt hatten, von der Bekanntschaft, die meine Geliebte mit Herrn von G... M... gemacht, und wie wir diesen hintergangen hatten. Ich erzählte ihm alles wahrheitsgemäß, aber in dem uns günstigsten Lichte. »Daher,« fuhr ich fort, »rührte Herrn von G... M...s Eifer für meine Bekehrung her. Sein Einfluß reichte hin, um mich aus reinem Rachegefühl hier einsperren zu lassen. Ich verzeihe es ihm, aber, ehrwürdiger Vater, das ist noch nicht alles: er hat meine bessere Hälfte von mir losgerissen, er ließ sie schmachvoll ins Hospital führen und besaß die Frechheit, es mir heute mit eigenem Munde anzukündigen. Im Hospital! mein Vater! O Himmel! Meine reizende Geliebte, meine Herzenskönigin im Hospital, wie das erbärmlichste aller Geschöpfe. Wo nehme ich die Kraft her, nicht vor Schmerz und Scham zu sterben?«
Als der gute Vater mich so verzweifelt sah, versuchte er es, mich zu trösten. Er sagte mir, daß er die Angelegenheit, wie ich sie ihm dargestellt, nicht gekannt habe, sondern er habe geglaubt, Herr von G... M... fühle sich durch sein freundschaftliches Interesse für meine Familie veranlaßt, in meinen Lebenswandel, der ihn empöre, einzugreifen; was ich ihm soeben gesagt, verändere die Sachlage, und er zweifle nicht, daß sein wahrheitsgetreuer Bericht an den Herrn Polizeipräsidenten mir bald die Freiheit verschaffen werde. Hierauf fragte er mich, warum ich noch nicht daran gedacht habe, meiner Familie Nachricht von mir zu geben, da sie ja an meiner Verhaftung keinen Anteil habe. Ich begründete es damit, daß ich meinem Vater den Schmerz, mir die Schande ersparen wollte. Endlich versprach er mir, sofort zu dem Polizeipräsidenten zu gehen; »wäre es auch nur,« fügte er hinzu, »um einem bösen Streiche des Herrn von G... M... zuvorzukommen, der wütend fortging und mächtig genug ist, um gefürchtet zu werden.«
Ich erwartete die Rückkehr des Superiors mit der Aufregung eines Menschen, dem sein Todesurteil bevorsteht. Unerträglich und qualvoll war es für mich, an Manon im Hospital zu denken. Abgesehen von der Schmach dieses Ortes selbst wußte ich auch nicht, wie man sie dort behandelte, und die Erinnerung an einige Einzelheiten, die ich von diesem Schreckensorte erfahren hatte, erneuten meine Verzweiflung. Ich war fest entschlossen, meiner geliebten Manon um jeden Preis beizustehen, und ich würde Saint-Lazare in Brand gesteckt haben, wenn es mir anders unmöglich gewesen wäre, daraus zu entkommen. Dabei überlegte ich, welchen Weg ich einzuschlagen hätte, falls es geschähe, daß man mich nicht freiließe. Ich bot allen Scharfsinn auf, bedachte alle Möglichkeiten, fand aber nichts, was mein Entkommen sicherte; vielmehr mußte ich fürchten, nach einem mißlungenen Versuche nur um so strenger bestraft zu werden. Ich rief mir die Namen einiger Freunde ins Gedächtnis, von denen ich allenfalls Hilfe hätte erwarten dürfen; aber wie hätte ich diese benachrichtigen sollen? Endlich glaubte ich einen Plan ausgedacht zu haben, der so geschickt angelegt war, daß er gelingen konnte. Ich verschob die weitere Überlegung bis nach der Rückkehr des Superiors.
Dieser kehrte bald zurück. In seinen Mienen zeigte sich nichts von der Freude, welche der Überbringer einer guten Botschaft zu empfinden pflegt.
»Ich sprach mit dem Herrn Polizeipräsidenten,« teilte er mir mit, »aber schon zu spät. Herr von G... M... begab sich sogleich von hier zu ihm und hat ihn so sehr gegen Sie eingenommen, daß er eben im Begriff war, mir den Befehl zu senden, Ihre Haft noch zu verschärfen. Als ich ihm jedoch den wahren Sachverhalt erzählte, schien er sich zu besänftigen, er lachte sogar über die Streiche des alten Herrn und über die Art, wie Sie ihn gefoppt. Er teilte mir mit, daß Sie noch sechs Monate hier bleiben müßten, da dieser Aufenthalt nur von Nutzen für Sie sei, und empfahl mir, Sie gut zu behandeln.«
Die Auseinandersetzung des guten Superiors war lang genug, um mir Zeit zu einer Überlegung zu geben. Ich begriff, daß ich mich der Gefahr aussetzte, meine Absichten vernichtet zu sehen, wenn ich zu großes Verlangen nach Freiheit aussprach. Ich sagte ihm, im Gegenteil, daß mir das Bewußtsein seiner Achtung ein großer Trost sei. Ohne Erregung bat ich ihn hierauf, mir die Gunst, die für niemand Bedeutung habe, aber viel zu meiner Beruhigung beitragen würde, zu gewähren, nämlich einen meiner Freunde, einen frommen Geistlichen, der in Saint-Sulpice wohnte, benachrichtigen zu lassen, daß ich mich in Saint-Lazare aufhalte, und ihm zu erlauben, mich bisweilen zu besuchen. Diese Gunst wurde mir ohne Widerspruch zugestanden.
Es handelte sich um meinen Freund Tiberge; nicht daß ich gehofft hätte, er würde mich befreien; ich hatte einen anderen Plan; dieser ging dahin, an Lescaut zu schreiben, um ihn und unsere gemeinsamen Freunde zu beauftragen, mich zu befreien. Die erste Schwierigkeit war, ihm meinen Brief in die Hände zu spielen, und dies sollte Tiberge besorgen. Da Tiberge Lescaut aber als den Bruder meiner Geliebten kannte, so fürchtete ich, er würde diesen Auftrag nicht übernehmen wollen. Ich beabsichtigte also meinen Brief an Lescaut in einen anderen Brief einzuschließen, den ich an irgendeinen ehrenwerten Bekannten richten wollte, mit der Bitte, den einliegenden Brief baldigst an die angegebene Adresse zu befördern. Da es notwendig war, daß ich mit Lescaut eine Zusammenkunft hatte, um mit ihm alles zu verabreden, so bat ich ihn, mich unter dem Namen eines älteren Bruders in Saint-Lazare aufzusuchen und um eine Unterredung mit mir zu bitten, da er nach Paris gekommen sei, um Kenntnis meiner Angelegenheiten zu erhalten. Er sollte dann die besten und sichersten Mittel zur Flucht ausfindig machen. Der Superior benachrichtigte Tiberge von meinem Verlangen, ihn zu sprechen. Bald traf der treue Freund bei mir ein. Wir sprachen freundschaftlich miteinander. Er wollte von meinen Plänen hören und ich sprach mich über alles vor ihm aus, ausgenommen über meinen Fluchtplan.
»In deinen Augen, lieber Freund, will ich als nichts anderes gelten, als was ich bin,« sagte ich zu ihm. »Wenn du geglaubt, mich weiser und mäßiger in meinen Wünschen zu finden, so hast du mich zu günstig beurteilt. Du siehst mich so wieder vor dir, wie du mich vor vier Monaten verließest; immer noch voll Liebe und immer noch unglücklich durch diese verhängnisvolle Leidenschaft, in der ich allein mein Glück suche.«
Er entgegnete mir, daß mein Geständnis mich nicht entschuldigen könne; man sehe viele Sünder, die sich an dem trügerischen Glück des Lasters berauschten, das sie dem Glück der Tugend vorziehen; aber daß sie sich wenigstens an Trugbilder des Glücks hefteten, deren Opfer sie wären. Wenn man aber einsähe, daß der Gegenstand unserer Liebe uns nur schuldig und unglücklich mache, und man strebe trotzdem fortdauernd dem Abgrund des Verderbens und Verbrechens zu, so bilde das einen Widerspruch von Gedanken und Tun, der der menschlichen Vernunft keine Ehre mache.
»Tiberge,« sagte ich, »du kannst leicht siegreich sein, da du nicht auf Widerstand stößt! Laß mich sprechen. Kannst du behaupten, daß das sogenannte Glück der Tugend frei ist von Pein, Widerwärtigkeiten und Unruhe? Wie willst du sonst wohl den Kerker, das Kreuz, die Todesstrafen und Martern der Tyrannen nennen? Oder glaubst du mit den Mystikern, das, was den Körper foltert, sei ein Heil für die Seele? Du hast nicht den Mut; es ist ein unhaltbares Paradoxon. Dies von dir so gepriesene Glück ist also mit tausendfacher Pein vermischt, oder, um richtiger zu sprechen, nichts als ein Gewebe von Leiden, durch das hindurch man nach der Glückseligkeit tastet. Wenn nun aber die Gewalt der Einbildungskraft selbst in dem Weh Lust schafft, weil es zu einem erhofften glücklichen Ausgange führen kann, warum bezeichnest du dann eine ganz ähnliche Richtung meines Betragens als Widerspruch und Unvernunft? Ich liebe Manon und strebe durch tausend Schmerzen danach, ruhig und glücklich an ihrer Seite zu leben. Der Weg, den ich gehe, ist beschwerlich, aber die Hoffnung ans Ziel zu kommen, erleichtert mir alles, und ein Augenblick, an ihrer Seite verlebt, entschädigt mich für die Mühe, die ich gehabt, ihn zu erlangen. Alle Dinge scheinen mir also auf deiner und meiner Seite gleich zu stehen. Und wenn wirklich noch ein Unterschied vorhanden sein sollte, so ist er zu meinem Vorteile, da das Glück, das ich erwarte, nahe liegt, das andere fern ist: das meinige hat die Natur der Pein, das heißt, ist dem Körper fühlbar, das andere ist von ungekannter Beschaffenheit, und seine Gewißheit beruht allein in dem Glauben.«
Tiberge schien erschreckt über diese Reden. Er trat zwei Schritte zurück und sagte mir mit seiner ernstesten Miene, was ich gesprochen, verletze nicht bloß den gesunden Menschenverstand, sondern sei ein unseliger Sophismus der Gottlosigkeit und des Unglaubens. »Denn dieser Vergleich,« fügte er hinzu, »von dem Ziel deiner Leiden mit dem, welches die Religion vorsteckt, ist einer der verabscheuungswürdigsten Gedanken.«
»Ich will zugeben,« entgegnete ich, »daß er nicht richtig ist; aber denke doch, daß er meine Ansicht nicht allein stützt. Ich wollte dir nur erklären, was du in der Beständigkeit einer unglücklichen Liebe für Widerspruch hältst, und ich glaube bewiesen zu haben, daß, wenn es einer ist, du ebensowenig frei von ihm bist wie ich. Nur deshalb behandelte ich die Gegenstände als gleich, und ich behaupte noch, daß sie es sind. Wirfst du mir ein, daß das Endziel der Tugend unendlich erhabener sei als das der Liebe? Wer weigert sich, das zuzugeben? Aber davon ist hier nicht die Rede. Es handelt sich um die Kraft der einen und der anderen, uns Leiden tragen zu helfen. Der Erfolg mag für sich reden. Wie viele fallen ab von der Tugend und wie wenige von der Liebe!
Wirfst du ferner ein, daß, wenn es Leiden gibt bei Ausübung des Guten, diese nicht unausbleiblich und notwendig seien, daß es weder Tyrannen noch Kreuze mehr gebe und viele tugendhafte Menschen ein ruhiges, sanftes Leben führen, so behaupte ich, daß es auch friedliche, beglückte Liebe gibt; ein anderer Unterschied, der sehr zu meinem Vorteil spricht, ist der, daß die Liebe, wenngleich sie oft trügt, doch immer nur Freude und Zufriedenheit hervorbringt, wogegen die Religion verlangt, man solle sich trübseligen und abtötenden Andachten ergeben.
Werde nicht ungeduldig,« fügte ich hinzu, als er im Begriff war, aufzubegehren. »Ich möchte daraus keine andere Folgerung ziehen, als daß es wenig zweckmäßig ist, einem Herzen, um es der Liebe abwendig zu machen, deren Süßigkeiten ableugnen und ihm von der Ausübung der Tugend mehr Glück versprechen zu wollen. Sowie wir nun einmal beschaffen sind, kann es nicht anders sein, als daß unser höchstes Streben danach geht, uns Freude zu schaffen; das vermag niemand zu bestreiten, und ebenso sicher ist es für die Empfindung jedes Herzens, daß die süßeste von allen Freuden die Liebe ist. Man empfindet bald alles, was anderswo mehr Reiz verheißt, als Täuschung, und diese Täuschung läßt in die echtesten Verheißungen Mißtrauen setzen.
Ihr Sittenprediger, die ihr mich zu der Tugend zurückführen wollt, sagt immerhin, daß sie durchaus notwendig sei, wenn ihr mir nur nicht verhehlt, daß sie rauh und beschwerlich ist. Verkündet nur, daß die Freuden der Liebe vergänglich, daß sie verboten sind und ewige Qualen zur Folge haben, ja, was vielleicht noch tieferen Eindruck auf mich macht, daß grade je süßer und wonniger sie sind, desto freigebiger der Himmel ein so großes Opfer belohnen wird. Unterlaßt nur nicht auch, zuzugeben, daß, wie nun einmal unsere Herzen beschaffen sind, hienieden keine vollkommenere Glückseligkeit gefunden werden kann.«
Dieser Schluß meiner Rede verlieh Tiberge seine Ruhe wieder; er gestand mir zu, daß meine Gedanken nicht ganz unverständig seien, indem er mir zur Entgegnung nur die Frage aufwarf, warum ich also nicht wenigstens meine eigenen Grundsätze befolgte, und meine Liebe der Hoffnung auf jenen Lohn aufopferte, von dem ich mir eine so hohe Vorstellung mache.
»Ach, lieber Freund!« versetzte ich; »darin erkenne ich mein Elend und meine Schwäche. Ja, es wäre wohl meine Pflicht zu handeln, wie ich rede; bin ich aber Herr meines Tuns? und welcher mächtigen Unterstützung bedürfte ich nicht, Manons Reize zu vergessen?«
»Gott vergebe mir,« bemerkte Tiberge, »ich glaube, hier spricht ein neuer Jansenist!«
»Ich weiß nicht, was ich bin,« erwiderte ich, »und ich erkenne auch klar, was man sein muß; von der Wahrheit dessen, was du sagst, bin ich nur zu sehr durchdrungen.«
Diese Unterhaltung diente wenigstens dazu, das Mitleid meines Freundes wieder zu erwecken. Er begriff, daß mehr Schwachheit als Schlechtigkeit meinen Lebenswandel veranlaßt habe. Dadurch war er auch geneigter, mir beizustehen, mir weiter seine hilfreiche Hand zu bieten, ohne welche ich rettungslos verloren gewesen wäre. Doch verriet ich ihm nichts von der Absicht, aus Saint-Lazare zu fliehen. Ich bat ihn nur, meinen Brief zu besorgen. Es fehlte mir nicht an einem Vorwand, ihm die Notwendigkeit des Schreibens sehr eindringlich zu schildern. Er gab ihn ehrlich ab, und Lescaut erhielt das für ihn bestimmte Schreiben noch an demselben Tage.
Am folgenden Tage besuchte er mich und kam glücklich unter dem Namen meines Bruders zu mir. Meine Freude, ihn zu sehen, war unbeschreiblich. Ich schloß sorgfältig die Tür. »Verlieren wir nicht einen Augenblick,« sagte ich ihm; »erzählen Sie mir zuerst von Manon und geben Sie mir dann einen guten Rat, wie ich meine Fesseln abschüttle.« Er versicherte mir, daß er seine Schwester nicht wiedergesehen seit dem Tage, der unserer Verhaftung voranging, und er habe mein und ihr Schicksal erst durch Nachforschungen in Erfahrung gebracht; er sei mehrere Male nach dem Hospital geeilt, aber man habe ihm verweigert, Manon zu sehen und zu sprechen.
»Unglückseliger G... M... Du sollst es mir teuer bezahlen!« rief ich aus.
»Was Ihre Befreiung anbelangt,« fuhr Lescaut fort, »so ist dies ein schwereres Unternehmen, als Sie glauben. Zwei meiner Freunde verbrachten mit mir den gestrigen Abend damit, alle Außenseiten dieses Gebäudes zu untersuchen, und bemerkten, daß es sehr schwer sein würde, Ihre Flucht zu bewerkstelligen, da Ihre Fenster, wie Sie uns mitteilten, nach dem inneren Hofe gehen. Außerdem befinden Sie sich im dritten Stockwerk und wir können weder Seile noch Leitern hier hereinbringen. Ich sehe also, von außen kann man Ihnen nicht helfen. Im Hause selbst müßte eine List ersonnen werden.«
»Nein,« entgegnete ich, »ich habe alles geprüft, besonders seit meine Haft weniger strenge ist durch die Güte des Herrn Superiors. Die Tür meines Zimmers wird nicht mehr verschlossen; ich kann mich frei in den Galerien bewegen, aber alle Treppen sind durch starke Türen verrammelt, welche man Tag und Nacht verschlossen hält, so daß es unmöglich ist, daß List allein mich retten kann.« »Hören Sie,« fuhr ich fort, nachdem ich eine Weile über eine neue Idee nachgedacht, die mir ausgezeichnet schien, »können Sie mir eine Pistole verschaffen?«
»Sehr leicht,« sagte Lescaut; »aber wollen Sie jemand töten?« Ich versicherte ihm, daß ich so wenig die Absicht habe, jemand zu töten, daß die Pistole gar nicht geladen zu sein brauche.
»Bringen Sie sie mir morgen,« fügte ich hinzu, »und finden Sie sich abends um elf Uhr mit zwei oder drei von unsern Freunden gegenüber dem Tore dieses Hauses ein; ich hoffe, zu Ihnen gelangen zu können.« Er drängte mich, ihm mehr mitzuteilen. Ich sagte ihm, ein Unternehmen, wie ich es vorhabe, könne nur vernünftig erscheinen, wenn es ausgeführt worden sei. Dann ersuchte ich ihn, seinen Besuch abzukürzen, um ihn morgen leichter wiederholen zu können. Er wurde unbehindert eingelassen, wie das erstemal. Seine Miene war ernst, niemand hätte ihn für etwas anderes gehalten als für einen Ehrenmann.
Als ich mit dem Gegenstand versehen war, der mir zur Freiheit verhelfen sollte, zweifelte ich fast nicht mehr an dem Erfolg meines Planes. Er war seltsam und kühn, aber wessen wäre ich nicht fähig gewesen, von solchem Beweggründe beseelt? Seit ich mein Zimmer verlassen und in den Galerien frei herumgehen durfte, hatte ich bemerkt, daß der Pförtner an jedem Abend dem Superior die Schlüssel zu allen Türen brachte und daß darauf im ganzen Hause tiefe Stille herrschte, was anzeigte, daß sich alles zur Ruhe begeben habe. Ich konnte von meinem Zimmer aus durch einen Verbindungsgang unbehindert zu dem Superior gehen. Mein Entschluß war, ihm die Schlüssel zu nehmen, im Falle er sich widersetzte, ihm mit der Pistole zu drohen und mit Hilfe der Schlüssel die Straße zu gewinnen. Ich wartete mit Ungeduld, bis die Zeit nahte. Der Pförtner kam zur gewöhnlichen Stunde, das heißt etwas nach neun Uhr. Ich ließ eine Stunde vergehen, um sicher zu sein, daß alle Geistlichen und Diener schliefen. Endlich machte ich mich mit meiner Waffe und einem Licht auf den Weg. Erst klopfte ich leise an die Tür des Superiors, um ihn zu wecken; er hörte mich gleich, und in der Meinung, daß einer der Geistlichen krank sei und Hilfe bedürfe, stand er auf und öffnete mir. Dennoch war er so vorsichtig, erst durch die Tür zu fragen, wer da sei, und was man wünsche. Ich war nun gezwungen, mich zu nennen, nahm aber einen klagenden Ton an, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich nicht wohl sei. »Ach! Sie sind es, mein lieber Sohn,« sagte er, die Tür öffnend. »Was führt Sie so spät zu mir?« Ich trat ein und ihn in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers ziehend, erklärte ich ihm, es sei mir unmöglich, länger in Saint-Lazare zu bleiben; die Nacht wäre die beste Zeit, um unbemerkt fortzukommen, und ich erwartete von seiner Freundschaft, daß er einwillige, mir die Türen zu öffnen oder mir die Schlüssel zu leihen, daß ich es selbst tue.
Diese Ansprache mußte ihn überraschen. Er betrachtete mich eine Weile, ohne zu antworten; da ich keine Zeit zu verlieren hatte, ergriff ich abermals das Wort, um ihm zu sagen, wie gerührt ich von seiner Güte sei, daß aber die Freiheit das höchste aller Güter wäre, besonders für mich, dem man sie ungerechterweise geraubt; ich wäre also entschlossen, sie noch diese Nacht, um jeden Preis, mir wieder zu verschaffen. Damit es ihm nicht einfalle, nach Hilfe zu rufen, ließ ich ihn die Pistole sehen, die ich bis dahin verborgen gehalten. »Eine Pistole!« sagte er zu mir. »Wie! mein Sohn! Sie wollen mir das Leben nehmen, aus Dankbarkeit für die Nachsicht, die ich mit Ihnen hatte?«
»Gott behüte,« antwortete ich. »Sie sind viel zu weise, um mich in diese Notwendigkeit zu versetzen; aber ich will frei sein, ich bin so fest dazu entschlossen, daß, wenn Sie meinen Plan vereiteln, es um Sie geschehen ist.«
»Aber, mein Sohn,« entgegnete er bleich und entsetzt, »was habe ich Ihnen denn getan? Was für einen Grund haben Sie, meinen Tod zu wollen?«
»Mein Gott,« erwiderte ich ungeduldig, »ich habe ja nicht die Absicht, Sie zu töten; wenn Sie leben wollen, so öffnen Sie mir das Tor, und ich bleibe Ihr bester Freund.« Ich sah die Schlüssel auf dem Tische liegen, ich nahm sie und bat ihn, mir so geräuschlos wie möglich zu folgen.
Er war gezwungen, sich zu fügen. Auf dem Wege und als er die Tür öffnete, wiederholte er seufzend: »Ach! mein Sohn! Ach! Wer hätte das jemals geglaubt!«
»Kein Geräusch, mein Vater!« wiederholte ich meinerseits jeden Augenblick. Endlich kamen wir zu einer Art Schranke, welche sich vor dem Haustor befindet. Ich hielt mich schon für befreit, ich stand hinter dem Superior, in der einen Hand das Licht, in der andern meine Pistole.
Während er sich beeilte aufzuschließen, öffnete ein Diener, welcher in einem nahen Zimmer schlief, und der das Geräusch der Riegel gehört, die Tür und blickte hinaus. Der gute Vater hielt ihn wahrscheinlich für fähig, mich aufzuhalten, und befahl ihm, höchst unklug, ihm zu Hilfe zu kommen. Es war ein kräftiger Bursche, der sich auch sofort auf mich stürzte. Ich überlegte nicht lange, sondern schoß ihn mitten durch die Brust. »Sehen Sie, mein Vater, daran sind Sie schuld,« sagte ich barsch zu dem Superior. »Aber halten Sie sich deshalb nicht auf,« fügte ich hinzu, indem ich ihn zur letzten Türe trieb. Er wagte nicht, mir das Aufschließen zu verweigern. Ich entkam glücklich und fand einige Schritte entfernt Lescaut mit zwei unserer Freunde mich erwartend.
Wir eilten davon. Lescaut fragte mich, ob nicht ein Schuß gefallen sei.
»Das ist Ihre Schuld,« sagte ich zu ihm, »warum brachten Sie mir eine geladene Pistole?« Trotzdem dankte ich ihm, daß er diese Vorsicht gebraucht, ohne welche ich wohl noch unabsehbar lange hätte in Saint-Lazare bleiben können. Wir verbrachten die Nacht in einem Gasthause, wo ich mich für die schlechte Kost, die ich drei Monate genossen, reichlich entschädigte. Doch fehlte mir die Zufriedenheit; ich sehnte mich nach Manon.
»Wir müssen sie befreien,« sagte ich zu meinen drei Freunden »Nur deshalb habe ich meine Freiheit ersehnt. Ich bitte euch um euren Beistand; ich will mein Leben daran setzen.«
Lescaut, dem es weder an Verstand noch an Besonnenheit fehlte, stellte mir vor, daß man behutsam handeln müßte; meine Flucht aus Saint-Lazare und das Unglück, welches ich angerichtet, müßten Aufsehen erregen. Der Polizeipräsident würde mich suchen lassen, und sein Arm reiche weit, mit einem Wort, wenn ich mich nicht noch Schlimmerem aussetzen wollte, als Saint-Lazare, so müßte ich mich einige Tage verborgen halten, bis der erste Feuereifer meiner Feinde sich gelegt habe. Sein Rat war weise, aber ich hätte es auch sein sollen und ihn befolgen müssen. Aber diese Langsamkeit, diese Schonung vertrug sich nicht mit meiner Ungeduld. Ich versprach weiter nichts, als den nächsten Tag über zu schlafen. Er schloß mich in sein Zimmer ein, wo ich bis zum Abend blieb.
Den größten Teil der Zeit verbrachte ich damit, Pläne und Entwürfe zu machen, um Manon zu befreien. Ich zweifelte nicht, daß ihr Gefängnis noch unzugänglicher sei als das meinige. Eine Anwendung von Gewalt konnte also hier gar nicht in Frage kommen, man mußte zur List greifen; die Göttin der Erfindung hätte selbst nicht gewußt, wie die Sache zu machen sei. Ich sah keinen Schimmer der Möglichkeit und nahm mir vor, die Sache erst dann weiter zu bedenken, wenn ich über die innere Einrichtung des Hospitals Genaueres in Erfahrung gebracht haben würde ... Sobald die Nacht mir meine Freiheit zurückgegeben hatte, bat ich Lescaut, mich zu begleiten. Wir knüpften mit einem der Schließer ein Gespräch an, der uns ein vernünftiger Mann schien. Ich gab mich für einen Fremden aus, der von dem »Hospital« mit dem größten Lobe habe sprechen hören, und fragte ihn nach allen Einzelheiten, bis wir endlich auch von den Verwaltern redeten, nach deren Namen und Eigenschaften ich mich erkundigte. Die Antworten, die ich erhielt, erweckten einen Gedanken in mir, zu dem ich mich beglückwünschte und zu dessen Ausführung ich sofort schritt. Ich fragte so nebenbei, ob diese Herren Kinder hätten. Der Schließer konnte mir darüber nicht Auskunft geben; bloß daß Herr von T..., einer der wichtigsten Verwalter, einen erwachsenen Sohn habe, wußte er. Dieser käme manchmal mit dem Vater ins Hospital. Diese Auskunft genügte mir.
Ich brach das Gespräch bald ab und teilte Lescaut auf dem Rückwege den von mir gefaßten Plan mit. »Ich vermute,« sagte ich zu ihm, »daß der Sohn des Herrn von T..., der reich und von guter Familie ist, wie die meisten jungen Leute, das Vergnügen liebt. Er ist gewiß kein Weiberfeind, noch so lächerlich, jemandem seine Dienste in Liebesangelegenheiten zu verweigern. Deshalb habe ich die Absicht, ihn für die Befreiung Manons zu interessieren. Wenn er ehrenhaft ist und Gefühl hat, so wird er uns seine Hilfe aus Großmut gewähren. Sollte er nicht von solchem Beweggrund geleitet werden, so wird er es doch für ein liebenswürdiges Mädchen tun, und wäre es nur in der Hoffnung, ihre Gunst zu erwerben. Ich will meinen Besuch bei ihm nicht lange aufschieben, höchstens bis morgen, ich hoffe das Beste davon.«
Lescaut gab zu, daß in meinen Ideen Wahrscheinlichkeit läge, und daß wir auf diesem Wege Erfolg erwarten könnten. Ich verbrachte die Nacht weniger unruhig.
Als der Morgen gekommen war, kleidete ich mich so elegant an, als es mir möglich war bei meiner Dürftigkeit, und fuhr in einem Fiaker zu dem Hause des Herrn von T..., der von dem Besuche eines Unbekannten sehr überrascht war. Seine Gesichtszüge, seine Höflichkeit flößten mir Vertrauen ein. Um seine Empfindungen zu reizen, sprach ich von meiner Geliebten und meiner Leidenschaft für sie als von zwei Dingen, die mit nichts anderem verglichen werden könnten. Er sagte mir, daß er zwar Manon nie gesehen, aber von ihr habe sprechen hören, wenn es sich um dieselbe Manon handle, deren Namen mit dem des alten G... M... in Verbindung gebracht werde. Ich zweifelte nicht, daß er darüber unterrichtet sei, welchen Anteil ich an dem Abenteuer habe, und um ihn noch mehr für mich zu gewinnen, schenkte ich ihm mein Vertrauen und erzählte ihm alles, was Manon und ich erlebt hatten. »Sie sehen, mein Herr,« sagte ich, »die höchsten und teuersten Interessen meines Lebens und meines Herzens liegen jetzt in Ihrer Hand. Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen, weil ich Ihre Großmut kenne und weil die Gleichheit unseres Alters mich hoffen läßt, daß sich auch solche in unseren Neigungen finden wird.«
Er schien für diese Offenheit und Schmeichelei empfänglich zu sein; denn er sagte mir, daß mein Besuch ihn sehr angenehm berühre und meine Freundschaft ihn sehr glücklich mache, und daß er sich bemühen würde, sie durch den Eifer seiner Dienste zu verdienen. Freilich versprach er mir nicht, mir Manon wiederzugeben, da sein Einfluß und sein Ansehen nicht bedeutend wären, aber er erbot sich, mir die Freude, sie zu sehen, zu verschaffen und alles zu tun, was ihm möglich sei, um sie in meine Arme zurückzuführen. Ich war mehr befriedigt von dieser ungewissen Zusage, als ich es gewesen wäre von der vollen Versicherung, meine Wünsche zu erfüllen; gerade an seiner Bedenklichkeit erkannte ich sein wirkliches Wohlwollen. Mit einem Wort, ich versprach mir das Beste von seinen Diensten. Schon das Versprechen, mich Manon sehen zu lassen, nahm mich völlig für ihn ein; ich hätte alles für ihn tun mögen, und ich drückte meine Gefühle für ihn in einer Weise aus, die ihn überzeugen mußte, daß ich kein schlechter Mensch sei. Wir umarmten uns zärtlich und wurden Freunde ohne andere Ursache, als die Güte unserer Herzen und jenen Zug der Seele, die einen zärtlichen und großmütigen Menschen liebevoll zu einem anderen Menschen zieht, der ihm gleicht.
Er trieb die Zeichen seiner Achtung noch weiter; denn da er erriet, daß ich mich nicht in guten Verhältnissen befinden könne, nachdem ich Saint-Lazare verlassen, bot er mir seine Börse an und drängte mich, sie anzunehmen. Ich nahm sie nicht an, aber ich sagte zu ihm:
»Das ist zu viel, mein teurer Herr; wenn Sie mir in Ihrer Güte und Freundschaft helfen, meine geliebte Manon wiederzusehen, so bin ich Ihnen ein ganzes Leben lang ergeben. Erhalte ich aber durch Sie dies Wesen ganz zurück, so würde ich meine Dankbarkeit noch nicht abgetragen haben, wenn ich auch für Sie mein Blut vergösse.«
Wir trennten uns erst, nachdem wir Zeit und Ort unseres nächsten Zusammentreffens besprochen hatten, er war so liebenswürdig, es nur bis zum Nachmittag desselben Tages zu verschieben.
Ich erwartete ihn in einem Kaffeehause, wo er mich um vier abholte, und wir schlugen zusammen den Weg nach dem »Hospital« ein. Mir zitterten die Knie, als wir die Höfe durchschritten. »Allmacht der Liebe,« sagte ich, »so werde ich denn den Abgott meiner Seele, die Ursache so vieler Tränen und Schmerzen wiedersehen? O Gott, laß mich nur so lange leben, bis ich bei ihr bin, und mache dann aus meinem Leben, was du willst; ich habe keine andere Gnade von dir zu erbitten.«
Herr von T... sprach mit mehreren Angestellten des Hauses, die sich beeilten, ihm ihre Dienste anzubieten. Er ließ sich den Teil des Hauses zeigen, wo Manon ihr Zimmer hatte, und man führte uns mit einem Schlüssel von entsetzlicher Größe dahin, um ihr Zimmer zu öffnen ...
Ich fragte den uns begleitenden Aufwärter, der Manon zu bedienen hatte wie sie ihre Zeit an dem Orte zugebracht habe?
Seine Antwort war mit einer himmlischen Sanftmut; er habe nie ein hartes Wort von ihr gehört. Während der ersten sechs Wochen nach ihrer Ankunft habe sie unaufhörlich geweint; seit einiger Zeit scheine sie aber ihr Unglück geduldiger zu tragen und beschäftige sich vom Morgen bis zum Abend mit Nähen, wenige Stunden ausgenommen, die sie dem Lesen widme.
Ich fragte auch, ob sie ihren anständigen Unterhalt gehabt habe, und er versicherte mir, es habe ihr wenigstens nicht am Notwendigsten gemangelt.
Wir näherten uns der Tür. Mein Herz schlug heftig. Ich sagte zu Herrn T... »Treten Sie allein ein und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor, denn ich fürchte, daß es sie zu sehr angreifen würde, mich so plötzlich zu sehen.« Die Tür öffnete sich. Ich blieb in der Galerie, hörte aber ihr ganzes Gespräch. Er sagte ihr, daß er ihr einigen Trost brächte; er wäre mein Freund und nehme großen Anteil an unserem Geschick. Sie bat ihn lebhaft, ihr doch mitzuteilen, was aus mir geworden sei. Darauf versprach er ihr, mich ihr so treu, so zärtlich zuzuführen, als sie nur wünsche. »Wann?« entgegnete sie. »Heute noch,« antwortete er; »der glückliche Augenblick wird bald da sein, er wird augenblicklich erscheinen, wenn Sie es wünschen.« Sie verstand, daß ich an der Tür wäre. Ich trat ein, als sie auf diese zustürzte. Wir umarmten uns mit jener stürmischen Zärtlichkeit, welche Liebende nach einer Trennung von drei Monaten erfüllt. Unsere Seufzer, unsere Ausrufe, die von uns beiden geflüsterten Liebesworte rührten Herrn von T...
»Ich beneide Sie,« sagte er, sich zu uns setzend, »es gibt kein noch so glückliches Los, dem ich nicht eine so schöne und leidenschaftliche Geliebte vorzöge.«
»Auch ich würde alle Reiche der Welt verschmähen, um mir das Glück, von ihr geliebt zu werden, zu sichern,« entgegnete ich. Auch der weitere Verlauf einer so lange ersehnten Unterredung war natürlich sehr zärtlich.
Die arme Manon erzählte mir ihre Abenteuer, und ich berichtete ihr die meinigen. Wir weinten bitter, als wir uns unsere gegenseitige Lage klarmachten; aber Herr von T... tröstete uns durch das wiederholte Versprechen, alles zu tun, um unserem Elend ein Ende zu machen. Er riet uns, diese erste Zusammenkunft nicht zu lang auszudehnen, um leichter noch andere herbeiführen zu können. Er hatte viel Mühe, uns zu dieser Ansicht zu bekehren. Besonders Manon konnte sich nicht entschließen, mich fort zu lassen. Sie zog mich hundertmal auf meinen Stuhl zurück und hielt mich am Rock, an den Händen fest.
»Ach! an welchem Ort läßt du mich zurück?« sagte sie. »Wer bürgt dafür, daß ich dich wiedersehe?« Herr von T... versprach ihr, oft mit mir zu kommen.
»Was den Ort anbelangt,« fügte er liebenswürdig hinzu, »so muß man ihn nicht Hospital nennen; seitdem ein Wesen, welches die Macht über alle Herzen verdient, darin zurückgehalten wird, ist es ein Versailles.«
Beim Fortgehen gab ich ihrem Wärter ein Trinkgeld, damit er sie besser bediene. Dieser Bursche war weniger gemein und hartherzig, als seinesgleichen zu sein pflegt Er war Zeuge unserer Unterredung gewesen, und unsere Zärtlichkeit hatte ihn gerührt. Ein Louisdor, den ich ihm gab, vollendete seine Ergebenheit für mich. Als wir über den Hof schritten, zog er mich beiseite und sagte:
»Mein Herr, wenn Sie mich in Ihren Dienst nehmen wollen, oder mich in anderer Weise für den Platz hier entschädigen können, so würde es mir leicht fallen, Fräulein Manon zu befreien.«
Ich horchte auf bei diesem Vorschlag, und obgleich ich von allem entblößt war, machte ich ihm Versprechungen, die seine Wünsche weit übertrafen. Ich rechnete darauf, daß es mir leicht sein würde, einen Menschen dieser Art zu belohnen.
»Sei überzeugt, mein Freund,« sagte ich zu ihm, »daß ich alles für dich tun will, und daß dein Glück so gesichert ist wie das meinige.« Ich wollte wissen, welche Mittel er anzuwenden beabsichtige. »Kein anderes,« entgegnete er, »als ihr eines Abends die Tür zu öffnen und sie bis zur Straße zu führen, wo Sie sie erwarten müssen.« Ich fragte ihn, ob nicht zu befürchten sei, daß man sie auf den Gängen und im Hofe erkennen und dann anhalten werde. Er meinte, es sei dies nicht ausgeschlossen, aber etwas müßte man schon wagen.
Obgleich ich erfreut war, ihn so entschlossen zu sehen, rief ich Herrn von T..., um ihm den Plan mitzuteilen und den einzigen Grund, der denselben zweifelhaft machen könnte. Er fand mehr Schwierigkeit dabei als ich, obwohl er zugab, daß sie auf diese Weise entkommen könne.
»Aber wenn sie erkannt wird,« fügte er hinzu, »und man hält sie auf der Flucht an, so ist es vielleicht auf immer um sie geschehen. Außerdem müßten Sie Paris auf immer mit ihr verlassen, denn Sie wären vor den Nachforschungen nicht sicher, man würde sie in diesem Falle sogar verdoppeln. Ein Mann entflieht leicht, wenn er allein ist, aber es ist fast unmöglich, mit einer hübschen Frau unerkannt zu bleiben.«
So richtig mir auch diese Einwendung erschien, so ließ ich mir doch die Hoffnung, Manon so schnell befreit zu sehen, nicht rauben. Ich sagte dies Herrn von T... und bat ihn, ein wenig Kühnheit und Unvorsichtigkeit der Liebe zu vergeben. Meine Absicht sei, Paris wirklich zu verlassen und mich, wie ich es schon getan, in irgendeinem nahen Dorfe aufzuhalten. Wir kamen also mit dem Wärter überein, das Unternehmen nicht länger als auf den kommenden Tag aufzuschieben; und um so sicher als möglich zu gehen, beschlossen wir, ihr Männerkleider zu bringen, um ihr das Entkommen zu erleichtern. Es war nicht leicht, die Kleider einzuschmuggeln, aber es fehlte mir nicht an Erfindungsgabe, ein Mittel aufzuspüren. Ich bat nur Herrn von T..., am folgenden Tage zwei leichte Westen übereinander zu ziehen, das übrige nahm ich auf mich.
Wir kehrten am Morgen in das »Hospital« zurück. Ich hatte Wäsche, Strümpfe usw. für Manon bei mir und einen Mantel übergeworfen, der meine vollen Taschen verbarg. Nur einen Augenblick blieben wir in ihrem Zimmer. Herr von T... ließ ihr eine von seinen Westen zurück, ich gab ihr meinen Überrock, der Mantel genügte mir. Ihre Ausrüstung war nun eine vollständige bis auf die Beinkleider, die ich unglücklicherweise vergessen hatte.
Der Mangel eines so notwendigen Kleidungsstückes hätte mir sicherlich viel Stoff zum Lachen geboten, wenn nicht unsre Verlegenheit so ernst gewesen wäre. Ich war nahe daran zu verzweifeln, daß uns eine solche Kleinigkeit verhindern sollte, unseren Plan auszuführen, doch entschloß ich mich, Manon meine Beinkleider dazulassen und selbst ohne solche fortzugehen; einige Stecknadeln setzten mich bei der Länge meines Mantels in den Stand, zum Tore hinauszukommen.
Der Rest des Tages schien mir unerträglich lang. Endlich, als die Nacht hereingebrochen war, begaben wir uns in die Nähe des Hospitals, und zwar zu Wagen. Wir waren noch nicht lange dort, als Manon mit ihrem Führer erschien. Da der Wagenschlag offen stand, sprangen beide sogleich zu uns herein. Ich empfing meine Geliebte in meinen Armen; sie zitterte wie Espenlaub. Der Kutscher fragte mich, wohin er fahren sollte »Fahre uns ans Ende der Welt,« sagte ich ihm, »und führe mich an einen Ort, wo ich niemals von Manon getrennt werde.«
Dieser Ausbruch, den ich nicht unterdrücken konnte, zog mir eine arge Verlegenheit zu. Der Kutscher dachte über meine Worte nach; und als ich ihm später den Namen der Straße sagte, nach der wir geführt werden wollten, bemerkte er, daß er fürchte, sich in eine böse Angelegenheit verwickelt zu haben; daß er wohl sehe, dieser schöne, junge Mann, welcher Manon heiße, sei ein Mädchen, das ich aus dem Hospital entführe, und daß er nicht Lust habe, sich meinetwegen unglücklich zu machen. Das Zartgefühl dieses Schurken hatte keinen anderen Zweck, als mir mehr Fuhrlohn zu erpressen. Wir waren noch dem »Hospital« zu nahe, um nicht gute Miene machen zu müssen. »Schweig,« sagte ich, »es gibt einen Louisdor für dich zu gewinnen.« Daraufhin hätte er mir geholfen, das Hospital in Brand zu stecken.
Wir erreichten das Haus, in dem Lescaut wohnte. Da es schon spät war, so verließ uns Herr von T... unterwegs mit dem Versprechen, uns am folgenden Tage aufzusuchen; nur der Wärter blieb bei uns.
Manon warf sich mir an die Brust und weinte Freudentränen, die mein Gesicht benetzten.
Aber als wir ausstiegen, um in Lescauts Haus einzutreten, hatte ich mit dem Kutscher einen neuen Streit, dessen Folgen verhängnisvoll wurden. Ich bereute, ihm einen Louisdor versprochen zu haben, nicht bloß, weil der Betrag übertrieben war, sondern aus dem einfachen Grunde, weil es mir unmöglich war, ihn zu bezahlen. Ich ließ Lescaut rufen. Als er kam, sagte ich ihm leise, in welcher Verlegenheit ich mich befände. Da er sehr jähzornig war und nicht gewohnt, auf einen Kutscher Rücksicht zu nehmen, verspottete er mich einfach. »Ein Louisdor!« rief er, »zwanzig Stockschläge diesem Schurken da.« Vergebens stellte ich ihm leise vor, daß er uns ins Verderben stürze; er entriß mir meinen Stock mit der Miene, damit den Kutscher zu schlagen. Der Kutscher, welcher Angst bekam, fuhr mit seinem Wagen davon, indem er schrie, ich hätte ihn betrogen, aber ich würde noch von ihm hören. Vergebens rief ich ihm nach, er solle doch anhalten.
Seine Flucht verursachte mir große Unruhe; ich zweifelte nicht, daß er der Polizei Anzeige machen würde. »Sie bringen mich ins Unglück,« sagte ich zu Lescaut, »bei Ihnen bin ich nicht sicher, wir müssen augenblicklich fort von hier.« Ich reichte Manon den Arm und wir verließen schleunigst diese gefährliche Straße. Lescaut begleitete uns.
Es ist etwas Wunderbares, wie die göttliche Vorsehung die irdischen Begebenheiten aneinanderkettet.
Kaum waren wir fünf Minuten gegangen, als ein Mann, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, Lescaut erkannte. Er suchte ihn ohne Zweifel in der Nähe seiner Wohnung, um seinen unglückseligen Plan ausführen zu können, »das ist Lescaut!« rief er aus, indem er einen Schuß auf ihn abgab, »der wird heute abend mit den Engeln soupieren.« Im Augenblick war er entschwunden. Lescaut fiel, ohne ein Lebenszeichen zu geben, nieder. Ich drängte Manon, zu fliehen, da unsere Hilfe einem Toten nichts mehr nütze, und ich befürchtete von der Wache, die bald erscheinen mußte, verhaftet zu werden. Wir eilten mit dem Wärter in die nächste kleine Quergasse. Manon war so erschöpft, daß ich Mühe hatte, sie weiter zu bringen. Endlich bemerkte ich am Ende der Straße einen Wagen. Wir stiegen ein; aber als der Kutscher mich fragte, wohin er uns fahren sollte, war ich verlegen, was ich antworten sollte. Ich hatte weder ein sicheres Asyl noch einen vertrauten Freund, bei dem ich Hilfe suchen konnte; ich war ohne Geld, da ich nur eine halbe Pistole in der Börse hatte. Der Schreck und die Anstrengung hatten Manon fast ohnmächtig gemacht. Meine Gedanken waren noch mit der Ermordung Lescauts und mit der Angst vor der Wache beschäftigt. Was tun? Ich erinnerte mich glücklicherweise des Gasthofs in Chaillot, wo ich einige Tage mit Manon zugebracht hatte, als wir dort Wohnung suchten. Dort hoffte ich nicht bloß sicher zu sein, sondern auch einige Zeit Wohnung zu finden, ohne wegen der Bezahlung gedrängt zu werden. »Führe uns nach Chaillot,« sagte ich zu dem Kutscher. Er wollte nur für eine Pistole so spät fahren. »Neue Verlegenheit!« Endlich begnügte er sich mit sechs Franken. Das war das ganze Geld, das ich bei mir hatte.
Ich tröstete Manon unterwegs, und hatte selbst die Verzweiflung im Herzen. Ich hätte mir das Leben genommen, hätte ich nicht in meinen Armen das einzige Glück gehalten, das mir das Leben lieb machte. Dieser Gedanke allein hielt mich aufrecht.
»Ich habe wenigstens sie,« sagte ich im stillen zu mir, »sie liebt mich, sie ist mein; mag Tiberge immer sagen, daß es nur ein Trugbild von Glück sei; ich würde mich doch nicht darum kümmern, ob die ganze Welt unterginge, da ich keinen Anteil für etwas anderes mehr übrig habe.«
Diese Empfindung war in der Tat aufrichtig; indem ich aber die irdischen Glücksgüter so gering schätzte, fühlte ich doch, daß ich wenigstens eines kleinen Teiles bedurfte, um die übrigen desto vollständiger verachten zu können. Die Liebe ist stärker als alle Reichtümer und Herrlichkeiten; sie hat indessen deren Beistand nötig, und es ist für einen zartfühlenden Liebenden nichts verzweifelter, als eben dadurch zu der Roheit der niedrigsten Seelen hinabgedrückt zu werden.
Es war elf Uhr, als wir in Chaillot ankamen. Wir wurden im Gasthofe wie alte Bekannte aufgenommen. Man war nicht überrascht, Manon in Männerkleidung zu sehen, denn man ist in Paris und der Umgegend gewohnt, die Frauen in verschiedener Kleidung auftreten zu sehen. Ich ließ sie bewirten, als wäre ich noch sehr vermögend. Sie wußte nicht, daß ich schlecht bei Kasse war. Ich hütete mich, es ihr mitzuteilen, da ich entschlossen war, am nächsten Tage allein nach Paris zurückzukehren, um ein Heilmittel gegen diese Krankheit ausfindig zu machen.
Sie schien mir bleich und abgemagert; ich hatte es im »Hospital« nicht bemerkt, da ihr Zimmer nicht sehr hell war. Ich fragte sie, ob dies noch von dem Schreck über das plötzliche Ende ihres Bruders herrühre. Sie versicherte mir, so heftig ihr Schreck auch gewesen sei, ihr leidendes Aussehen rühre nur von der langen Trennung von mir her.
»Du liebst mich also so sehr?« fragte ich sie.
»Tausendmal mehr als ich sagen kann,« entgegnete sie.
»Und wirst mich also niemals verlassen?« fügte ich hinzu.
»Nein, niemals«, erwiderte sie, und diese Versicherung wurde durch so viele Liebkosungen und Beteuerungen bestätigt, daß es mir wirklich unmöglich schien, sie könne sie jemals vergessen. Ich war immer von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt; welchen Grund hätte sie gehabt, sich so zu verstellen? Aber sie war noch flatterhafter, oder besser, sie war nichts, sie erkannte sich selbst nicht mehr, wenn sie Frauen im Überfluß schwelgen sah, während sie in Not und Armut lebte.
Davon sollte ich sehr bald noch einen letzten Beweis erhalten, einen Beweis, der alle anderen überbot und das seltsamste Erlebnis herbeiführte, das einem Manne von meiner Geburt und meinen Verhältnissen überhaupt jemals zustoßen konnte.
Da ich sie von dieser Seite kannte, beeilte ich mich am folgenden Tage, nach Paris zu kommen. Der Tod ihres Bruders, die Notwendigkeit, Kleider und Wäsche für uns beide zu beschaffen, waren so gute Gründe hierfür, daß ich keines Vorwands bedurfte. Ich sagte dem Wirt und Manon, ich wollte mir einen Mietswagen nehmen, aber das was nur Aufschneiderei. Da ich gezwungen war, zu Fuß zu gehen, so ging ich schnell bis nach Cours-la-Reine, wo ich mich ein wenig aufhalten wollte. Ich mußte ein wenig ruhen, um zu überlegen, was ich in Paris tun könnte.
Ich setzte mich auf den Rasen und versank in tiefe Gedanken, die sich nach und nach um drei Hauptpunkte drehten. Ich brauchte augenblickliche Hilfe; ich mußte irgendeinen Weg suchen, welcher mir wenigstens Hoffnung für die Zukunft ließ, und was nicht minder wichtig war, ich mußte Maßregeln treffen für Manons und meine eigene Sicherheit. Nachdem ich mich in Plänen und Entwürfen über diese drei Hauptsachen erschöpft hatte, glaubte ich die zwei letzten augenblicklich noch streichen zu können. Wir waren in dem Zimmer in Chaillot nicht schlecht verborgen, und was unsere künftigen Bedürfnisse anbetraf, so glaubte ich Zeit dazu zu haben, wenn ich erst die gegenwärtigen befriedigt hätte.
Es war also die Hauptsache, meine Börse augenblicklich zu füllen. Herr von T... hatte mir die seinige großmütig angeboten, doch hatte ich einen Widerwillen, ihn selbst daran zu erinnern.
Wer möchte wohl auch eine solche Rolle spielen und sein Elend einem Fremden klagen, ihn anflehen, daß er sein Hab und Gut mit uns teile. Nur eine gemeine Seele wäre dessen fähig, und zwar vermöge einer Erniedrigung, die sie abhielte, das Unwürdige zu fühlen, oder ein recht demütiger Christ in einem Übermaße von Selbstverleugnung, die ihn über die Schande hinwegsetzt. Ich war weder ein so niedriger Mensch noch ein guter Christ, ich würde die Hälfte meines Blutes darum gegeben haben, dieser Demütigung zu entgehen.
»Wird mir Tiberge, der gute Tiberge verweigern,« sagte ich zu mir, »was er imstande wäre, mir zu leihen? Nein, er wird sich durch mein Elend rühren lassen, wird mich aber auch mit seiner Moral umbringen. Ich werde seine Vorwürfe, Ermahnungen und Drohungen ausstehen und seinen Beistand so teuer erkaufen müssen, daß ich lieber noch einen Teil meines Blutes vergösse, als mich einem so ärgerlichen Auftritt aussetzen, der mich in Unruhe und, Reue stürzen würde.« –
»Gut,« hub ich wieder an, »ich muß also auf alle Hoffnung verzichten, da mir kein anderer Ausweg übrigbleibt, und ich so wenig einen von den beiden einschlagen mag, daß ich lieber die Hälfte meines Blutes deshalb vergösse, als sie alle beide ergriffe. – Ja, alles Blut in meinen Adern,« fügte ich nach augenblicklichem Nachdenken hinzu, »wollte ich von mir strömen lassen, um nur keine feige, niedrige Bettelei zu begehen.
Aber es handelt sich hier um mein Blut! Es handelt sich um Manons Leben und Unterhalt, es handelt sich um ihre Liebe und Treue. Was habe ich dagegen in die Wagschale zu legen? Bis jetzt nicht das mindeste: sie bedeutet für mich Stolz, Glück, mein alles! Ich würde allerdings vieler Dinge halber mein Leben lassen; darum aber, daß ich eine Sache höher als mein Leben achte, achte ich sie noch nicht so hoch wie Manon.«
Ich war nach diesem Selbstgespräche bald mit mir einig, verfolgte meinen Weg und wußte, daß ich zuerst zu Tiberge und alsdann zu Herrn von T... gehen mußte.
In Paris angekommen, nahm ich einen Fiaker, obgleich ich ihn nicht bezahlen konnte; ich rechnete sicher auf die Hilfe, um welche ich bitten wollte. Der Kutscher mußte mich nach dem Luxembourg fahren, von wo aus ich Tiberge benachrichtigte, daß ich ihn erwarte. Er entsprach meiner Ungeduld, indem er bald erschien. Ich teilte ihm meine Verlegenheit ohne Umschweife mit. Er fragte mich, ob die hundert Pistolen, die ich ihm damals zurückgegeben, genügten, und ohne ein Wort der Widerrede holte er sie mir sofort mit jener Freude am Geben, welche nur die Liebe und wahre Freundschaft kennt. Obgleich ich an dem Erfolg meiner Bitte nicht gezweifelt hatte, war ich doch überrascht, sie so ohne Strafpredigten erfüllt zu sehen. Aber ich hatte mich doch getäuscht; denn kaum hatte mir Tiberge das Geld eingehändigt, so bat er mich, noch einen Gang durch den Garten mit ihm zu machen. Von Manon hatte ich nicht gesprochen, er wußte nicht, daß sie frei war. Darum bat er mich nur, nicht wieder in meinen leichtsinnigen Lebenswandel zurückzufallen.
Ich erfuhr von ihm, daß er am Tage nach meiner Flucht in Saint-Lazare gewesen; wo ihm der Superior alles erzählte, was geschehen, aber zugleich bemerkte, daß er dem Polizeipräsidenten weder meine Flucht noch den Tod des Dieners mitgeteilt habe. Ich hätte also von dieser Seite nichts zu befürchten, sollte aber diese glückliche Wendung benutzen, um ein ordentlicher Mensch zu werden. Wenn ich seinem Rate folgen wolle, so solle ich sofort in das väterliche Haus zurückkehren.
Ich hörte ihn bis zu Ende geduldig an. Seine Rede enthielt viel Gutes. Ich war zunächst entzückt, daß ich von Saint-Lazare nichts mehr zu fürchten hatte: die Straßen von Paris waren mir also wieder freigegeben. Auch freute ich mich, daß Freund Tiberge Manons Befreiung und Wiedervereinigung mit mir nicht ahnte. Ich bemerkte sogar, daß er sie absichtlich nicht gegen mich erwähnte, weil er wahrscheinlich wegen meiner Ruhe glaubte annehmen zu dürfen, sie liege mir weniger am Herzen.
Ich beschloß, wenn auch nicht nach Hause zurückzukehren, so doch an meinen Vater zu schreiben und ihm mitzuteilen, ich hätte den guten Willen, meinen Pflichten wieder nachzukommen. Meine Hoffnung ging dahin, Geld von ihm zu erlangen durch den Vorwand, ich wolle auf der Akademie meine Studien vollenden, denn es wäre mir wohl nicht geglückt, ihn zu überzeugen, ich wolle wieder in den geistlichen Stand treten, und ich wollte redlich halten, was ich meinem Vater versprach. Denn es wäre mir angenehm gewesen, etwas Vernünftiges und Rechtschaffenes zu ergreifen, solange es sich mit meiner Liebe vereinbaren ließ. Ich wollte mit meiner Geliebten zusammen sein und zugleich meine Studien vollenden.
Von diesen Ideen war ich so befriedigt, daß ich Tiberge versprach, noch denselben Tag einen Brief an meinen Vater abzuschicken. Ich begab mich wirklich, als ich ihn verließ, in ein Lokal und schrieb dort in so zärtlicher und unterwürfiger Weise, daß ich mir schmeichelte, etwas von dem Vaterherzen zu erhalten.
Obgleich ich nun imstande war, einen Wagen zu bezahlen, machte ich mir ein Vergnügen daraus, stolz zu Fuß zu Herrn von T... zu gehen. Ich fand großes Vergnügen in der Ausübung meiner Freiheit, für die ich, nach den Worten meines Freundes, nichts zu befürchten hatte. Da fiel mir plötzlich ein, daß seine Versicherungen nur Saint-Lazare beträfen und daß ich doch noch das Abenteuer vom Hospital auf dem Halse hatte, ohne den Tod Lescauts zu erwägen, über den ich doch gewiß als Zeuge vernommen werden würde. Diese Erinnerung erschreckte mich so sehr, daß ich schnell in einen Fiaker stieg und zu Herrn von T... fuhr, der mich wegen meiner Angst auslachte. Sie schien mir selbst lächerlich, als ich von ihm erfuhr, daß ich von seiten des Hospitals so wenig zu fürchten hätte, als von der Angelegenheit Lescauts. Er sagte mir, daß er in der Sorge, man könne argwöhnen, daß er Manon bei der Flucht behilflich gewesen sei, am Morgen ins Hospital gegangen sei und verlangt habe, sie zu sprechen; man wäre dort so entfernt davon, ihn oder mich zu beschuldigen, daß man ihm im Gegenteil diese seltsame Neuigkeit erzählte und sich verwunderte, daß ein so hübsches Mädchen wie Manon mit einem Diener entlaufen sei. Er habe darauf entgegnet, daß er darüber nicht staune, da man der Freiheit gern ein Opfer bringe ... Dann wäre er zu Lescaut gegangen, in der Hoffnung, mich und meine reizende Geliebte dort zu finden; der Hausherr, ein Wagenbauer, beteuerte ihm aber, niemand von uns gesehen zu haben. Er teilte ihm nicht nur die Ermordung Lescauts mit, sondern konnte ihm Näheres über die Ursache und die Umstände des Todes Lescauts berichten. Ungefähr zwei Stunden zuvor war einer von Lescauts Kameraden, ein Leibgardist, zu ihm gekommen und hatte ihm ein Spiel vorgeschlagen. Lescaut spielte so glücklich, daß der Gardist nach Verlauf einer Stunde sein ganzes Geld, hundert Taler, verloren hatte.
Dieser Unglückliche, der keinen Sou mehr besaß, hatte Lescaut gebeten, ihm die Hälfte der Summe, welche er verloren, zu leihen, und darüber wären sie in einen schrecklichen Streit geraten. Lescaut weigerte sich, ihm mit dem Degen zu folgen, und der andere habe, als er sich entfernte, geschworen, ihm eine Kugel durch den Leib zu jagen, was er auch am selben Abend getan habe. Herr von T... fügte noch hinzu, er sei sehr besorgt um uns gewesen, und bot sich abermals zu jedem Dienst an. Ich machte ihn mit unserem Zufluchtsort bekannt, und er bat mich, ihm zu gestatten, an unserem Souper teilzunehmen.
Da mir nichts weiter zu tun blieb, als Wäsche und Kleider für Manon zu kaufen, so sagte ich ihm, wir könnten bald nach Chaillot hinaus, wenn er so liebenswürdig wäre, mich zu begleiten, da ich einige Einkäufe zu machen hätte. Ich weiß nicht, ob er glaubte, daß ich ihm diesen Vorschlag gemacht, um seine Großmut anzusprechen, oder ob es die Eingebung einer edlen Seele war; aber er führte mich zu seinen Lieferanten, ließ mich mehrere kostbare Stoffe auswählen, deren Preis mir eigentlich zu hoch war, und als ich mich anschickte, zu bezahlen, verbot er den Kaufleuten, auch nur einen Sou von mir anzunehmen. Diese Aufmerksamkeit erwies er mit solcher Anmut, daß ich glaubte, sie, ohne mich zu schämen, annehmen zu dürfen. Wir machten uns zusammen auf den Weg nach Chaillot, wo ich beruhigter anlangte, als ich es verlassen hatte.
* * *
Da der Chevalier des Grieux schon länger als eine Stunde erzählte, bat ich ihn, sich ein wenig zu erholen und uns beim Souper Gesellschaft zu leisten. Unsere Aufmerksamkeit bewies ihm, mit welchem Vergnügen wir ihm zugehört hatten. Er versicherte uns, daß wir im Verlaufe der Geschichte noch weit Interessanteres erfahren würden, und als das Souper vorüber war, fuhr er in seiner Erzählung fort. – – – – – – – – – – – –